Die Seele der Zeit von Sechmet (Yu-Gi-Oh! Part 6) ================================================================================ Kapitel 35: Hinweise -------------------- Hinweise Die Nacht war vorüber gezogen. Mit ihr war die Kühle, die der Regen gebracht hatte, verschwunden. Das Einzige, was noch an den nächtlichen Guss erinnerte, waren die leichten Dunstschwaden, die über der Wüste hingen. Doch auch sie zogen sich in Anbetracht der aufkommenden Wärme immer weiter zurück. Schon nach kurzer Zeit gab es keinen Hinweis mehr auf das, was geschehen war. Doch vergessen war die grausame Tat Caesians deshalb nicht. Besonders nicht in den Sphären der Götter. Mit Trauer im Blick betrachtete Osiris das Bild Men-nefers. Dort, im Tempel des Sokar, war das schreckliche Verbrechen verübt worden. Ein gewöhnlicher Mensch hatte sich mit den Gottheiten auf eine Stufe gestellt – und die Welt der Lebenden zahlte den Preis dafür. Die Finsternis war noch stärker, das Ungleichgewicht noch größer geworden. Beides hatte seinen Tribut gefordert. Die sensible Balance zwischen Licht und Dunkelheit, die die Menschen ebenso nannten, wie eine ihrer Göttinnen, hatte sich weiter verschoben. Wenn dem nicht bald Einhalt geboten wurde, würde die Maat endgültig aus dem Gleichgewicht geraten – und die Welt mit sich in den Abgrund reißen. Ein Seufzen entstieg Osiris Kehle. Sokar. Er hatte nicht einmal ein Artefakt sein Eigen genannt. Er war keiner der Stärksten gewesen, hatte keine Chance gehabt, als ein Mensch ihn seiner Macht und seines Lebens beraubt hatte. Einer der Totengötter war dahin. Dieser Gedanke versetzte Osiris einen Stich und lieferte ihm einen weiteren Hinweis darüber, wie es um sie stand. Wenn sie Schmerz empfanden, so zeigte dies nur umso deutlicher, wie weit ihre Stärke bereits geschwunden war. Zunächst hatte dies nur jene unter ihnen betroffen, die ihre Macht in eines der Relikte geschlossen hatten. Doch es war schlimmer geworden. Inzwischen zeigten sich die Auswirkungen in der gesamten Sphäre. Sie alle litten Qualen, die ein jeder von ihnen zu verbergen suchte. „Wo soll das enden?“, stieß Osiris niedergeschlagen hervor. „Im Feuer, mein Freund. Es wird im Feuer enden.“ Er wandte sich nach der grollenden Stimme um, nur um Seth vor sich zu sehen. Ihm folgte Sachmet auf den Fuß. „Caesian wird brennen“, fügte die Gottheit in Raubtiergestalt hinzu. „Und mit ihm wird all das sterben, das er errichtet hat und all jenes wiedergeboren werden, das er vernichtete.“ Osiris ließ ein Zischen vernehmen. „Wenigstens Euch beschert dieser Krieg noch Zuversicht. Aber wie sollte es auch anders sein, seid doch ihr beiden die Einzigen, die von Hass, Tyrannei und Tod zu zehren vermögen. Die Götter des Krieges und des Chaos.“ „Du tust uns Unrecht“, stellte Seth fest. „Erscheint es dir wirklich so, als würde auch nur einer von uns seinen Vorteil aus diesem schrecklichen Zeitalter ziehen?“ Es wurde für eine Weile still. Schließlich schüttelte Osiris das Haupt. „Verzeiht.“ „Nun werde bloß nicht bescheiden, mein Guter“, entgegnete Sachmet mit ihrer tiefen, neckenden Stimme. „Auch du bleibst eben nicht verschont. Auch bei dir zeigen sich die ersten, sterblichen Wesenszüge. Aber das wird vorbei gehen“, fügte sie hinzu, während sie ebenfalls einen Blick auf das Bild Men-nefers warf. „Woher nimmst du nur diese unbändige Zuversicht?