Die Seele der Zeit von Sechmet (Yu-Gi-Oh! Part 6) ================================================================================ Kapitel 31: Danach ------------------ Trauer lag auf den Zügen der Göttin. Ihre müden Augen blickten hinab auf die Welt, die sie einst mit geschaffen hatte. Sie vermochte nicht, das Sehen von Men-nefer zu wenden. Der äußere Stadtring war vollkommen verwüstet worden. Vor allem das Gebiet, in dem der alte Schattentänzer seine letzten Kräfte vereinigt hatte, war zerstört. Irgendwo dort unten musste sein Leichnam sein. Das Stadtinnere und der Palast hingegen waren so gut wie unversehrt – sah man davon ab, dass ein Irrer auf dem Thron saß, dessen Leute Häuser plünderten und Menschen in Ketten legten. Ein Seufzen verließ die Kehle der Gottheit. Es war traurig. So verdammt traurig. Chaos und Tod hatten ihr geliebtes Land heimgesucht. „Noch ist nichts verloren“, riss sie eine Stimme aus den Gedanken. Nicht, dass sie die Anwesenheit des anderen göttliches Wesens überrascht hätte. Dafür war ihre Bindung viel zu eng. „Es ist schon mehr als genug verloren“, erwiderte sie. „All die unschuldigen Leben. All das vergossene Blut. Wann hört das alles auf?“ „Niemals, Schwester“, entgegnete Sachmet, während sie sich neben ihrer Schwester niederließ. „Es ist die Natur der Menschen, sich gegenseitig zu zerstören. Daran vermögen auch wir nichts zu ändern.“ Bastet sah ihrem Gegenüber fest in die Augen. „Sagtest du nicht, die Seelen aus der Zukunft könnten das Schicksal ändern?“ Sachmet nickte. „Ich hatte die Vermutung, dass es so sein könnte. Doch noch wissen wir nicht, ob es so ist. Weder haben wir eine Bestätigung, noch gibt es Dinge, die beweisen, dass ich falsch lag.“ Plötzlich kam die Göttin in Katzengestalt auf die Beine. „Was sagst du da? Hast du denn nicht gesehen? Men-nefer ist gefallen! Welche weiteren Beweise benötigst du noch, Schwester?“ „Du bist zu voreilig, Bastet“, erwiderte Sachmet, während auch sie ihren löwenförmigen Körper hoch stemmte. „Caesian mag eine Stadt sein Eigen nennen. Eine einzige Stadt. Noch ist nicht ganz Ägypten in seiner Gewalt.“ Die Gottheit der Liebe richtete den Blick wieder auf das Bild Men-nefers, welches vor ihr schwebte. „Damit magst du recht haben. Noch. Auch du siehst diese Visionen, nicht? Sie mögen zu diesem Zeitpunkt noch undeutlich sein. Doch mit jedem Tag der Menschen, der vergeht, gewinnen sie an Schärfe. Bald kann nur noch das, was die Menschen ein Wunder nennen, uns und die ganze Welt retten.“ „Und dieses Wunder, Schwester, wird sich direkt vor unseren Augen zutragen“, versicherte Sachmet, ehe auch sie wieder hinab auf die Welt blickte. „Ich bin die Göttin des Krieges. Ich kenne den Kampfgeist meiner Ägypter. Sie kämpfen bis zum letzten Atemzug. Ein jeder von ihnen.“ Bakura erwachte noch vor der Morgenröte. Lediglich ein paar Sonnenstrahlen hatten ihren Weg bereits zur Welt hinab gefunden. Das morgendliche Zwielicht lag über dem Land. Er war noch nie ein Langschläfer gewesen. Anders als die feinen Damen und Herren des Adels war es einem Dieb nicht vergönnt, auszuschlafen. Denn Schlaf barg Gefahren und war gewiss die Zeit, in der ein Mensch am schutzlosesten war. Und er hatte keine Wachen, die darauf achteten, dass ihm nichts geschah. Selbst wenn er sie gehabt hätte, wäre sein Misstrauen wohl zu groß gewesen. So hatte er von Kindesbeinen an gelernt, früh aufzustehen. Eine Angewohnheit, die sich wohl nie mehr ändern würde. Er befreite sich aus den Decken und verließ die Höhle, die er zu seinem Schlafplatz auserkoren hatte. Anders als der Pharao und sein Pöbel hatte er vorgezogen, alleine zu nächtigen. Draußen war es noch kalt. Nachts fielen die Temperaturen in der Wüste beträchtlich, erreichten manchmal gar Minusgrade. Er zog seinen Mantel enger um sich, um vor der Kälte geschützt zu sein. Als er den freien Platz in der Mitte der Himmelspforte erreichte, ließ er den Blick umher schweifen. Einige Schattentänzer waren bereits – vielleicht auch immer noch – auf den Beinen. Fast alle hielten dampfende Becher in den Händen, um sich zu wärmen. Plötzlich löste sich eine in ihren Umhang gehüllte Gestalt aus der Gruppe und kam langsam auf Bakura zu. „Guten Morgen“, sagte sie zunächst. Ihre Stimme klang matt. Jetzt erkannte der Grabräuber auch, wer da zu ihm gekommen war. Samira. „Möchtest ... Möchtet Ihr auch etwas von unserem Kräutertee? Der wärmt und macht munter.