Aurae von Flordelis (Löwenherz Chroniken II) ================================================================================ Kapitel 15: Unerwartete Ergebnisse ---------------------------------- Obwohl die Wunde verschlossen war, zeigten sich die Auswirkungen des Kampfes noch immer auf seinem schwarzem Pullover. Der durch den Dolch entstandene Riss war nicht auf den ersten Blick erkennbar, aber der Blutfleck war noch deutlich zu sehen, auch wenn man diesen im ersten Moment für eine gänzlich andere Flüssigkeit halten könnte, was die Sache für ihn aber nicht unbedingt besser machte. Dementsprechend unangenehm war es ihm, als er damit im Direktorat bei einer Besprechung saß. Joy saß auf dem Stuhl neben ihm und auf ihrer anderen Seite hatte Alona Platz genommen. Sie hielt sich den rechten Arm und hatte das Gesicht abgewandt, als würde es sie nicht weiter kümmern, was in diesem Gespräch beschlossen werden könnte oder als wolle sie vermeiden, irgendjemanden anzusehen. Rufus Chandler saß auf der anderen Seite seines Schreibtischs, auf dem fein säuberlich Papier gestapelt war, der Computer brummte leise, wie ein schlafendes Tier, das einen angenehmen Traum erlebte. Rufus wirkte dagegen so entfernt wie nie zuvor, weswegen Raymond der Gedanke kam, dass es wesentlich besser wäre, einen separaten Tisch für solche Gelegenheiten bereitzustellen. Im Moment fühlte er sich, als wäre er ins Direktorat gerufen worden, weil er etwas falsch gemacht hatte und ihn nun Ärger erwartete – und wenn er an dieses seltsame Gefühl zurückdachte, das ihn dazu hatte antreiben wollen, Alona umzubringen, war das vielleicht gar nicht so verkehrt. „Niemand hier wird Ärger bekommen“, sagte Rufus plötzlich, als wäre es ihm möglich, Raymonds Gedanken zu lesen. Von dieser Aussage verwundert, hob sogar Alona endlich den Blick, allerdings nur für einen kurzen Moment, dann sah sie sofort wieder auf den Boden hinab. Ihm schien, sie wollte etwas sagen, schluckte die Worte jedoch hinunter. Also nahm er es ihr ab und stellte die Frage, die sie sicherlich interessierte: „Sie versucht, mich umzubringen und wird dafür nicht einmal bestraft?“ Glücklicherweise war Rufus' darauf folgender Blick verständnisvoll, statt verärgert, obwohl Raymond immerhin gerade seine Entscheidung in Frage gestellt hatte. „Alona ist genau wie du ein Opfer“, erklärte er stattdessen. „Wir wollen ihr die Gelegenheit geben, sich zu rehabilitieren – und ohne ihre Magie dürfte sie ohnehin harmlos sein.“ Sie stieß ein wütendes Schnauben aus, sagte sonst aber nichts weiter. Es war wieder Raymond, der für sie das Wort ergriff: „Sie könnte mir nachts auflauern, während ich schlafe oder mich vergiften.“ Ihm schien, aus den Augenwinkeln heraus, dass sie den Kopf neigte, als würde sie seine Vorschläge tatsächlich in Erwägung ziehen. Er war nur froh, dass er ohnehin nicht daran glaubte, dass sie versuchen würde, ihn umzubringen und hoffte, dass er sich nicht allzusehr in ihr täuschte. Rufus sah hilfesuchend zu Joy, die sofort einsprang: „Wir werden Maßnahmen einleiten, damit sie nichts tun kann, was dir irgendwie schadet.“ Er fragte sich, wie das funktionieren sollte, stellte diese Frage aber nicht laut, um nicht aus Versehen doch noch Alona darauf zu bringen, wie sie ihn aus dem Weg räumen könnte. Viel eher würde er sich diese Maßnahmen gern in der Praxis ansehen. „Wie ich also sagte, niemand wird Ärger bekommen“, setzte Rufus wieder an. „Joy und ich haben besprochen, dass wir es vorziehen würden, wenn Alona die Schule weiter besucht. Ganz normal, wie es sein müsste.