“, erkundigte sich der Totengott erneut. „Wir alle leiden, Maat gar noch mehr als wir alle gemeinsam. Mit jeder Erschütterung der Sphäre schwindet ihre Kraft. Es steht nicht gut um sie. Wenn auch noch sie fällt, so sind wir verloren.“ „Es wird sich bald alles wenden. Hab' Geduld, mein alter Freund“, erwiderte die Kriegsgöttin. Osiris Blick wurde misstrauisch. „Sachmet? Du hast nicht etwa ...?“ „Vielleicht doch?“ „Bist du des Wahnsinns? Diese Welt ist schon zur Genüge aus ihren Bahnen geraten! Und du entsendest abermals eine Nachricht an die Menschen? Greifst erneut in das festgeschriebene Schicksal ein? Willst du uns alle hinab in die Unterwelt jagen?“ „Nicht mal mehr die wird es geben, wenn Caesian weiterhin wütet“, antwortete Sachmet in deutlich schärferem Ton. „Ich stelle dir eine Frage, Osiris. Nur eine Einzige: Weshalb tue ich das, wenn mir nicht das Schicksal selbst diese Tat vorher bestimmt hat?“ „Das ist doch Unfug! Wir sind Wesen, die völlig unabhängig von dieser Macht agieren. Wir sind keine Puppen in ihren Händen. Wir tun das, was wir tun, alleine durch unsere eigene, selbstständige Entscheidung! Und diese sollte stets so gewählt sein, dass sie die Wege des Schicksals niemals kreuzt!“ „Und was genau macht dich da so sicher?“, schaltete sich Seth ein. „Was, wenn Sachmets Verdacht berechtigt ist?“ „So ist es uns überliefert. Thot kann dir mit Sicherheit die uralten Schriften zeigen, die vor Äonen entstanden. Sie sind unsere Richtlinie. Sie wurden von den ältesten unter uns geschaffen“, widersprach Osiris. „Du erzählst uns nichts Neues, mein Bester“, mischte sich wieder Sachmet ein. „Wir beide waren dabei. Denn bedenke: Krieg und Chaos herrschen schon seit Menschengedenken. Und mir ist dadurch sehr bewusst, was in diesem Schriftstück festgehalten ist, von dem du sprichst. Es mag von den ältesten, den weisesten unter uns verfasst worden sein – doch wer sagt, dass nicht auch Götter irren können?“ Eisiges Schweigen breitete sich aus. „Wenn ihr Recht hättet“, sagte Osiris nach einer Weile zögernd, seine Stimme nur ein Flüstern, „bedeutete das, dass wir uns in diesen Krieg einmischen müssen?“ „Nein“, entgegnete Sachmet. „Diesen Kampf müssen die Menschen alleine schlagen. Und wir können nur zusehen und ihnen lediglich hier und da einen Hinweis geben. Mehr nicht. Wir würden spüren, wenn es anders wäre.“ Sie wandte sich ab und machte Anstalten, im dichten Nebel, der sie alle umgab, zu verschwinden. „Sachmet!“ Sie hielt noch einmal inne. „Ja?“ „Was für einen Hinweis hast du den Menschen gegeben?“ Sie schwieg für einen Moment. „Die Seele der Zeit, Osiris. Ich habe ihnen einen Hinweis auf die Seele der Zeit gegeben.“ Das Antlitz des Totengottes gefror zu einer Maske des Schreckens. Atemu hatte nach dem Traum nicht mehr zur Ruhe finden können. Nachdem er seine Freunde hatte überzeugen könnten, dass es ihm gut ging und er nur schlecht geträumt hatte, war er nach draußen gegangen und hatte die Felswände der Himmelspforte erklommen. Dort oben war er lange Zeit gesessen und hatte über das, was er im Schlaf gesehen hatte, nachgedacht. Schließlich war er zu dem Entschluss gekommen, dass es kein gewöhnlicher Traum gewesen war. Dafür war er zu real gewesen. Er hatte sich nicht machtlos gefühlt, nur fähig, zu zu schauen. Im Gegenteil. Es hatte gewirkt, als wäre er, oder zumindest ein Teil von ihm, tatsächlich mit Kuriboh in der Wüste gewesen und hätte diesen seltsamen Ort inspiziert. Er hatte sogar genau das tun und sagen können, was er sagen und tun wollte – was eigenartig für einen Traum war. Er war gewohnt, einen solchen nicht annähernd beeinflussen zu können. Besonders an einen Ausschnitt erinnerte er sich immer wieder. „Was ist das hier?