I would change the world for you von sissyphos (Allen & Yuu & Alma) ================================================================================ Prolog: Wenn man die Gegenwart nicht erträgt -------------------------------------------- Seit Tagen schneite es im England eines alternativen 19. Jahrhunderts ununterbrochen. Der Schnee fiel auf den angefrorenen Boden, bedeckte die Wipfel der Bäume und hüllte die gesamte Landschaft in ein makelloses Weiß. Für den jungen Mann, der das Schauspiel aus dem altertümlichen Fenster seines angenehm warmen Zimmers verfolgte, war jedoch einzig und allein von Bedeutung, dass jene Schneeflocken die ohnehin seltenen Lotusblumen des Gartens bedeckten. Denn seit geraumer Zeit war das Beobachten dieser Pflanzen für ihn zu seiner einzigen nennenswerten Beschäftigung geworden. Dieses Schneespektakel hatte vor einigen Tagen begonnen und nun fielen mehr und mehr Schneekristalle auf den Grund der Erde, sowie die großen Blütenblätter und zogen den einst so zarten Schleier immer fester, bis schließlich nichts mehr zurück blieb, außer jenes Wissen, dass die zarten Pflanzen, auch wenn man sie im Moment nicht sehen konnte, trotzdem existierten. Doch mit ihrem Verschwinden stieg nicht nur der Trübsinn, ob der tristen Landschaft, sondern auch die Sehnsucht und vor allem der seit Jahren beständige Vorwurf im Herzen des jungen Mannes nahm eine latente Gestalt an. Jede einzelne, winzige Schneeflocke, die federgleich zur Erde schwebte, erhöhte den Druck auf seinen Schultern, wie eine unsichtbare, aber dennoch bleischwere Kraft, die ihn zwang, den Kopf zu neigen und ihn an den Rand der Melancholie trieb, da sich schon das bloße Atmen als ernstzunehmende Herausforderung entpuppte. Die Scheibe beschlug nur mäßig, als er seine kühle Hand gegen die eiskalte Fensterscheibe drückte. „Rette mich“, wiederholte er in Gedanken die Bedeutung der verschleierten Blumen und presste die Handfläche etwas kräftiger gegen das Glas, als wolle er jene Pflanzen von ihrem Leid des Erfrierens befreien. Doch auch wenn seine einzigen verbliebenen Erinnerungen still um Hilfe baten, war er unfähig zu handeln. Denn diese Institution, die sich der Schwarze Orden und auch sein Zuhause nannte, verbot es ihm. Egal wie sehr er es auch wollte, sein eigener Instinkt untersagte es ihm seit langem, die einengenden und gleichzeitig so schützenden Mauern dieses Ortes zu verlassen, der zum Ursprung all seines Leids geworden war. Ermüdete Augen begannen dieses – sein eigenes verschwommenes Spiegelbild nun stillschweigend zu mustern, das das Produkt dieses trägen Blicks sein mochte, den er schon seit langem nicht mehr wissentlich ablegen konnte. Für einen Moment erwiderte der junge Mann seinen eigenen, glanzlosen Blick. Ohne jegliche Gesichtsregung, aber doch mit einem schmerzenden Ziehen in seinem Körper, nuschelte er die wehklagenden Worte: „Ich vermisse dich“, ehe er den heißen Atem schwerfällig aus seinen Lungen blies und mit dem Beschlagen der Scheibe auch seine geschundenen Augen von jenem vernichtenden Anblick seiner Selbst erlöste. „Ich vermisse dich wirklich“, wiederholte er mit hauchendem Klang und senkte seinen Kopf, der abermals durch das eigene Schuldbewusstsein belastet wurde. Es war ein nie enden wollender Kreislauf, in dem er sich seit Jahren befand. Ein hallendes Geräusch entstand, als der Achtzehn-jährige Mann mit großen Schritten durch die endlos scheinenden Flure marschierte. Noch immer waren diese Gänge düster. Daran würde sich wohl auch in Zukunft nichts ändern. Unterwegs traf er auf einige seiner Kollegen, die ihn jedoch gekonnt zu ignorieren schienen. Nur einen kurzen, alles sagenden Blick erntete er von seinen Begegnungen, ehe sie ihm nicht mehr Beachtung als der Luft in ihrer Umgebung schenkten. Und auch, wenn der junge