Magister Magicae (alte Version) von Futuhiro ================================================================================ Prolog: "Ich werde das Vieh jetzt totschlagen!" ----------------------------------------------- „Ist er immer noch bei diesem verwilderten Biest? Ich wusste von Anfang an, daß nur gequirlter Mist dabei herauskommen würde, als er diese Befreiungsbewegung erfunden hat!“, grollte er stinksauer und stapfte mit einem Holzknüppel los. „Ich werde das Vieh jetzt totschlagen!“ „Nein! Ruppert, lass das! Du warst nicht dabei, als sie die Genii befreit haben. Du hast ja keine Ahnung, was in ihm vorgeht!“, keuchte Josh und hastete ihm nach. „Sentimentaler Unsinn!“, fauchte Joshs Vater. „Hast du mal bedacht, daß diese Genia irgendwo da draußen noch einen Schützling haben könnte, der auf sie wartet?“, versuchte es Josh erneut. „Ist mir egal! Der Bengel soll gefälligst endlich seinen eigenen Genius suchen, statt dieses Ding zu ...!“ „Ruppert, das da drin IST sein eigener Genius.“ „Bitte!?“, keuchte Ruppert, Joshs Vater, erschüttert und blieb fassungslos stehen. Josh schaute ihn nur vielsagend an. Sein Vater hatte schon richtig verstanden. „Ach du heilige Scheiße ...“ Josh seufzte. „Siehst du? Genau diese Reaktion hat Danny befürchtet. Darum wollte er es keinem sagen, solange sie sich noch nicht wieder eingekriegt hat. Ruppert, diese Genia wurde vermutlich monatelang misshandelt und geschlagen und auf verachtenswerteste Weise behandelt. Sie ist völlig verstört. Und feindseelig gegenüber jedem menschlichen Wesen. Gib Danny eine Chance. Alles was er braucht, ist ein bischen Zeit, um ihr Vertrauen zu gewinnen.“ Stinksauer warf er seinen Holzknüppel zu Boden. Danny und Josh hatten am frühen Nachmittag einen Zirkus besucht, in dem man offenbar Genii auftreten ließ. In der Nacht, während der Spätvorstellung, hatte er sich den Genius seines Vaters geschnappt und war in dessen Begleitung in den Zirkus eingebrochen, um einen der dort lebenden, angeblich gefangenen Genii zu stehlen. Er war dabei von einer offiziellen Organisation überrascht worden, die scheinbar das gleiche Vorhaben mit staatlicher Befugnis betrieb. Die hatten alle Genii des Zirkus beschlagnahmt und Danny mit Tatü-Tata wieder nach Hause gebracht. Seitdem saß dieses DING da unten in ihrem Keller, das sie zusammen mit seinem Sohn hier abgeladen hatten. Kapitel 1: "Wie kommst du voran?" --------------------------------- Danny saß am Abendbrottisch und kaute mit ungutem Gefühl sein Brot. Irgendwas war anders als bisher. Sein Vater war schon die ganze Zeit missmutig gewesen, seit er sich der jungen Genia angenommen hatte. Und das war er auch jetzt noch. Aber auf eine andere Weise. Sein Bruder Josh warf ihm verstohlene Blicke zu, die er nicht deuten konnte. Was war nur los? Das Schweigen machte ihn wahnsinnig. „Wie kommst du voran?“, wollte Josh kleinlaut wissen. Auch ihm war es eindeutig zu still bei Tisch, er musste einfach reden. „Schleppend. Sie spricht kein Wort. Ich bin mir nichtmal sicher, ob sie mich überhaupt versteht.“, gab Danny wahrheitsgetreu zurück. Ruppert, sein Vater, brummte. Ebenso sein Genius Intimus, der neben ihm saß. „Aber sie hat sich immerhin beruhigt und schlägt nicht mehr wie wild um sich!“, fügte Danny schnell an. Er wollte nicht klingen, als würde er gar keine Fortschritte machen. Ihm tat die junge Frau so leid, er hätte gern mehr für sie getan. Aber sie ließ es einfach nicht zu. Wenn sie ihm wenigstens erzählt hätte, was ihr widerfahren war, um sie so werden zu lassen. Aber sie gab nur immerzu knurrende Töne von sich, die er bisher noch keinem Tier hatte zuordnen können. Er wusste noch nichtmal, wie ihre wahre Gestalt aussah. Selbst in Rage war sie willensstark genug, ihre menschliche Gestalt beizubehalten. „Dann gib ihr über das silberne Band zu verstehen, was du von ihr erwartest!“, maulte Ruppert und biss wieder schlechtgelaunt in sein Brot. Danny schaute ihn fassungslos an. Er wusste von dem Band? Dann wanderte sein Blick zu Josh, der betreten wegschaute und plötzlich hilflos mit seinem Besteck spielte. „Hast du es ihm etwa gesagt?“, wollte Danny etwas gekränkt wissen. Josh hatte die Gabe der Intuition. Es war kein Hellsehen in dem Sinne. Nur das fast unweigerliche Wissen um die Art oder den Zweck eines Dinges, das er vor sich hatte. Er hatte im Zirkus während der Vorstellung einfach gewusst, daß die junge Frau sein Genius Intimus war. Danny hatte ihn gebeten, geradezu angefleht, es keinem zu erzählen. „Tut mir leid. ... Er wollte sie totschlagen. Ich musste etwas tun.“, gab Josh kleinlaut zurück und warf einen unterwürfigen Blick auf seinen Vater. „Du wolltest WAS!?“, hakte Danny entsetzt nach, diesmal an seinen Vater gewandt. „Bist du übergeschnappt, hey?“ „Du kennst den Codex Geniorum!“, erwiderte der nur seelenruhig. „Ja, auswendig! “, begann er trotzig zu rezitieren. „“ Ein Brummen unterbrach ihn. „“, hielt sein Vater dagegen. „Und jetzt sieh dir das Ding da unten im Keller mal an. Ich hab sie nur für verwildertes, unkontrollierbares Ungeziefer gehalten.“ „Und wenn schon! Sie ist trotzdem ein Genius! Für so kaltblütig hätte ich dich nicht gehalten. Du solltest Urnue nie wieder unter die Augen treten!“, fauchte Danny mit einem Deut auf den Genius Intimus seines Vaters, sprang hasserfüllt vom Tisch auf und schneite davon. Ruppert rollte mit den Augen. Was dachten seine Söhne bloß von ihm? Natürlich hätte er die Genia nicht erschlagen. Genii hatten die gleichen Rechte wie die menschlichen Bürger dieses Landes. Einen Genius zu töten war Mord und wurde auch entsprechend bestraft. So lieb waren ihm sein gesellschaftlicher Status und sein Luxus-Leben schon, um sich nicht wegen Mord einbuchten zu lassen. Bestenfalls hätte er der Genia solange Manieren eingeprügelt, bis sie sich wieder wie ein klar denkendes Wesen benahm. Wahrscheinlicher war es aber, daß er seinen Sohn Danny windelweich geknüppelt hätte. Dafür, daß er einfach mit Urnue abgehauen war, dem Genius seines Vaters. Weiß Gott, was er angestellt hatte, um Urnue zu so einer Aktion zu überreden. Genii trennten sich eigentlich NIE von ihren Schützlingen. Oder wahlweise auch dafür, daß er einfach dieses Ding hier ungefragt angeschleppt hatte. Nagut, die Tatsache, daß sie der Genius Intimus seines Sohnes war, änderte natürlich einiges. Zu jedem magisch begabten Menschen – und seine Familie gehörte dazu – gehörte von Geburt an ein sogenannter Genius, ein Geister- oder Fabelwesen. Die beiden trafen in der Regel zusammen, sobald bei dem Menschen, dem Magi, die erste magische Begabung auftrat. Der Genius spürte es, egal in welchem Winkel der Welt er gerade war, und machte sich wie hypnotisiert auf den Weg, seinen Schützling zu suchen. Ruppert hatte sich immer geärgert, daß sein Sohn nie auf den zu ihm gehörenden Genius getroffen war. Er hatte immer vermutet, daß der Genius schon im Kindesalter gestorben war. Ohne seinen Genius war ein Magi praktisch nichts, weil er ungeschützt war und sich daher nicht der Magie und Alchemie widmen konnte. Man konnte einen Genius nur mit roher Gewalt und mächtigen Bannzaubern davon abhalten, seinen Schützling zu suchen. Und das war grässlichste Folter für den betreffenden Genius. Was hatten die im Zirkus wohl mit der Genia angestellt, damit sie Danny nicht fand? Vor der Kellertür blieb Danny stehen und atmete noch einige Male durch, um sich wieder zu beruhigen. Er wollte nicht mit schlechter Laune zu ihr hineingehen. Das war sicher das Letzte, was sie jetzt noch gebrauchen konnte. Langsam drehte er den noch steckenden Schlüssel und schloss auf. Leider Gottes, er hatte die Ärmste einschließen müssen. Er konnte sie noch nicht frei rumlaufen lassen, sie war immer noch zu aufgewühlt und zu panisch in Gegenwart von Menschen. Sicher würde sie fluchtartig auf und davon rennen und nie wieder gesehen werden, wenn er ihr die Chance dazu ließ. Aber es fehlte ihr da drinnen ja an nichts. Der Keller war fast zu einer kleinen Wohnung ausgebaut, es gab ein Bett, und sogar eine Dusche und eine Toilette, weil der Keller ursprünglich mal ein Waschhaus gewesen war. Der Keller diente sonst als Gästezimmer. „Hi, du. Ich hab dir was zum Abendessen mitgebracht.