Eternal Search von Rainblue (Die Suche nach dem Hier) ================================================================================ Kapitel 8: Terra ---------------- „Wer bin ich? WER BIN ICH?!“ Ich schrie es in den Himmel hinaus, allen Steinen zu, die an mir vorbeirauschten, jeder Luftzug sollte mich hören. Aber eine Antwort wollte ich nicht. Sie alle wussten, was ich war. Konnten es sehen. Und ich wollte es nicht hören. Weil auch ich es wusste. Ein Monster. Ein Dämon. Etwas, das Unheil mit sich bringt. Die Einsamkeit war mir von Anfang an vorherbestimmt gewesen. So wenig ich sie auch ertragen konnte. Keiner erkundigt sich danach, wie es einer Bestie geht, die nur wild um sich schlägt und jeden töten würde, der ihr nahe kommt, ohne mit der Wimper zu zucken. Verständlich. Würde ich nicht auch zurücktreten? Wer kann schon die Augen eines Monsters erkennen, wenn es sich so schnell bewegt? Wer kann dann schon die Tränen entdecken, die sich darin stauen und stauen und stauen… In jenem schmerzhaften Moment dachte ich: Nein. So nah lasse ich niemanden heran. Das kann ich nicht. Ich habe Angst. Angst, die Kontrolle zu verlieren und jemandem wehzutun. Niemand wird meine Augen je sehen. So weit lasse ich es nicht kommen. Meine Augen sind hässlich, entstellt, voller schrecklicher Gefühle, die ich nicht unterdrücken kann… Wer kann schon die Tränen sehen, wenn er bei dem Hass zurückschreckt, der ihm entgegenfunkelt? Heute weiß ich, dass es so jemanden nicht gibt. Aber ich weiß, dass es jemanden gibt, dem es trotzdem egal ist. Der zurückschreckte, ja, aber nicht ging. Er drehte sich um. Und sah nicht noch mal weg. Die Welt, in die man mich geworfen hatte, war wie eine Zitadelle aus Stein. Ruinen, von Städten, von denen ich bis heute nicht weiß, wer sie erbaut hat und wozu. Dann die offeneren Felder, die vielen unbewegten Gärten, die Gebirge mit Pässen, Höhlen und tiefen Klüften. Alles ist weiß, grau oder schwarz. Hier gibt es keine Farben. Kein Leben, außer uns. Ich lief ziellos durch die verlassenen Straßen der Ruinenstädte, kämpfte um Atem und mit der Erschöpfung. Ich konnte nicht stehen bleiben. Ich durfte nicht stehen bleiben. Dann… dann was? Was würde geschehen, wenn ich anhielt? Ich verdrängte den Gedanken. Insgeheim wusste ich, dass vermutlich nichts geschehen würde. Und das war der springende Punkt. Wenn sich nichts veränderte, was dann? Wohin dann? Ich wollte meinen Gedanken nicht die Möglichkeit geben, etwas anderes in Betracht zu ziehen als das Laufen. Das konnte niemandem schaden. Wie gesagt, das dachte ich. Und dann lief ich ihn sozusagen um. „Hey, woah! Vorsicht!“ Ich mochte ein ziemliches Tempo draufgehabt haben, aber auch mir entging die plötzliche Kollision nicht völlig. Nur ein paar Meter entfernt vom Ort des Geschehens kam ich zum stehen und wirbelte herum. Meine Schulter… Da spürte ich noch die Berührung. Den kurzen Stoß, als ich gegen ihn gelaufen war. Nur ein feiner Nachhall. Das und mehr nicht. Was er spürte, wollte ich mir gar nicht vorstellen… Mein Anrempeln hatte ihn glatt umgerissen. Unsicher beobachtete ich, wie er sich langsam erhob – sollte ich weglaufen? Mich verstecken? Genug Möglichkeiten gab es hier. Lieber jetzt, bevor es zu spät war. Bevor er