Mann den Grund für ihr Verhalten nur allzu gut kannte, versuchte er diese Tatsache dennoch mit all seiner verbliebenen Würde zu tragen. So viel Würde einem Menschen eben blieb, der das Leid der Welt auf seinen Schultern trägt und von jener Verantwortung beinah verzehrt wird. „Da bist du ja“, begrüßte ihn die vertraute Stimme Komuis, als er unwissentlich bereits in das Arbeitszimmer des selbigen getreten war und zuerst die gewohnten Papierstapel erblickte, die wohl niemals kleiner werden würden. Auch in Zukunft nicht. „Wie du sicher weißt, ist es in zwei Tagen soweit“, fiel der Brillenträger direkt mit der Tür ins Haus und schien sich nicht sonderlich um Smalltalk zu scheren. Ganz im Gegensatz zu früher. An dieser Stelle wäre mindestens ein Satz über seine Schwester Lenalee gefallen, die er abgöttisch und mit Leib und Seele liebte. Aber die Zeiten änderten sich nun mal. Diese Einsicht zog auch an dem jungen Mann, der soeben vor dem Schreibtisch Platz genommen hatte und sogleich ein paar Unterlagen gereicht bekam, nicht vorbei. „Das hier sind lediglich noch ein paar letzte Anmeldeformulare für deinen neuen Wohnsitz“, bemerkte Komui nun und nahm zeitgleich seine große Kaffeetasse mit dem rosanen Kaninchenaufdruck in die Hand. Der Junge besah sich derweil die Papiere und senkte leicht die Lider, als er darüber nachdachte, dass er in nunmehr zwei Tagen dieses Gebäude nicht mehr sein Zuhause nennen konnte. Denn der Krieg zwischen Gut und Böse, zwischen Schwarzem Orden und Milleniumsgraf, zwischen Exorzisten und Noah hatte vor fast drei Jahren ein Ende gefunden. Dieses Mal hatte das Gute die unerbittliche Schlacht für sich entscheiden können und nun war es tatsächlich an der Zeit, die Vorsichtsmaßnahmen zurückzuschrauben und wieder in das normale Leben zurückzukehren. Damals war der junge Mann, der nun auf dem Stuhl saß wie ein Angeklagter, im Kampf um die Rettung der Menschheit und die Verhinderung einer zweiten Apokalypse, die der Graf anstrebte, inhaftiert und vom Krieg für eine geraume Zeit ausgeschlossen worden. Aus dem Grund, weil er zu der Zeit erfahren musste, dass er nicht bloß ein Exorzist war, sondern vom Geschlecht der feindseligen Noah abstammte. Und das machte ihn für seine Organisation nicht bloß zur Gefahr, sondern zum fleischgewordenen Erzfeind. Doch er war zudem nicht einfach ein x-beliebiger Noah, sondern viel mehr beinhaltete er die Erinnerungen des Vierzehnten. Jenes Noahs, der sich als Einziger der vierzehn Apostel gegen den Milleniumsgraf verschwor und gemeinsam mit seinem Bruder Mana gegen diesen personifizierten Teufel kämpfte. Vor seinem eigenen Tod hatte der Vierzehnte seine Erinnerungen in einen Menschen übertragen, den niemand vermissen würde, sobald dieser zugunsten des Noah verschwand, der seinen Körper schleichend übernehmen sollte. In diesem Sinne hatte sich Mana dem Kind angenommen, das auserwählt war, den Milleniumsgrafen in der – nach der Sintflut - zweiten Schlacht um das Schicksal der Menschheit, endgültig zu töten und die Welt somit vor den drei Tagen der Finsternis zu bewahren. Jenes Kind hieß Allen Walker, das aufgrund seiner missgebildeten Hand von seiner Umwelt verstoßen worden war. Diese Hand war – entgegen dem Wissen der meisten Menschen - vom sogenannten Innocence ergriffen. Der heiligen Kraft Gottes, die nur wenigen Menschen vorbehalten ist und im Kampf gegen die Diener des Milleniumsgrafen – die Akuma – eingesetzt wird, um die Seelen der toten Menschen zu erlösen. Die Entstehung eines Akuma ist also immer mit Tragik verbunden. Stirbt ein geliebter Mensch und der Verbliebene ist unfähig, den Schmerz zu verkraften, erscheint der Milleniumsgraf und macht sich jene Schwäche zunutze, indem er den Lebenden anbietet, den geliebten Menschen in das Diesseits zurückzurufen. Dafür müsse man nur