“, fragte er Kuriboh. Das zottelige Monster schwebte neben ihm und versuchte, sich auf seine übliche Art und Weise zu artikulieren: Mit Gesten. Zuerst huschte es über den Boden, als suche es etwas. Dann wirbelte es plötzlich herum und deutete auf das Loch. Atemu runzelte die Stirn. „Ich soll diese Öffnung suchen? Aber wir haben sie doch schon gefunden.“ Kuriboh schüttelte den Kopf, bettete ihn auf seine gefalteten Händchen und schloss die Augen. „Verstehe ... ich träume das hier nur. Und wenn ich wieder wach bin, soll ich diesen Ort finden, richtig?“ „Priii!“, gab sein Gegenüber erfreut von sich und nickte eifrig. Mit jedem Augenblick, den er länger darüber nachdachte, wuchs die Überzeugung, dass er tatsächlich nach dieser Öffnung im Wüstensand suchen sollte. Was auch immer sie bergen mochte, das, was er im Traum gesehen hatte, war zu eindrücklich gewesen, als dass er es ignorieren konnte. Vielleicht lag dort der Schlüssel zum Sieg gegen Caesian begraben. Ehe er sich jedoch erheben konnte, wanderten seine Gedanken zu etwas anderem: Dem Schluss des Traumes. Kuriboh war von dieser schwarzen Kugel verschluckt worden – und als abscheuliches Monster wieder entstiegen. Irgendetwas sagte ihm, dass das eine Warnung gewesen war. Er würde sehr vorsichtig sein müssen. Etwas war im Begriff, sich zu ereignen. Und gleich, was es war: Es konnte nichts Gutes sein. Schließlich verließ er seinen Platz und stieg wieder von den Klippen hinunter. Die anderen waren in der Zwischenzeit erwacht. Es war seltsam, die Plätze seiner Freunde Joey und Ryou beim Frühstück verlassen vorzufinden. Er hoffte inständig, dass es ihnen gut ging und ihre Mission erfolgreich sein würde. Er begrüßte die Anderen mit einem matten 'Guten Morgen' und setzte sich zu ihnen, um ein karges Mahl einzunehmen. Als schließlich Seto und Riell dazu stießen, sprach er an, was in der Nacht vorgefallen war. Er erzählte von seinem Traum. Nach einer Weile des Schweigens zog Marlic, der ebenfalls anwesend war, eine Augenbraue in die Höhe. „Und du meinst, bloß weil du es warst, der diesen Traum hatte, würde er etwas besonderes bedeuten?“ Atemu gab einen langen Seufzer von sich. „Das Eine hat mit dem Anderen überhaupt nichts zu tun! Ich ziehe lediglich alle Möglichkeiten in Betracht. Inzwischen vermute ich, dass es sich bei diesem 'Traum' eher um eine Art Vision gehandelt hat. Es war einfach zu real. Es war, als wäre ich wirklich dort. Ich konnte die Dinge beeinflussen. Ich konnte Kuriboh Fragen stellen, ich konnte mit ihm umgehen – was für einen Traum seltsam wäre. In der Regel kann man dabei nur zusehen und den Verlauf nicht im Geringsten beeinflussen. Ich weiß, das klingt wirr. Aber es ist nun einmal schwer zu erklären.“ „Euer Bericht klingt für mich vertraut“, meldete sich Riell zu Wort. „Vater hatte ebenfalls ab und an Visionen. Zu erklären, in wie weit sich diese von Träumen unterscheiden, fiel ihm ebenfalls nicht leicht. Er betonte jedoch immer wieder, dass es sich anders anfühlen würde, dass er einfach wüsste, dass es keine gewöhnliche Erscheinung im Schlaf war – so wie Ihr nun.“ „Ach. Und aufgrund eines Gefühls sollen wir den Pharao jetzt dabei unterstützen, ein Loch in mitten der Wüste zu finden?