mir zu nahe kam… Aber ich konnte mich nicht von der Stelle rühren. Ich war wie festgewachsen, obwohl sich da nur kalter rauer Stein an meine nackten Fußballen presste. Was ich umgerannt hatte, war ein Junge. Er war größer als ich, aber nicht viel. Das kurze goldblonde Haar, in dem schwarze Strähnen hervorblitzten, machte den Eindruck mehrere heftige Windstöße hinter sich zu haben. Als er wieder aufrecht stand, fuhr er mit der Hand hindurch, was mir den Grund für den Wirrwarr verriet. Er blickte etwas irritiert herum, bis seine grellgrünen Augen mich fanden. Es war absurd, aber mir erschien, dass er mich allein durchs Anschauen schon berührte . Wie konnte das sein? Wie konnte jemand eine solche Fähigkeit haben? Wie schon vorhin, ging ich tiefer in die Knie, versuchte ihn mit dem Funkeln meiner Augen zu vertreiben. Aber mein Herz flatterte wie im Fieber. Ich hatte Angst. Entsetzliche Angst. Es war noch viel schlimmer als bei den dreien im Nebel. Den Jungen schien meine angriffslustige Haltung nicht zu beeindrucken. „Also, das ist wirklich unhöflich!“, meinte er. „Ich kenne dich gar nicht und du rennst mich gnadenlos über den Haufen!“ Wie eigenartig. Die Art wie er sprach ähnelte der von Lion, als er mir vorhin versichert hatte, sie würden mir nichts tun. War das Ärger? Aber wenn es so war, wieso lächelte der Junge vor mir dann dabei? Und wieso kam es mir weniger bedrohlich vor, dass er die Zähne zeigte, als bei Eclipse? Als ich nichts erwiderte, legte der Junge den Kopf schräg. „Du bist neu hier, oder?“ Er versuchte gar nicht, mich zu beruhigen , so wie die drei es vorhin getan hatten, obwohl ich ihm wie ein Berserker kurz vorm Ausbruch gegenüberstand. Er musterte mich. Das machte mich wieder wütend. „Soll nicht indiskret klingen, meine Liebe, aber möchtest du dir nicht was Vernünftiges anziehen?“ „Wovon redest du da?!“, knurrte ich. Abwehrend hob er die Hände. „Ich mein ja nur. Wenn dir der Stofffetzen gefällt, den du trägst, dann bitte, halt ich mich da raus.“ Da sah ich zum ersten Mal jenen schelmischen Blick, den ich heute so gut kenne. „Ich dachte nur, dass dir vielleicht kalt sein könnte.“ „Kalt…?“ Ich bemerkte nicht mal, dass ich den Gedanken laut aussprach. „Äh, ja. Weißt du, in diesem Teil der Ruinen weht ein ziemlich eisiger Wind. Und du…“ Seine wundersam grünen Augen richteten sich auf meine Hände, die wie Klauen neben meinem Körper gekrümmt waren. „Du zitterst ja wie blöd!“ Zittern? Seine aufgebrachte Stimmlage veranlasste mich tatsächlich dazu, ihn kurz aus den Augen zu lassen und an mir hinabzuschauen. Meine Hände schienen ein Eigenleben zu führen, so sehr bebten sie. Ich wusste, dass es der Angst zuzuschreiben war… aber auch der Kälte. Der Junge hatte Recht. Als ich in der Dunkelheit erwacht war, hatte ich nur dieses schwarze Kleid angehabt – zerschlissen, dünn, schmutzig. Wäre ich Kleidung, hätte ich genau so ausgesehen. Von dem Anblick meiner blassen zuckenden Hände so eingenommen, hatte ich nicht mitbekommen, dass der Junge auf mich zugetreten war. Als ich aufsah, stand er direkt vor mir. Erschrocken sprang ich zurück und spürte, dass auch mein Atem zitterte. Der Junge verdrehte die Augen. „Mädchen, ehrlich. Ein bisschen mehr Vertrauen täte dir ganz gut.