Magister Magicae (alte Version) von Futuhiro ================================================================================ Kapitel 4: "Ah, da seid ihr ja!" -------------------------------- Fünf Minuten später ließ Urnue den Kreidestift sinken. Fünf Minuten harter Arbeit. Fünf Minuten, die ihnen allen wie Stunden vorgekommen waren. Die letzte Überbrückung war gezeichnet. Es war ein wenig wie Schaltkreise umstecken. Der Bannkreis flackerte kurz und sank dann kraftlos in sich zusammen. „Gott sei Dank, ich hab mich nicht verkalkuliert.“, hauchte Urnue glücklich. „Kalkuliert? Was wäre denn passiert, wenn du dich verschätzt hättest?“ „Holt eure Genii da raus, macht schon. Ich weis nicht, wie lange die Überbrückungen halten. Der Bannkreis kann vielleicht wieder anspringen.“, umging er die Frage und wuselte selbst schnell hinein, um Nyu aus dem Kreidekreis zu ziehen, die gerade wieder zu sich kam. „Überbrückung?“, wollte Danny verwirrt wissen. „Hast du das Ding nicht totgemacht?“ „Nein. Ich hab genau genommen deine magische Begabung, Magie zu unterbinden, manuell erzeugt. Das ist nicht ganz einfach, es gibt einige Zufallsfaktoren und Variablen dabei. ... Aber es ist ja nichts passiert!“, grinste er. „Nyu! Nyu, wach auf. Komm schon. Wir brauchen deine Hilfe.“ „Ja, man, du auch, Dicker. Genug gepennt!“, stimmte Josh zu und befreite seinen Genius Intimus von dem Knebel und den Fesseln, die Ybi und Vy ihm verpasst hatten. Sie saßen noch fast zwei Stunden in der alten, baufälligen Lagerhalle fest, weil sie partu keinen Ausgang aus dem Fallen-Bannkreis fanden, der die Tür blockierte. Der Dicke konnte mit seinen Röntgen-Augen auch nicht seine Quelle ausfindig machen. Es war Danny, der letztlich die rettende Idee hatte. Danach ging alles verhältnismäßig schnell. Dannys Hoffnung, daß der Fallen-Bannkreis, der sie in der Lagerhalle einsperrte, kein Dach hatte, wurde erfüllt. Nyu und Josh´s Genius – ein steingrauer, ebenfalls flugfähiger Gargoyl – brachen einfach durch die Decke der Lagerhalle und trugen ihre Schützlinge dann hinaus. Dabei war es schwer, die Harpyie und den Gargoyl davon abzuhalten, sich gegenseitig in der Luft zu zerfetzen. Obwohl sie beide Geschöpfe der Nacht waren, konnten sie sich nicht ausstehen. Das war wohl eine uralte, traditionsreiche Fehde zwischen diesen beiden Rassen. „Ah, da seid ihr ja.“, meinte der fremde Mann freundlich, der ihnen daheim die Tür öffnete. „Ihr seid spät dran. Kommt rein.“ Er zog die Tür ganz auf und machte eine einladende Geste in den Hausflur hinein. Er war jung, er konnte kaum 25 Jahre alt sein. In seinem hübschen, freundlichen Gesicht machte sich ein ehrliches Lächeln breit. Er war etwas kleingeraten und von schmächtiger Statur, die er unter einem bodenlangen Ledermantel zu kaschieren versuchte. Lange, schwarze Haare rahmten wie Vorhänge sein jugendliches Gesicht. Er machte einen durch und durch sympatischen, niedlichen Eindruck. Urnue murrte leise, als er an dem netten Jüngling vorbei eintrat. Er wusste, daß dieses Milchbubi-Aussehen täuschte. Erheblich täuschte! „Ich bin Victor Dragomir Raspochenko Akomowarov.“, meinte er langsam und betont, als wolle er, daß man sich diesen Namen gut merkte. „Aber nennt mich doch Dragomir, das tun sowieso alle.“, fügte er lächelnd an und deutete einladend auf das Wohnzimmer zur linken Seite. Urnue sah sich vorsichtig um. Hier war alles so auffallend normal und geordnet. Er hatte erwartet, das Haus in chaotischen Kämpfen verwüstet vorzufinden. Aber nichts deutete auch nur ansatzweise darauf hin. Das einzige was störte, waren Ybi und Vy, die wie Türsteher mitten im Raum herumstanden. Das die mit Dragomir zusammenarbeiteten, hätte Urnue bis gestern beim besten Willen nicht gedacht. Er hatte die zwei immer für freischaffende Gauner gehalten. „Ruppert!