“, höhnte Marlic. „Macht euch doch nicht lächerlich! Selbst, wenn es diese Öffnung gibt, ist Ägypten gefallen, bevor ihr sie gefunden habt! Mal ganz davon abgesehen, dass niemand weiß, was dort verborgen liegt und ob es überhaupt nützlich ist.“ „Vielleicht handelt es sich dabei aber auch um den Schlüssel zu unserem Sieg“, gab Marik möglichst neutral zu bedenken. „Oder um eine Gefahr“, wandte nun Seto ein. „Bedenkt das Ende Eurer Vision, Majestät. Das Wesen, wie auch immer seine Name war, verwandelte sich in eine Kreatur der Dunkelheit. Vielleicht lauert an dem Ort, nachdem Ihr vermeintlich suchen sollt, eine weitere Bedrohung für Euch.“ „Eventuell stand diese Kugel auch symbolisch für irgendetwas. Etwas, das sich an dem Ort verbirgt, an dem ihr in deiner Vision wart“, überlegte Tea. „Wir haben dieses eigenartige Gebilde aber nicht erst dort an der Öffnung gesehen, sondern schon zuvor in der Wüste. Ich habe nicht das Gefühl, als stünde beides in Verbindung miteinander – ich habe viel mehr das Gefühl, dass ich das Eine suchen und das Andere meiden soll – was auch immer die Kugel darstellen sollte“, entgegnete Atemu. „Selbst wenn das alles so ist“, mischte sich Marlic wieder ein und verdrehte die Augen, „wie wollt ihr ein Loch im Boden finden? Ohne jeglichen Anhaltspunkt? Nur zu eurer Erinnerung, die Wüste ist riesig!“ „Ich werde mit Kipino sprechen“, schlug Riell vor. „Sein Ka Firell ist nicht nur auf schnellen Schwingen unterwegs, auch seine Augen sind besser als die eines jeden Falken. Ich werde ihn bitten, die Wüste auf der Suche nach einer Öffnung im Boden zu überfliegen.“ „Das ist wohl die einzige Möglichkeit, die wir haben. Die Wüste zu Fuß nach diesem Ort abzusuchen wäre wahrscheinlich nicht sehr erfolgversprechend“, stimmte Seto zu. „Was ist denn mit dir los, Priesterlein?“, erkundigte sich Marlic plötzlich mit höhnendem Unterton. „Du bist doch sonst nicht so leicht von etwas Übernatürlichem zu überzeugen – und das obwohl du ein Geistlicher bist.“ Für einen Moment herrschte Schweigen. „Hoffnung, Marlic“, entgegnete der Hohepriester. „So etwas nennt man Hoffnung.“ Damit erhob er sich und folgte Riell, der sich auf den Weg zu Kipino gemacht hatte. Er überprüfte lieber selbst, ob der Schattentänzer auch die richtigen Anweisungen weitergab. Marlic wurde in diesem Moment einfach links liegen gelassen. Er gab ein abfälliges Schnauben von sich. „Hoffnung?“, wiederholte er. „Wohl eher Verzweiflung ...“ Die glühende Hitze, die auf seinen Körper hernieder stach, weckte ihn. Langsam öffnete Tristan die Augen. Es fühlte sich anstrengend an, als seien seine Lider unheimlich schwer. Seine Haut und die Kleidung waren von Schweiß durchtränkt, sein Kopf pochte. Nach und nach wurde das Bild vor seinen Augen klarer, doch er brauchte noch einen Moment, ehe er dessen Tragweite begreifen konnte. Dann war er plötzlich hellwach. Ruckartig setzte er sich auf und sah sich um. Palmen und Gras, ansonsten nur Wüste und das Rauschen eines Flusses. Das hier war nicht mehr Domino City. Und dennoch glaubte er zu wissen, wo er war. Ägypten. Er war wieder in Ägypten gelandet. Ein Stöhnen hinter Tristan riss ihn aus den aufgeregten Gedanken. Er wandte sich um, nur um Duke vorzufinden, der ebenfalls mühsam die Augen öffnete und sich hoch stemmte. „Oh man, was ... was ist passiert ...? Und wo ... verflucht, wo sind wir hier?