“, meinte Danny betont fröhlich, als er eintrat und die junge Genia wie erwartet zusammengekauert in der hintersten Zimmerecke fand. „Hast du schon Hunger?“ Er ließ den Teller mit Schwung über den Boden auf sie zuschlittern, da sie es nicht ertrug, wenn man sich ihr auch nur einen Schritt näherte. Dann verfiel sie sofort in panische Verzweiflungsangriffe. Langsam und zögerlich robbte sie auf allen Vieren auf den Teller zu, immer mit einem wachsamen Auge auf ihn, und schnappte sich das Essen herunter. Danny ließ sich derweile an der gegenüberliegenden Wand nieder und schaute ihr eine Weile zu. Sie war so herzallerliebst, er hätte sie am liebsten geknuddelt. Er wusste nicht, ob jeder Schützling seinen Genius Intimus so empfand oder ob es nur ihm so ging. Aber sie war wirklich furchtbar niedlich. „Verrätst du mir deinen Codenamen?“, wollte er ruhig wissen. Diese Frage hatte er der jungen Frau seit gestern sicher schon ein Dutzend Mal gestellt. Jeder Genius hatte einen Codenamen, denn wenn man seinen vollständigen, wahren Namen kannte, hatte man zu viel Macht über ihn. Für gewöhnlich reagierte sie nicht auf Fragen. Ob sie nicht reden konnte, oder nicht reden wollte, oder ob sie ihn wirklich nicht verstand, hatte er noch nicht rausbekommen. „Ist es okay, wenn ich etwas näher komme? Ich setze mich nur auf das Bett dort. Das ist bequemer als der Boden.“, versuchte er zu erklären, stand auf und machte zwei, drei Schritte auf sie zu. Groß war der Keller nicht. Der Abstand zu ihr wurde rasch geringer. Sie begann zu fauchen und drängte sich zurück in ihre Zimmerecke. „Schon gut, ich tu dir nichts, ich versprech...“ Bei dem nächsten Schritt, den er machte, wurde er von einem urgewaltigen Schlag von den Füßen gerissen. Noch in der Flugphase spürte er die grässlich schmerzenden Risswunden über Brust und Bauch, dann wurden diese übergangslos von dem Aufprall rücklings an die Wand überschattet, gegen die er geschleudert worden war. Keuchend sank Danny an der Wand herunter, und kam kraftlos auf dem Boden zu sitzen. War das die Genia gewesen? Wie hatte sie ihn über so große Distanz schlagen können? Quer über seine Brust prankten riesig lange, tiefe Risswunden, wie von einer dreifingrigen Klaue. Sein Hemd hing in Streifen von ihm herunter. Er stöhnte. „Ich ... wollte dich nicht erschrecken ...“, hauchte er leise und mit schwindenden Sinnen. Ihm wurde langsam schwarz vor Augen. „Oh mein Gott!“, stieß die Genia entsetzt hervor, als habe sie erst jetzt richtig realisiert, was sie da eigentlich angerichtet hatte. „Nein!“ Sie stürzte sich hektisch auf den jungen Mann und drückte ihm beide Hände auf die Brust. „Hey, du kannst ja doch reden ...“, meinte er noch leise. Amüsiert. Tränen schossen ihr in die Augen, als sie verzweifelt versuchte, seine Wunden wieder zu heilen. Sie besaß zwar Heilerkräfte, aber diese waren nur sehr schwach ausgeprägt und waren auch nie trainiert worden. Aber mit der schieren Macht der Verzweiflung schaffte sie es doch zumindest, die Blutung zu stoppen, so daß die aufgerissene Haut haltbar verkrustete. Als Danny wieder zu sich kam, lag er flach auf dem Boden und fühlte sich etwas benommen. Richtig, er war rücklings gegen eine Wand geflogen, da gehörte sich das so. Er konnte nur Momente bewusstlos gewesen sein. Die junge Frau mit der wilden, grünschwarzen Mähne lag heulend auf seinem Oberkörper. Hatte dieser Vorfall sie endlich dazu bewogen, Körperkontakt zu dulden? Bisher war sie doch schon in Panik geraten, wenn man sich ihr nur näherte. „Heeeeeey.“, hauchte er beruhigend und leise. „Es ist doch alles in Ordnung.“ Vorsichtig legte Danny seine Hände auf ihre Oberarme. Er wagte es nicht, sie zu umarmen und damit gänzlich zu umschlingen, auch wenn der Drang danach schier unwiderstehlich war. Er wollte sie nicht gleich wieder verschrecken. Sie schaute mit Wasserrändern in den großen, dunklen Augen auf und sah ihm ins Gesicht. Da, wo ihr Kopf gelegen hatte, kamen nun die gefährlich aussehenden Narben auf seiner Brust zum Vorschein. Aber sie taten nichtmal sonderlich weh, stellte er fest. „Es tut mir leid! Das wollte ich nicht!“, bekräftigte sie und fuhr unglücklich mit der Hand über seinen Oberkörper. Danny rang sich ein Lächeln ab, erfreut darüber, daß sie nun doch mit ihm redete. „Ich lebe doch noch. Ich war einfach unvorsichtig.“ Ihr Kopf sank wieder auf seine Brust. „Ist es okay, wenn ich dich ... in die Arme schließe?“ „Hm-hm.“, machte sie zögerlich zustimmend. Er spürte, wie sie unter seinen Händen erschauderte, aber sie ließ es zu. „Hast du immer noch Angst vor mir?“ „Ja. ... ein bischen. ... Ich mag dich, das ist es was mir eigentlich Angst macht.“ Er lächelte. „Du bist mein Genius Intimus, ich nehme an, daß die Sympathie daher kommt.“ „Ich weis.“ Er strich ihr sachte durch die langen Haare. „Was haben sie dir bloß angetan, daß du so scheu und verängstigt geworden bist?“, seufzte er, ohne wirklich eine Antwort auf diese Frage zu erwarten. Er bekam auch keine. „Was meinst du, wollen wir in den Garten gehen? Du musst mal was anderes sehen als dieses Kellerloch.“, schlug er vor. „Kannst du denn schon wieder aufstehen?“ Danny richtete sich in eine sitzende Position auf und wurde jäh von einem Schwindelanfall heimgesucht. Der verging jedoch glücklicherweise nach einigen Augenblicken wieder. „Es geht schon.“, nuschelte er, etwas blass um die Nase. Als er aus dem Keller kam und wieder den Hausflur betrat, kam ihm gerade Urnue entgegen. Hektisch drehte Danny sich weg. Er wollte nicht, daß jemand das in Fetzen hängende Hemd und die frisch verkrusteten Wunden sah. Glücklicherweise stand er gerade direkt neben dem Kleiderständer, so daß er sich eine Jacke schnappen, überwerfen und bis zum Kinn zuknöpfen konnte. Auch wenn das blöd aussah, denn draußen waren 23°C und Sonnenschein. „Hi. Wir gehen mal kurz raus.“, erklärte Danny betont fröhlich. „Oh, geht es der Kleinen wieder besser? Wie schön!“, erwiderte Urnue und wuselte begeistert näher. Da seine wahre Gestalt die eines überdimensionalen Wiesels war, erschienen all seine Bewegungen stets unnatürlich schnell, präzise und geschmeidig. Sein Aussehen war ein wenig exzentrisch, er trug durch und durch schwarz am Leib. Sein ärmelloses Hemd war rabenschwarz, ebenso die Lederhose, die um seine Hüften und Oberschenkel auffallend eng saß, nach unten aber ausgestellt war. Seine Haare waren wild und fransig, standen in alle Richtungen ab, und waren – natürlich – rabenschwarz. Seine großen, dunklen Augen pflegte er mit einer Überdosis schwarzem Kajalstift und Eyeliner zu betonen. Er sah zwar ganz hip aus, passte aber so gar nicht zu Rupperts anzug- und krawatten-dominierten Business-Stil. Wohl der Hauptgrund, warum sein Vater den Schutzgeist nicht wirklich mochte. Interessiert kam Urnue näher und lächelte die junge Frau an. „Das ist Urnue, der Genius Intimus meines Vaters.“, erklärte Danny und zog seine Jacke zurecht. „Ich bin Nyu.“, erwiderte sie und bot dem Schutzgeist offenherzig und fröhlich ihre Hand an. Toll, nun wusste er auch endlich ihren Namen, dachte Danny und verfolgte skeptisch, wie sie sich von dem fremden Genius kameradschaftlich über den Rücken rubbeln und sogar kurz umarmen ließ. Offenbar hatte sie nichts gegen Genii. Auch in dem Zirkuszelt damals war es ein Genius gewesen, der sie endlich zur Ruhe gebracht hatte, damit man sie von dem Halsreifen befreien konnte, mit dem sie angepflockt gewesen war wie eine Ziege. Scheinbar hatte sie nur vor Menschen Angst. Urnue trat einen Schritt zurück und beschaute sie von oben bis unten, als wolle er analysieren, wie ihre wahre Gestalt aussehen mochte. Er kam scheinbar auch zu einem Ergebnis, konnte es aber nicht mehr kundtun, weil Dannys Vater von der oberen Etage nach ihm rief. Eine Tür flog auf und Josh kam die Treppe heruntergepoltert. Die junge Frau drehte sich panisch um und wollte den Rückzug in den Keller antreten, aber Danny schloss sie schnell in die Arme. „Bleib hier, Nyu, keine Angst.