“, brachte Urnue erleichtert hervor, als er seinen Schützling missmutig auf dem Sofa sitzen sah. „Gott sei Dank, du bist okay! ... Bist du doch, oder?“ Ruppert maulte nur etwas unverständliches in sich hinein. „Nehmt ruhig Platz!“, lud Dragomir die anderen ein, während er sich selbst äußerst geschmeidig und wohlbeherrscht in einen Sessel sinken lies. Überhaupt wirkte jede seiner Bewegungen bis zur psychologischen Vollendung ausgereift. „Warum hast du mich weggesperrt?“, platzte es sauer aus Urnue heraus. „Weil ich dich nicht verletzen wollte.“, entgegnete Dragomir mild. „Ruppert hätte dich nur sinnloserweise auf mich gehetzt und dich in Kämpfe mit mir verwickelt. Nimm es nicht persönlich. Ich wollte weder dir noch deinem Schützling etwas tun, ich wollte lediglich in Ruhe mit Ruppert reden können.“, erklärte der junge, unscheinbare Magier in beiläufigem Tonfall. Alles an ihm war so sanft und ruhig, daß man ihn sich nur schwerlich als mächtigen Krieger geschweige denn als Motus-Stammhalter vorstellen konnte. Langsam verstand Urnue den Spruch, daß Dragomir ein verkappter Führer war. Aufgrund seiner Fähigkeiten hätte er die Motus damals komplett übernehmen und anführen können. Nur sein viel zu sanftes, antiautoritäres Auftreten passte beim besten Willen nicht dazu. Als Befehlshaber nahm man ihn einfach nicht ernst. Wohl darum war er bis zum Ende immer nur die rechte Hand des Bosses geblieben. Aber die Motus gab es nicht mehr, das war Geschichte. Heute war er sein eigener Boss und ging einem höchst zwielichtigen Gewerbe nach. Ihm wurde immer wieder nachgesagt, magisch begabte Menschen anzugreifen. Dragomir selbst war ein Genius ohne Schützling. Es kursierten die tollsten Gerüchte, warum er keinen Schützling hatte. Es hieß, der sei bereits tot, teilweise sagte man sogar, Dragomir selbst habe ihn getötet. Wahrscheinlicher war es aber, daß er nie einen Schützling hatte. Nicht alle Genii waren zum Genius Intimus geboren, es gab auch viele ungebundene. Einen Moment sah er verwundert auf Nyu. „Hast du etwa deinen Genius Intimus gefunden, Danny?“, wollte er im Plauderton wissen. „Ausgerechnet eine Harpyie? Harpyien sind aufbrausend und neigen zu vorschneller Gewaltanwendung. Sie passt gar nicht zu dir.“ „Du erlebst gleich, wie aufbrausend ich sein kann! Urnue zu entführen war dein Todesurteil!“, kreischte Nyu, ihre Stimme schon auf Harpyien-Frequenz umgestellt, und stürzte sich auf den jungen Magister Magicae. „Nyu, nein!“, keuchte Danny. Sie durfte nicht einfach kopflos irgendwelche Leute verprügeln, egal wie sauer oder aufbrausend sie war, das war strafbar! Es war die eine Sache, daß sie ihn in ihrer Panik verletzt hatte. Das konnte er als Unfall deklarieren. Aber Dragomir anzugreifen, war auf jeden Fall ein Vergehen – und obendrein noch Selbstmord! Er wollte sie am Arm zurückhalten, bekam sie aber nicht mehr zu fassen. Auf den nur knapp 5 Schritten bis zu ihm vollzog sie die Verwandlung in ihre wahre Gestalt komplett. Dragomir hob mit einem milden Lächeln ruhig eine Hand und Nyu prallte mit einem dumpfen von seiner Schutzbarriere ab wie von einer Glasscheibe. Verwirrt taumelte sie einen Schritt zurück, ehe sie sich wieder fing. Sofort stürzte sich von der anderen Seite Urnue auf den Magier, unvermittelt in seine Wieselgestalt hinüberwechselnd, wurde aber von einem Feuergebilde zurückgetrieben, das Dragomir mit seiner anderen Hand wie eine Peitsche um sich herumwirbelte, ohne die schützende Barriere