“, entfuhr es dem Schwarzhaarigen, als er sich ihrer Umgebung bewusst wurde. „Im alten Ägypten“, entgegnete Tristan. „Zumindest vermute ich das.“ Er stutzte, als ein goldener Schimmer unweit seiner Position seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Er schleppte sich zu der Stelle, nur um dort das Ankh vorzufinden, das sie im Stadtpark gefunden hatten. „Du willst mir also ernsthaft erzählen, dass dieses Ding da uns durch die Zeit geschickt hat?“, hakte Duke nach und Beunruhigung schwang in seiner Stimme mit. „Eine andere Erklärung, warum wir hier sind, gibt es wohl nicht“, erwiderte der Braunhaarige. Er konnte es noch immer nicht fassen, auch wenn der Schock ihn abgeklärt klingen ließ. Was zum Teufel ging hier vor? Warum wieder Ägypten? Er war sich zwar keineswegs über das genaue Zeitalter im Klaren, aber irgendetwas sagte ihm, dass es dasselbe war wie damals, als sie gegen Bakura gekämpft hatten. „Meinst du, die anderen sind deshalb verschwunden? Weil sie hier gelandet sind?“, fragte Duke weiter. „Es würde mich sehr wundern, wenn es nicht so wäre“, antwortete Tristan und sah sich erneut um. Schließlich entschieden beide, zunächst dem Geräusch von fließendem Wasser zu folgen. Hinter dem breiten Grünstreifen wurden sie fündig. Ausladende Fluten zogen an ihnen vorüber. „Wenn wir in Ägypten sind, dann dürfte das wohl der Nil sein“, schlussfolgerte Duke, während er ein wenig Wasser mit den Händen schöpfte und es sich ins Gesicht spritzte. „Sehr wahrscheinlich. Aber was machen wir jetzt? Dieses Land ist riesig, die Anderen könnten überall sein. Und wir beide kennen uns hier kein bisschen aus“, sprach Tristan schließlich das aus, was ihm auf der Seele brannte. Duke schien einen Moment lang zu überlegen. „Aber du warst doch schon mal hier. Nach dem, was du mir mal über euer Abenteuer hier erzählt hast, wart ihr damals doch in Atemus Stadt oder? Wie hieß sie noch gleich?“ „Men-nefer“, informierte Tristan. „Sie lag wohl so ziemlich in der Nähe von dem, was heute Kairo ist. Zumindest hat Ryou das mal gemeint.“ „Und Kairo liegt am südlichen Ende vom Nildelta. Vielleicht wäre es eine Idee, daher erst einmal flussabwärts zu gehen?“, schlug Duke schließlich vor. „Das ist zumindest der einzige Ansatz, den wir im Augenblick haben. Also lassen wir es drauf ankommen“, stimmte Tristan seufzend zu, warf noch einen letzten Blick auf das Ankh und steckte es dann in seinen Gürtel. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg, von dem sie nicht wussten, wohin er sie führen würde. Für Joey fühlte es sich an, als wären sie seit einer Ewigkeit unterwegs. Sein Hintern schmerzte ob der Tatsache, dass er seit mindestens einem halben Tag auf einem Pferderücken saß. Zudem hatte er Hunger und Durst. Doch gleich, wie oft er um eine Pause bettelte – weder Bakura noch Risha ließen sich erweichen. Aber er hatte auch nichts anderes erwartet. Als die Schattentänzerin ihn später angefahren hatte, er solle seinen verweichlichten Körper zurück zur Himmelspforte schleppen, wenn ihm etwas nicht passte, hatte er es schließlich unterlassen. Niemand nannte Joey Wheeler verweichlicht! Er würde dieser eingebildeten Kuh schon noch zeigen, was in ihm steckte. Geduld und Ausdauer waren eben keine seiner Stärken, dafür hatte er jedoch andere Qualitäten. Er würde dieser Unternehmung schon noch dienlich sein – und dann würde sie ihm auf Knien rutschend danken, dass er mit gekommen war! „Alles in Ordnung, Joey?