“ Ich konnte mir keinen Reim darauf machen, was er dann tat. Er griff mit beiden Händen nach dem Saum seines Kapuzenpullovers und streifte ihn sich rasch über den Kopf. Ich dachte, es war kalt. Wieso zog er sich dann aus? Unter dem Pullover trug er nichts weiter. „Hier“, sagte er sanft und hielt mir das Stoffbündel hin. „Was soll ich damit?“, zischte ich. Er warf den Kopf in den Nacken und rief die Antwort heraus, sodass es zwischen den Gebäuden widerhallte. „Es anziehen!“ Schockiert von dem vielfachen Widerhall seiner Stimme zog ich den Kopf ein. Halb lächelnd und seufzend warf er mir den Pullover vor die Füße und ich trat davon weg, als handelte es sich um eine giftige Schlange. „Meine Güte, ich hab ja schon scheue Neulinge gesehen, aber du übertrumpfst sie mit Links.“ „Warum tust du das?“, versetzte ich unwirsch. „Was willst du?“ Seltsamerweise fing er an zu lachen. „Ehrliche Antwort? Also, ich tue das, weil ich nicht will, dass du hier erfrierst. Und ich will von dir im Moment nur eines: deinen Namen.“ Den Namen. Das gab den Ausschlag. Ein so simples Wort sorgte dafür, dass die wackligen Türme in mir zusammenbrachen und alles ins Chaos stürzten. „Warum?! Warum fragt ihr mich das alle? Wollt ihr es unbedingt aus meinem Mund hören?! Wollt ihr hören, was ich bin? Wollt ihr, dass ICH SELBST es zugebe?!“ Mein plötzlicher Ausbruch machte mich blind für die Reaktion des Jungen. Hätte ich vielleicht kurz inne gehalten und zu ihm geschaut, hätte ich mir nur einen einzigen Blick erlaubt, dann wären viele Dinge danach wahrscheinlich nicht geschehen… „Ich heiße DEMON! Ja! Genau wie das Wort Dämon! Sieh mich an! Bin ich nicht genau das Monster, das mein Name andeutet?! Ist es nicht so?“ Ich warf diese Fragen nicht dem Jungen um die Ohren. Wenn ich ehrlich bin, weiß ich nicht, an wen ich sie richtete. So ist es wohl einfach, wenn man wütend ist. Plötzlich wurden meine Worte verzerrt, undeutlich. Ich verschluckte mich, wollte weiterbrüllen, aber es war unmöglich. Etwas verstopfte mir den Hals. Ich versuchte, es auszuwürgen, aber ohne Erfolg. Was war das? Was…? Und da geschah es zum ersten Mal. Das Tattoo in meinem Nacken loderte auf, so als würde es erneut in meine Haut eingebrannt werden. Schreie genügten nicht, um meiner Furcht Luft zu machen, mal davon abgesehen, dass ich nicht mehr schreien konnte. Etwas zog, zerrte, riss an mir, grub sich in mein Fleisch hinein, brachte es ebenfalls dazu, in Flammen aufzugehen. Es war so heiß, dass ich glaubte, zu ersticken und gleichzeitig kristallisierten sich eiskalt zwei Stiche im Rücken heraus. Für mich schienen es Stunden zu sein, in der sich die Verwandlung vollzog, aber in Wirklichkeit dauerte es weniger als eine Minute. Es gelang mir einen Blick auf meine Hände zu erhaschen, nur um statt zierlichen Fingergliedern schwarze Tatzen zu entdecken, die diesmal nicht nach einem Blinzeln verschwanden. Ich vernahm ein sattes Reißen, erst dann kam der Schmerz im Rücken – mir waren Flügel gewachsen. Ich konnte sehen, wie meine Nase länger wurde, deformierte, wie Fell darauf spross, wie sich meine Zähne aus dem Zahnfleisch quetschten, weil sie zu groß wurden… Ich konnte jedes noch so grauenhafte Detail fühlen und ich sah vor mir, was aus mir