“ Bakura ließ den Blick prüfend zu der verbleibenden Schattentänzer-Truppe schweifen. Drei von ihnen erhoben sich soeben und verschwanden – die Müdigkeit hatte sie wohl doch noch übermannt. Lediglich eine weitere Person blieb zurück. Es war die Heilerin, die sich am Vorabend noch um seine Wunde gekümmert hatte. Schließlich entschied Bakura, dass er Samira und Assihra wohl für eine Weile ertragen konnte. „Meinetwegen“, gab er daher zurück. Das rothaarige Mädchen lächelte kurz, dann eilte sie voraus, um den Tee aufzusetzen. Der Grabräuber folgte ihr schließlich und ließ sich am Feuer nieder, das zwischen den beiden Schattentänzern flackerte. Vielleicht trieb ihn auch die Neugier dazu. Irgendwie interessierte er sich doch dafür, was es mit den Schattentänzern auf sich hatte. Während sein Bruder über sie schimpfte, sobald ihr Name fiel, schienen sie für seine Base eine zweite Familie zu sein. Assihra begrüßte er mit einem Nicken. Ein Lächeln war die Antwort. „Guten Morgen, König der Diebe. Konntet Ihr einigermaßen schlafen?“ „Wie mann's nimmt.“ Er verkniff sich die Frage, wie man bei den Gesängen, die beinahe die ganze Nacht durch die Felsen gezogen waren, hätte ordentlich schlafen können. „Wie sieht es mit Eurer Wunde aus? Hat sie noch geblutet?“ Bakura schob seinen Mantel beiseite, um den Verband zu inspizieren, der sich um seinen Bauch zog. Kein Blut. „Sehr gut“, meinte Assihra. „Es wird schnell verheilen.“ „Ist nicht meine erste Wunde“, entgegnete Bakura. „Ich hatte schon Schlimmeres“, fügte er hinzu, während Samira ihm einen Becher reichte und ihn dabei mit großen Augen ansah. „Etwa so was wie die Narbe an deinem Auge?“, fragte sie schließlich, wobei sie erneut die höfliche Anrede vergaß. „Wie hast du die eigentlich gekriegt?“ Der Grabräuber zog eine Augenbraue in die Höhe. Assihra räusperte sich sofort, um Sam zurecht zu weisen. Denn wenn sich der König der Diebe und seine Base auch nur annähernd ähnelten, dann bedeutete diese Geste nichts Gutes. Wider erwarten reagierte er jedoch anders. „Die Geschichte ist nichts für kleine Kinder.“ Augenblicklich konnte man sehen, wie sich Samiras Wangen rötlich verfärbten und aufblähten. Bakura konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, ob des Anblicks. Gerade erinnerte die Kleine an einen Kugelfisch. Offenbar war sie jedoch zu müde, um zu streiten. So setzte sie sich einfach wieder auf ihren Platz und schmollte. Der Grabräuber legte derweil seine Hände um den dampfenden Becher. Zugegeben, die Wärme tat gut. Auch zeigte der erste Schluck von dem Gebräu, dass es lange nicht so scheußlich schmeckte, wie er erwartet hatte. Lange blieb ihm die aufkeimende Ruhe jedoch nicht vergönnt. Bald fand noch jemand den Weg aus seinem provisorischen Bett. Und dabei handelte es sich um niemand anderen als Keiro. Bakura hörte, wie Samira irgendetwas vor sich hin brabbelte, dann verkündete sie, sich unter diesen Umständen doch ein wenig hinzulegen. Damit war sie auch bereits verschwunden. Der Bruder des Grabräubers musste ja wirklich einen ziemlichen Ruf bei dem Clan haben, wenn selbst dieses Nervenbündel eher Reiß aus nahm, als mit ihm in Kontakt zu kommen. Doch das war Bakura im Moment egal. Keiro überwand seine Scheu schließlich und kam trotz Assihras Anwesenheit zu ihnen herüber. „Guten Morgen“, sagte er dann. Sein Bruder erwiderte den Gruß knapp. Die anwesende Heilerin beließ es jedoch bei einem kurzen Nicken, ehe sie sich erhob und erklärte, dass sie nach einigen Verletzten sehen wollte. Somit blieben die beiden Kinder Kul Elnas alleine zurück. Zunächst herrschte Schweigen. „Hast du gut geschlafen?“, erkundigte sich Keiro schließlich, als er sich endlich entschied, Platz zu nehmen. „Geht“, entgegnete Bakura. Damit breitete sich vorerst wieder Funkstille aus. Jedoch nicht lange. „Bist du etwa noch immer sauer auf mich?“ Der Grabräuber konnte nicht anders, als die Augen zu verdrehen. „Nein. Ich tu' nur so.“ Ein in die Länge gezogenes Seufzen. „Ich kann nicht mehr tun, als mich zu entschuldigen. Leider bin ich nach wie vor nicht in der Lage, die Zeit zurück zu drehen. Ansonsten hätte ich bereits einige Dinge ungeschehen gemacht. Unter anderem diesen Vorfall. Hör zu, ich würde lügen, wenn ich sagen würde, ich hatte nicht vor, dich von Risha fernzuhalten. Ja, ich habe es versucht und ich habe eingesehen, dass es falsch war. Aber was willst du noch von mir? Soll ich vor dir auf die Knie fallen?“ „Wäre ein Anfang.“ „'Kura, bitte! Ich wollte dir nichts Böses! Ich war und bin eben der Ansicht, dass der Umgang mit Risha nicht ...“ „Es geht verdammt nochmal nicht um Risha! Es ist mir gleich, wieso, weshalb und warum du mich aus Men-nefer locken wolltest. Fakt ist, dass du mich hintergangen hast und das ist es, was mir stinkt. Im übrigen mag Risha eine ziemliche Ziege geworden sein, ich habe aber nicht den Eindruck, dass sie für mich eine Gefahr darstellen würde.“ „Ist ja gut, ist ja gut! Ich sehe es ja ein. Ich hätte das nicht tun dürfen, gleich welche Gründe es gibt. Es tut mir leid. In Ordnung?“ Schweigen. „Meine Güte, 'Kura! Bitte, mehr als dich um Verzeihung anzuflehen, kann ich nun wirklich nicht tun!“ „Doch, da gäbe es etwas.“ „Und das wäre?