Die Seele der Zeit von Sechmet (Yu-Gi-Oh! Part 6) ================================================================================ Kapitel 39: Endgültig --------------------- Caesian war zufrieden. Sehr zufrieden sogar. Er hatte befürchtet, dass die Auferweckung von den Toten ihre Spuren an der jungen Frau hinterlassen würde. Doch dem war nicht so – wenn man einmal davon absah, dass ihre plötzliche Rückkehr ins Diesseits sie zutiefst erschüttert zu haben schien. In allen anderen Belangen jedoch war sie vollkommen unversehrt. Das war gut. Ein makelloses Druckmittel war zunächst das beste Druckmittel. Sollte der Hohepriester nicht wie erhofft auf ihre Rückkehr reagieren, konnte er stets andere Saiten aufziehen. Nun galt es nur noch, Seto von seinem Glück in Kenntnis zu setzen … Eine Idee dazu kam ihm, als er den großen Innenhof des Palastes betrat. Dort entdeckte er Gladius und zwei Untergebene niederen Ranges. Zwischen ihnen lag ein – offenbar einen Körper verhüllendes – Leinentuch. Caesian grinste. Als er näher an die kleine Gruppe herantrat, gewahrten ihn seine Untertanen. Die beiden einfachen Soldaten fielen sogleich auf die Knie, während sich Gladius verbeugte. „Mein Herr“, äußerte er zudem. „Gladius. Immer eifrig bei der Arbeit. Die Leiche des alten Schattentänzers, nehme ich an?“, erkundigte sich Caesian mit Kopfnicken in Richtung des Leinentuches. „Sehr wohl, Majestät. Es ist gut, dass Ihr hier seid. Mir kam ein Gedanke, den ich gerne mit Euch besprechen wollte.“ „Ah, das trifft sich. Mir fiel auch gerade etwas ein. Doch nur zu, sprich zuerst“, forderte der Tyrann sein Gegenüber auf. „Zu gütig, Majestät. Nun, ich hatte überlegt, ob es nicht einen sinnvolleren Weg gäbe, als die Schattentänzer mit dem toten Alten aus ihrem Versteck zu locken. Immerhin ist fraglich, ob der Pharao und sein Gefolge den Köder ebenfalls schlucken werden.“ „Wahre Worte, Gladius. Woran dachtest du?“ „Ich frage mich, euer Herrlichkeit, ob es nicht unserer Sache dienlich wäre, die Leiche ein Stück außerhalb der Stadt auszulegen und sie den Schattentänzern in die Hände fallen zu lassen – nicht unbeaufsichtigt, natürlich. Ich werde meine besten Männer in Bereitschaft versetzen und sie werden die Brut verfolgen, sobald sie sich den Greis zurückgeholt haben. Haben sie das Nest dieser räudigen Schakale gefunden, wird es uns möglich sein, sie ein für alle Mal vom Antlitz dieser Welt zu tilgen, mein König. Alle auf einen Streich.“ Caesian ließ sich die Worte einen Augenblick lang durch den Kopf gehen. „Es ist erstaunlich, Gladius, wie manchmal zwei Menschen einen ähnlichen Einfall zur fast selben Zeit haben können. Doch so effizient dein Plan auch ist, so unsicher ist er.“ Er schnippte mit den Fingern und wandte sich an einen der umstehenden Soldaten. „Bring‘ mir eine Papyrusrolle und einen Kiel. Sofort.“ Der Untertan eilte davon. „Darf ich mich erkundigen, was ihr ersonnen habt, mein Gebieter?“ „Gewiss, mein Guter. Wie ich sagte, dein Plan entbehrt jeglicher Sicherheit. Ich stimme dir bis zu jenem Punkt zu, an dem du gedenkst, die Leiche etwas außerhalb von Men-nefer in der Wüste zu platzieren. Allerdings wird niemand die Schattentänzer verfolgen, sobald sie sich die Überreste ihres Geliebten Oberhauptes geholt haben. Denn so lösen wir unser Problem mit dem Pharao nicht. Gewiss wäre es uns scheinbar ein Leichtes, sie zu überrennen. Doch ich will diesmal vorsichtiger sein, Gladius. Atemu ist uns schon einmal entwischt. Er kommt bald zu uns nach Ägypten, ich darf mir also keine Fehler mehr erlauben. Und deshalb werde ich nun alle Sicherheiten nutzen, die ich finden kann.