“ Raymond konnte sich nicht vorstellen, wie jemand wie sie eine ganz normale Schule besuchte. Sicher, Christine schaffte das, aber sie sagte auch, dass sie allen nur etwas vorspielte – und er glaubte nicht, dass Alona es schaffen würde, länger als einen Tag so zu sein wie heute vor ihren Mitschülern. „Ich will lieber nach Hause“, erwiderte sie und klang in diesem Moment wie ein verzweifeltes Kind, das soeben erkannt hatte, dass es nie wieder nach Hause zurückkehren könnte. Fast bekam er Mitleid mit ihr – aber dann dachte er daran, dass dieses Zuhause der Ort war, an dem man aus ihr diese hasserfüllte, verbitterte Person gemacht hatte und plötzlich war er froh darum, dass sie in Lanchest bleiben würde. „Du weißt selbst, dass das nicht möglich ist, Alona“, sagte Rufus mit sanfter Stimme. „Du musst dir auch keine Sorgen machen, es wird dir bestimmt gefallen. Sieh dir nur Christine an, sie hat sich sehr gut eingelebt.“ Davon wirkte sie nicht überzeugt, sie stieß ein unhörbares Seufzen aus und rollte mit den Augen, widersprach aber nicht noch einmal. Sie hatte offenbar eingesehen, wie vergeblich ihre Mühe war und Raymond war überzeugt, dass sie versuchen würde, auf eigene Faust die Stadt zu verlassen, selbst wenn sie keine Magie einsetzen konnte und obwohl sie ihren Auftrag noch nicht erfüllt hatte. „Dir bleibt keine Wahl als zu akzeptieren, was wir dir sagen“, erhob Joy ebenfalls die Stimme. „Ich werde dafür Sorge tragen, dass du die Stadt nicht wirst verlassen können. Außerdem dafür, dass du Raymond nichts antust, wie ich bereits sagte und dass du keinen Kontakt zur GS aufnehmen können wirst.“ Sie erwiderte Alonas hasserfüllten Blick mit neutraler Miene, in der sich nicht herauslesen ließ, was sie dachte oder fühlte. „Ich tue das nicht, um dir zu schaden. Du solltest es wirklich als Hilfe betrachten. Keiner hier will dir etwas Böses.“ Mit anklagendem Finger deutete Alona plötzlich auf Raymond. „Doch, er! Was sollte ihn daran hindern, sich nun an mir zu rächen, nachdem ich ihn schon mehrmals töten wollte und jetzt vollkommen wehrlos ihm gegenüber bin.“ Er war zu sprachlos, um überhaupt darauf zu reagieren und hoffe, dass die Erwachsenen das für ihn tun würden – allerdings gefiel ihm nicht, wie Joy das letztendlich tat: „Ich werde auch dafür sorgen, dass weder er noch irgendjemand sonst, dir Schaden zufügen kann. Du wirst in dieser Stadt absolut sicher sein.“ Natürlich wollte er glauben, dass Joy das nur sagte, um Alona zu beruhigen und sie ihm eigentlich ohnehin nicht zutraute, dass er ihr etwas antun würde, aber eine leise Stimme in seinem Hinterkopf bestätigte ihn nur darin, dass sie ihm nicht genug vertraute. Eine Erkenntnis, die ihm nicht sonderlich gefallen wollte. Genausowenig gefiel ihm aber das, was Joy noch mit ihren Worten implizierte, wenn auch wieder in Alonas Richtung. Die Hexe befand sich von nun an in einem Käfig, mit einer, zugegeben, großzügigen Leine um den Hals, aber dennoch ein Gefängnis, das sie nicht eher würde verlassen können, als jemand es ihr gestattete. Sie begriff das ebenfalls, ihr Gesicht war derart verzogen, dass es aussah, als hätte sie gerade in eine besonders saure Zitrone gebissen, aber sie widersprach nicht mehr und fand offenbar auch keine weiteren Argumente, die sie vorbringen könnte. „Dann sind wir uns wohl einig“, schloss Rufus mit lächelndem Gesicht. „Du wirst ab sofort ganz normal diese Schule besuchen, Alona. Eine Wohnung werden wir dir auch schnellstmöglich zuweisen.“ Raymond fragte sich, wo sie wohl bislang gewohnt haben mochte, sprach es aber nicht aus, schon allein, weil es in diesem Moment absolut unpassend gewesen wäre. Alona nickte nur geschlagen. „Da das nun geklärt ist, würde ich vorschlagen, dass du mich in meinen Laden begleitest“, sagte Joy in ihre Richtung. „Ich werde dich dort mit allem ausstatten, um dich zu schützen.