“ Bakura fixierte seine Gegenüber. „Hör auf dich in mein Leben einzumischen. Ich halte zu den Leuten Kontakt, zu denen ich Kontakt halten will. Ebenso verachte und hasse ich, wen ich will. Und der Pharao steht nach wie vor ganz oben auf meiner Liste. Wenn du das endlich akzeptieren kannst, ohne weiterhin meine Weltanschauung zu kritisieren, dann können wir von Verzeihung sprechen.“ Für einen Augenblick herrschte Stille. „Tut mir leid ... aber das kann ich nicht“, entgegnete Keiro schließlich. „Denn der Mensch, den du für Kul Elnas Fall verantwortlich machst, war damals kaum so alt wie wir. Er ist nicht schuldig, gleich wie sehr du dir das einredest. Du suchst krampfhaft einen Schuldigen, doch diesen gibt es nicht mehr. Alle Verantwortlichen sind tot.“ „Ist dem so, ja?“, antwortete Bakura. Seine Augen verengten sich dabei zu Schlitzen. „Wenn wir hier schon von Verantwortlichkeit sprechen, hast du dich aber auch nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Wer schiebt denn grundsätzlich alles auf unsere werte Base, statt selbst für den Mist einzustehen, den er verbockt hat? Andauernd gibst du vor, sie sei der Auslöser für deine Handlungen, anstatt einfach zu begreifen, dass einzig und allein du es bist, der so eine Scheiße verzapft.“ Er erhob sich ruckartig und wandte sich zum Gehen. Zuvor hielt er aber noch einen Augenblick inne. „Und nur nochmal zum Mitschreiben: Ich brauche niemanden, der mich beschützt. Selbst wenn Risha Seths Reinkarnation höchst persönlich wäre, würde ich alleine mit ihr fertig werden.“ Dann war er verschwunden. Atemu erwachte spät. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, als er die Höhle verließ, die er sich mit den anderen teilte. Es lag eigentlich nicht in seiner Gewohnheit, derartig lange zu ruhen. Doch er war einfach zu erschöpft gewesen. Leise schlüpfte er hinaus, um die noch Schlafenden nicht zu wecken. Namentlich handelte es sich dabei um Joey – was zu erwarten gewesen war – Marik, Mana und Tea. Draußen erblickte er Yugi. Er grüßte freundlich, als sich der Pharao zu ihm gesellte. „Und, hast du gut geschlafen?“ „Ja, danke Partner“, erwiderte seine Majestät. „Wie sieht es mit dir aus?“ „Wenn man lange genug mit Joey befreundet ist und gelernt hat, sein Schnarchen zu ertragen, findet man überall zur Ruhe“, entgegnete der Kleinere zwinkernd. Atemu konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. „Kann ich mir vorstellen. Ryou ist auch schon wach?“ „Jep. Der wäscht sich gerade.“ „Hätte ich vielleicht auch mal nötig...“, entgegnete der Pharao, während er an sich herunter sah. Zwar hatte es sich keiner von ihnen am gestrigen Abend nehmen lassen, den gröbsten Schmutz herunter zu waschen, doch für eine gründliche Reinigung hatte keiner von ihnen Kraft oder Nerven besessen. Yugi quittierte seine Aussage mit einem Lächeln. „Glaub mir, danach fühlst du dich gleich besser. Es ist zwar kein königliches Schaumbad, aber es erfüllt seinen Zweck.“ Atemu schmunzelte. Sein Blick wirkte jedoch betrübt. „Ich kann es ehrlich gesagt noch immer nicht richtig glauben“, sagte er schließlich. „Men-nefer ... nie hätte ich gedacht, dass jemand diese Stadt einnehmen würde. Selbst im Kampf gegen Zorc hat sie kaum Schäden davon getragen. Nun liegt nicht nur ein großer Teil in Schutt und Asche, jetzt gehört sie auch noch Caesian.“ Während er sprach, ballten sich seine Finger zur Faust. Yugi beobachtete einen Moment, wie sein Gegenüber die Nägel in die Haut presste. Dann legte er Atemu eine Hand auf die Schulter. „Es kommen wieder andere Zeiten. Men-nefer wird nicht für immer in seiner Hand bleiben. Wir holen die Stadt zurück.“ „Ja, das werden wir. Ich weiß nur noch nicht wie ...“, erwiderte der Pharao tonlos. „Es gibt einen Weg. Da bin ich mir absolut sicher“, versicherte Yugi derweil erneut. Sein Gegenüber sah auf. Und schließlich konnte seine Majestät einfach nicht anders. Er musste lächeln. Der unerschütterliche Mut und die unendliche Zuversicht seines Freundes waren schon immer ansteckend gewesen. So war es auch diesmal. Der Knoten, der sich seit gestern um sein Herz geschlossen hatte, lockerte sich ein wenig. Ja, sie würden es schaffen. Sie wussten noch nicht wie, aber es gab einen Weg. Mit Sicherheit ... „Vielleicht solltest du erst einmal etwas essen. Ich hole uns ein wenig Brot.“ Damit war der Kleinere auch schon verschwunden. Doch Atemu blieb nicht lange allein. Bald trat Seto aus den Schatten der Felsen und steuerte direkt auf den Pharao zu. Sie begrüßten sich, ehe der Hohepriester Platz nahm. „Ich war soeben auf den Klippen. Ich habe diesen Kipino angewiesen, sein Ka gen Men-nefer zu entsenden.“ Firell eignete sich für derlei Erkundungsflüge tatsächlich. Er war klein und kaum von einem gewöhnlichen Vogel zu unterscheiden. „Was konnte er sehen?