“ „… mein Herr, ich fürchte, ich verstehe nicht?“ Der Soldat kehrte mit den gewünschten Schreibutensilien zurück. Caesian nahm sich kurz die Zeit und kritzelte etwas auf ein Stück Papyrus, das er daraufhin zusammenrollte. „Keine Sorge, ich erkläre es dir gerne. Du hast Recht, um die Schattentänzer brauchen wir uns wahrlich keine Sorgen zu machen. Gleich, ob wir diese Wilden dazu zwingen, sich den Körper des Alten zu erkämpfen, oder ob wir ihn ohne Hindernisse an sie zurückgeben, sie werden uns so oder so angreifen. Es ist nur eine Frage der Zeit – dafür sorgt diese hitzköpfige Wüstendirne, die der Alte adoptiert hat, schon. Auch, was den Pharao anbelangt, stimme ich dir zu. Es ist wahrlich fraglich, ob es ausreichen wird, ihn mit den Überresten eines verstorbenen Verbündeten zu reizen, damit er sich zeigt. Doch, wie ich bereits sagte, kann ich auch nicht riskieren, ihn in seinem Versteck aufzuscheuchen, wobei er mir vielleicht abermals wie Sand durch die Finger rinnt. Es gibt jedoch einen Weg, diese unschöne Möglichkeit zu umgehen. Deshalb wirst du folgendes tun, Gladius …“, erklärte er und drückte seinem Gegenüber den Papyrus in die Hand, „Verunstalte die Leiche des Alten, aber lasse sein Gesicht unberührt. Diese Bauern sollen noch erkennen können, wer er war. Und stecke ihm diesen Fetzen in den Mund. Dann drapiere die Leiche in der Wüste und überlasse sie den Schattentänzern. Danach wird es nur wenige Sonnenläufe dauern und wir sind endlich am Ziel.“ Gladius sah verunsichert auf das kleine Schriftstück. „Darf ich fragen, was hierin geschrieben steht, mein Herr?“ „Sicher doch, mein Freund. Sieh mal, wir hatten bislang wahrlich nichts, das uns den Pharao hätte bringen können. Doch seit unserer kleinen Beschwörung im Tempel ist dem nicht mehr so … davon weiß der gute Seto aber noch gar nichts. Diesen Umstand müssen wir schnellst möglich ändern, findest du nicht auch?“ Der Truppenführer begann nun ebenfalls zu grinsen. „Ihr wollt das Mädchen nutzen, um mit der Hilfe des Hohepriesters an den Pharao heranzukommen – dazu muss er aber zunächst von ihrer Rückkehr unter die Lebenden erfahren“, fasste er mit Blick auf die kleine Papyrusrolle zusammen. „Raffiniert wie eh und je, Majestät.“ „So ist es, Gladius“, meinte Caesian mit boshaftem Lächeln. „So ist es.“ Nachdem sich die erste Wiedersehensfreude gelegt hatte und Neuigkeiten aus beiden Welten ausgetauscht worden waren, fanden sich alle zu einer Besprechung in der Mitte der Himmelspforte ein. Zumindest sah so der Plan aus, denn Einer ließ auf sich warten. „War ja klar“, grummelte Risha und schob sich ein Stück Brot in den Mund. „Keiro braucht immer eine zusätzliche Aufforderung.“ „Er hat wahrscheinlich nicht einmal mitbekommen, dass wir etwas zu besprechen haben“, entgegnete Riell. „Er ist schon den ganzen Tag verschwunden. Wir vermuten, dass er sich wohl für ein Weilchen abgesetzt hat. Nicht jeder verträgt die Enge hier gut.