Aurae von Flordelis (Löwenherz Chroniken II) ================================================================================ Kapitel 18: Verantwortung? -------------------------- In den nächsten Tagen änderte sich nichts an Raymonds Plänen. Noch immer war er damit beschäftigt, ein guter Freund für Joel und Christine zu sein und gleichzeitig Alona zu beweisen, dass er ihr vertraute und sogar für sie ein Freund sein konnte. Ihr Verhalten ihm gegenüber änderte sich nicht, sie zeigte sich nach wie vor zuckersüß, wenn sie vor den anderen mit ihm sprach, näherten sich ihm aber niemals mehr als sie musste, außerhalb der Schule beachtete sie ihn nicht einmal, aber trotzdem hoffte er, mit seinem Plan Erfolg zu haben. Eve und Adam meldeten sich vorerst nicht mehr, was dafür sprach, dass sie gerade keine Gelegenheit fanden, ihn zu besuchen. In der Zwischenzeit schaffte er es aber zumindest, den verpassten Schulstoff wieder aufzuholen und auch seinen Freunden dabei zu helfen, alles zu verstehen. Zumindest soweit er den Stoff in Christines Kopf unterbringen konnte, was noch nie ein sonderlich leichtes Unterfangen gewesen war. Aber drei Tage nach den Ereignissen in der Mensa, schafften die drei es dann endlich, den Lernstoff zumindest kurz zu vergessen, um das Kino aufzusuchen, wie sie es besprochen hatten. Raymond war dabei vollkommen gleichgültig, welchen Film sie ansahen, er achtete nicht einmal besonders darauf, was auf der Leinwand vor sich ging. Joel, der neben ihm saß, beobachtete interessiert, was geschah und zeigte ein gesundes Interesse daran, dass der Hauptcharakter sich vor dem übernatürlichen Serienmörder – jedenfalls glaubte Raymond, dass sie einen Horrorfilm ansahen – verstecken und dann fliehen konnte. Christine, die auf der anderen Seite von Joel saß, wirkte aber genau wie Raymond reichlich abwesend und nicht sonderlich an dem Geschehen im Film interessiert. Allerdings schätzte er, dass sie einfach nur daran dachte, dass sie später im Dunkeln heimgehen müssten. In der letzten Zeit erschien sie ihm jedoch immer öfter mit ihren Gedanken in einer gänzlich anderen Atmosphäre, Joel schien das entweder nicht aufzufallen oder er kannte zumindest den Grund dafür und kümmerte sich deswegen nicht weiter darum. Da die beiden sich auch trafen, wenn Raymond nicht dabei war, fand er das gar nicht so abwegig und es weckte nur wieder Eifersucht in seinem Inneren. Ihm blieb lediglich zu hoffen, dass Christines gedankliche Abwesenheit nichts Schlimmes zu bedeuten hatte, aber da sie so fröhlich wie immer blieb ... Das Geräusch einer Kettensäge riss Raymond brutal wieder in die Wirklichkeit zurück. Als er bemerkte, dass der Antagonist sich diese Waffe geschnappt hatte, um eine Freundin der Protagonistin an der Flucht zu hindern, teilte er Joel flüsternd mit, dass er sich noch etwas zu trinken holen würde und verließ dann hastig den Kinosaal. Als er die Tür hinter sich zufallen ließ, dämpfte das den panischen Schrei der Freundin, dessen Ursprung sowohl pure Angst, als auch wirklicher Schmerz sein könnte – jedenfalls soweit das bei Schauspielern reichte. Der rote Teppich, der im ganzen Kino ausgelegt war, dämpfte seine Schritte, während er sich durch die Halle auf die Theke zubewegte. Dabei besaß er keinen Blick für die zahlreichen Plakate oder sogar Monitore mit kleinen Vorschaufilmen