“, erkundigte sich seine Majestät. Dem Sohn Aknadins fiel es sichtlich schwer, das Gesehene darzulegen. „Caesians Truppen haben die ganze Stadt besetzt. Im Moment scheint es, als seien sie dabei, sich niederzulassen. Sie plündern jedes Haus, an dem sie vorbei kommen. Außerdem haben nicht alle Einwohner Men-nefers die Stadt verlassen. Das Ka-Wesen konnte beobachten, wie zahlreiche Menschen zu den Kerkern geführt wurden.“ Atemu seufzte. „Wir hatten gehofft, dass genau das nicht geschehen würde. Aber eigentlich war es zu erwarten gewesen.“ Seine Stimme überraschte ihn bei diesen Worten selbst. Er hatte aufrichtiges Mitleid mit diesen Menschen, die mit Sicherheit leiden mussten. Zugleich klang er jedoch erstaunlich zuversichtlich. „Uns blieb nicht genug Zeit, als dass es alle hätten schaffen können. Hinzu kommen jene, die lieber mit unserer Hauptstadt untergehen wollten, als die Niederlage anzuerkennen“, erklärte Seto. „Euch trifft keine Schuld.“ „Du weißt selbst, dass es so nicht ist“, entgegnete Atemu. „Ich bin ihr König. Wann immer sie durch Krieg, Hunger oder andere Umstände leiden, liegt es in meiner Verantwortung, sie vom Unheil zu befreien.“ Seiner allmählich zurückkehrenden Zuversicht taten diese Worte keinen Abbruch. Denn was er sagte, stellte lediglich eine Tatsache dar. „Ihr mögt den Göttern näher sein, als jede andere Seele in diesem Land, mein Pharao“, meinte Seto. „Doch auch Ihr seid nicht allmächtig.“ Seine Majestät lächelte matt. „Wohl wahr ...“ Yugi kehrte mit dem Brot zurück. Sie saßen schweigend beieinander und aßen. Dem Kleinsten von ihnen war sofort aufgefallen, dass der Hohepriester ein ernstes Thema angesprochen haben musste. So schwieg er nun und überließ Atemu für den Moment seinen Gedanken. Doch die Ruhe währte nicht lange. Bald kam Riell zu ihnen und bat den Pharao darum eine Besprechung abzuhalten, sobald alle erwacht waren. Der König Ägyptens stimmte ohne Umschweife zu. Noch war er erschöpft, das musste er zugeben. Zugleich loderte jedoch ein Feuer in ihm. Eines, das Caesian die Schmach, die er diesem Land zugefügt hatte, doppelt und dreifach heimzahlen würde. Es herrschte Katerstimmung. Zumindest kam es Marlic so vor. Egal wo er hinsah, überall waren Schattentänzer und andere dabei, ihre Wunden zu lecken. Zum einen ließ dieses Bild sein Herz, das für Chaos und Schmerz schlug, hüpfen. Zum anderen langweilte es ihn zu Tode. Zum dritten war es die falsche Seite, die hier litt. Er fragte sich, wie sie alle nur so herum sitzen konnten. Caesian hatte sie zurück geschlagen. Wie nur konnten sie also einfach herum hocken und nichts tun? Marlic war nicht dumm. Er wusste, dass er alleine wenig gegen diesen Kerl ausrichten konnte. Und dennoch wäre er am liebsten jetzt sofort nach Men-nefer gegangen und hätte sich diesem Mann gestellt. Er musste zugeben, dass der Typ ihn beschämt hatte – etwas, was zuvor nur seiner ach so großen Majestät gelungen war. Jedes Mal, wenn er an den vergangenen Tag zurück dachte, füllte sich seine Seele mit Zorn. Caesian hatte es tatsächlich geschafft, dass er, Marlic, vor ihm im Staub kroch. Und dafür, das schwor er sich bei den wenigen Dingen, die ihm wichtig waren, würde er bezahlten. Teuer bezahlen. Er würde ihn töten. Langsam und überaus qualvoll. Er würde sich anstrengen, ihm Leid zuzufügen – schlimmere Dinge, als er sich für den Pharao je ausgemalt hatte. Und wenn er damit fertig war, wäre Atemu an der Reihe. Sie hatten noch eine Rechnung offen. Immerhin war er es gewesen, der Marlic im Battle-City-Turnier geschlagen und aus der Welt der Lebenden verbannt hatte. Diese Schmach ... vergessen konnte er sie nicht. Aber er konnte sie wieder gut machen. Zumindest vor den Augen aller Beteiligten. Er selbst würde sich jedoch den Rest seines Daseins darüber ärgern, dass es dem Pharao wenigstens dieses eine Mal gelungen war, ihn in seine Schranken zu weisen. Anfangs hatte er noch darüber nachgedacht, ob er diese 'zweite Chance' nicht nutzen sollte, um sich ein Leben in Saus und Braus aufzubauen. Er hatte sich jedoch bald dagegen entschieden. Viel zu langweilig. Außerdem war seine Verachtung für Atemu nach und nach wieder erwacht. Je länger er sich in der Gegenwart dieses Zwergs befand, desto mehr keimte der alte Hass wieder auf. Schon seine ganze Art ging Marlic gehörig gegen den Strich. Eines jedoch musste er zugeben: Seine Majestät hatte sich ein wenig zum Guten verändert. Er war nicht mehr diese Person, die immer versuchte, es allen recht zu machen und stets freundlich zu sein. Nein, alleine das Beispiel 'Bakura' zeigte schon, dass er auch ganz anders konnte – wodurch Marlic nur noch schärfer auf eine Revanche wurde. Allerdings würde er sich zuvor gut überlegen müssen, wie er das anstellte. Wie gesagt, er war nicht dumm – und wusste genau, dass Des Gardius