wurde. Ich sah den Spiegel, der in seiner Reflektion nun keine Lüge mehr kannte. Und als ich vollständig gewandelt war, statt bloßen Füßen Krallen über den Stein kratzten, statt dünner frierender Haut verfilztes Fell im Wind bebte, gelang es mir noch einen Blick auf den Jungen zu werfen, der jetzt viel kleiner war als ich. Ich sah mein eigenes Entsetzen, als ich das Monstrum im Spiegel gesehen hatte, in seinem Gesicht. Und darum wusste ich auch, was er dachte. Wie hatte ich mir auch nur einen Augenblick einbilden können, er wäre anders? Eine Ausnahme? Zu mehr war ich nicht fähig, denn etwas griff ohne Probleme nach der Kontrolle über meinen Körper und Willen. Jetzt bin ich an der Reihe, Demon… Ich konnte nichts dagegen tun. Mit dem letzten Rest Bewusstsein spürte ich, dass sich meine Lefzen hoben und die Fratze formten; das Lächeln dieser Bestie. Dann drehte sich das Blatt ganz um und die dunkle Kopie meiner selbst übernahm alle Fäden. Machte mich zu der Kopfstimme, die nur sagen konnte: Ich bin du. Wir hatten die Rollen getauscht. Und ich konnte mich nicht wehren, nichts sehen, nichts fühlen. Ich wurde in die Dunkelheit verbannt. Ein Gefängnis in meinem Inneren. Ahnungslos, ängstlich, kauerte ich mich zusammen. Es war so dunkel… Wie lange würde sie mich hier einsperren können? Dann hörte ich es. Sofort presste ich mir die Hände auf die Ohren, aber das hatte keinen Sinn. Nicht hier. Ich konnte nichts sehen und war gefühllos, aber hören ließ sie mich alles. Ob ich nun wollte oder nicht. Ich hörte es klar und deutlich. Viel zu deutlich. Ich konnte jeden einzelnen Schrei hören. Das reicht. Ich reiße die Augen auf und verbanne jede weitere Erinnerung zurück in die entlegenen Winkel meines Herzens. Noch mehr kann ich im Moment nicht ertragen. Aber die Stimmen hallen in mir nach; die angstvollen Rufe, das Flehen darum, verschont zu werden… Halb lasse die Augen wieder zufallen und fahre mit einer Hand über das Mal in meinem Nacken. Jeder von uns bekam unmittelbar nach seinem Erwachen in der Dunkelheit so etwas auf den Körper geprägt. Bei Way befindet es sich zwischen den Schulterblättern (das weiß ich, weil er es mir unbedingt zeigen musste…). Keiner weiß mit Sicherheit, wofür genau sie gut sind und warum wir sie bekommen. Ich selbst glaube, sie sind eine Art vorläufiger Ersatz. Für das, was wir bei unserer „Geburt“ verloren. Es überdeckt die leere Stelle, darum tat seine Entstehung wohl auch so weh. Wunden zu flicken verläuft nie schmerzfrei. Meine Gedanken reißen glatt ab, als ein Geräusch erklingt, kaum drei Schritte von mir entfernt. Ich komme auf die Beine, schleiche näher auf den Weg zu, spähe zwischen dem Geäst hindurch und erkenne ein Portal. Nicht aus Dunkelheit diesmal – aus Licht. Als ich noch etwas näher komme, tritt plötzlich jemand heraus und es schließt sich rasch hinter ihm. Ich verenge die Augen und blinzle mehrmals. Die Gestalt geht erstaunlich elegant, beinahe leichtfüßig dafür, dass sie in einer robust wirkenden, silbrigblauen Ganzkörperrüstung steckt. Ist es vielleicht eine Frau? Mein Verdacht bestätigt sich kurz darauf, als sie eine Hand an ihren Oberarm legt und mit einem Lichtschimmer die Rüstung verschwindet. Verblüfft reibe ich mir die Augen und begutachte