für die kommenden Filme, die gerade für niemanden liefen, da wegen der aktuell laufenden Vorstellungen außer ihm und dem Personal niemand zu sehen war. Er blickte auch lieber auf seine Uhr, statt auf die Monitore, nachdem er sich ein neues Getränk bestellt hatte. Inzwischen war es fast zehn, es war mit Sicherheit schon dunkel und möglicherweise waren unzählige Mimikry unterwegs, die nur auf sie warteten. Warum denke ich erst jetzt an sie? In den letzten Nächten war es ihm vollkommen egal gewesen, was sie draußen anstellten, er war der Überzeugung erlegen, dass Joy sich darum kümmern würde. Also musste er sich eigentlich keine Sorgen machen, oder? Da sie nun von der Situation wusste, würde sie sich bestimmt darum kümmern und sie müssten auf dem Heimweg keine Angst haben, dass etwas geschehen würde. Jemand tippte ihm auf die Schulter, worauf er überrascht zusammenzuckte und herumfuhr. Aber als er sah, dass es Alona war, die da vor ihm stand und mit der er überhaupt nicht gerechnet hatte, blieb ihm schlagartig erst einmal die Luft weg, so dass er nicht einmal etwas sagen konnte. Glücklicherweise ging es ihr da gerade wesentlich besser, auch wenn sie ihn finster ansah. „Was tust du eigentlich? Versuchst du, dich umbringen zu lassen?“ Obwohl sie es wohl nicht durchscheinen lassen wollte, hörte er deutlich, dass sie besorgt war, was es ihm ermöglichte, seine Sprache wiederzufinden: „Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.“ „Du weißt es genau“, zischte sie, verstummte aber sofort, als der Mann hinter der Theke Raymond einen Becher reichte. Statt ihm zu sagen, dass er mit ihr kommen sollte oder ihm es irgendwie kenntlich zu machen, nahm sie einfach sein Handgelenk und führte ihn ohne jede Diskussion mit sich zu den hohen Tischen, die im gesamten Saal standen. Dort ließ sie ihn wieder los und setzte sich auf einen Barhocker, worauf er verstand, dass er sich ebenfalls setzen sollte. Kaum hatte er das getan, seufzte sie schwer. „Also, wo waren wir?“ „Du sagtest, ich weiß genau, dass ich dabei bin, mich umbringen zu lassen. Aber eigentlich habe ich keinen Schimmer, was du damit meinst.“ „Du weißt, dass nachts Mimikry unterwegs sind“, erklärte sie ernst. „Und du bist ihnen zweimal nur ganz knapp entkommen. Und deine Freunde ...“ „Sie sind genau wie du“, erwiderte er. „Also können sie auch gegen die Mimikry kämpfen.“ Auch wenn er nicht hoffte, dass das nötig werden würde – deswegen wollten sie ja bei ihm übernachten. Alonas Blick wurde urplötzlich hart. „Das können sie nicht. Chandler weiß nicht einmal, dass er über Kräfte verfügt oder welche das sein könnten und Christine ...“ Ihre Gesichtszüge wurden wieder ein wenig weicher. Er fragte sich, warum der Gedanke an Christine sie derart beeinflusste und sie sogar versöhnlich zu stimmen schien. Doch schon im nächsten Augenblick sah sie wieder so finster aus wie zuvor: „Christine ist fast schon am Limit ihrer Kräfte angelangt. Du bringst sie um, ist dir das bewusst?“ Er erinnerte sich dunkel daran, dass Christine erwähnt hatte, dass die Probanden bei der GS früh starben, aber ob das etwas damit zu tun hatte? „Ich bringe sie nicht um“, erwiderte er schließlich. „Und ich bin ziemlich sicher, dass Christine selbst weiß, wie es um sie steht und was sie tun kann. Außerdem hat Joy sicher Vorkehrungen getroffen, damit uns nichts geschehen kann.