sich nicht mit den Göttern des Pharao messen konnte. Er mochte mehr über die drei Göttermonster wissen, als neunundneunzig Prozent der Weltbevölkerung, das war richtig. Doch ohne die nötige Macht war er auch er kein Gegner für sie. Er würde sich also etwas einfallen lassen müssen. Diese göttlichen Relikte wären eine Möglichkeit, bestünde nicht die Gefahr, mit ihrem Einsatz die ganze Welt zum Teufel zu jagen. Denn was hatte er von der Niederlage seines Erzrivalen, wenn anschließend niemand mehr da war, um vor ihm um Gnade zu winseln? Genau. Nichts. Aber gut. Man musste ja nichts überstürzen. Zunächst galt es sowie so, Caesian auszuschalten. Denn er würde diesem Kerl keinesfalls sein Leben oder das seiner Beute überlassen. Wenn hier jemand die Menschheit das Fürchten lehrte, dann würde es Marlic sein. Aber um das zu erreichen, musste der fremde Herrscher weg und das würde nicht passieren, solange alle nur herum saßen und nichts taten! Doch auch daran konnte er momentan nichts ändern. Es war regelrecht zum verzweifeln. Gelangweilt und schlecht gelaunt stieß er sich von der Felswand ab, an der er gelehnt hatte. Am besten, er legte sich noch einmal schlafen, dann verging die Zeit schneller. Langsam wandte er sich um – und spürte im nächsten Augenblick, wie etwas mit vollem Karacho in ihn hinein donnerte. Perplex sah er hinunter und fand, am Boden hockend, diese halbe Portion vor, die sich zu den Schattentänzern zählte. Sie erschien zunächst verwirrt, dann guckte sie aus großen, grünen Augen zu ihm hinauf. „Ähm ... 'tschuldigung, habe dich nichts gesehen“, meinte Samira, stand auf und klopfte sich den Staub von der Kleidung. Doch für Marlic war die Sache damit noch nicht gegessen. Seine Laune war eh schon nicht die beste. „Pass' beim nächsten Mal besser auf“, zischte er. „Oder ich schneide dir den Bauch auf, schnapp' mir deine Gedärme und erwürge dich damit.“ Zunächst herrschte absolute Stille. Auf dem Gesicht des ehemaligen Milleniumsgeistes machte sich schon ein siegessicheres Grinsen breit, da gefror seine Miene plötzlich zu Eis – denn Samira reagierte vollkommen anders, als er sich erhofft hatte. „Boah ... Du bist ja voll kreativ! Hast du das schon mal ausprobiert? Hat es funktioniert? Zeigst du mir, wie man das macht?“ Was war denn das für eine Reaktion? Allmählich verstand er, warum so viele diesen Clan mieden. Anscheinend waren seine Mitglieder wirklich nicht ganz knusper ... Zuerst Bakuras durchgeknallte Cousine – gut, die wusste wenigstens, wie man Leute umbrachte – dann deren Bruder mit dem Weltenretter-Tick und jetzt das! Den Göttern sei Dank besaß Marlic die Gabe, seine Beherrschung sehr schnell wiederzufinden, wenn der seltene Fall eintrat, dass er sie verlor. „Ja, ich kann dir das gerne zeigen ... an deinem eigenen, mickrigen Leib!“ So, jetzt war ihm der Sieg aber sicher. „Nö, das ist ja doof. Dann kann ich gar nicht richtig sehen, was genau du machst.“ Nein ... falsch gedacht. Die Kleine wollte es auf die harte Tour? Konnte sie haben! „Ich kann dir ja vorher die Augen heraus schneiden und sie so platzieren, dass sie genau auf deinen Körper gerichtet sind.“ Marlic legte alle Kälte, die er aufbringen konnte, in diesen Satz. Nun war aber Ruhe ... „Ach Quatsch, das geht doch gar nicht. Augen, die man ausschneidet, sehen nichts mehr, wusstest du das denn nicht? Ne, du musst jemand anderen nehmen. Aber keinen von Caesians Soldaten, weil die können ja nicht sterben. Dann kann ich nämlich gar nicht sagen, ob deine Methode jetzt klappt oder nicht.“ Totenstille. Womit hatte er das verdient? Erst der Pharao. Dann Caesian. Und jetzt auch noch dieses ... war Mädchen überhaupt treffend? Nein, definitiv nicht. Dieses Balg musste eine Ausgeburt der Unterwelt sein, anders war das nicht zu erklären. Zugegeben, irgendwo fand er ihre Einstellung nicht schlecht. Doch sie hatte einen entscheidenden Nachteil: Sie ließ Marlics Drohungen wie Wattebällchen aussehen und das gefiel ihm ganz und gar nicht. „Also, was ist jetzt? Lass und doch einfach was abmachen. Wenn dieser Krieg vorbei ist, dann treffen wir uns mal und du zeigst mir, wie man Leute mit ihren Gedärmen erwürgt, einverstanden?