den Namen aus tiefstem Herzen schreien. Dann wird aus diesem Ruf der Sehnsucht, des Schmerzes und der Liebe ein Skelett gebildet, in das der Name des Menschen eingraviert wird, der zurückkehren soll. Die Seele fährt unmittelbar in dieses Gerüst und ist fortan von unsagbarem Leid erfüllt, das nur die Exorzisten beenden können. Aus Schmerz, da die Seelen verdammt sind, als Akuma ruhelos in der Welt fortzubestehen und auch durch die Kontrolle des Milleniumgrafen wird der Rufende von dem geliebten Menschen getötet, damit es der Seele möglich ist, in den verbleibenden Körper zu fahren, um in der Welt der Sterblichen nicht erkannt zu werden und somit ungehindert morden zu können. Denn je mehr Menschen ein Akuma tötet, desto stärker wird es auch, bis es irgendwann sogar einen nahezu freien Willen erlangt. Auch Allen machte damals Mana zu einem Akuma, als dieser durch den Verlust seines Bruders verstarb. In diesem Moment war es Allens Innocence, das ihn vor dem sicheren Tod bewahrte, auch wenn er durch Manas Fluch, der ihn zwang oder ihm gewährte die Seelen der Akuma zu erkennen, nicht unversehrt davon kam. Obwohl es Allen, seit seinem Beitritt zum Schwarzen Orden, immer zum Großteil um die Rettung der Seelen ging, war er schlussendlich nicht mehr dazu in der Lage gewesen, jenes ehrenhafte Ziel zu verfolgen, da die Organisation, in der er sich befand, lediglich den Krieg gewinnen wollte. Und zwar mit allen erdenklichen Mitteln. Dafür waren sogar letztlich künstliche Exorzisten erschaffen worden. „Allen?“, meldete sich nun Komui zu Wort und der Angesprochene schreckte aus seinen Gedanken hoch. Zu oft dachte er über seine Vergangenheit nach und wie es zu dieser Gegenwart hatte kommen können. Zeit war es nämlich die er hatte. Und zwar reichlich davon. Erst jetzt fiel Allen wirklich auf, dass er bei seinem letzten Gedankenzug begonnen hatte zu zittern. Seine Finger bebten und rissen das dünne Papier beinah in Stücke. „Du musst das noch unterschreiben, Allen“, drängte Komui nun und an die Ohren des Jungen drang ein schlürfendes Geräusch, als der Bruder seiner Kollegin von seinem Kaffee trank. Nickend suchten die Augen des Weißhaarigen nach einem Stift und er bemühte sich, so ordentlich zu schreiben, wie es ihm momentan möglich war. Ganze fünf Seiten unterzeichnete er, ehe Komui ihm die Papiere wieder abnahm, noch einmal grob, ob der Richtigkeit, überprüfte und dem jungen Mann dann kurz zulächelte. Eine der wenigen freundlichen Gesten, die Allen hier noch zu erwarten hatte. „Es ist das Beste für uns alle, wenn wir wieder getrennter Wege gehen. Das hat nichts mit dir zu tun, Allen. Das weißt du. Wir alle schätzen dich sehr. Aber es ist an der Zeit, die Vergangenheit ruhen zu lassen und in eine bessere Zukunft zu blicken.“ Komuis Worte standen im Kontrast zu dem, was Allen tagtäglich erlebte. Man mied ihn. Und das vorsätzlich. Trotz der Tatsache, dass er den Noah in sich hatte besiegen können. Für das Wohl seiner Kameraden war er durch die Hölle auf Erden gegangen. Dennoch wurde er behandelt wie jemand, der Hochverrat begangen hatte und sich nach dem Absitzen seiner Strafe, versuchte wieder in die hintergangene Gemeinschaft zu integrieren. Dabei hatte er den Vierzehnten niemals wissentlich in sein Bewusstsein eindringen lassen. Allen traf keine Schuld daran. Er hätte ein Recht gehabt, wütend zu sein, dass man ihn derart behandelte. Er hätte das Recht gehabt zu verlangen, dass man ihn wieder respektierte oder überhaupt wahr nehmen sollte. Doch alles, was der junge Mann konnte, war zu lächeln. So wie es ihm Mana immer vorgemacht hatte. In seinem Beruf als Clown war er immer fröhlich gewesen. Ganz egal, ob es der Wahrheit entsprach oder eine absolute Lüge war: Ein Clown war immer fröhlich. Mana war immer fröhlich gewesen. Und deshalb war auch Allens Gesicht stets von diesem irreführenden Lächeln geziert, obwohl er zur selben Zeit innerlich zerbrach. „Ich weiß“, erwiderte er zaghaft und dachte einen Moment darüber nach, was er gerne noch erleben würde, ehe er diesen Ort für den Rest seines zukunftslosen Lebens verlassen musste. „Komui, darf ich dich um etwas bitten?