“ „Ein Weilchen? Wenn wir Glück haben, hat er den Schwanz eingezogen und kommt nie mehr wieder“, korrigierte seine Schwester schnippisch. „Wie dem auch sei, es hat keinen Sinn zu warten – zumal uns Caesian, seit er hier aufgekreuzt ist, keine Zeit schenkt. Er plant mit Sicherheit bereits seine nächsten Schritte, auf die wir vorbereitet sein müssen“, warf Atemu ein. „Womit du meinst, dass er nach weiteren Relikten suchen wird und, dass wir sie vor ihm finden müssen, richtig?“, hakte Yugi nach. Der Ältere nickte. „Allerdings. Zudem bleibt die Frage zu klären, was es hiermit auf sich hat“, fügte er mit Fingerzeig auf das Anch, das Tristan und Duke mitgebracht hatten, hinzu. „Möchte uns vielleicht nochmal schnell jemand erklären, wo wir in Bezug auf diese Artefakte gerade stehen?“, fragte Tristan in die Runde. „Sicher“, meinte Mana. „In unserem Besitz befinden sich derzeit der Dolch von Anubis, die Feder des Thot, den Reif der Isis, sowie das Amulett der Göttin Bastet. Caesian hingegen hat Nephthys‘ Tränen, das Zepter des Seth und die Saat des Chnum in seine Gewalt gebracht. Drei Relikte sind bislang nicht im Spiel: Der Speer der Sachmet, die Sonnenscheibe des Ra und das Anch des Horus, wie wir inzwischen aus den Aufzeichnungen erfahren haben.“ Alle Blicke wanderten zu dem goldenen Gegenstand in ihrer Mitte. „Na ja“, meinte Joey schließlich. „Möglich wär’s doch. Immerhin hat es Duke und Tristan hierher gebracht, als sie sich gewünscht haben, uns zu finden.“ „Da diese Welt aber sowie so schon instabil ist, hätten wir doch irgendwelche Auswirkungen spüren müssen, oder?“, gab Ryou zu bedenken. „Das denke ich auch“, stimmte Tea zu. „Aber was ist es dann? Für einen einfachen Gegenstand ist es zu mächtig, aber es bringt nicht die Auswirkungen eines Artefakts mit sich.“ „Ich hab‘ eine Idee!“, rief Joey plötzlich aus. „Wir testen es. Wir wünschen uns ganz doll, dass Caesian tot umfällt – wenn er dann wirklich krepiert, wissen wir Bescheid!“ „Intelligenzbestie. Schon mal daran gedacht, welche Folgen das für diese Sphäre haben könnte? Wir könnten alle mit ihm draufgehen“, erwiderte Bakura und verdrehte die Augen. „Tja, das hat man davon, wenn Leute fachsimpeln, die nicht mit den hohen Künsten von Magie und Mystik vertraut sind“, ergänzte Marlic. „Ach, aber weil ihr euch so gut auskennt, haben eure Pläne auch immer so wunderbar funktioniert, nicht?“, keifte Tristan sofort zurück. „Schluss damit!“, ging Seto bestimmt dazwischen. „Wir haben keine Zeit für diese Kindereien! Das Schicksal Ägyptens steht auf dem Spiel, wann begreift ihr das eigentlich endlich?“ „Hört, hört, der Hohepriester hat gesprochen“, murmelte Risha gelangweilt. „Ich hätte da eine Idee, Leute“, meldete sich plötzlich Marik zu Wort. „Die da wäre?“, ging Atemu rasch auf ihn ein, bevor wieder irgendjemand anfangen konnte, zu streiten. „Denken wir doch nur einmal an die Milleniumsgegenstände zurück. Diese Gegenstände waren unzerstörbar. Sie haben tausende von Jahren überstanden, ohne auch nur einen Kratzer abzubekommen. Tristan hatte doch erzählt, dass er den Milleniumsring sogar einmal aus Pegasus‘ Schloss geworfen hat, mehrere hundert Meter tief in einen Wald hinein. Der Ring hat dennoch keinerlei Schaden genommen und ist wieder zu Ryou zurückgekehrt.“ „Worauf willst du hinaus?