“, plapperte Samira plötzlich weiter und hielt ihm die Hand hin. Der Ältere musterte die zierlichen Fingerchen für einen Moment, dann wandte er sich einfach ab und verschwand im nächsten Höhleneingang. Er sollte schlafen. Dringend. Bevor die Liste der Dinge, die er schleunigst ändern musste, sobald Caesian und der Pharao nicht mehr waren, noch weiter ins Unermessliche wuchs. Zurück blieb ein rothaariges Nervenbündel, auf dessen Gesicht sich ein triumphierendes Grinsen zeigte. Das hatte er wohl nicht von ihr erwartet ... Risha saß auf einem Vorsprung an der Außenseite der Himmelspforte. Unter ihr erstreckte sich die Wüste bis zum Horizont. Darüber thronte das stets blaue Firmament. Sie fühlte sich müde. Müde und unendlich ausgelaugt. Es war seltsam zu wissen, dass Resham nicht mehr da war. Ein Teil von ihr erwartete, dass er jeden Moment um die Ecke kommen und sie grüßen würde, das immerzu freundliche und milde Lächeln auf seinem Gesicht. Doch der andere Teil kannte die Wahrheit. Er war tot. Die halbe Nacht hatte sie keinen Schlaf gefunden und wieder und wieder mit sich selbst gerungen. Etwas in ihr hatte sich der Trauer hingeben wollen. Doch sie hatte es nicht zugelassen. Dies war der denkbar schlechteste Zeitpunkt dafür. Es herrschte Krieg. Aber noch etwas anderes hatte ihre Gedanken rasen lassen. Wie von selbst fanden ihre Finger die Stelle am Hals, an der sich ein hauchdünner Schnitt dahin zog. Keiro. Der Ausdruck auf seinem Gesicht. Der Glanz in seinen Augen. Das, was er gesagt hatte ... Sie hatte ihn unterschätzt. Und genau das hätte sie beinahe das Leben gekostet. So sehr sie diesen Hohepriester und den nervtötenden Blonden auch verabscheute, wären sie nicht dazu gekommen, sie läge nun wohl tot in den Trümmern Men-nefers. Sie wusste selbst nicht, wie sie über das Geschehene denken sollte. Zum einen war sie unheimlich wütend. Auf sich selbst und auf Keiro. Zum anderen verspürte sie jedes Mal auf's Neue einen Stich, sobald sie an die Szenerie zurück dachte. Einst hatten sie miteinander gespielt. Alle drei. Sie hatten sich den ewigen Zusammenhalt geschworen, gleich, was auch immer passieren würde. Sie wären füreinander da, würden einander nie im Stich lassen ... Und dann war Kul Elna in Flammen aufgegangen. All die Versprechen waren vom Feuer verzehrt worden. Diese Erkenntnis war für Risha eine der bittersten gewesen. Sie erinnerte sich noch an diesen einen Abend, als Keiro und sie zum ersten Mal aufeinander losgegangen waren. Spätestens da war der Schattentänzerin klar gewesen, dass nichts je wieder so werden würde, wie es vor der Tragödie war. Auch jetzt, da Bakura aufgetaucht war, nicht. Den Beweis dafür trug sie an ihrem Hals. Erneut stellte sie sich die Frage, warum Keiro noch lebte. Schon des Öfteren waren sie einander begegnet, das Resultat war zumeist ein Kampf gewesen. Bei ungefähr der Hälfte davon war sie überlegen gewesen. Sei es durch eine winzige Unachtsamkeit von seiner Seiten oder durch einen Zufall. Dennoch hatte sie ihn nicht töten können. Wann immer sie vor ihm gestanden war – es hätte nur noch ein Schlag gefehlt – hatte sie sich wie versteinert gefühlt. Sie war nicht fähig, ihn umzubringen. Sie konnte ihn verletzten, doch töten konnte sie ihn nicht. Und genau das war es, was sie wahnsinnig machte. Er hatte ihr mehr als einmal Wunden zugefügt – sowohl psychisch als auch körperlich – und trotzdem war es immer wieder das Gleiche! Sie ließ ihn gehen, nur um bei der nächsten Begegnung wieder beinahe umgebracht zu werden.Warum? Warum nur konnte sie ihn nicht beseitigen? Alleine bei dem Gedanken daran, ihn verschwinden zu lassen, sträubte sich etwas in ihr. Aber wieso? Ihr eigenen – leiblichen – Eltern hätte sie ohne mit der Wimper zu zucken in die Unterwelt geschickt, doch bei Keiro brachte sie es nicht fertig, obgleich er das größte Arschloch dieser Sphäre war. Es war zum verzweifeln. Geistesabwesend massierte sie sich die linke Wange. Ein Teil des Augenlides und die Haut über dem Wangenknochen waren inzwischen rot-blau angelaufen. Hätte Kiarna nicht schon mit diesem Soldaten abgerechnet, der die Dreistigkeit besessen hatte, ihr tatsächlich ins Gesicht zu schlagen, sie hätte ihn wohl in Stücke gerissen ... Immer und immer wieder, wenn sich sein Körper regeneriert hätte. Mit dem vergossenen Blut hätte man anschließend locker einen Brunnen speißen können. Sie war schon lange nicht mehr zimperlich. Wenn jemand die Dreistigkeit besaß, sie zu verletzen, dann litt er dafür. Grausam und qualvoll. Sie war sich sicher: Irgendwann würde auch Keiro den letzten Wall, der sie davon abhielt, ihn zu töten, einreißen. Und dann würde sie ihn, Bakura hin oder her, all die Schmerzen spüren lassen, die er ihr so lange zugefügt hatte. Seufzend zog Mana die Decke höher über ihren Körper. Soeben war Assihra wieder gegangen. Sie war noch einmal gekommen, um sich die Verletzungen der jungen Magierin anzusehen. Sie hatte den Verband neu angelegt, damit er möglichst straff um ihren Oberkörper saß. Denn von Zeit zu Zeit lockerten sich die Binden, auch wenn sie sich so wenig wie möglich bewegen durfte, um die optimale Regeneration ihres Körper zu garantieren. Mana wusste, dass das wichtig war. Zugleich war sie jedoch unruhig. Dies war alles andere als der rechte Zeitpunkt, um sich Ruhe zu gönnen. Hinzu kam, dass sie nicht viel Schlaf fand. Das Atmen tat mit den gebrochenen Rippen einfach zu sehr weh. Immerhin hatte ihr Assihra ein kleines Gefäß da gelassen, in dem sich ein dickflüssiges Gebräu befand. Sie sollte es nehmen, wenn sie schlafen wollte. Doch gerade war ihr nicht danach. Auch wenn sie nichts weiter tun konnte, als die Decke anzustarren und ihre Gedanken kreisen zu lassen. Sie blickte zum Eingang der Höhle, als jemand eintrat. Ihr Gesicht hellte sich auf. „Atemu!