“, lächelte er ihm entgegen und wusste plötzlich ganz genau, was er wollte. Nur warum er es wollte, das schien ihm noch nicht ganz klar zu sein. Der Mann ihm gegenüber musterte ihn einen Augenblick lang skeptisch, dann schlug er mit voller Wucht die Tasse auf den Tisch, so dass Allen unweigerlich bei dem lauten Krach zusammen zuckte. „Du wirst Lenalee niemals bekommen!“, schrie er hysterisch und Allen, dessen Augen sich abrupt weiteten, hatte plötzlich das Gefühl, als sei die gute, alte Zeit zurückgekehrt. Die Zeit, in der man Komui nur damit wecken konnte, dass man ihm erzählte, Lenalee würde heiraten. Die Zeit, in der er versuchte, die Schulden seines späteren Meisters Cross auszugleichen. Oder auch die Zeit, in der er sich mit Kanda stritt, weil jener ihn wieder beschimpfte. Bei dem letzten Gedanken wurden seine Augen von Trübsal verschleiert. Zumindest die Zeit mit Kanda würde unweigerlich niemals zurückkehren. Einfach aus dem Grund, weil Kanda damals im Krieg gestorben war. Er blieb bis heute der einzige Verbündete, mit dem Allen eine beachtliche Zeit hatte auskommen müssen und diesen dennoch schlussendlich verloren hatte. Sie waren nie beste Freunde gewesen. Vielleicht nicht einmal überhaupt Freunde. Aber Kandas Vergangenheit und gerade die Tatsache, dass Allen ihn hätte retten können, setzten dem jungen Mann zu. So sehr, dass er aus jenem Grund tagtäglich die verschneiten Lotusblumen vor seinem Fenster beobachtete und hoffte, seine Gebete können das Geschehene rückgängig machen. Dadurch, dass Allen damals einen Einblick in Kandas Erinnerungen erhalten hatte, kannte er nun auch die genaue Bedeutung der Lotusblüte. „Alma“, murmelte der junge Mann daraufhin gedankenversunken und konnte sich nicht erklären, warum das Schicksal für diese beiden, die sich doch eigentlich liebten, ein so grausames Ende vorgesehen hatte. „Denkst du immer noch darüber nach?“, fragte Komui sogleich schockiert und lehnte sich ein Stück zu Allen vor. Seufzend erteilte er seinem Gegenüber nach einigen Sekunden des Schweigens einen gutgemeinten Ratschlag: „Allen, wenn du noch ein eigenes Leben haben willst, dann solltest du die Vergangenheit wirklich ruhen lassen. So wie wir es alle versuchen. Deine Trauer und deine Gedanken, die du an Alma und vermutlich auch an Kanda verschwendest, ändern nichts mehr daran, dass sie tot sind.“ Komuis Stimme klang bei diesen Worten erschreckend nüchtern. Allen schockierte es immer wieder: Der Tod war zur regelrechten Selbstverständlichkeit geworden. Auch wenn man diesem Menschen einmal mehr oder weniger nahe gestanden hatte. Schließlich hatte er Yuu Kanda eine ganze Weile ertragen müssen. Obwohl er dieses damals so lästige Gezanke mittlerweile sogar vermisste. Es hatte doch wenigstens des Öfteren für die Unterhaltung der anderen gesorgt und die trübselige Stimmung teilweise etwas erheitert. „Um was wolltest du mich denn nun bitten?