“, redete er ruhig auf sie ein. „Das ist mein Bruder, der tut dir nichts. Ganz ruhig.“ Er spürte, wie Nyu in seinen Armen zitterte und den herunterkommenden, jungen Mann mit schreckgeweiteten Augen anstarrte. Aber sie verzichtete darauf, sich gewaltsam loszureißen und zu flüchten. Er strich ihr beruhigend durch die Haare. „Urnue, Vater braucht deine Hilfe ... Oh!“, machte Josh nur erstaunt und blieb auf der untersten Stufe stehen, als er die Genia plötzlich freilaufend vor sich hatte. Bisher war sie ja wegen ihre Unkontrollierbarkeit in den Keller gesperrt gewesen. „Ich komme.“, erwiderte Urnue, drängte sich an ihm vorbei und stapfte – ganz unwieselig – die Treppe hinauf ins Obergeschoss. Ein Zeichen dafür, daß es ihm gerade gar nicht passte, hier weg zu müssen. „Ist was passiert?“, wollte Josh mit einem vielsagenden Deut auf Dannys Jacke wissen. Und es war nicht ganz herauszuhören, ob er eigentlich oder fragen wollte. Seine übernatürliche Intuition verriet ihm viel, aber bei weitem nicht alles. Es war manchmal schwer, aus seinen zwielichtigen Äußerungen zu interpretieren, wie viel er wirklich wusste. Danny seufzte genervt. Er hatte sich mit Nyu draußen unter einen Baum gesetzt, in der Hoffnung, ein bischen Ruhe zu haben. Aber binnen weniger Augenblicke stand seine gesamte Sippe um ihn herum, sein Bruder, sein Vater, die Genii der beiden, das Hausmädchen, und glotzten interessiert das neue Familienmitglied an. Merkten die gar nicht, wie unangenehm das der Kleinen war? „Lasst uns mal schauen, wo wir sie unterbringen werden!“, schlug Danny vor, stand auf und schob die anderen mit ausgebreiteten Armen zum Haus zurück. „Pass auf sie auf!“, zischte sein Vater Urnue zu. „Ja, bitte, pass auf sie auf.“, bat auch Danny zustimmend, mit dem Unterschied, daß er damit nicht meinte. Urnue und Nyu blieben allein im Garten zurück. Sie seufzte spürbar erleichtert auf. Der ganz in schwarz gekleidete Genius setzte sich zu ihr. „Ganz schön anstrengend, was? An das Großfamilienleben muss man sich erst gewöhnen. Ich habe auch einige Zeit gebraucht.“, meinte er in seiner angenehmen, ruhigen Stimme. Nyu lächelte ihn an. Solange sie nur Genii um sich hatte, fühlte sie sich hier richtig wohl. Und ihr Schützling Danny schien ein lieber Kerl zu sein. Sicher würde sie es hier gut haben. Sie musste sich nur zusammenreißen und sich damit abfinden, unter Menschen leben zu müssen. Das hier war nicht mehr der Zirkus! ... ... Sie fragte sich, was aus Nat geworden war, dieser Sphinx-Knabe, mit dem sie im Zirkus eingesperrt gewesen war. Das letzte woran sie sich erinnerte, war, daß fremde Leute um sie herum gewesen waren, die beruhigend auf sie einsprachen, und immer näher kamen, und sie damit nur noch mehr in Panik versetzten. In der Nachmittagsvorstellung hatte sie bei ihrer Trapez-Nummer einen Fehler gemacht. Sie war gestürzt und war in einer so blöden Stellung ins Fangnetz gefallen, daß sie sich eine Schulter verknackst hatte. Weil der verdammte Bannzauber ihr eine unerlaubte Verwandlung unmöglich machte, sonst hätte sie sich problemlos abfangen können. Sie wurde aus der Spätvorstellung gestrichen und draußen angepflockt und bekam nur anhand der tosenden Jubelstürme und des Applauses mit, daß im großen Zelt gerade eine Vorstellung lief. Es begann, zu regnen, zu schütten wie aus Eimern, während sie da draußen im Freien angekettet war. Nat, der Sphinx-Junge, wurde nach seiner Nummer in seinem winzigen Raubtierkäfig herausgeschoben und in ihrer Nähe geparkt. Fieserweise ließ man ihn da drin eingesperrt, obwohl die Aufseher genau wussten, wie panisch er in so engen Gitterboxen wurde. Das Ding war so eng, daß er sich kaum rühren konnte. Nyu sah ihn einen Moment lang mitleidig an, aber helfen konnte sie ihm ja nicht. Dann gab sie sich wieder ihrem eigenen Elend hin. Das Regenwasser prasselte auf sie herunter, als stünde sie unter der Dusche. Die langen, schwarzgrünen Haare klebten ihr pitschnass im Gesicht und auf Rücken und Schultern. In ihrem Spagettiträger-Oberteil fror sie sich die Seele aus dem erbärmlich zitternden Leib, und der kräftig wehende, eisige Wind tat sein Übriges dazu. Sie bemerkte den jungen, komplett schwarz gekleideten Mann erst, als er schon fast vor ihr stand. Erschrocken rappelte sie sich auf und gab einen drohenden Ton von sich. Leider klang es aufgrund ihres Kältezitterns eher wie ein rostiges Türscharnier, gar nicht angsteinflößend. Der Mann hatte drei Jungen bei sich, die ebenfalls hier zwischen den Wagen herumkletterten. Was hatten die hier backstage zu suchen? „Das ist sie! U., das ist sie! Tu doch was!“, raunte einer aufgeregt. „Immer langsam, bring jetzt bitte keine kopflosen Aktionen, Danny.“, gab der junge Mann mit der schwarzen Lederjacke – Urnue – ruhig und leise zurück und sah sich vorsichtig weiter um. Er suchte wohl nach weiteren Gefangenen, oder vielleicht nach Aufpassern, die es auszuschalten galt. Nyu begann kreischend um sich zu schlagen, als dieser Junge, Danny, mit ausgestreckter Hand näher auf sie zu kam. Sie wollte nicht, daß dieser Typ näher kam. Sie wollte nicht angegrabscht werden. Der Junge hob beschwichtigend die Hände, raunte irgendwas von „Du musst leise sein!“ und machte sich stattdessen an dem Pflock zu schaffen, an dem sie angekettet war. Aber er war ihr immer noch viel zu nah, sie tobte halb panisch, halb aggressiv weiter. „Sie wollen dich befreien, bleib ruhig, Nyu!“, hörte sie Nat aus seinem Käfig rufen und fuhr verdutzt zu ihm herum. Groß darüber nachdenken konnte sie nicht mehr, denn in diesem Moment erschienen weitere Leute auf dem Platz hinter dem Zirkuszelt. Souverän und autoritär aussehende Leute. Leute die einen Hauch von staatlicher Executive ausstrahlten. Bei einem kurzen Wortabtausch, den Nyu aufgrund des prasselnden Regens und ihrer Panik nicht mitverfolgen konnte, wurden Urnue, Danny und die anderen beiden Jungs – Josh und sein Genius – weggedrängt. Ein Asiate mit gewaltigen Flügeln auf dem Rücken nahm sich ihrer an. Mit einem erstaunlich freundlichen „Ich bin Seiji. Keine Sorge, ...“, trat er auf sie zu. Aber sie wollte ihm nicht zuhören. Sie wollte verdammt nochmal in Ruhe gelassen werden! Sie begann auf der Stelle wieder panisch um sich zu schlagen, als er ihr zu nahe kam. Er erstickte ihre Versuche jedoch schon im Keim und rang sie radikal zu Boden. Wohl hatte er keine Zeit für solche Mätzchen. Er kniete sich über sie, hielt sie unter sich bewegungsunfähig fest, damit sie ihm nicht doch noch eine scheuerte, und beugte sich zu ihr herunter. „Hey, es ist alles okay, du musst keine Angst haben. Wir holen euch aus diesem Zirkus raus.“, redete er sanft und beruhigend auf sie ein. Mit seinem Körper schützte er sie ein wenig vor dem Regen, und seine Wärme stand für einen Moment wie ein Zelt über ihr. Nyu stiegen vor Angst Tränen in die Augen, aber sie stellte ihre Gegenwehr widerwillig ein. Sie wusste noch nicht recht, ob sie ihm glauben konnte, aber wenn auch nur die geringste Chance bestand, daß diese Hölle hier im Zirkus endlich aufhörte, dann wollte sie ihm nicht im Weg stehen. Anschauen konnte sie ihn nicht. Sie hielt die Augen fest zusammengekniffen, um nicht sehen zu müssen, wie nah er ihr war. „Keine Panik. Wir wollen dir nichts tun. Wir holen dich nur hier raus. Ich bin ein Genius, wie du, hörst du? Ich werde dir nicht schaden. Ich will dich lediglich von dem Halsreifen da befreien.“, erklärte er ruhig weiter, als er merkte, wie ihre aggressive Gegenwehr langsam nachließ. Langsam beruhigte sich Nyu ein wenig. Sie nickte langsam, immer noch ohne ihn ansehen zu können. „Ich lass dich jetzt los. Bitte schlag nicht wieder um dich. ... Ist das okay für dich?“ Wieder nickte Nyu und schniefte. Langsam blinzelte sie ein Auge auf, um zu sehen, was er als nächstes tat. Er hielt gerade einen Schraubenschlüssel wie ein Messer auf sie gerichtet. Sie keuchte erschrocken, als er damit nur ihren Halsreifen öffnete. , versuchte sie sich in Gedanken selbst zu beruhigen, während er an ihrem widerspenstigen Halsreif herumdoktorte. Es dauerte eine Weile, bis er das lästige Ding endlich geöffnet hatte. Wohl auch, weil Nyu immer wieder ihre Hände schützend in die Höhe riss und ihn damit behinderte. „Um den Bannzauber kümmere ich mich auch gleich noch, warte.