“, riss ihn Ryous Stimme schließlich aus den Gedanken. „Ja ja, alles bestens“, entgegnete der Blonde schnell. „Ich bin nur etwas müde, das ist alles. Und ich hab' Hunger.“ „Kann ich verstehen. Aber wir dürfen keine Zeit verlieren, da haben die beiden schon Recht“, entgegnete sein Freund. „Jeder Tag könnte der Letzte sein. Wir müssen unbedingt versuchen, an diese Schriften zu kommen.“ Er unterbrach seine Unterhaltung mit Joey, um sich an Bakura und Risha zu wenden, die einige Längen vor ihnen ritten. „Dürfte ich fragen, wie weit es noch ist?“ „Es wird nicht mehr lange dauern“, entgegnete die Schattentänzerin. „Diabound kann die Felsformation schon ausmachen. Fängst du jetzt etwa auch noch an zu jammern?“, fügte sie schließlich säuerlich hinzu. „Keineswegs. Ich habe nur aus Interesse gefragt“, erklärte Ryou sachlich. Risha strich sich die Haare aus dem Gesicht, die unter der Kapuze ihres Mantels auf der Stirn klebten. Die Wärme war heute unerträglich. Anfangs – in der Nacht und am frühen Morgen – hatten sie die Pferde noch im stetem Galopp voran treiben können. Später wurde die Sonne zwar weiterhin von dunklen Wolken verdeckt, der steigenden Temperatur hatte dieser Umstand jedoch keinen Abbruch getan. Schließlich hatte sich in Verbindung mit dem nächtlichen Regenguss und seinen Überbleibseln – in Form einer durchtränkten Wüste – eine Schwüle ausgebreitet, die sie dazu gezwungen hatte, langsamer zu machen. Sowohl sich, als auch den Pferden zuliebe. „Ich habe dir gesagt, dass wir sie nicht mitnehmen sollten“, unterbrach Bakura schließlich murrend ihren Gedankengang. „Die Menschen aus ihrer Zeit kennen Begriffe wie 'Anstrengung' oder 'Strapazen' nicht mehr. Und wenn, so assoziieren sie beides mit einem kurzen Fußmarsch oder einem eingerissenen Fingernagel.“ „Der Kleine schlägt sich wacker“, entgegnete Risha. „Ich fürchte jedoch, dass ich dir bei dem Blonden Recht geben muss ...“, fügte sie deutlich leiser hinzu. Der Kommentar blieb dennoch nicht ungehört. „Das liegt vielleicht einfach daran, dass ich immer Recht habe.“ „Aber mit Sicherheit – darum wolltest du ja auch erst nicht, dass ich mitkomme, obgleich du dich in den Tunneln unseres Verstecks kein bisschen auskennst, richtig?“, erwiderte seine Base säuerlich. „Ich habe mich bis jetzt noch in jedem dunklen Loch dieser Erde zurecht gefunden – wohlgemerkt alleine“, war die Antwort. Risha ließ ein langes Seufzen vernehmen. „Was ist?“, erkundigte sich Bakura prompt und ebenso gereizt, wie sein Gegenüber zuvor. „Kann man sich vielleicht auch ein einziges Mal normal und vernünftig mit dir unterhalten? Falls es dir noch nicht aufgefallen ist: Seit wir uns wiedergesehen haben, vergeht kein Tag, an dem unsere Gespräche nicht aus Sticheleien und Abfälligkeiten bestehen. Ich weiß nicht, wie du dazu stehst, aber mich treibt das allmählich in den Wahnsinn“, erwiderte sie mit einem Anflug von Wut in der Stimme. Im nächsten Moment schalt sie sich auch schon selbst dafür. Obgleich ihre Stimme sauer geklungen hatte, war doch ein Hauch zu viel Bitte mit geschwungen. Natürlich wollte sie eigentlich nichts lieber, als sich nach siebzehn Sommern einmal ganz normal mit ihm zu unterhalten – aber das hätte sie für gewöhnlich so nicht zugegeben. Sie war niemand, der Bitten stellte oder bettelte. Normalerweise nahm sie sich das, was sie wollte, mit Gewalt – nun ging das in diesem Fall jedoch schlecht. Für einen Moment herrschte betretenes Schweigen, ehe der Grabräuber wieder das Wort ergriff. „Und worüber willst du reden?