“, ergriff der Schwarzhaarige abermals das Wort und musterte den Jüngeren mit erwartungsvollem Blick. Schlagartig sah Allen wieder auf und versuchte seine Gedanken zumindest für den Moment zu verdrängen. „Ich würde gerne noch einmal die Arche betreten“, bat er mit einem sanften Lächeln, das ihn wieder in Erinnerungen schwelgen ließ. Mittlerweile bestand sein ganzes Dasein nur noch aus Erinnerungen. Er lebte schon lange nicht mehr in der Gegenwart, nur die Vergangenheit bestimmte seinen Alltag und suchte ihn letztlich auch in seinen Träumen heim, die deshalb sogar oftmals zu erschreckend realistischen Alpträumen mutierten. Allen vernahm ein lautes Seufzen aus Komuis Kehle. „Was willst du da denn noch? Du weißt, dass die Arche zu Forschungszwecken gebraucht wurde und nun seit gut einem Jahr gesperrt ist. Das gilt für jedermann“, lehnte er strikt ab und umschloss wieder die dampfende Tasse mit seinen Händen, deren Inhalt wie immer von Lenalee zubereitet worden war. „Das ist alles die Schuld von Komurin“, grummelte Allen nun etwas energischer, weil er es nicht fassen konnte, dass Komuis zerstörungswütiger Roboter tatsächlich daran Schuld sein sollte, dass er seine letzte Bitte nicht erfüllt bekam. „Komurin konnte nichts dafür“, verteidigte der Brillenträger sogleich seine künstliche Brut und musste sich selbst jedoch eingestehen, dass Allen mit seinen Vorwürfen nicht unbedingt im Unrecht war. Komurin der Vierte hatte durch eine abermalige Fehlprogrammierung nämlich die Arche als ein feindliches Objekt identifiziert und zu zerstören versucht. Letzten Endes war dieser Ort zum Schrottplatz für den tollwütigen Roboter geworden. Bei diesem Gedankenzug entfuhr Komui ein erneutes Seufzen und er hob schlichtend die Hand. „Ich werde sehen, was sich tun lässt. Aber versprechen kann ich dir leider nichts“, meinte er beschwichtigend und ließ Allen somit aufatmen. Eine kurze Stille trat ein, ehe Komui sich von dem Weißhaarigen mit folgenden Worten verabschiedete: „Am besten du gehst jetzt erstmal und packst den Rest von deinen Klamotten ein.“ Während er das sagte, widmete er sich bereits wieder den nächsten Unterlagen und Allen hatte direkt wieder dieses Gefühl in seiner Magengegend, das ihn ahnen ließ, dass er nicht mehr als ein Laster war, das man nun endlich nach lang ersehntem Warten loswerden konnte. Dennoch dankbar lächelnd für den entstandenen Zeitaufwand, erhob er sich von dem kleinen Stuhl, der unter ihm knarrte und nickte dem Schwarzhaarigen, der so allerlei Zettel überflog, noch einmal zu, obwohl jene Geste schon gar nicht mehr wahrgenommen wurde. Doch der Junge machte sich nichts daraus. Auch wenn diese Ignoranz selbst jetzt, wo Allen diese Reaktionen nahezu gewohnt war, noch ein Zusammenziehen seiner Magegend auslöste. Noch vor drei Jahren hatte er sich hier regelrecht heimisch gefühlt und jedes Mal hatte es sein Herz erfüllt, wenn er von ausnahmslos jedem fröhlich begrüßt wurde, sobald er von einer Mission erfolgreich zurückkehrte. Aber das alles waren längst vergangene Zeiten. Auch wenn er in der Lage gewesen war, den Milleniumgrafen zu bezwingen, so blieb doch die Angst in den Herzen seiner Mitstreiter, dass sich dieses Spektakel noch einmal wiederholen könne. Eben dadurch, dass Allen mehr oder weniger der letzte überlebende Noah war. Und diese Angst äußerte sich nun einmal darin, dass man ihn mied und den Retter, aber auch potenziellen Vernichter der Menschheit von der Quelle zu verbannen versuchte. Obwohl eine Überwachung nach Allens Ansicht logischer gewesen wäre, wenn sie sich so sehr vor ihm fürchteten. Aber er wollte das natürlich nicht ansprechen. Denn auf eine regelrechte Inhaftierung inklusive Überwachung, konnte er getrost verzichten. Auch wenn er sich nicht sicher war, was ihn noch alles in seinem neuen Heim erwartete. Und momentan war es ihm auch zuwider über jene Zeit, die niemals kommen sollte, nachzudenken. Während Allen mit leisen Schritten zurück in sein noch immer so makaber eingerichtetes Zimmer lief, das von riesigen Puppen und allgemein gewöhnungsbedürftigen Accessoires geziert wurde, musterte er stillschweigend seine linke, vom Innocence befallene Hand. Auch um ihn herum war es ziemlich ruhig oder vielleicht mochte diese Stille auch nur daher rühren, dass der junge Mann wieder einmal in erdrückende Gedanken vertieft war und seine Umgebung deshalb nur