“, erklärte der geflügelte Asiate, der sich als Seiji vorgestellt hatte. Er bedachte sie mit fragendem Blick von oben bis unten. „Wo ist denn das Bann-Symbol bei dir?“, wollte er dann wissen. Ehe er sie eigenhändig aus ihren Klamotten schälte, wollte er lieber wissen, wo er anfangen sollte. Um Peinlichkeiten zu vermeiden. Er hatte bei gefangenen Genii die Bann-Symbole schon an den tollsten Stellen gefunden. Die Brüste und Innenseiten der Oberschenkel waren bei weiblichen Genii am schwersten in Mode. Nyu starrte ihn einen Moment lang mit undeutbarem Blick an, einer Mischung aus Wut, Panik und unverholener Skepsis. „Wo ist es? Willst du´s mir nicht sagen, damit ich es aufheben kann?“, hakte Seiji freundlich nach und lächelte. Langsam drehte sich Nyu unter ihm auf den Bauch. So viel Platz lies er ihr gerade noch. Sie war gar nicht begeistert davon, ihn in ihrer Bauchlage nicht mehr sehen zu können. So konnte sie sich unmöglich wehren. „Da.“, gab sie leise zurück und deutete nach hinten auf ihre Wirbelsäule. Vorsichtig zog er ihr den Kragen des dehnbaren Spagettiträger-Oberteils so weit nach unten, daß ihre Schulterblätter freigelegt waren. Da war es, genau zwischen den Schulterblättern, wie ein Postkarte groß. Ein detailreiches, verschlängeltes und verschachteltes Muster, das ein wenig wie ein Tattoo wirkte. Sie hörte den Asiaten seufzten. Wahrscheinlich hatte er auf etwas einfacheres gehofft. Dieses Symbol war ziemlich komplex. Dennoch machte er sich sofort an die Arbeit, die Linien mit seiner Bann-Magie zu verändern und die anspruchsvolle Kombination aus Gehorsamszwang, Verwandlungs-Blocker und Fluchtverhinderer zu lösen. Nyu spürte seine warme Hand auf dem Rücken, und obwohl das Lösen dieses schon sehr lange dort verankerten Bannzaubers ein wenig weh tat, empfand sie die Hand als beruhigend. „So, schon fertig, siehst du? Komm, du musst aus dem Regen raus.“, lud er sie lächelnd ein, stand auf, wodurch sie endlich wieder Luft zum Atmen hatte, und hielt ihr eine helfende Hand hin, um sie auf die Beine zu ziehen. Dann ließ er sie plötzlich einfach stehen und ging weiter zu Nat. Jemand anderes kümmerte sich um sie. Sie wurde von Nats Käfig weggezogen und in einen Polizeibus gestopft, zusammen mit dem Mann in der schwarzen Lederjacke und den drei Jungen. Es gab einige Schlägereien und Tumulte, weil Nyu niemanden auf dem Sitzplatz neben sich duldete. Aber im Bus gab es nicht genug Plätze, um den Sitz neben ihr einfach frei zu lassen. Erst als Urnue sich ihr als Genius vorgestellt hatte, hatte sie ihn widerwillig neben sich sitzen lassen, ohne ihn umzubringen.** Sie hatte Nat nie wieder gesehen. Ob es ihm gut ging? Vielleicht konnte sie Danny überreden, ihn zu suchen. Vielleicht wusste er sogar, wo man ihn hingebracht hatte. Danny war ja in jener Nacht im Zirkus dabei gewesen. War das wirklich erst drei Tage her? Nun saß sie in diesem traumhaften Garten, lies sich die Sonne auf die Nase scheinen und hatte endlich den Schützling, von dem sie so lange ferngehalten worden war. „Komm her ... lass dich umarmen.“, schnurrte Urnue, kraxelte um sie herum, setzte sich einfach verkehrt herum auf ihren Schoß und strich ihr mit den Fingerspitzen zart über die Wange. Da sie rücklings am Baum lehnte, konnte sie nicht weg. „Mo-Moment mal! Ich möchte das nicht!“, protestierte sie verwirrt. „Sssscccchhhh ... Keine Panik. Ich will ja nicht gleich mit dir schlafen. Sie sagten doch, ich soll mich um dich kümmern.“ „A...aber so haben die das sicher nicht gemeint!“ „Ich versuche lediglich, dir ein wenig das Gefühl von Sicherheit und Achtung zu geben, das du nie hattest.“ „Und das DU vermutlich auch nie hattest?“, vermutete Nyu etwas mürrisch. Urnue wandte betreten das Gesicht ab, und schon tat ihr die Bemerkung leid. „Wenn du es so sehen willst, ja. Ruppert ist kein sehr herzlicher Mensch, weist du? Er hat noch nie ein Lächeln oder gar einen Dank über die Lippen gebracht. Er hat mich zwar noch nie geschlagen, aber abgesehen davon ist meine Situation auch nicht viel anders als deine damals im Zirkus.“ „Was ist denn mit Josh´s Genius?“ „Der hat auch nicht viel für andere übrig. Der ist ein zurückgezogener Eigenbrötler und mit Josh´s Aufmerksamkeit schon mehr als bedient.“ Nyu zog ein mitfühlendes Gesicht und streckte dann einladend die Hände nach ihm aus, weil ihr sein übertrieben leidender Blick ein regelrechtes Bedauern abnötigte. „Tut mir leid, sorry. Komm her.“ Sie zog ihn sanft zu sich heran und küsste ihn nun doch. „Was machst du denn für ein Gesicht?“, wollte Danny besorgt wissen, als Nyu in sein Zimmer kam. Er hatte sich endlich ein neues Hemd anziehen und seine Wunden verbinden können. Die taten immer noch fies weh, aber er ignorierte es. „Hat Urnue irgendwas angestellt?“ „Ja ... naja ... nein ... Ich scheine ihm zu gefallen ...“ „Und er dir auch?“, vermutete Danny. Dann lachte er. „Das ist doch schön. Urnue ist cool. Etwas schwarz, aber ansonsten echt fetzig. Was hindert dich?“ „Ich bin dein Genius Intimus!“, erinnerte Nyu ihn. „Na und? Er ist auch einer.“ „Ich denke aber schon, daß ich meine ganze Aufmerksamkeit dir widmen sollte.“ „Eieiei ...“, seufzte Danny und kratzte sich am Kopf. „Komm mal her!“ Er zog sie neben sich aufs Bett, aus Mangel an anderen Sitzgelegenheiten. „Hör mal, du bist zwar mein Schutzgeist, aber du bist trotzdem ein eigenständiges, freies Wesen mit einem eigenen Leben. Du kannst tun und lassen was du willst, wann du willst, und mit wem du willst. Wenn du meinst, daß Urnue zu dir passt, dann hindert dich nichts daran, es auszuprobieren. Im Gegenteil, ich würde mich freuen.“ „Aber ... dich mag ich mehr als ihn. ... Jedenfalls bist du wichtiger.“ „Ach, Nyu, das ist zwar ehrenhaft, aber total unsinnig. Ich bin ein Mensch und ich würde mich nie im Leben mit Genii einlassen. Wir sind biologisch gar nicht füreinander gedacht. Genii sollten lieber untereinander anbändeln. Wenn immer alle Genii nur auf ihre Schützlinge fixiert wären, wären sie schon längst ausgestorben, weil sie nie Kinder bekommen würden.“ Nyu schaute ihn nur halb skeptisch, halb gekränkt an. „Außerdem ist es eher untypisch, daß ein Schutzgeist und Schützling verschiedener Geschlechter aufeinandertreffen. Wenn ich ein Mädchen wäre, würde sich die ganze Frage gar nicht stellen, verstehst du?“ Immer noch schien die junge Genia nicht einlenken zu wollen. Danny seufzte. „Okay, hör zu. Auch wenn das sicherlich wie ein Stoß vor den Kopf für dich sein muss, aber ich bin schon vergeben. Ich habe eine Verlobte! ... Und deren Genia auch, möchte ich anfügen.“ ---------------------------------------------------- * Zitate aus dem „Codex Geniorum“ aus der Geschichte „Schutzbestie“ von Salix. ** Die gesamte Befreiungsszene ist inhaltlich im Wesentlichen von Salix kreiert worden. Ich durfte aber meine Charaktere mit hineinbasteln und die Szene eigenverantwortlich aus Nyu´s Sicht wiedergeben. Nathaniel (Nat) ist Salix´ Hauptcharakter aus ihrer Geschichte „Schutzbestie“, Seiji (der geflügelte Asiate) ist ebenfalls Salix´ Charakter. Mega danke, daß ich sie mitverwenden durfte. ^^ Kapitel 2: "Was soll das heißen, weg?" -------------------------------------- „ ... was soll das heißen, ?“, raunte jemand, als Nyu am nächsten Morgen langsam zu sich kam. Sie lag in einem Bett und war noch im Halbschlaf gefangen. Vermutlich hatte das Gespräch im Zimmer sie geweckt. „So wie ich es sage! Verschwunden! Weg!“, gab eine andere Stimme gereizt zurück. „Oder siehst du ihn hier irgendwo? Du und Josh, ihr werdet auf der Stelle losziehen und ihn zurückholen.“ „Ausgeschlossen. Das ist gefährlich. Nyu hat noch nie ein Trainings-Center von innen gesehen.“ „Das ist mir völlig egal!“ Nyu stöhnte und wälzte sich im Bett herum, den beiden Stimmen zu. Es waren Danny und sein Vater Ruppert, die da rumdiskutierten. „Was ist verschwunden?“, hauchte Nyu müde und versuchte die Augen aufzublinzeln. „Oh, du bist ja wach. Hallo.