die übrig gebliebenen Rüstungsteile an ihren Armen. Bei allen Welten – wie hat sie das gemacht? Ihr Blick huscht aufmerksam umher; auch sie scheint zum ersten Mal in dieser Welt zu sein. Als sie die Augen in meine Richtung lenkt, weiche ich schnell ein Stück in den Schatten zurück und zwinge mich, ruhig zu atmen. Neugierig besehe ich die Frau genauer. Etwas an… ihrer Kleidung… dieses Band, das sich vor der Brust kreuzt und das eiserne Symbol genau am Schnittpunkt… Das habe ich doch irgendwo schon mal gesehen. Aber davon mal abgesehen, ist die Frau sehr hübsch, mit ihrem klaren zielsicheren Blick und dem seidigen Haar, das seichtblau ist, so wie ich mir vielleicht Regen vorstellen würde, wenn Geruch eine Farbe hätte. Ihre Saphiraugen ruhen noch immer auf mir und ich befürchte schon, dass sie mich entdeckt hat, aber dem ist nicht so. Sie wendet sich ab und ist mit wenigen Schritten bei der Treppe, um dann ohne großes Hin und Her ins Schloss zu marschieren. Ich will mir gerade so was wie einen Plan zurechtlegen, als ein lautes klangvolles Läuten mich unterbricht. Es wiederholt sich in sehr knappen Zeitabständen – eine Glocke? Ich schaue zum Schloss auf, ob ich einen Glockenturm oder ähnliches entdecken kann, als eine weiß gekleidete Person an mir vorbeiraschelt. Raschelt, weil ihr Kleid aus einer Fülle von schimmernden Stofflagen besteht. Sie scheint es ziemlich eilig zu haben. „Warten Sie, Mademoiselle, Senorita!“, ruft da jemand, der ihr offenbar hinterher jagt. Ein bohnenstangenförmiger Mann in blauer Uniform. Er tut sein Bestes, holt die junge Frau aber nicht ein, ehe sie in eines dieser „Gefährte“ springt, das augenblicklich davonsaust. Ich sehe dem glänzend weißen Ding nach und erinnere mich mit einem Mal wieder an dessen Bezeichnung. Kutsche. Man nennt diese Gefährte Kutschen. Unschlüssig trete ich aus meinem Heckenversteck hervor und betrachte den Eingang zum Palast, in dem eben gerade erst die Blauhaarige verschwunden ist. Und nun? Irgendwie passiert in dieser Welt in der kürzesten Zeit so viel, dass mir der Kopf schwirrt und gleichzeitig bin ich immer noch allein. Ich komme mir vor wie ein Spion. Habe ich denn schon mit irgendjemandem gesprochen? Nein. Und dabei würde ich es so gern. Mit der blauhaarigen Frau eben oder mit dieser Feenfrau oder… mit dem Mann. Der Mann… Der… „Das ist es!“, sage ich ungewollt laut. Schnell wirbele ich herum, ob mich auch niemand gehört hat. Zum Glück ist die Bohnenstange von Mann noch immer am Haupttor und ordnet scheinbar die Verfolgung der jungen Dame an. Meine Wangen glühen, als ich wieder zur Tür aufschaue. Die Kleidung der blauhaarigen Frau; jetzt weiß ich, warum sie mir bekannt vorkam. Weil der Mann, den ich verfolgte, ganz ähnliche Accessoires trug: das kreuzförmige Band und dieses Symbol. Wenn die Frau in das Schloss gegangen ist, dann sucht sie vielleicht ebenfalls nach ihm. Und das wiederum könnte heißen, er ist noch da drin! Auf einmal ist es mir vollkommen gleich, was er tut, wenn er mich sieht, wie er reagiert, was er sagt. Ich will ihn nur sehen. Es würde schon ausreichen, ihm einmal Hallo zu sagen. Ich will ihn nur treffen, ihm begegnen, auch wenn er mich danach vergisst. Mit diesen Gedanken tue ich den ersten Schritt