unzureichend wahr nahm. Jedenfalls schien er ziemlich unaufmerksam zu sein, was sich schließlich darin äußerte, dass er plötzlich mit einem anderen Körper zusammenstieß und vor Überraschung kurz zurücktaumelte. Blinzelnd und den Mund zur Entschuldigung öffnend, musterte er die roten Haare, die ihm entgegen blitzten. „Lavi“, presste Allen nur hervor und musterte den Mann vor sich, der wie immer ein Stirnband und die Augenklappe an seinem rechten Auge trug. Früher waren sie so etwas wie beste Freunde gewesen – so empfand zumindest Allen – aber nach all diesen Geschehnissen, war die Luft auch zwischen ihnen ziemlich eisig geworden. Ohne ein Wort wollte Lavi sich direkt wieder von seinem ehemaligen Freund entfernen, doch als er merkte, wie verdattert Allen zurück blieb, hielt er auf halber Strecke inne und wandte sich noch einmal zu jenem, um Allen völlig überstürzt und unüberlegt in seine Arme zu schließen. Er hatte niemals angefangen ihn zu hassen. Stets hatte Lavi an ihn geglaubt, aber es half alles nichts: Dieses Verhalten, das sie alle ihm gegenüber zu Tage bringen mussten, war nun mal Anordnung von ganz oben – aus dem Vatikan. Die Exorzisten und alle Angehörigen des Schwarzen Ordens hatten sich dieser höheren Gewalt zu beugen, ob es ihnen nun gefiel oder nicht. Doch Lavi gehörte trotz einiger Tadeleien noch immer zu denen, die ein Problem mit dieser latenten Gewalt hatten. „Pass gut auf dich auf, Allen“, begann er leise und musterte seine Umgebung, um sicher zu stellen, dass sie niemand beobachtete. „Ich hoffe, dass du irgendwie und mit irgendwem glücklich werden kannst“, sprach er die Worte, die dem jüngeren Mann beinah die verloren gelaubten Tränen in die Augen trieben. Seit Monaten hatte ihm keiner mehr solche ehrlich klingenden Worte zukommen lassen. Ausnahmslos niemand. „Ich danke dir für alles, Allen. Du hast uns gerettet. Das hast du, egal, was der Rest sagt. Das sind alles Lügen“, murmelte er und kämpfte damit, nicht wütend darüber zu werden, dass er jene Dankbarkeit erst so kurz vor ihrem Abschied aussprechen durfte, während dem Weißhaarigen einfach nur der Atem stockte. Beinah war er dazu verleitet, diesen Worten keinen Glauben mehr zu schenken und das, obwohl sie in seinen Ohren so unsagbar aufrichtig klangen. „Wenn ich es könnte, dann würde ich die Zeit zurückdrehen. Aber das kann ich nicht“, flüsterte er abschließend und löste sich von seinem ehemaligen Mitstreiter. Es folgte noch ein aufmunterndes, aber auch von Schmerz gezeichnetes Lächeln, das Allen sich tief in seine Gedanken einbrannte, ehe Lavi sich abermals umdrehte und nun zielstrebig aus Allens Sichtfeld verschwand. Und mit einem unguten Gefühl in seiner Magengegend wusste der verstoßene Exorzist, dass dies ein Abschied auf Lebenszeit war. Noch für mehrere Minuten stand er reglos da und starrte einfach auf den Fleck, an dem er Lavi zuletzt gesehen hatte, in der Hoffnung, er würde plötzlich wieder auftauchen. Aber natürlich wurden seine Gebete nicht erhört, das musste er schlussendlich einsehen. Deshalb wandte er sich mit einem letzten unsicheren Blick zurück wieder um und ging nun seinerseits die langen Flure entlang, um sich in aller Ruhe auf den letzten Tag vorzubereiten. In seinem Zimmer angekommen, ließ sich Allen auf seinem viel zu alten Bett nieder und starrte die kahle Decke an. Er dachte daran, dass sich wirklich alles verändert hatte. Und was war dafür verantwortlich? Im Prinzip seine Herkunft. Als Kind war er dafür verurteilt worden, dass seine Hand nicht normal aussah. Jetzt wurde er es deshalb, weil ein Noah tief in seinem Inneren schlummerte. Aber Allen hatte sich nichts davon ausgesucht. Es war ihm mehr oder weniger in die Wiege gelegt worden. Es war nicht fair. Man bestrafte ihn für etwas, das er nicht kontrollieren konnte. In diesem