“ Alona tippte ungeduldig mit den Fingern auf dem Tisch, erwiderte sonst aber nichts mehr. Stattdessen schien sie konzentriert nachzudenken. Das erlaubte Raymond selbst auf den Gedanken zu kommen, dass es das erste Mal war, dass er sich wirklich mit ihr unterhielt, wenn man von dem kurzen Gespräch auf der Krankenstation absah. Aber da interessierte ihn etwas: „Verfolgst du mich etwa?“ Ihr Blick fixierte sich wieder auf ihn. „Mach dich nicht lächerlich. So wichtig bist du mir auch nicht. Einige der anderen wollten ins Kino und haben mich eingeladen.“ „Das macht dir Spaß, oder?“ Sie öffnete bereits den Mund, um etwas zu sagen, wusste aber wohl offenbar nicht, was, denn sie gab keinen Ton von sich. Stattdessen sah sie ihn einfach nur an und Raymond kam unvermittelt in den Sinn, dass es aussah, als wäre sie spontan kaputt gegangen. Oder als wären die Batterien leer. Doch gerade, als er versuchen wollte, aufzustehen und einfach wegzugehen, in der Erwartung, dass sie sich ohnehin nicht mehr rühren würde, zuckte sie zurück. Ein leichter Rotschimmer legte sich auf ihr Gesicht. „G-gar nicht! Ich mache das hier nur, weil Joy mich dazu zwingt. Dieser ganze Kram geht mir furchtbar auf die Nerven.“ Allerdings konnte er dabei in ihrer Stimme etwas hören, das ihm bei ihr bislang vollkommen unbekannt gewesen war. Zum ersten Mal klang sie wirklich wie ein ganz normales Mädchen, auch wenn sie das mit ihren Worten eindeutig ablehnte. Aber er wollte ihr das alles nicht derart aufzwingen, da sie dann sicher noch trotziger geworden wäre. „Wenn du das sagst.“ Sie nickte und wurde dann wieder ernst. „Zurück zum Thema! Egal, was Joy dir sagt oder was sie tut, die Mimikry sind immer noch da draußen unterwegs und sie werden dich mit Sicherheit weiterhin jagen. Sie werden Christine und Chandler nichts mehr tun, weil sie nun selbst so etwas wie Mimikry sind – aber du bist immer noch etwas Besonderes.“ Es kam ihm vor, als würde ihre Stimme sich zu einem ominösen Flüstern senken, aber er war überzeugt, sich das nur einzubilden. Es war einfach unmöglich, dass sie auf derartige Effekte zurückgriff, das sah seinem Bild von ihr einfach nicht ähnlich. „Und wenn du in Gefahr bist, wird zumindest Christine für dich in die Bresche springen und dann ...“ Sie verstummte wieder und senkte den Blick auf den Tisch. „Bedeutet das, ich soll mich von den beiden fernhalten?“ „Zumindest nachts. Tagsüber sind Mimikry nicht unterwegs, aber nachts schon. Du musst dich auch nicht von ihnen fernhalten, du solltest einfach nur darauf achten, dich nachts nicht draußen herumzutreiben. Wenn etwas geschehen wird, dann nur, weil sie dich verfolgen.“ Raymond wollte erschrocken einatmen, aber es kam ihm so vor, als wäre der Sauerstoff plötzlich eiskaltes Wasser, das seine Lunge aufspießte, weswegen er zu vermeiden versuchte, zu tief Luft zu holen. Das führte allerdings nur dazu, dass er für einen kurzen Moment fürchtete, zu ersticken und vom Stuhl zu fallen. Es IST alles meine Schuld! Wenn ich nicht wäre, dann ... dann ... Ein warmes Gefühl zog ihn augenblicklich wieder von diesem Gedanken fort, bevor er sich darin verlieren konnte. Sein Blick fiel sofort auf Alonas Hand, die auf seiner lag. Als er in ihr Gesicht sah, entdeckte er erstmals einen Hauch von ehrlich gemeinter Menschlichkeit. „Das führt zu nichts“, sagte sie, als wäre ihr vollkommen bewusst, woran er gedacht hatte. „Die Situation ist nun wie sie ist, also solltest du dich auf sie einstellen, statt dich in Selbstvorwürfen zu ertränken.