“, gab Danny verwundert zurück. „Urnue ist weg.“ „Was, weg? Aber gestern Abend war er doch noch da! Wo ist er denn?“ Die junge Genia war plötzlich hellwach. Sie mochte Urnue. Das erste Wesen in ihrem Leben, das sie wirklich mochte. Sie wollte nicht, daß er weg war! „Abgehauen, was denn sonst!?“, raunzte Dannys Vater sauer. „Quatsch, warum sollte er das tun? Wohlmöglich ist er von jemandem verschleppt worden.“, meinte Danny. „Ach ja? Und warum sollte DAS jemand tun?“ „Vielleicht, weil du einer der mächtigsten und einflussreichsten Banker landesweit bist und letzte Woche all deinen Konkurrenten den Krieg erklärt hast?“, schlug Danny mit einem Kapierst-du´s-nicht?-Tonfall vor. „Mein Gott, wir müssen Urnue sofort suchen!“, beschloss Nyu und sprang hektisch aus dem Bett, um sich Kleider über den Leib zu reißen und auf der Stelle kopflos aus dem Haus zu rennen. Für sie war klar, daß etwas nicht stimmte. Urnue konnte nicht einfach abgehauen sein. Das ließ der Codex gar nicht zu. „Nun mal langsam. Das ist gefährlich! Und du bist völlig ...“ „Ich hab zwar nie offiziell trainiert, aber kämpfen kann ich!“, beharrte sie. Keine halbe Stunde später spazierten sie zielstrebig los, Nyu, Danny, seiner Bruder Josh und dessen Genius Intimus. Ein seltsamer, dicker Typ, der ganz und gar dem Klischee eines Computerfreaks und Gamers entsprach und kein Wort sagte. Schon in der Haustür hatte er missmutig ein Handy mit riesigem Display und Internetfunktion gezückt und hatte es seither permanent vor der Nase. Nyu kaute noch auf den Resten ihres Frühstückes herum. Sie hatte es nicht lange genug ausgehalten, um es noch daheim aufzuessen. „Hast du schon eine Idee, wohin wir gehen müssen?“, wollte sie hoffnungsvoll wissen. Danny nickte. „Allerdings. Von Vaters Konkurrenten kenne ich nur einen, der auf so krasse Methoden zurückgreifen würde, einen Genius Intimus zu entführen. Vielleicht kriegt Vater ja im Laufe des Vormittags eine Lösegeldforderung.“ „Was aber ziemlich sinnlos wäre. Jeder weis, daß er die niemals zahlen würde.“, fügte sein Bruder Josh an. „Warum nicht? Das ist sein Genius Intimus!“ „Ja, schon. Aber er hält nicht viel auf Genii, weist du? Er ist größenwahnsinnig und erfolgsverwöhnt genug, um zu glauben, daß er ganz gut allein klarkommt. ... Urnue hat ihm schon so oft den Hintern gerettet. Manchmal wünsche ich mir fast, daß er mal auf irgendwas stößt, wo Urnue ihm nicht mehr helfen kann. Damit er´s mal merkt.“ Nyu sah nachdenklich zu Boden. Es machte sie traurig, wenn das Verhältnis zwischen einem Genius Intimus und seinem Schützling so war. Sie sollten sich gegenseitig achten und behüten. Aber auch sie selbst war noch nicht so weit. Sie hatte immer noch ein bischen Angst vor Danny, von seiner Familie ganz zu schweigen. „Also ... wohin gehen wir?“, fragte sie kleinlaut. „Die Kubikas wohnen am anderen Ende des Viertels.“, erklärte Danny und deutete die ganze Straße hinunter. Allein die Geste verdeutlichte, daß es sich um ein nennenswertes Stück Weg handeln musste. Mit der anderen Hand fingerte er verstohlen nach dem Verband unter seinem T-Shirt. Die Risswunden auf seiner Brust schmerzten höllisch und er bekam kaum richtig Luft. Er fühlte sich furchtbar und hoffte inständig, daß Josh es nicht merkte. Aber der hatte zum Glück gerade andere Sorgen. „Man, wieso nehmen wir nicht das Auto?“, maulte Josh. „Weil es einerseits zu auffällig wäre, mit Vaters Luxuskarosse vorzufahren, und weil er zweitens zu geizig ist, uns die Karre zu überlassen.“ „Wenigstens nen Fahrschein hätte er uns spendieren können.“ „Jetzt sei nicht so faul. Ein Spaziergang wird uns nicht schaden. Vor allem nicht deinem Computerfreak von Genius Intimus. Der könnte ruhig öfters mal ... Äh, Josh?“, meinte Danny verwundert, als der erwartete Protest seines Bruders ausblieb. Verdutzt blieb er stehen und sah zurück, weil Josh auch plötzlich nicht mehr neben ihm lief. Der junge Mann war ein paar Meter zuvor an einer heruntergekommenen, leerstehenden Lagerhalle zurückgeblieben und starrte diese nachdenklich an. „Josh?“, wollte Danny vorsichtig wissen, als er wieder zu seinem Bruder aufschloss. „Urnue ist da drin.“, meinte Josh fest überzeugt. Danny sah sich die bedrohliche Lagerhalle genauer an und schluckte schwer. „Hast du geraten, oder sagt dir das deine magische Intuition?“ „Meine Intuition.“, antwortete er, sah sich aufmerksam in alle Richtungen um und schob schließlich das angelehnte Tor auf, welches der einzige Zugang zum Grundstück war. Er hielt vor lauter Anspannung die Luft an. Was wollte der Genius Intimus seines Vaters in einer verlassenen Lagerhalle? Oder was wollte IRGENDWER in einer verlassenen Lagerhalle, wer auch immer Urnue in seiner Gewalt hatte? Danny fluchte leise. Im Flüsterton, damit es keiner hörte. Er spähte durch einen Türspalt in die abgedunkelte Lagerhalle hinein. Die Fenster waren seit Jahren nicht mehr geputzt worden und so dreckig, daß sie kaum noch Sonne hereinließen. Die Halle war leer bis auf einige Kisten, die an der Rückwand hochgestapelt waren. Und mitten in der Halle, auf dem blanken Fußboden, lag Urnue. Seine schwarze Biker-Lederjacke und die schwarzen Wuschelhaare waren selbst über diese Entfernung unverkennbar. Er lag offensichtlich bewusstlos in einem Bannkreis, soweit Danny das erkennen konnte. „Das riecht ja geradezu nach einer Falle.“, maulte er und sah überlegend Nyu, Josh und dessen Genius Intimus an. Überlegend, was er um Himmels Willen tun konnte, um keinen von ihnen mehr als nötig zu gefährden, beziehungsweise, wer ihm gerade am nützlichsten war, um Urnue zu retten. „Okay, Nyu, jetzt ist es an der Zeit, mir was über dich zu erzählen. Welche Fähigkeiten hast du?“ „Fähigkeiten?“, gab sie verunsichert zurück. „Naja, zum Beispiel ...“ Danny zuckte hilflos mit den Schultern. „Fangen wir doch damit an, was du eigentlich bist. Wie sieht deine wahre Gestalt aus?“ Nyu nickte nur verstehend und verwandelte sich. Josh´s Genius entfuhr ein schockierter Fluch, als er entsetzt zurückwich und dabei sein Handy fallen lies. Vor ihm kauerte plötzlich ein riesiger, massiger Vogel mit räudigem, dunkelgrauem Gefieder, einem langen, vorn abgekanteten Geier-Schnabel und weißen, trüben Augen, die wie blind wirkten. „Harpyie!“, keuchte er nur. „Oh ... also das hätte ich jetzt auch nicht erwartet.“, gestand auch Danny. „Harpyie?“, gab Nyu fragend zurück und nahm wieder ihre menschliche Gestalt an. Die Gestalt einer zierlichen, jungen Frau mit der dicken, schwarzgrünen Mähne. „Ja, bist du denn keine Harpyie? Du siehst aus wie eine!“ „Keine Ahnung. Solange ich denken kann, war ich in diesem Zirkus gefangen, und bin nie einem anderen Wesen wie mir selbst begegnet. Ich weiß nicht, was ich bin.“ „Naja ... du bist ziemlich eindeutig eine Harpyie ... Beherrsch dich, man!“, fauchte Josh seinen Genius Intimus an und deutete an, ihm einen Klapps auf den Hinterkopf geben zu wollen. Aus irgendeinem Grund schien der Harpyien nicht ertragen zu können. Nyu fragte sich einen Moment lang, was der wohl in seiner wahren Gestalt für ein Wesen war. Aber Dannys weitere Fragen lenkten sie wieder davon ab. „Ich ... habe keine Fähigkeiten.“, gestand sie eingeschüchtert. „Ich kann mich in Kämpfen ganz gut behaupten. Und ein bischen heilen. Aber meine Heilerfähigkeit ist nur rudimentär vorhanden und ich hatte auch nie die Möglichkeit, sie zu trainieren.“ Danny schaute Nyu an, daß sie weitersprechen sollte. Aber sie sagte nichts mehr. Hilfesuchend drehte er sich also zu seinem Bruder Josh um. Vielleicht wusste der mit seiner übernatürlichen Intuition etwas. Aber auch der schüttelte nur unwissend den Kopf. Ein Genius ohne Fähigkeiten, gab es sowas überhaupt? „Du hast mich zu Hause durch den ganzen Keller geschleudert, ohne mich zu berühren. Wie hast du das gemacht?“, wollte Danny wissen. Sein letzter Hoffnungsschimmer, ihr doch noch irgendeine Art von magischer Fähigkeit andichten zu können. Wieder wanderte seine Hand zur Brust und den Wunden, ohne daß er es merkte. „Energieübertragung. Schlichte Energiearbeit, das kann doch jeder ...