Moment sah er all die lachenden Gesichter von früher vor seinem geistigen Auge auftauchen. Im Kontrast dazu, stand Kanda daneben und schenkte ihm nur wütende Blicke und ungerechtfertigte Beleidigungen. Aber wenigstens daran hätte sich auch jetzt nichts geändert. Wenn Kanda doch nur nicht gestorben wäre. Allen begann sich wie so oft Vorwürfe zu machen. Er hätte es verhindern können. Dann wäre ihm jetzt wenigstens noch ein Hauch von Normalität geblieben. „Vielleicht hassen sie mich auch dafür, dass sie keine Stammzellenforschung mehr mit Alma betreiben können“, schoss es dem jungen Exorzisten durch den Kopf und er war beinah dazu verleitet, zu lachen. Das war nämlich Almas Aufgabe innerhalb des Ordens gewesen: Alma selbst war nichts weiter, als ein künstlich erschaffener Exorzist, genauso wie Kanda, und man hatte ihn, nachdem er fast gestorben und damit unbrauchbar geworden war, dazu verwendet, um aus seinen Zellen eine weitere Generation von Exorzisten zu schaffen. „Der reinste Wahnsinn“, dachte der junge Mann die unausgesprochenen Worte und wandte seinen Kopf zur Seite, wobei ihm die vielen Strähnen ins Gesicht fielen. Mit der rechten Hand zeichnete er sanft die Narbe nach, die sich über sein linkes, verfluchtes Auge erstreckte. Mit der Zeit war jene immer weiter verblasst. Inzwischen war sie sogar fast gar nicht mehr zu erkennen. Nur eine hauchzarte Erscheinung blieb auch jetzt noch zurück. Dabei war sie zu jeder Zeit so etwas wie eine vage Erinnerung an Mana gewesen, der sich seiner in Kindestagen angenommen und ihm etwas Ähnliches wie eine Familie vermittelt hatte. Während Allen völlig in Gedanken und unerfüllte Wünsche vertieft war, näherte sich unbemerkt sein Begleiter Timcampy, der ihm damals von seinem Meister Cross Marian geschenkt wurde. Dieser goldene, zudem fliegende Golem hatte Allen stets auf all seinen Reisen begleitet und war in der Lage gewesen, die Eindrücke festzuhalten und später wieder abzurufen. Außerdem war Timcampy eine ganze Weile um ein beachtliches Maß gewachsen, doch nach der Vernichtung des Milleniumgrafen hatte sich auch jenes Phänomen rückgängig gemacht, so dass der Golem mittlerweile seine Ausgangsgröße zurückerlangt hatte. Erst als Timcampy gegen Allens Kopf stieß, bemerkte der Junge die Anwesenheit seines Begleiters und wandte sogleich sein Gesicht in dessen Richtung. „Tim“, murmelte Allen überrascht und konnte nicht anders, als sanft zu lächeln. Immerhin dieses kleine Wesen hatten sie ihm gelassen. In jenem Augenblick fragte sich Allen, ob er ihn womöglich mitnehmen dürfte. Schließlich würde man ihm damit gestatten, seine Erinnerungen haargenau zu transportieren. So wäre es ihm möglich seine verlorenen Freunde jeden Tag zu betrachten, auch wenn er sie nie wieder von Angesicht zu Angesicht sehen dürfte. Aber solange sie glücklich waren, machte Allen das nichts aus. „Sag Tim, hast du ein paar Bilder von Lenalee und Lavi?“, fragte der junge Exorzist leise nach und es dauerte nur ein paar Sekunden, bis Timcampy sein Maul auf Allens Wunsch hin weit öffnete und einige Aufnahmen einer lächelnden Lenalee in die Dunkelheit projizierte. Auf Anhieb wurde dem Jungen ein wenig wärmer ums Herz. Es tat ihm gut, seine Freunde lachen zu sehen. Gleich darauf folgten noch ein paar Bilder von Lavi – ebenfalls lächelnd und Allen musste lachen, als er das Bild sah, wo Lavi sich tatsächlich anmaßte, Kanda einen Zopf in seine langen Haare zu flechten. So unbeschwert war die damalige Zeit gewesen. Zumindest im Vergleich zur erdrückenden Gegenwart. „Hast du auch ein paar von Kanda?