“, hakte Bakura nach. „Ein gewöhnlicher Gegenstand oder einer, der nur mit schwacher Magie ausgestattet ist, würde solch einen Fall niemals überstehen. Ich weiß, das, was ich jetzt sage, hört sich blöd an, ich meine es aber durchaus ernst, denn ich denke, dass sich die wahre Natur dieses Gegenstandes nur unter großer Belastung zeigen wird: Ich würde vorschlagen, das Anch von den Klippen der Himmelspforte zu werfen. Überlebt es, wissen wir, dass es sich um ein göttliches Relikt handelt. Wird es zerstört …“ „… geht eventuell die ganze Welt vor die Hunde, weil wir Mächte freisetzen, die durch ihre Hülle in Form des Anchs gebändigt waren. Oder die Götter töten uns gleich, weil wir ihre Vermächtnisse durch die Gegend schmeißen“, kommentierte Risha. „Vielleicht gäbe es eine weniger drastische Variante“, meldete sich Yugi zu Wort. „Riell? Könntest du vielleicht versuchen, in die Feder des Thot eine Kerbe zu schneiden? Bei gewöhnlichem Gold müsste das mit einem Messer und genügend Kraft gehen, denn Gold ist ein relativ weiches Metall. Da es ein göttliches Relikt ist, sollte es aber eigentlich unversehrt bleiben, oder nicht?“ Der Angesprochene nickte. „Das wäre eine Idee.“ „Das ist nicht dein Ernst, oder? Was, wenn du das Artefakt damit beschädigst?“ Risha sah ihren Bruder mehr als misstrauisch an. „Das werde ich nicht. Wir wissen, dass es ein göttliches Relikt ist. Es wird keinen Schaden nehmen. Darauf vertraue ich.“ Seine Schwester schnaubte nur abfällig, als er die Feder und ein Messer hervorzog. Er legte das Artefakt vor sich hin und setzte das Messer an. „Eins, zwei, drei …“ Das Kreischen, das entstand, wenn Metall über Metall glitt, war zu hören. Alle Augen richteten sich angespannt auf die Stelle, an der Riell das Messer entlang geführt hatte – es war nichts zu sehen. „Gut. Nun das Gleiche mit dem Anch. Danach sind wir schlauer“, befand Yugi und reichte es dem Schattentänzer. „Aber was ist, wenn das nur irgendein härteres Metall ist, das man mit Gold überzogen hat?“, warf Joey ein. „Dann müsste zumindest der Überzug Schaden nehmen, denke ich“, erwiderte Tea. Wieder setzte Riell das Messer an. Erneut erklang der kreischende Ton. Dann herrschte Gewissheit. Eine Kerbe prangte in dem Anch. Die Erkenntnis war niederschmetternder, als gedacht. „Verfluchter Mist!“, fauchte Risha und raufte sich die Haare. „Oh nein …“, äußerte Mana betroffen. „Das heißt also, das echte Relikt ist noch irgendwo da draußen“, fasste Bakura zusammen. „Großartig …“ „Majestät! Majestät!“ Kipinos Rufe rissen sie aus den Gedanken. Er eilte von der anderen Seite der Himmelspforte auf sie zu und kam schlitternd zum Stehen. „Es gibt Neuigkeiten von den Spähern!“ „Die da wären?“, erkundigte sich Riell sofort. „Mein Herr, Euer Vater … seine Überreste …“ „Spuck’s schon aus!“, fauchte Risha ihn an. „C… Caesian hat seinen Leichnam außerhalb von Men-nefer abgelegt. Es sind keine Soldaten oder dergleichen zurück geblieben, sie haben ihn scheinbar einfach hingeworfen.“ Kurz herrschte betretene Stille. „Eine Falle. Definitiv eine Falle“, stellte Seto schließlich fest. „Das ist mir gleich“, verkündete Riell und erhob sich. „Sammle einen Trupp, ich werde losreiten und meinen Vater holen.“ „Das kann nicht Euer Ernst sein!“, widersprach der Hohepriester. „Wie ich sagte …“ „Und wie ich sagte, ist es mir egal. Ich gehe zur Not auch alleine!