“, gab sie zurück und schaute dann verwirrt in die dummen Gesichter der Jungen. „Nein, Nyu. Distanzüberbrückung ist keine sehr weit verbreitete Fähigkeit.“, erklärte Josh ruhig und sah plötzlich sehr ernst aus. „Was ist denn bitteschön DEINE Fähigkeit?“, hakte Nyu nach. „Okay, hier der Plan. Josh, du gehst mit deinem Genius erstmal außen um die Lagerhalle herum, und vergewisserst dich, daß wir hier nicht in eine Falle laufen. Mit seinen Röntgenaugen sollte dein Genius versteckte Bannmarken, Angreifer und so ein Zeug leichter finden als wir. Er hält dann hier draußen Wache. Du kommst mit Nyu und mir rein, wir gehen in die Halle und nehmen den Bannkreis unter die Lupe, in dem Urnue liegt.“ „Ich soll mich von meinem Genius trennen? In so einer Situation? Spinnst du?“, empörte sich Josh. „Nyu ist doch bei uns. Irgendjemand MUSS Wache halten. Und ich brauch dich da drin. Du hast wenigstens ein bischen Ahnung von Bannkreisen.“, gab Danny flehend zurück. „Nyu, vielleicht kannst du Urnue da rausholen, ohne selbst in den Bannkreis hinein zu müssen. Deine Distanzüberbrückung könnte uns da eine gewaltige Hilfe sein.“ Nyu nickte nur und sah unbehaglich auf das Eingangstor der Lagerhalle. „Das ist ein uralter Bau, in den Wänden ist Aspest und Blei verarbeitet. Da helfen meine Röntgenaugen auch nicht weiter.“, warf Josh´s Genius Intimus ein und entrang Danny damit einen Fluch. „Soll ich trotzdem hier draußen Wache schieben?“ „Ach was, als ob du ordentlich Wache schieben würdest! Du wirst doch eh nur auf dein Handy starren. Komm mit rein.“, meinte Josh harsch, um zu überspielen, wie froh er war, sich doch nicht von seinem Genius trennen zu müssen. Danny seufzte. „Na schön, lasst uns reingehen.“, murrte er resignierend. „Geh nach den Kisten da hinten sehen!“, trug Josh seinem Genius leise auf, als sie die weitläufige Halle auf Zehenspitzen betraten und zu Urnue hinüberschlichen. Er lag immer noch unverändert und ohnmächtig auf dem Boden herum. Der Bannkreis um ihn herum war mit Wachskreide gezeichnet und so groß, daß man Urnue von keiner Stelle aus erreichen konnte, ohne selbst mindestens einen Schritt weit hineinzutreten. Josh und Danny knieten sich neben den auffallend verschnörkelten Kreidekreis und musterten die darin verarbeiteten Zeichen. Josh stöhnte. „Was sagt dir deine hochgepriesene Intuition über das Ding?“, wollte Danny wissen. „Das kann ich gar nicht in Worte fassen, man.“, gab sein Bruder zurück und ließ seinen Blick weiter über die Windungen und Verzierungen gleiten. „Ich kann dir gar nicht sagen, wie viele Faktoren dieser Kreis beinhaltet. Das hier sieht mir nach einem Fallen-Element aus.“ Er deutete auf ein Symbol. Er kannte es nur im Zusammenhang mit Bannkreisen, die ihre Opfer hinein, aber nicht wieder hinaus ließen. Ob aber genau dieses konkrete Zeichen den Fallen-Effekt bescherte, oder ob es nur ein begleitendes Hilfszeichen war, wusste er nicht. „Das dort könnte vielleicht ein Illusions-Element sein. Möglicherweise gaukelt uns das Ding nur vor, daß Urnue da drin liegt. Um ehrlich zu sein, bin ich mir nichtmal sicher, in welcher Sprache dieser Bannkreis aufgezeichnet wurde. Und ich verstehe nicht, warum das gesamte blöde Teil dermaßen verziert und verschnörkelt ist. Das hat sicher auch eine Bedeutung.“ „Ich dachte, mit deiner Intuiton kannst du immer sofort sagen, was es mit einer Sache auf sich hat.“ „Moment mal, ich bin noch in der Ausbildung!“ Natürlich hatte er ein wenig Ahnung von Bannkreisen, aber dieses Werk hier war astronomisch. Das war, als würde man Grundschüler mit Integral-Rechnung bombardieren. „Entschuldige ...“ „Also rein kann man offenbar. Der Bannkreis ist nicht dazu gedacht, uns auszusperren!“, warf Nyu von der Seite ein und hielt demonstrativ ihre Hand über die geschlängelten und symboldurchwobenen Linien. „Mein Gott, sei vorsichtig!“, keuchte Danny. „Wenn das Ding wirklich eine Fallenfunktion hat, wird es dich reinziehen, sobald du mehr als ...“ Er heulte panisch auf, als Nyu ohne zu zögern ihren gesamten Arm hineinsteckte. Und ihn einen Moment später wieder herauszog. „Nö, keine Falle. Also wenn der Bannkreis mich nicht einsperrt, werde ich Urnue da jetzt rausholen!“, beschloss sie. „Nyu!“ Aber da war sie bereits komplett eingetreten. Danny griff stöhnend nach den Risswunden auf seiner Brust. Sie taten so verdammt weh, daß sie ihm die Sinne nahmen. Er sackte vor Schmerzen haltlos in sich zusammen und wand sich nach Luft schnappend am Boden. Nyu fühlte sich schlagartig seltsam, als sie den Kreis betrat, irgendwie müde und desorientiert. Sie bemerkte noch Dannys missliche Lage und wollte wieder aus dem Bannkreis herauskommen, um ihm zu helfen. Aber sie schaffte es nicht mehr. Ihr wurde schwindelig und langsam schwarz vor Augen. Sie kippte im Inneren des Bannkreises ohnmächtig um und schlug der Länge nach neben Urnue hin, kaum zwei Sekunden nachdem sie zu ihm eingetreten war. Josh sah fragend von den Symbolen hoch, die er konzentriert studiert hatte. „Verdammt, Danny, was ist los mit dir?“, wollte er panisch wissen. Aber der brachte vor Schmerzen nur keuchende Laute hervor und krümmte sich zu einem Ball zusammen. „Nyu!“, rief er, aber die fand er bewusstlos im Inneren des Bannkreises. Die konnte ihm auch nicht helfen. Verzweifelt sah er sich um. Wo war eigentlich sein Genius Intimus geblieben? Wie lange konnte der Dicke denn brauchen, um nachzusehen, ob hinter den paar aufgestapelten Kisten irgendwelche Entführer oder andere bewaffnete Gentlemen saßen? Aber auch sein Genius Intimus war spurlos verschwunden. Kapitel 3: "Was, kennt ihr Dragomir nicht?" ------------------------------------------- Das hohe, nasale Kichern einer Frau erklang hinter den Kisten. Josh lief ein Schauer über den Rücken. Er wusste, wer das war, noch bevor er sie zu Gesicht bekam. Hinter der Mauer aus Holzcontainern traten zwei schlanke Gestalten in grellen Neonfarben hervor. „Bitte nicht die Zwillinge.“, hauchte Josh überflüssigerweise. Er kannte die beiden. Diese zwei, eine junge Frau und ein recht erwachsen wirkender Mann, ihr Genius Intimus, waren zwar in keinster Weise verwandt, trugen aber stets ein dermaßen identisches Outfit, daß man sie unweigerlich für Geschwister halten musste. Die zwei waren ein nicht ganz ungefährliches Gangster-Duo. „Ist das langweilig mit euch, hey.“, maulte Ybi, die junge Frau, und stämmte die Hände in die Hüften. „Die Genia springt freiwillig in eine Falle, der Tölpel da geht von selber K.O., der hier war auch keine große Nummer ...“, zählte sie auf und zerrte dabei Josh´s gefesselten und geknebelten Genius Intimus hinter den Kisten hervor. „Ja, man, so macht das einfach keinen Spaß!“, stimmte Vy, der Mann an ihrer Seite, zu und zog ein wesentlich weniger amüsiertes Gesicht als sie. „Ich hatte ja gehofft, ihr zwei wärt endlich mal zur Vernunft gekommen.“, meinte Josh und sah sich hektisch um. Er war ausgeliefert. Seine letzte Chance bestand darin, auf der Stelle diesen Bannkreis aufzulösen, damit Urnue und Nyu wieder aufwachten. „Verstoßt ihr mit solchen Entführungen hier nicht gegen den Codex Geniorum?“ „Pfeif auf den Codex! Wir haben schon ganz andere Gesetze gebrochen als nur den Codex.“, maulte Vy. „Was zur Hölle wollt ihr denn von uns?“, wollte Josh wissen, immer noch fieberhaft auf den Bannkreis starrend, in der Hoffnung irgendeinen Knackpunkt zu finden, an dem er den Bann brechen konnte. „Von euch? Gar nichts. Wir wollen nur Urnue. ... Nein, eigentlich wollen wir nichtmal Urnue. Unser Auftrag ist genau genommen schon erfüllt, ihr könnt ihn gern wiederhaben, sofern ihr den Ohnmachts-Bannkreis auflösen könnt.“ „Vater!“, keuchte Danny. Er lag noch immer zusammengekrümmt am Boden, hatte sich aber inzwischen wieder so weit gefangen, daß er seine Umgebung wieder wahrnahm. „Sie wollten Vater. Es ist gerade kein einziger Genius im Haus, um ihn zu schützen.“ Ybi und Vy lachten und spazierten los. „Die zwei sind doch nicht so strohdoof wie ich dachte.