“, flüsterte der Junge so leise wie möglich, weil ihm allein die Frage irgendwie unangenehm war. Es war nun mal ein Fakt, dass er nie sonderlich viel mit diesem verstorbenen Mann zutun gehabt hatte. Aber mit den Jahren war ihm der Verlust erst so richtig bewusst geworden. Denn trotz aller Streitigkeiten hatte Kanda zu Allens selbstkreierter Familie gehört. Timcampy zeigte ihm währenddessen ein paar Aufnahmen des Schwarzhaarigen mit den langen Haaren, der entweder gerade seine Soba-Nudeln aß oder wütend in die Gegend drein blickte. Bei diesem Anblick wurde dem Weißhaarigen klar, dass er in der ganzen Zeit nur einmal Kandas Lächeln gesehen hatte. Das war der Moment des Abschieds gewesen. Und obwohl er eigentlich in jenem Augenblick hätte traurig sein müssen, war Allen doch mehr von einem angenehmen Gefühl erfüllt gewesen. Kanda hatte nicht nur für ihn gelächelt, sondern auch zum ersten Mal seinen Namen ausgesprochen. Sonst hatte er ihn immer nur 'Moyashi' gerufen. Dabei war Allen überhaupt keine Bohnenstange, wie er fand. In Wahrheit war Kanda sogar dünner als er. Allein bei dem Gedanken kochte kurzzeitig wieder die Wut in dem Jungen auf und er zog die Augenbrauen zusammen. Als ihm nach ein paar Sekunden bewusst wurde, was er eigentlich tat, musste er postwendend grinsen. Selbst jetzt hatte Kanda noch diese unvergleichliche Wirkung auf ihn. „Du hast nicht zufällig Kandas Lächeln aufgenommen, oder Timcampy?“, fragte Allen seinen letzten Freund, obwohl er wenig Hoffnung diesbezüglich hatte. Und als sein Golem nur ratlos vor sich hin flatterte, wusste Allen, dass dieser Moment nicht festgehalten wurde. Lediglich in seinen eigenen Erinnerungen konnte er Kanda lächeln sehen. Dabei hätte er es so gerne öfters gesehen. Dass dieser Gedanke aufgrund von Yuu Kandas Schicksal ein verschwendeter war, setzte dem Exorzisten dabei am meisten zu. Plötzlich strömten längst vergangene Erinnerungen an Kämpfe durch seinen Kopf, die auch die Schlacht um die Arche der Noah zeigten. Abermals sah er sich an diesem Klavier sitzen, dessen Melodie das Leben seiner Freunde gerettet hatte – auch das des Schwarzhaarigen. Und er erinnerte sich an das, was ihm über die Arche offenbart wurde. „Durch Dimensionen reisen“, sprach er leise zu sich selbst und setzte sich abrupt in seinem Bett auf, als habe er soeben einen Geistesblitz erlebt. Mit zwei tatkräftig erhobenen Fäusten, die darauf hinwiesen, dass Allen soeben neuen Mut gefunden hatte, stolzierte er an Timcampy vorbei, der ihm auch nur wieder ratlos nachblickte. Doch der Exorzist hatte nun einen wichtigen Entschluss gefasst: „Wenn ich schon mit der Gegenwart nicht zufrieden bin und die Zukunft auch nicht erleben will; wenn ich etwas in der Vergangenheit wiedergutzumachen habe – dann sollte ich die Vergangenheit einfach ändern.“ Timcampy erntete daraufhin noch ein letztes Lächeln, ehe Allen leise die Tür öffnete, um seinen Plan noch in dieser Nacht in die Tat umzusetzen. Er würde seinen Fehler begleichen. Aber nicht kurz vor Kandas Tod, sondern dort, wo alles begonnen hatte: Mit Yuus künstlicher Geburt im Alter von neun Jahren. Dort würde er nicht nur Kandas und Almas Schicksal ändern, sondern auch seine eigene Zukunft – die momentane Gegenwart – um einiges erträglicher machen. Zumindest würde nicht mehr die Last des Todes eines Kameraden, der ihm trotz aller möglichen Meinungsverschiedenenheiten am Herzen lag, auf seinen Schultern lasten. Außerdem, so glaubte Allen, wäre Kanda vielleicht gar nicht so fürchterlich geworden, wenn seine 'Kindheit' nicht mindestens genauso schrecklich verlaufen wäre, wie er sich später benahm. Denn mit Kandas Schmerz konnte sich Allen nicht annährend messen. Und er wollte sich nicht ausmalen, welche Qualen Yuu erlitten haben musste, nachdem er den einzigen Menschen vermeintlich getötet hatte, der ihm noch etwas bedeutete: Alma Karma. Deshalb war die Zeit gekommen, die Fäden selbst in die Hand zu nehmen und die Gegenwart wenigstens etwas rosiger zu machen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)