“, sagte sie freudig und versuchte, sich aufzusetzen – was im nächsten Moment mit einem Stechen in ihrem Brustkorb quittiert wurde. Sofort war der Besucher bei ihr und drückte sie auf das Lager zurück. „Was machst du denn da? Bleib liegen!“ Mana ließ sich auf das provisorische Bett aus Stroh und Lacken zurück sinken, noch immer lächelnd. „Du hast gut reden! Immerhin musst du nicht den lieben langen Tag in einer Höhle verbringen, ohne irgendetwas machen zu können.“ Nun kam auch Atemu nicht um ein Lächeln herum. „Stimmt. Aber es ist nur zu deinem Besten.“ „Ich weiß“, seufzte Mana. „Aber sag, was führt dich her?“ „Ich wollte eigentlich einfach nur nach dir sehen. Das ist alles.“ Das Strahlen der Hofmagierin wurde noch breiter. „Das ist lieb. Wie geht es denn eigentlich dir? Was ist mit deinen Verletzungen?“ Der Pharao winkte ab. „Alles halb so schlimm. Ich spüre es schon fast gar nicht mehr. Offenbar war das, was mein Körper am dringendsten brauchte, einfach ein wenig Erholung.“ „Kann ich mir vorstellen. Wenn all das vorbei ist, sollten wir für eine Weile ans Meer reisen. Dann können wir unsere Seelen nach all den Strapazen richtig baumeln lassen“, schlug Mana daraufhin vor. „Das ist eine gute Idee“, entgegnete Atemu. „Eine angemessene Entlohnung für all das Geschehene wäre es alle Mal.“ Das Lächeln der Magierin schwand ein wenig. „Gibt es Neuigkeiten aus Men-nefer?“ Ihr Gegenüber seufzte. „Nicht direkt. Caesian tut das, was wir von ihm erwartet haben. Er lässt plündern und Menschen in die Kerker führen, während er es sich wahrscheinlich auf dem Thron bequem macht.“ „Er soll sich gar nicht erst zu Hause fühlen“, murmelte Mana. „Er wird Men-nefer nämlich schneller wieder verlassen müssen, als ihm lieb ist.“ „Ja ... das können wir nur hoffen.“ „Nein, nicht hoffen 'Temu!“, widersprach die Hofmagierin plötzlich. „Wir werden es schaffen. Da bin ich mir ganz sicher. Was sollte denn auch schief gehen, mit dir an unserer Seite?“ Der Blick des Pharao wirkte überrascht. Es war ewig her, dass ihn Mana bei dem Spitznamen genannt hatte, den sie ihm in ihrer Kindheit gegeben hatte. Zugleich überraschte ihn ihre Zuversicht. Obgleich sie verletzt war, obgleich Men-nefer verloren war, zweifelte sie kein bisschen an Atemu. Im Gegenteil, sie schien absolut überzeugt, dass er alles schaffen konnte, wenn er nur wollte. Schließlich steckte ihn ihr Lächeln auf's Neue an. „Ich werde zumindest alles tun, was in meiner Macht steht, um Ägypten die Freiheit wieder zu schenken.“ „Das klingt schon besser. Du hast schon so vieles geschafft. Dir gelang es sogar, Bakura und Zorc in ihre Schranken zu weisen. Auch Caesian wird noch lernen, dich zu fürchten.“ Marik hatte nicht lange tatenlos herumsitzen können. Noch immer war er angeschlagen von der Begegnung mit Caesians Ka. Dennoch sah er sich in der Lage, durchaus etwas tun zu können. So hatte er schließlich mit Riell gesprochen. Die Schattentänzer hatten bei ihrer Flucht aus den unterirdischen Höhlen, die lange Zeit ihre Heimat gewesen waren, einen Teil der alten Schriftrollen retten können, die sich mit den göttlichen Relikten befassten. Nun saß Marik im Schatten der hohen Felshänge und studierte eine der Schriften. Von klein auf war er mit den Zeichen, die denen aus seiner Zeit in keinster Weise glichen, in Berührung gekommen. So war es kein Wunder, dass er das Geschriebene lesen konnte. Hier und da musste er aber überlegen, bis ihm die Bedeutung wieder einfiel, hinzu kam die meist kryptische Wortwahl, die das Textverständnis erschwerte. Außerdem handelte es sich um eine Handschrift und die entsprachen in der Regel keiner Norm. Dennoch gab er nicht auf. Sie mussten irgendeinen Hinweis auf den Verbleib der anderen Artefakte finden – ehe es Caesian tat. Immer wieder versuchte er die Beschreibungen von Orten mit Ausgrabungsstätten aus dem 21. Jahrhundert in Verbindung zu bringen, doch erfolglos. Er seufzte. Wenn nicht einmal die zu tiefst gläubigen Schattentänzer in der Lage waren, aus diesen kryptischen Andeutungen etwas herauszulesen, das Hinweise geben konnte, wie sollte er es dann schaffen? Ja, er war mit den Göttern und Mythen seiner Heimat vertraut, doch in seiner Zeit war von dem Meisten nicht mehr viel übrig. Eine neue Religion hatte sich behauptet, die Tempel und andere Kultstätten waren nicht mehr als Ruinen. All das war für Marik lange nicht mehr so greifbar wie für den Pharao, Seto, Mana, die Schattentänzer ... „Hey!