aufzugeben. Alle gafften ihn perplex an. Dragomir konnte zwei grundverschiedene Zauber zur gleichen Zeit wirken, wobei er sich auf keinen von beiden sonderlich konzentrieren zu müssen schien. Welches Niveau hatte dieser Kerl? Gab es überhaupt noch jemanden, der ihn schlagen konnte? Nyu war egal, wer oder was dieser Dragomir war. Wild kreischend warf sie sich immer wieder gegen seinen Schutzzauber, der wie ein Schild vor ihm stand, in der Hoffnung, ihn irgendwie gewaltsam durchbrechen zu können. Dann schleuderte sie ihre Klauen-Angriffe aus zwei Schritten Entfernung auf ihn, wobei sie ihre Fähigkeit der Distanzüberbrückung nutzte. Dragomir rollte genervt mit den Augen, als die auf Distanz übertragenen Energieladungen wie Donner auf seinen Schutzschild krachten, aber natürlich nichts ausrichteten. „Vy, würdest du wohl bitte mal?“, bat er im gelangweilten Tonfall. Aber so wie er das aussprach, stürzten sich schon Urnue und Josh´s Dicker auf die Zwillinge, um sie aufzuhalten. Dragomir stützte missmutig eine Hand in die Hüften, die andere hatte er noch gegen Nyu zur Abwehr erhoben. Es war eine Geste, hart an der Grenze, überheblich zu wirken, weil sie so gar nicht zu seinem bisherigen, weichen Auftreten passte. Nyu deckte ihn wie eine Furie immer weiter mit Schlägen und krachenden Energiesalven ein, ohne dessen müde oder überdrüssig zu werden. Urnue balgte sich mit Ybi herum, die für eine menschliche Frau erstaunlich viel Kraft hatte. Josh´s Genius Intimus hatte ebenfalls seine wahre Gestalt angenommen, die eines steingrauen Gargoyls, und prügelte sich mit ihrem Genius Vy, der sich inzwischen in einen Minotauren verwandelt hatte. Kurzum, es war ein unbeschreiblicher Krieg der unterschiedlichsten Fabelwesen, und das Wohnzimmer war binnen weniger Augenblicke ein einziger Trümmerhaufen. Gellende Schreie erfüllten das Chaos, Danny und Josh wollten aus dem Zimmer hasten und sich vor den tieffliegenden Zaubern in Sicherheit bringen, leise untermalt vom verängstigten Wimmern ihres Vaters, der mit einer kostbaren Vase in den Armen hinter einem Sessel kauerte. Der einzige Ruhepol in der ganzen Schlachterei und Prügelei war Victor Dragomir, der mit einer Hand seinen Schutzschild aufrecht hielt und das Spektakel nur kopfschüttelnd verfolgte. „Genug!“, gebot er schließlich und hob die andere Hand mit einer weichen Bewegung. Schlagartig kehrte Stille ein. Alle erstarrten. Man wusste nicht, ob er sie allesamt mit einem Paralysezauber belegt hatte, was eine reife Leistung wäre, oder ob sie einfach nur zu viel Angst vor ihm hatten, um seine Weisung zu ignorieren. „Ihr seid ja wie tollwütige Hunde. Was soll das?“, wollte er wissen. „Bringt Gewalt hier irgendjemanden weiter?“, fügte er genervt an. „Das sagt einer, der Magier und ihre Genii angreift.“, maulte Nyu und lies die Hörner des Minotauren los, auf den sie sich inzwischen gestürzt hatte, weil sie an Dragomir nicht herankam. Sie verwandelte sich zurück in ihre menschliche Gestalt. „Ich sage nicht, daß Gewalt immer zwecklos ist. Aber jetzt, in diesem Haus, ist es einfach nur Kraftverschwendung.“, gab Dragomir lächelnd zurück. „Heute bin ich nur geschäftlich hier. Euer Vater und ich haben einen Deal. Na los, Ruppert, lass hören!“, verlangte er mit gleichmütiger Stimmlage. Dannys Vater kam zögerlich, mit verstohlenem Blick hinter seinem Sessel hervorgekrochen und räusperte sich. Bedächtig stellte er seine Vase zur Seite, die er schützend an sich gepresst hatte, nur um Zeit zu gewinnen. Er war sichtlich verlegen, so hatten sie ihn noch nie in ihrem Leben gesehen. Er war immer der harte Kerl gewesen, der seinen Kopf rabiat durchsetzte. „Ich ... ähm ... also ...