“ Obwohl Raymond den Drang verspürte, dieses Thema, das ihn nun beschäftigte, direkt mit Joy auszudiskutieren, wusste er, das es nichts bringen würde, weswegen er nichts sagte, als sie sich von ihm verabschiedete und dann gemeinsam mit einer wütend dreinblickenden Alona das Büro verließ. Er selbst blieb auf Bitte von Rufus im Büro zurück. Der Direktor lächelte entschuldigend, fast schon verlegen. „Du bist jetzt ziemlich untergegangen. Bestimmt fühlst du dich übergangen.“ Dem war eigentlich nicht so. Er störte sich nicht daran, dass Alona in der Stadt bleiben müsste und nicht einmal eine richtige Bestrafung bekam – das hier wäre ihr sicher Strafe genug. Was ihm aber durchaus zusetzte war, dass er nun erstmal keine Antworten auf seine Fragen bekommen würde, auch wenn er diese ohnehin erst dann stellen wollte, wenn er geduscht, umgezogen und am besten auch noch ausgeschlafen war. So wie es im Moment war, wirkte für ihn alles eher wie ein Albtraum, aus dem er noch nicht wieder erwacht war. „Es ist in Ordnung“, erwiderte er deswegen. „Ich lebe noch und vertraue Joy. Es macht mir nichts aus.“ Zurückzustecken war ihm noch dazu im Waisenhaus anerzogen worden, so wie vieles andere, an das er sich lieber nicht zurückerinnerte. Trotz seines Wissens darüber blickte Rufus ihn misstrauisch an. Raymond erwiderte den Blick gefasst und ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen. Schließlich ließ der Direktor sich in seinem Sessel zurücksinken. „Manchmal glaube ich, du bist viel zu nachsichtig.“ „Verzeihung?“ „Versteh mich nicht falsch, Ray. Du bist ein guter Junge – aber wir haben gerade beschlossen, dass die Person, die versucht hat, dich umzubringen, mit dir zusammen in eine Klasse gehen wird und deine einzige Reaktion darauf waren zwei Sätze mit halbherzigen Widerworten.“ Also war ihm aufgefallen, dass Raymond nicht ernsthaft diese Dinge eingeworfen hatte. Diese Erkenntnis störte ihn allerdings ein wenig. Wie viele seiner Lügen konnte Rufus noch entlarven? „Ich sagte doch bereits, ich vertraue Joy.“ Der Direktor sah ihn plötzlich ungewohnt scharf an, die Augenbrauen zusammengezogenen. Unwillkürlich versuchte Raymond, auf seinem Stuhl zurückzuweichen, was ihm natürlich nicht gelang. Es war eindeutig, dass er gerade eine Lüge entlarvt hatte. „Das glaube ich dir nicht“, sagte er auch bereits. „Wenn dem so wäre, hättest du ihr bereits nach deiner ersten Begegnung mit Alona davon erzählt. Aber du hast es niemandem gesagt, nicht einmal mir oder Theia – oder deinen Freunden.“ Den vorwurfsvollen Unterton konnte Raymond beim besten Willen nicht überhören und auch wenn er das keineswegs mit böser Absicht verschwiegen hatte, überkam ihn nun ein schlechtes Gewissen. Wenn er Joy damals nur im Krankenhaus, direkt nach dem Aufwachen davon erzählt hätte... Aber was würde das ändern? „Wir hätten Alona früher einfangen und in ein normales Leben eingliedern können.“ Wieder schien es als könne Rufus seine Gedanken lesen. „Nur wegen deiner Nachlässigkeit musste es so weit kommen.“ In diesem Augenblick war es Raymond egal, ob die Sorge in der Stimme des anderen ihm galt oder Alona und was genau er meinte, sein schlechtes Gewissen hatte bereits die Oberhand gewonnen. Er hielt den Kopf um Verzeihung heischend gesenkt und sah auf den Boden hinab. Doch Rufus schien nicht gewillt, ihm das so schnell zu entschuldigen. Stattdessen machte er eine ungeduldige Handbewegung. „Du solltest jetzt gehen und dich erst einmal ausruhen. Ich erwarte, dass du morgen wieder wie gewohnt am Unterricht teilnimmst.