“, schoss der Schattentänzer scharf zurück. „Ihr wisst, was mit ihm geschehen wird, wenn er kein Begräbnis erhält. Sein Ka wird keine Ruhe finden, sein Ba wird nicht erwachen, sein Akh wird nicht entstehen. Das Jenseits bliebe ihm verwehrt. Das kann und werde ich nicht zulassen.“ „Majestät, da ist noch etwas“, meldete sich Kipino noch einmal zu Wort. „Das da wäre?“ „Der Pharao erzählte doch von einer Vision, in der er eine Höhle gesehen haben will, die im Boden des Reiches liegt.“ „So ist es“, bestätigte Atemu. „Weiter?“ „Nun, ich denke, Firell hat den Ort gefunden, nach dem Ihr sucht.“ Riell war unwohl, als er mit einem kleinen Gefolge Schattentänzer durch die Wüste preschte. Sein Magen krampfte sich zusammen, es schnürte ihm mehr und mehr die Kehle zu, mit jedem Stück des Weges, der ihn zu dem Leichnam seines Vaters führen sollte. Es war nicht die Angst, in eine Falle zu geraten, nein, keineswegs. Es war die Angst vor dem, was er dort vorfinden würde, vor dem Zustand, in dem sich die Überreste desjenigen befanden, der ihn großgezogen hatte. Tage waren vergangen, seitdem er ihn in dieser Stadt zurückgelassen hatte, in den Händen des Feindes, unter sengender Hitze. Schließlich erreichten sie ihr Ziel. Ein gutes Wegstück außerhalb Men-nefers entdeckten sie die beiden Späher des Clans, die – aller Angst zum Trotz – zurückgeblieben waren, um den Leichnam bis zum Eintreffen ihres Oberhauptes zu bewachen. Einige Schritte entfernt zügelte Riell sein Pferd und stieg ab, blieb unschlüssig stehen. Er wusste, dass er nicht ewig hier stehen konnte. Dennoch war jeder Moment, den er die Wahrheit länger vor sich herschieben konnte, willkommen. Letztlich setzen sich seine Beine in Bewegung. Schwerfällig, langsam. Näher und näher trugen sie ihn zu der Stelle hin, an der ein Umhang den Körper seines Vaters verbarg. Einer der Späher hatte ihn scheinbar darüber gebreitet. Weswegen? Um ihn vor den eigenen, nur allzu ungewollten Blicken seiner Untergebenen zu schützen, die sie dennoch vor Fassungslosigkeit nicht abwenden konnten? Damit die anwesend Schattentänzer sich nicht erneut mit der Tatsache konfrontiert sehen mussten, dass ihr weises, langjähriges Oberhaupt nur noch eine leblose Hülle war? Oder war der Grund ein viel schlimmerer? Als er die beiden Späher erreichte, nickte er ihnen kurz zu. Sie erwiderten den Gruß, dann zogen sie sich zurück, gingen hinüber zu den anderen Schattentänzern, die in gebührendem Abstand warteten. Riell sackte mehr neben dem Toten zusammen, als dass er sich hinkniete. Er biss sich auf die Unterlippe. Er fürchtete diesen Moment mehr, als jede Auseinandersetzung mit Caesian. Langsam streckte er die zitternden Finger nach einer Ecke des Umhangs aus und ergriff sie. Einen weiteren Augenblick lang verweilte er so, unfähig, sich zu rühren. Doch es half alles nichts. Gleich, wie lange er wartete, die Wahrheit würde dieselbe bleiben. All seine Kraft zusammennehmend, krallte er die Nägel in den Stoff und riss ihn beiseite. Der Anblick ließ sein Herz im Leib gefrieren. Er schlug sich eine Hand vor den Mund. Er hatte in seinem Leben, besonders in den vergangen Umläufen, zahllose Tote gesehen. Doch was man den Überresten seines Vaters angetan hatte, war für ihn nicht zu begreifen, nicht nachzuvollziehen – nicht im Geringsten. Seinem Antlitz hatten sie noch den wenigsten Schaden zugefügt, sah man davon