“ Er sah auf, als sich jemand neben ihn setzte. Es war Joey. Neugierig beäugt der Blonde den Papyrus, der auf den Knien des jungen Ägypters ruhte. „Was machst du denn da?“ „Ich versuche das hier zu entziffern. Vielleicht finden wir darin eine Möglichkeit, die anderen Relikte aufzuspüren“, erklärte Marik knapp und fuhr sich mit einer Hand durch das Haar. Joey sah das Schriftstück noch ein wenig genauer an. Schließlich schüttelte er den Kopf. „Ich fürchte, da kann ich dir nicht helfen, Alter. Das Gekritzel verstehe ich in etwa so gut wie unsere Matheaufgaben in der Schule ...“ Marik ertappte sich auf diese Worte hin bei dem Gedanken, dass er auch nichts anderes erwartet hatte. Er hielt sich jedoch zurück. „Macht nichts. Ich werde schon irgendwie darauf kommen. Zur Not setze ich mich mal mit Riell zusammen, wenn er Zeit hat, und frage ihn, ob er mir vielleicht das eine oder andere erklären kann.“ „Ja, mach' das. Er ist dir bestimmt eine größere Hilfe als ich“, entgegnete Joey, hielt dann jedoch einen Moment inne. „Ach ja, es gibt gleich Essen. Du hast doch sicher auch Hunger. Los, lass' uns was zu futtern besorgen!“ „Danke, aber ich bin nicht hungrig. Hol' dir ruhig schon etwas, ich esse später.“ Der Blonde zuckte nur mit den Schultern. „Wie du meinst. Aber pass' auf, dass du nicht vom Fleisch fällst!“, fügte er noch hinzu und boxte Marik freundschaftlich in die Seite, ehe er aufstand und in die Sonne hinaus trat. Der zurückgebliebene Ägypter seufzte und legte den Kopf in den Nacken, sodass er die kalte Felswand an seinem Hinterkopf spürte. Manchmal wusste er nicht, was er denken sollte. Damals, als er sich entschieden hatte, endlich etwas Richtiges aus seinem Leben zu machen, war er nach Japan gegangen. Zum einen, weil er Japanisch sowie so sprach, zum anderen weil das Schulsystem dort ausgezeichnet war. Er hatte sich an zahlreichen Schulen beworben und hatte schließlich – wie es das Schicksal so wollte – einen Platz in Domino City bekommen. Seitdem war er oft mit Yugi und seinen Freunden unterwegs. Selbst Joey hatte ihm das, was er zu Battle City Zeiten getan hatte, verziehen – und der Gute konnte wirklich nachtragend sein, wenn er wollte. Zumal es ja nicht irgendein Scherz gewesen war, den Marik ihnen da gespielt hatte. Er hatte ihr Leben in Gefahr gebracht. Doch sie alle teilten die Ansicht, dass es seine dunkle Seite gewesen war, die ihn zu derlei Handlungen getrieben hatte. Er schloss die Augen. Ihm kamen die Worte in Erinnerung, die Marlic damals gesprochen hatte, als er ihm gemeinsam mit Bakura gegenüber gestanden war. Du kannst mir nicht einfach die ganzen schlechten Eigenschaften zuschieben und die guten für dich behalten. Und damit hatte er Recht. Marik hatte es zuerst verdrängt, hatte jedoch bald einsehen müssen, dass seine andere Hälfte richtig lag. Das hatte er spätestens dann gemerkt, als er Teil von Yugis Clique wurde. Er war froh, Freunde zu haben, aber auch nicht traurig, wenn er einen Abend alleine verbringen konnte. Mit Ryou kam er recht gut aus, ebenso mit Yugi. Auch Tea war ganz in Ordnung. Aber gerade Joey und Tristan waren zwei Menschen, die ihm leicht auf die Nerven fielen. Ihre überschwängliche und laute Art war das genaue Gegenteil zu Mariks. Dies waren dann die Momente, in denen er sich zusammen reißen musste. Mancher bösartige Gedanke war ihm da schon in den Sinn gekommen. Eigentlich sollte er diesen Leuten dankbar sein, dass sie ihm eine zweite Chance gaben. Aber so ganz konnte Marik eben doch nicht aus seiner Haut. Wie auch? Es gab zu viele Dinge, alleine schon in seiner Kindheit, die sein Leben nachhaltig geprägt hatten. Und es war allgemein bekannt, dass derlei Erfahrungen immer, egal ob man wollte oder nicht, eine Auswirkung auf das Verhalten haben würden – auch wenn man es selbst vielleicht nicht merkte. Er hatte nach all den Jahren, in denen die Verbitterung in ihm gewachsen war, nicht einfach einen Schalter umlegen und sagen können, dass er von jetzt an ein netter, hilfsbereiter junger Mann war. Das war nicht möglich. Dafür hatte er zu lange gehasst. Und dieses Hassen würde niemals gänzlich verschwinden. Irgendwo würde er immer einen gewissen Zorn auf diese Welt hegen, die ihm ein solch schmerzliches Schicksal hatte zukommen lassen. Irgendwann würde wieder der Moment kommen, da er Neid auf seine Freunde verspürte, weil es ihnen besser ergangen war. Doch Marik wusste, dass es eine Möglichkeit gab, nicht so zu werden wie damals, als er ohne mit der Wimper zu zuckten jeden aus dem Weg geräumt hätte, der ihm auf seinem Pfad zur Rache hinderlich war: Er lernte, mit seinen negativen Gefühlen umzugehen. Weder schob er sie ganz beiseite, noch ließ er ihnen freie Bahn. Und so machte er immer wieder seine Fortschritte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)