“ Raymond stand sofort auf, salutierte überflüssigerweise noch einmal vor dem Direktor und verließ dann eilig dessen Büro. Erst vor der Tür erlaubte er es sich selbst, einmal zu seufzen – und bereute es sofort wieder, als er eine Stimme hörte: „Ray, da bist du ja endlich!“ Ehe er sich's versah, hatte Joel ihn bereits umarmt und obwohl er ihn impulsiv wegstoßen wollte, ließ er die Berührung zu, versteifte dabei jedoch. Christine stand neben ihm und blickte Raymond prüfend an. „Wie geht es dir?“ Er überlegte, auf diese Antwort zu schweigen, aber noch ehe er sich mit sich selbst geeinigt hatte, fuhr sie bereits fort: „Wir haben gesehen, wie Joy Alona weggebracht hat.“ Dies schien das Stichwort für Joel zu sein. Er ließ Raymond wieder los und trat einen Schritt zurück, die Stirn wütend gerunzelt. „Was wurde da drin eigentlich beschlossen? Es sah nicht so aus, als wäre versucht worden, diese Hexe festzunehmen.“ Nur Raymond bemerkte den gequälten Blick, den Christine ihrem Freund zuwarf, doch er ging nicht darauf ein, sondern erklärte stattdessen in neutralem Ton, dass Alona fortan gemeinsam mit ihnen zur Schule gehen würde. Die Reaktion seiner Freunde hätte nicht unterschiedlicher ausfallen können. Während Christine fast schon erleichtert lächelte, zog Joel die Brauen zusammen. „Wie bitte?! Sie greift dich tätlich an – mehrmals – und kriegt dafür gerade einmal einen Klaps auf die Finger?! Das ist doch nicht fair!“ Raymond war zu müde, um ihm zu erklären, dass sie nicht bestraft werden sollte und all ihre Einschränkungen, die damit einhergingen, bereits Strafe genug für sie wären und außerdem glaubte er nicht, dass Joel es verstehen würde. Er war nicht dumm, aber er sah das Leben einfach anders. Als er sich an die Stirn griff, hinter der sich ein bohrender Schmerz festzusetzen versuchte, verrauchte Joels Wut wieder und ließ Besorgnis die Oberhand gewinnen. „Du solltest dich erst mal ausruhen. Du kannst bei mir schlafen und-“ „Nein“, unterbrach Raymond ihn sofort. „Ich werde lieber nach Hause gehen, das wäre wohl besser.“ Nicht nur, weil er allein sein wollte, überall anders, wo er hätte schlafen können, gab es mindestens eine Person, die sein schlechtes Gewissen an diesem Tag nur noch verstärken würde und dem wollte er sich im Moment nicht aussetzen. „Bist du sicher?“ Joel war davon ganz und gar nicht begeistert und auch Christine schien bereit, zu widersprechen und es sich nur nicht recht zu trauen. „Ganz sicher. Ich war schon lange nicht mehr in meiner Wohnung, da wird es wieder einmal Zeit, oder?“ Um die Bedenken seiner Freunde zu zerstreuen, lächelte er zuversichtlich und zumindest bei Joel erzielte er damit den gewünschten Effekt. „Gut, wenn du das sagst.“ „Aber wir begleiten dich noch bis dahin“, sagte Christine sofort und ihr Blick verriet, dass sie keinen Widerstand zulassen würde. Glücklicherweise wollte Raymond auch gar nicht widersprechen. Zumindest für eine Weile wollte er das Gefühl haben, nicht allein zu sein, dass alles noch wie früher war und sich nichts verändern würde, egal was in der letzten Zeit alles geschehen war. Mit Joel und Christine nach Hause zu gehen, erschien ihm als sicherste Verbindung zu seiner Vergangenheit und so war er trotz allem wieder einmal unbeschwert, als er gemeinsam mit ihnen die Schule verließ und sich das Gesprächsthema ausnahmsweise wieder einmal um den ganz normalen Unterrichtsalltag drehte. Fast so, als hätte die dunkle Zeit dazwischen niemals stattgefunden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)