ab, dass man ihm die Augen aus den Höhlen gerissen hatte. Doch der Zustand des restlichen Leichnams übertraf all die Alpträume, die sich Riell auf seinem Weg hierher ausgemalt hatte. Außer dem Skelett und einigen Fetzen Fleisch war unterhalb des Halses nichts mehr da. Überhaupt nichts. Keine Haut, keine Muskeln, keine Organe … noch nicht einmal Blut hatte sich unter dem Leichnam gesammelt, so wenig war von seinem Körper übrig. Das Einzige, das Riell davon abhielt, sich an Ort und Stelle zu übergeben, was der hartnäckige Gedanke daran, dass er hier noch immer seinen Vater vor sich hatte. Die Tränen jedoch konnte er nicht zurückhalten. Gleich, was die Schattentänzer tun würden, Resham war endgültig und unwiederbringlich verloren. Die ägyptischen Totenriten waren kompliziert. Sie beinhalteten unter anderem die Mumifizierung, sowie die Belebung des Verstorbenen – die Überführung in ein unendliches Wesen, das wiederum seinem unendlichen, auf ewig unversehrten Körper, der Mumie, einwohnen konnte. Nur so konnte eine Seele im Jenseits weiterexistieren. Riell wusste genau, dass keines von beidem mehr einen Sinn ergab. Der Körper seines Vaters war zerstört, geschändet. Selbst, wenn es noch eine Möglichkeit gegeben hätte, Resham vor dem endgültigen Tod, der ihm nun bevorstand, zu bewahren, Riell hätte es nicht getan. Denn in diesem Zustand, in dieser Form wollte niemand bis in die Unendlichkeit weiterexistieren. Zugleich wurde ihm bewusst, dass sie sich niemals wiedersehen würden. Alle Hoffnungen auf das Glück der Wiedervereinigung im Leben nach dem Tod zersprangen wie Glas. Am ganzen Körper zitternd beugte er sich vor um bedeckte den Leichnam wieder. Dann schlug er die Seiten unter die Überreste, hob sie hoch und trug sie zu seinem Pferd. Gleich, wie verunstaltet die Leiche, wie aussichtslos die Situation war, Resham war sein Vater. Er würde ihn nicht zurücklassen. Ihm würde etwas einfallen. Etwas, das dem Toten zumindest noch einen Funken Ehre zuteilwerden ließ, ehe sich Riell auf ewig verabschieden musste. Tief in seinem Inneren spürte er neben all der Trauer und Verzweiflung jedoch noch etwas anderes – bittere Entschlossenheit. Er hatte Caesians Nachricht verstanden. Von nun an würde er vor nichts mehr zurückschrecken, um diesen Bastard vom Antlitz der Welt zu tilgen, gleich, wie viele Sünden er beging. Denn im Jenseits wartete niemand auf ihn. Langsam kam Keiro zu sich. Er spürte den Wüstensand unter seinen Fingern, der warme Wind streichelte sein Gesicht. Er stemmte sich hoch. Klarheit. Absolute Klarheit. Sein Verstand war so klar wie schon seit mehreren Sommern nicht mehr. Ein diabolisches Lächeln umspielte seine Lippen. Er wusste nun, was er tun musste. Die Götter hatten ihm den Weg gezeigt, der ihm bestimmt war – und ihm die Mittel in die Hand gegeben, ihn zu bestreiten. Er würde nicht scheitern. Aus einem Gefühl heraus beschwor er seine Ka-Bestie. Die dabei freigesetzt Energien ließen ihn erschaudern. Was er dann sah, gefiel ihm. Shadara hatte sich verändert. Fangzähne, noch gewaltiger als zuvor. Fell, schwarz wie die Nacht selbst, von blauen Flammen umspielt. Augen, die ihn an die Untiefen der Unterwelt erinnerten. Eine Aura von absoluter Finsternis. Ja, er würde nicht scheitern. Nicht mehr. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)