“, kicherte Ybi noch. Sie schubste Josh´s Genius Intimus zu den anderen in den Bannkreis, wo er auf der Stelle ohnmächtig in sich zusammensank, als habe er ein Nudelholz auf den Kopf bekommen. Danny und Josh zogen verängstigt die Köpfe ein, als die Zwillinge direkt auf sie zu kamen, dann aber haarscharf an ihnen vorbeistiefelten und ungerührt zum Ausgang schlenderten. „Einen schönen Tag noch, die Herren.“ „Wir müssen nach Hause und Vater helfen.“, keuchte Danny, versuchte sich hochzustämmen, brach aber sofort wieder zusammen und blieb stöhnend am Boden liegen. „Mach mal halblang, Kumpel, du kannst dir ja nichtmal selber helfen. Was ist überhaupt los, sag mal?“, gab Josh kalt zurück, drehte seinen Bruder radikal auf den Rücken und riss ihm das Hemd auf. Der Verband darunter war locker geworden und verrutscht, so daß die Wunden Josh in voller Pracht anleuchteten. „Schöne Schande. Das ist böse entzündet. Woher hast du die? ... Toll, und ein angehendes Fieber hast du auch noch.“, fügte er nach einem prüfenden Griff auf Dannys Stirn hinzu. Danny sah sich suchend und um Atem ringend um. „Als erstes müssen wir unsere Genii aus diesem Bannkreis rausholen.“, meinte er, Josh´s Frage demonstrativ ignorierend. „Der einzige, der wirklich Ahnung von Bannkreisen hat, ist Urnue. Für mich ist das Ding hier zu komplex. Und ich kann nicht einfach lustig dran rumändern, wenn ich nicht weis, wie er funktioniert. Damit könnte ich seine Eigenschaften und seine Wirkung auf unvorhersehbare Weise verändern.“, gestand er unglücklich. „Urnue ist ein ziemlich mächtiger Genius. Ich wüsste gern mal, wie sie ihn in diesen Kreis reingekriegt haben.“ „Ich wüsste lieber, wie sie in unseren Hochsicherheitstrakt von einem Wohnhaus reingekommen sind, um Urnue rauszuholen und unbemerkt zu entführen.“, hielt Josh dagegen. „Aber dieses Gerätsel hilft uns gerade nicht weiter. Frag dich lieber, wie wir ihn jetzt wieder da aus dem Bannkreis rauskriegen.“ Danny überlegte einen Moment. „Ich robbe auf dem Bauch in den Kreis rein, so daß meine Füße noch rausschauen. Dann schnappe ich mir den erstbesten Genius, den ich zu fassen kriege, und du ziehst uns wieder raus.“ „Meinst du nicht, das wäre ein bischen zu einfach? Das kann nie im Leben klappen. Ich will nicht, daß du auch noch ohnmächtig in diesem Bannkreis landest und ich ganz alleine hier draußen sitze.“ „Dann mach nen besseren Vorschlag.“, hauchte Danny müde und schloss die Augen. Die Schmerzen in seiner Brust ließen zwar langsam wieder nach, der Anfall schien vorüber zu sein, aber er war echt fertig. „Mach ich! Wie wäre es, wenn du mal deine Fähigkeit einsetzt?“ Danny sah fragend auf. Seine magische Begabung war es, die magische Begabung anderer Wesen zu unterbinden. Er konnte, jedenfalls manchmal, verhindern, daß andere einen Zauber wirkten oder ihre Erbfähigkeiten einsetzten. Das glückte ihm noch nicht sonderlich gut, weil seine Begabung noch nicht sehr lange erwacht und entsprechend noch nicht gut trainiert war. „Das kann ich nur bei lebenden Wesen, nicht bei Bannkreisen.“, meinte er zögerlich. „Hast du´s jemals versucht?“ „Ähm ... nein?“ „Dann wird es Zeit.“, gebot Josh streng und deutete fordernd auf den Kreidekreis. Seufzend raffte sich Danny in eine sitzende Position hoch und konzentrierte sich auf den Bannkreis. Und es geschah ... nichts! Nach endlosen Sekunden des Ringens brach Danny enttäuscht ab und seufzte. „Ich sag doch ...“ „Mach weiter! Nyu hat gezuckt! Der Bann ist ins Schwanken geraten, konzentrier dich stärker!“, verlangte sein Bruder. „Noch stärker? Mir ist gerade schon fast der Kopf geplatzt.“, jammerte Danny, schloss aber gehorsam wieder die Augen und atmete tief durch. Mit reinem Willen und roher Gewalt würde er das nicht schaffen, soviel war ihm jetzt klar. Er musste seine inneren Kräfte freisetzen. Er lauschte in seinen Körper hinein, suchte sein Qi und versuchte, es zu sammeln. Es floss in seiner Körpermitte zusammen wie in einem Becken, das Wasserrinnsale auffing. Als er genug davon gesammelt hatte, lenkte er das Qi durch seinen ganzen Körper, schließlich sogar hinaus. Es war ein unbeschreibliches Gefühl von Ruhe und innerer Ausgeglichenheit, das mit der Energie durch seinen gesamten Körper gespült wurde. Vorsichtig lenkte er seine Konzentration nach außen. Behutsam, um sein Qi nicht wieder zusammenbrechen zu lassen. Jetzt fiel es ihm leichter, die Strömungen und Blockaden wahrzunehmen, die von dem Bannkreis ausgingen. Vor seinem inneren Auge konnte er den Bannkreis fast sehen. Und wischte ihn mit seinem Qi einfach weg. Er hörte die drei Genii im Inneren des Bannkreises müde seufzen, als wären sie kurz aufgewacht, aber der Bannkreis erschien auf der Stelle wieder, und schon war wieder Ruhe. „Ja, gut so.“, hörte er im Unterbewusstsein Josh raunen. Vor seinem inneren Auge sah er die drei Genii im Kreis liegen. Oder zumindest drei leuchtende Gebilde, die wage die Form von Menschen hatten. Ihre Erscheinung flackerte und sie wechselten ein paar Mal schnell zwischen ihren menschlichen und tierischen Gestalten hin und her, bis der Bannkreis sich wieder völlig aufgebaut hatte. Stimmt, seine Fähigkeit, Magie zu unterbinden, nahm den Genii auch die Möglichkeit, ihre menschliche Tarngestalt aufrecht zu erhalten. Danny lenkte sein Qi erneut in den Bannkreis hinein und wischte ihn erneut weg. Nachdrücklicher und grober diesmal. Wieder regten sich die Genii im Inneren. „U., komm sofort her!“, bellte Josh neben ihm im Befehlston. Eine der leuchtenden, in diesem Moment tierischen Gestalten ruckte hoch und machte einen wieseligen Satz nach vorn. Dann hatte sich der Bannkreis schon wieder aufgebaut. Danny brach seine Meditationsübung ab und lies sich keuchend rücklings zu Boden sinken. „Zwecklos. Ich schaff es nicht. Der verfluchte Bannkreis regeneriert sich ständig wieder. Ich finde seine Quelle nicht, um ihn zu deaktivieren.“, jappste er und presste sich die zittrigen Hände vor das Gesicht. Er hätte vor Müdigkeit und Kraftlosigkeit einfach nur losheulen wollen. Ihm war speiübel, schwindelig und er fühlte sich entsetzlich ausgekühlt. Er hatte seine untrainierte Begabung eindeutig überstrapaziert, selbst wenn er nicht verwundet gewesen wäre. Zu den lästigen Wundschmerzen gesellten sich nun auch noch dumpfe Kopfschmerzen hinzu. Was für eine blöde, anstrengende Begabung! Im Kampf oder unter Stress würde ihm das niemals was nützen, weil er gar nicht die nötige Konzentration dafür aufbringen würde. „Das war gute Arbeit, Danny, spitze!“, warf Josh im Jubelton von der Seite ein. Danny sah fragend zur Seite. Sein Bruder lag neben ihm am Boden und rubbelte Urnue über den Rücken, welcher bewusstlos direkt auf ihm lag. „Er hat mich bei seinem Hechtsprung aus dem Bannkreis einfach umgerannt und unter sich begraben.“, kommentierte Josh amüsiert. „Aber wenigstens haben wir ihn wieder. Da hat es sich doch wenigstens einmal gelohnt, daß er immer und in jeder Situation auf der Stelle gehorcht, ohne nachzudenken. Ich mag Vaters Methoden zwar nicht, aber diesmal scheint es ihm das Leben gerettet zu haben.“, fügte er nachdenklich an. „Eine Sekunde später und der Bannkreis hätte ihn wieder in die Ohnmacht geschickt.“ Er schob den Genius seines Vaters vorsichtig von sich herunter und setzte sich wieder auf, während dieser langsam zu sich kam. „Nyu ist immer noch da drin.“, gab Danny etwas traurig zurück. „Ja, der Dicke auch. Aber hey, wir haben dank dir immerhin U. wieder.“ „Was ... was ist passiert?“, murmelte Urnue, hielt sich den Kopf und sah dann fragend auf. Mit einem einzigen, alleserfassenden Blick sah er die Lagerhalle, den Bannkreis, Danny und Josh daneben und ihre beiden Genii darin. Aber viel panischer machte ihn das, was er nicht sah: Ybi und Vy waren weg. „Ich muss zu Ruppert!“, keuchte er, sprang auf, wurde aber im gleichen Moment am Jackenärmel wieder zu Boden gezerrt. „Sekunde mal!“, zischte Josh empört. „Erstmal erklärst du uns, was hier los ist. Und dann wirst du diesen verdammten Bannkreis dort aufheben. Danny hat dich da gerade unter Einsatz seiner Gesundheit rausgeholt!