“ Der Ton war dabei äußerst desinteressiert gehalten. Risha stellte daher zwei Vermutungen auf: Entweder, er war nach all den Jahren wirklich so in seiner Rolle als abweisender, motziger und teils aggressiver Kerl festgefahren, dass er einfach nicht anders konnte, oder er hatte wirklich kein Interesse. „Keine Ahnung. Vielleicht darüber, wie es dir in der letzten Zeit so ergangen ist? Wo du gewesen bist? Was du so gemacht hast?“, schlug sie schließlich mit immer säuerlicherem Unterton vor. „Ich war in Ägypten und habe dem Pharao eine ganze Reihe von Schwierigkeiten bereitet. Dabei ging es mir ziemlich gut, bis er leider den Sieg davon getragen hat. Genug der Auskünfte?“ Erneut trat Schweigen ein. Risha starrte ihn einfach nur fassungslos an. Da kam sie ihm einmal zumindest ein Stück weit entgegen und das war seine Reaktion? Das konnte doch wohl nicht sein Ernst sein! Doch noch ehe sie zu einer patzigen Antwort ansetzen konnte, war das Rauschen von Schwingen zu hören. Kurz darauf erklang Diabounds grollende Stimme. „Wir werden das Versteck des Clans bald erreicht haben. Es gibt jedoch ein kleines Problem.“ „Und das wäre?“, erkundigte sich Bakura. „Soldaten Caesians. Sie bewachen alle fünf Eingänge.“ „Großartig“, kommentierte der Grabräuber. „Gibt es eine Erhebung oder etwas in der Art, von wo aus wir uns die Lage ansehen können?“ „Nein. Aber die Dünen, die die Felsformation umgeben, dürften genügend Schutz bieten, um nicht gesehen zu werden, wenn ihr die Pferde zurücklasst“, überlegte das Wesen, das noch immer nicht zu sehen war. „Na super. Und wie kommen wir wieder zurück, wenn uns die Viecher weglaufen?“, warf Joey an. „Werden sie nicht“, versicherte Risha. Sie stieg ab und löste eine der Satteltaschen, ehe sie den Inhalt zu Boden kippte. Heraus fiel Heu. Bald fand sich noch eine einfache Tonschale mit Wasser daneben. „Wir hätten sie so oder so nicht mit in die Tunnel nehmen können“, meinte Ryou, während auch er von seinem Reittier stieg. „So sind sie wenigstens in der Lage, sich etwas auszuruhen.“ „Wenn ihr euch dann genug um die Tierchen gesorgt habt, könnten wir allmählich unserer eigentlichen Aufgabe nachgehen“, meinte Bakura schließlich genervt und setzte sich in Bewegung. Der Rest folgte ihm. Bald fanden sie sich hinter einer Düne wieder. Hinter deren Kamm versteckt, beobachteten sie die feindlichen Soldaten. Es waren gut zwanzig Männer, teils in bemitleidenswertem Zustand. Doch sie alle wussten, dass der Schein trog: Diese Kreaturen waren durchaus wehrhaft. „Und was machen wir jetzt?“, flüsterte Ryou schließlich und sprach damit die Frage aus, die sie alle sich stellten. „Wir müssen irgendwie an ihnen vorbei kommen. Und das möglichst, ohne Aufsehen zu erregen“, sagte Joey. „Blitzmerker“, kommentierte Bakura abfällig. „So weit waren wir auch schon.“ Ehe der Blonde eine patzige Antwort geben konnte, schlug ihm Risha die Hand vor den Mund. „Halt's Maul, sonst hören sie uns noch“, zischte sie dabei. „Und es gibt wirklich keine andere Möglichkeit, in die Tunnel zu kommen?“, erkundigte sich der Grabräuber indes an seine Base gewandt. „Nein. Es gibt fünf Zugänge und diese werden laut Diabound alle bewacht. Wenn es noch mehr gäbe, wüsste ich davon.“ „Und da bist du dir sicher?“ „Ja, das bin ich. Du vergisst, dass ich mein halbes Leben unter der Erde verbracht habe.