“ Er überlegte nochmal kurz und strich sich die Anzugjacke glatt. Dann holte er vernehmlich Luft. „Urnue. Ich muss mich ...“ „Ich WILL mich ...“, korrigierte Dragomir von der Seite. „Ich will. Ich will mich entschuldigen ... bei dir ...“ Urnue trat befremdet einen Schritt zurück, wandte sich sogar eine Winzigkeit von Ruppert ab, völlig verstört über so ungewohnte Worte, und musterte ihn mit skeptischen Augen. War mit Ruppert alles okay? „... entschuldigen für alles, was ich dir ... ähm ... angetan habe, in gewisser Weise. ... Ich weis, ich hatte nie den nötigen Respekt vor dir. Ich habe dich immer nur mit Verachtung gestraft, obwohl du mir mehr als einmal das Leben gerettet hast. ... also ... ich weis nicht, wo Dragomir dich hingebracht hat, aber diese Stunden ohne deinen Schutz haben mir endlich vor Augen geführt, wie sehr ich doch auf dich angewiesen bin.“ Urnue hatte sich ungläubig alle zehn Finger links und rechts an die Wangen gelegt, weil er nicht mehr wusste, wohin sonst mit seinen Händen. Das war einfach zu viel, er war sprachlos. Ein leichtes Zittern ging durch seinen gesamten Körper, während er Ruppert mit großen Augen ungläubig anstarrte. „Und ...“, fuhr Ruppert nach kurzem Hadern fort. „ ... und ich will dir ab jetzt mehr Freiheiten lassen und dich nicht mehr so ... ähm ... unterdrücken.“ Das Wort kam ihm nur schwer über die Lippen. „Schwöre!“, verlangte Dragomir von der Seite. „Ich schwöre es!“, gab Ruppert verzweifelt zurück und machte eine untertänige Verbeugung vor dem Magier. „Nicht mir! Schwöre es deinem Genius Intimus!“, verlangte dieser aber fast wütend. Der Banker nickte und drehte sich schnell wieder zu Urnue um. „Urnue, ich schwöre, ich werde dich ab jetzt besser behandeln. ... Verzeih mir. Bitte.“ Der völlig in schwarz gekleidete Genius fuhr sich ratlos durch die Haare. Solche Töne hatte Ruppert noch nie gespuckt. Konnte er das ernst nehmen? Und was um Himmels Willen lief hier? Das Ruppert ihn besser behandelte, war der Preis ... wofür eigentlich? Er hatte mit Dragomir einen Deal? ... War Dragomir am Ende etwa einer von den Guten? „Entschuldigung angenommen!“, meinte Urnue und ging zu seinem Schützling, um ihn in die Arme zu schließen. Ruppert sah fix und fertig aus. Das alles hatte den groben Haudegen wohl doch mehr mitgenommen als gedacht. „Ybi, Vy, wir sind fertig, kommt.“ ordnete Dragomir an und setzte sich in Bewegung. „Ich hab dich weiter im Auge, Ruppert.“, fügte er noch drohend an und war dann zur Tür hinaus und auf dem Weg, das Haus zu verlassen. „Das war eine harte Aktion.“, quasselte Vy fröhlich, als er den Magister Artificiosus Magicae hinausbegleitete. „Ihr habt gute Arbeit geleistet.“ „Springt da vielleicht eine kleine Belohnung raus?“, wollte Ybi in ihrer quietschigen Stimme wissen. „Mal sehen, ich verspreche euch nichts.“, meinte Dragomir noch amüsiert, dann fiel die Haustür hinter den dreien zu. Ruppert, Danny, Josh und ihre drei Genii blieben schweigend im Wohnzimmer zurück. Sie alle hatten viel Stoff zum Nachdenken. Gespenstige Stille senkte sich über die ganze Szene. Alle schauten bedröppelt von einem zum anderen. „U., wolltest du nicht schon immer Gitarre spielen?“, warf Ruppert etwas kleinlaut ein, wohl um das peinliche Schweigen zu unterbrechen. „Sollen wir dich in einer Musikschule anmelden?“ Danny hätte sicher eingeworfen, daß er dann aber auch Schlagzeug lernen wolle. Aber er kam nicht mehr dazu, denn in diesem Moment nahmen ihm die schmerzenden, entzündeten Wunden auf seinem Oberkörper endgültig das Bewusstsein. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)