und nehme schließlich immer zwei Stufen auf einmal, bis ich vor der filigran verzierten Tür stehe. Ich beiße mir auf die Unterlippe und atme einige Male tief durch, damit sich mein Pulsschlag beruhigt. Die Augen geschlossen, umschließe ich mit beiden Händen den Talisman auf meiner Brust. „Meine Richtung…“ Dann schlage ich sie wieder auf, mit ungeahnter Kraft erfüllt, und will gerade nach dem Knauf greifen, als sich die Tür unerwartet öffnet und der Mann vor mir steht. Und schon ist alle Kraft dahin. Ich öffne den Mund, schließe ihn wieder, nur um ihn erneut zu öffnen und kein Wort hervorzubringen. Er sieht leicht verwundert zu mir herunter. Andere Emotionen kann ich seinen Zügen nicht entnehmen; er behält sogar seine Meinung für sich. Was denkt er, wenn er mich sieht? Wie wirke ich auf ihn? Ängstlich? Scheu? Gefährlich? Ich sehe, dass er etwas sagen möchte und hebe wie im Reflex die Hand, um ihn zu stoppen. Er hält inne und ich fange den Blick seiner dunklen Augen auf. Dunkelheit. Ich kann sie im Blau seiner Iris erahnen. Sie ist schwach, aber wenn man ihr eines nachsagen kann, dann dass sie sich schnell ausbreitet und an Stärke gewinnt. War es das, was mich so von ihm angetan hat? Nein… es war, es ist … „Wie heißt du?“ Beim Klang meiner Stimme verändert sich sein Gesicht um eine winzige Nuance, die mir nicht aufgefallen wäre, würde ich ihn nicht so unverwandt ansehen. „Terra“, erwidert er und ich muss lächeln. Wieso? Gute Frage. „Terra“, wiederhole ich und spüre, wie ein zarter Sog um meine Knöchel spielt. Richtig… Meine Kraftreserven sind aufgebraucht. Ich muss in meine Gegenwart zurückkehren. Aber ich bin diesem Mann, ich bin Terra, begegnet und das ist alles, was zählt. „Und wer bist du…?“, fragt er. Seine Stimme ist gleich bleibend ruhig, aber ich höre einen leisen Unterton, der mich verwirrt. Ist das Misstrauen…? Nein, denke ich dann. Es klang eher so, als wäre er nicht sicher, ob er mich nicht kennt. Wie das? Er kann mich nicht kennen, selbst wenn ich ihm schon mal begegnet bin. „Demon“, hauche ich hervor, weil mein Körper schon halb in der Schwebe ist. „Was passiert mit dir?“ Er klingt besorgt. Besorgt? Habe ich mir das nicht nur eingebildet? Ich überrasche mich selbst, als ich den Kopf schüttele und dabei wieder lächle. „Nicht wichtig… Terra, ich bin wirklich glücklich, dir begegnet zu sein. Du verstehst vielleicht nicht, wie viel es mir bedeutet. Aber trotzdem… danke.“ Er versucht nach meinem Arm zu greifen, aber seine Hand gleitet hindurch. Ich kann nicht aufhören zu lächeln. Was ist das bloß für ein komisches Gefühl? „Ich glaube, dass wir uns eines Tages wiedersehen. Du wirst dich nicht daran erinnern können, aber ich schon…“ Sein Blick hat die maskenhafte Ernsthaftigkeit verloren, jetzt sind da nur noch Fragen, viele Fragen und… Traurigkeit? Zumindest leises Bedauern. „Ich warte“, sagt er nur, fast als wäre es nicht sein eigenes Bewusstsein, das diese Worte hinausschickt. Mein Körper ist beinahe vollständig durchsichtig. Als sich schließlich die Schwärze vor meine Augen schiebt und Terras Gesicht verblasst, flüstere ich noch zwei Worte, die sich vervielfachen und in der Stille nachschimmern. „Bis dann…“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)