“ „Merkt man ...“ „Bitte?!“ „Und was, wenn wir sie niederschlagen? Oder zumindest irgendetwas in der Art“, warf Joey ein. „Du vergisst, dass diese Kreaturen gleich wieder aufstehen. Wir hätten nicht genügend Zeit, um uns in den Tunneln umzusehen“, entgegnete Bakura. „Im schlimmsten Fall kümmern nicht sie sich um uns, sondern sie melden den Angriff. Dann steht binnen kürzester Zeit Caesians halbe Armee vor uns.“ „Hey Leute, ich hätte da eine Idee“, mischte sich Ryou ein. „Diabound ist doch nicht zu sehen, solange die Wolken die Sonne verbergen. Vielleicht könnte er mit Hilfe seiner Schwingen den Sand aufwirbeln. Sandstürme gibt es hier doch ständig, da würden die Soldaten mit Sicherheit nicht misstrauisch werden. In der Zeit, in der sie geblendet sind, könnten wir uns dann unauffällig in die Tunnel schleichen.“ „Das könnte tatsächlich funktionieren“, überlegte Risha. „Sehe ich ebenso. Auf einen Versuch können wir es ankommen lassen“, stimmte Joey zu. Bakura schien ebenfalls nicht abgeneigt. „Also gut“, entschied er schließlich. „Du hast es gehört. Mach' dich an die Arbeit, Diabound.“ Es dauerte nicht lange, dann kam ein böiger Wind auf. Caesian ließ seinen Blick über Men-nefer schweifen. Dabei stützte er sich auf der Brüstung der Palastmauer ab. Von überall her erreichten die Geräusche geschäftiger Arbeit seine Ohren. Seine Männer waren dabei, die Stadt wieder aufzubauen. Immer wieder knallte eine Peitsche. Er hatte ihnen Dampf machen müssen. Sie waren nicht schnell genug. Er hatte bereits nach ihm schicken lassen. Er würde bald hier sein, da war er sich sicher. Als habe das Schicksal auf diesen Gedanken gewartet, hörte er Schritte hinter sich. Als er sich umwandte, entdeckte er Gladius. „Ich grüße Euch, Herr“, begann er das Gespräch knapp. Dann reckte er seinem Gebieter eine Papyrusrolle entgegen. „Dies ist vor Kurzem für Euch eingetroffen. Eine Antwort aus der Heimat.“ Caesian ergriff das Schriftstück auf der Stelle. Mit fliegenden Fingern öffnete er das Siegel und rollte den Papyrus auseinander. Seine Augen wanderten die Zeilen entlang. Dann breitete sich ein kleines, kaum zu sehendes Lächeln auf seinem Gesicht aus. „Er kommt, Gladius. Er kommt nach. Tut mir den Gefallen und sorgt dafür, dass die Arbeiter noch zügiger werden – und wenn ihr ihnen drohen müsst. Alles muss perfekt sein, wenn er hier eintrifft.“ „Selbstverständlich, mein Herr“, erwiderte der Untergebene mit einer Verbeugung, dann ließ er seine Majestät alleine. Caesian wandte den Blick wieder hinab auf die Stadt. Er fühlte sich so glücklich, wie schon lange nicht mehr. Diese Nachricht war die schönste, die er seit langem erhalten hatte. Viel zu viel Zeit war vergangen, seitdem sie sich das letzte Mal gesehen hatten. Es waren mehrere Mondläufe, die er bereits hier in Ägypten verbrachte, fernab des Landes, in dem er geboren worden war. Doch vermisste er tatsächlich nur jenen, der ihm die Nachricht geschickt hatte. Das Land selbst bedeutete ihm nichts mehr. Im Gegenteil. Es war ein Schandmal. Ein Schandmal, das von seinem Versagen kündete. Doch bald würde er diesen Fehler wieder gut gemacht haben. Bald konnte er ihn vergessen und von vorne beginnen. Hier, in Ägypten – und schließlich in der ganzen Welt. Noch immer ruhte ein leichtes Lächeln auf seinen Lippen, als er von der Mauer herunter stieg. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)