“ „Aber was soll ich jetzt tun?“ Er war noch nie zuvor in einer solch gravierenden Situation gewesen, an der er sogar unwillentlich Schuld gewesen war und er hoffte, dass sie eine Antwort für ihn hatte, an der er sich orientieren könnte. „Das kommt auf dich an“, erwiderte sie allerdings. „Es gibt einige Sachen, die du tun kannst, aber ich glaube kaum, dass Joy dir auch nur eine davon erlauben würde.“ Sie runzelte die Stirn und blickte zur Seite, offenbar war sie immer noch wütend, auch wenn er nach wie vor nicht wusste, warum genau. Im Moment fragte er sich aber eher, was das für Dinge waren, über die Joy wohl nicht sonderlich erbaut wäre. „Aber du solltest nicht heute darüber nachdenken. Sieh zu, dass du nachher gut nach Hause kommst und dann werden wir morgen noch einmal darüber reden. Bis dahin kannst du überlegen, ob du wirklich die Verantwortung übernehmen willst.“ Ehe er noch etwas sagen konnte, spürte er, wie Alona die Hand wieder von ihm löste. Sie rutschte vom Barhocker herunter und lief davon, so hastig, dass sie schon nach kurzer Zeit aus seinem Blickfeld verschwunden war und lediglich ihr Geruch blieb. Dieser reichte aber nicht aus, um ihn davon zu überzeugen, dass er diese Begegnung nicht einfach nur geträumt hatte. Das lag vermutlich aber auch daran, dass er das Gehörte einfach nicht glauben wollte. Christine war an ihrem Limit. Er war verantwortlich für alles. Nun war nur noch die Frage, ob er weiter hoffen sollte, dass Joy etwas tat oder ob er selbst endlich eingreifen wollte. Aber einzugreifen würde vermutlich bedeuten, seine Furcht überwinden und gegen die Mimikry kämpfen zu müssen. Er wusste nicht, ob er das schaffen könnte oder ob er das überhaupt wollte. Aber so wie Alona klang, müsste er sich bis zum nächsten Tag entschieden haben. Wie sollte er das tun, wenn er nicht einmal wüsste, woraus seine Alternativen bestanden und ohne mit Joy darüber zu sprechen und damit vermutlich ihren Zorn auf sich zu ziehen? Aber konnte er zulassen, dass noch mehr Menschen diesen Wesen zum Opfer fielen, nur weil er ebenfalls in dieser Stadt war? Selbst Joy müsste das doch einsehen, oder? Er seufzte leise, als seine Gedanken wieder einmal begannen, sich gegenseitig zu jagen und ihm dabei nicht erlaubten, lange genug bei einem innezuhalten, um wirklich alles durchzudenken. Die einzige Überlegung, die dauerhaft im Vordergrund blieb, war jene, dass er der Überzeugung war, dass das Leben aller besser verlaufen würde, wenn er damals mit seinen Eltern gestorben wäre. Das Klingeln seines Handys riss ihn aus diesen finsteren Gedanken und holte ihn wieder ins Kino zurück. Als er nachsah, stellte er fest, dass er eine neue Nachricht bekommen hatte – und zwar von Christine: Komm bitte schnell wieder Ich kann nicht hinsehen, aber Joel hat Mitteilungsbedarf, was das ganze Kunstblut angeht. Ich brauche dich hier! ;b Unbewusst begann er zu lächeln und vergaß all die finsteren Gedanken wieder. Auch wenn es nur aus Scherz gesagt worden war, stand fest, dass er gebraucht wurde – und das war ein ungeheuer angenehmes Gefühl, wie er feststellte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)