“ Urnue schliefen die Gesichtszüge ein, als er Dannys offenes Hemd, die verrutschte Binde und die gewaltigen, entzündeten Wunden darunter sah. Danny war blass und sein Gefühl der Kälte wuchs aufgrund des Fiebers gerade zu einem ausgereiften Schüttelfrost an. Der unschöne Gedanke, daß das alles seine Schuld sein könnte, lies Urnue innehalten. Mit fragendem Blick wandte er sich zum Bannkreis um. „Oh Gott ... Das ist ne harte Nuss. Wie kommt dieser Bannkreis hier her?“, stöhnte er. „Was ist denn damit?“, wollte Josh wissen. „Das da ist eindeutig die Handschrift von Victor Dragomir Raspochenko Akomowarov.“ „Hä?“, machte Danny nur. „Klingt russisch, wer is´ das denn?“ „Wie lange hast du geübt, um dir so nen Namen merken zu können?“ „Was, kennt ihr Dragomir nicht?“, gab Urnue verdutzt zurück. „Er ist der Magister Artificiosus Magicae* der Motus. Die rechte Hand vom Chef höchstselbst.“ Wieder schaute er nur in verständnislose Gesichter. „Die Motus war eine maffia-artige Organisation. Sie wurde vor zwei oder drei Jahren zerschlagen.“ „Was wollen die von dir?“, wollte Danny wissen. „Von mir? Gar nichts. Aber euer Vater steckte da mit drin. Er hat damals den ganzen Verbrecherhaufen gesponsort.“ „Fuck!“ „Richtig erkannt!“, stimmte Urnue zu. „Ich weis bloß nicht, was die plötzlich für ein Problem haben. Als Geldgeber ist euer Vater sicher der letzte, den sie ins Messer laufen lassen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie extra Dragomir aus der Moskauer Zentrale herschicken, wegen irgendeiner Lapalie.“ Magister Artificiosus Magicae*. Josh schauderte. Leute mit einer magischen Begabung, wie er und sein Bruder, waren noch lange keine Magister. Um den Titel zu verdienen, musste man nicht nur eine jahrelange Lehr- oder Studienzeit hinter sich haben, sondern auch eine nennenswerte Zahl unterschiedlichster Magieformen gemeistert haben. Dieser Victor-wie-auch-immer war , also selbst unter den Magistern und seinesgleichen noch unübertroffen. Wie musste man sich so einen Typen vorstellen? „Kannst du Nyu da raus holen?“, bat Danny hoffnungsvoll. „Vergiss es.“, entgegnete Urnue auf der Stelle und erhob sich nun doch vom Boden. Diesmal hielt Josh ihn nicht fest. „Dragomirs Bannkreise kann man nicht brechen, er ist einfach zu mächtig.“ „Jeden Bannkreis kann man brechen!“, protestierte Josh. „Sicher! Wenn man mindestens so stark wie Dragomir ist. Mit reiner Technik kommt man da nicht weiter. Dieser Bannkreis hat durch die ganzen Schnörkel und Verzierungen keine Knackpunkte, an denen man ihm beikommen könnte. Den kriegt man nur mit roher Gewalt gebrochen. Und, tut mir leid, Jungs, an Dragomirs Macht komm ich nun wirklich nicht ran.“, brummte er und stapfte auf die Ausgangstür zu. „Euren beiden Genii passiert da drin nichts. Ich muss zu Ruppert!“, fügte er noch an. „U., das kannst du nicht machen!“ Aber er zog die Tür auf, trat festen Schrittes hinaus und rannte direkt gegen eine durchsichtige, orange Magiebarriere. Benommen kippte er rücklings zu Boden und stöhnte verhalten. „Aua ... Was zur Hölle ...?“ Mühsam raffte sich der ganz in schwarz gekleidete Genius wieder auf und patschte prüfend mit der Hand gegen die Barriere. „Habt ihr sie noch alle? Lasst mich sofort hier raus!“, verlangte er dann stinksauer und starrte Josh voller Hass an. Das die ihn davon abhielten, zu seinem Schützling zu gelangen, schürte in ihm die blanke Verachtung. Josh kam näher und prüfte ebenfalls die Tür. Er konnte die Barriere als Mensch nicht sehen, aber auch er prallte daran zurück. „Ein Fallen-Bannkreis. Der ist nicht von uns, Urnue.“, meinte er entschuldigend. Urnue sank auf die Knie und verbarg verzweifelt das Gesicht in den Händen. Irgendjemand wollte aus irgendeinem Grund, daß er so lange wie möglich hier festsaß. Wer, und verdammt nochmal, warum? „Hör mal, U., ich verstehe, daß dein Schützling für dich die allerhöchste Priorität hat. Ich weiß, wie du dich fühlst. Aber du kommst hier gerade genauso wenig weg wie wir.“, sprach Josh ruhig auf ihn ein und schloss ihn tröstend in die Arme. Der Genius mit den schwarzen Wuschelhaaren rang noch einige Sekunden um Atem und Fassung, bevor er die Hände wieder aus dem Gesicht nahm. „Na schön. Lass uns Nyu und dem Dicken helfen.“, beschloss er leise. Urnue spazierte seit Minuten murmelnd um den Bannkreis herum. Er diskutierte mit sich selbst über Mathematik, Physik und Alchemie, kam eins ums andere Mal zu dem Ergebnis, daß das gar nicht funktionieren könne und wanderte dann weiter. Er hatte den Kreidekreis sicher schon ein paar Dutzend Male abgewandert und entdeckte in den fiesen Schnörkeln immer wieder neue Zeichen und Faktoren, die all seine Überlegungen annullierten. Josh und Danny saßen schweigend daneben und versuchten, ihn möglichst nicht zu stören. Erst als er plötzlich stehen blieb und verstummte, wurden sie wieder hellhörig. Er massierte sich mit geschlossenen Augen den toten Punkt über der Nasenwurzel und atmete betont gleichmäßig. „U.?“ „Ich glaube, ich hab endlich verstanden, worauf der Bannkreis basiert. Das ist einfach nur astronomisch. Habt ihr was zu schreiben dabei?“ „Äh ... mein Kalender hat einen Notizteil, reicht das?“, meinte Danny unsicher. „Ja, schon okay. Und dein Handy, bitte.“ „Mein Handy? Wir haben hier drin keinen Empfang.“ „Egal, ich brauch nur die Taschenrechner-Funktion. Das kann ich niemals im Kopf rechnen. ... So ein Mist, daß Handys nicht mit Variablen rechnen. Ich bräuchte einen graphikfähigen Taschenrechner, oder so. Aber es muss gehen, irgendwie.“, murmelte Urnue, während er das Handymenü nach der Rechnerfunktion durchforstete. Er begann seitenweise mathematische Aufgaben niederzukritzeln und diese unter Verwendung seltsamer Symbole miteinander zu verbinden. „Okay, Josh du musst mir helfen. Ich hab hier einen Zauberspruch für dich. Den musst du aufsagen, während ich an dem Bannkreis die Änderungen einzeichne.“, erklärte Urnue und drückte ihm einen herausgerissenen Zettel in die Hand. „ostium fragmenta? Türtrümmer? Müsste es nicht circulus fragmenta heißen? Kreistrümmer? Das Ding ist ein Kreis, und keine Tür.“ Urnue verdrehte die Augen. „Du hast nicht die Kraft, den ganzen Bannkreis zum Einsturz zu bringen. Du wirst dich mit einem Durchbruch begnügen müssen.“ „Okay. ostium fragmenta.“ „Sag es dem Bannkreis, nicht mir! Und vergiss nicht, das bloße Aufsagen von Zaubersprüchen reicht nicht. Man muss sie auch wirklich so meinen, damit sie Wirkung entfalten. Versuch es!“ „Ähm ... os... ostium fragmenta?“, fragte Josh schüchtern die Kreidelinien am Boden. Urnue schlug die Hände vor´s Gesicht. „Au man. Ich wusste ja, daß ihr mit Zaubersprüchen noch nichts zu tun hattet, aber so ein Mangel an Talent ist echt ...“ „Gib her! Ich mach das!“, verlangte Danny, raffte sich keuchend auf, da die Wunden ihn immer noch stark beeinträchtigten, und schnappte seinem Bruder den Zettel weg. „Ich will Nyu wiederhaben! Wenn ich diesen Zauber aufsage, dann meine ich ihn auch so.“ Er baute sich breitbeinig vor dem Bannkreis auf und brüllte die Formel so entschlossen er konnte. Der schwarzhaarige Genius zog überrascht eine Augenbraue hoch. „Nicht übel. Mach weiter. Sag den Spruch so lange immer wieder auf, bis ich fertig bin. Und bleib dabei immer direkt hinter mir. Ich kann nur an dem Stück des Bannkreises Änderungen vornehmen, das du gerade zum Einsturz gebracht hast. An intakten Stellen schützt er sich selbst. Blöderweise baut sich der unterbrochene Kreis binnen weniger Augenblicke wieder auf, also hör nicht auf zu reden! Bete den Zauberspruch wie ein Mantra wieder und wieder vor dich hin!“, erklärte er und verfluchte dabei die meisterhafte Komplexität des Bannkreises. Dragomir war wahrlich nicht grundlos die rechte Hand des Motus-Bosses. Er sagte den Jungs lieber gar nicht erst, wie viel hier jetzt schiefgehen konnte. Und zwar nicht nur mit den Genii im Inneren des Bannkreises. ----------------------------------------------------------- Den Begriff „Magister Artificiosus Magicae“ hat Salix geprägt, extra für mich, weil ich zu ihrem „Magister Magicae“ eine Steigerung brauchte. ^^ Danke, daß ich den Begriff mit verwenden darf. Kapitel 4: "Ah, da seid ihr ja!" -------------------------------- Fünf Minuten später ließ Urnue den Kreidestift sinken. Fünf Minuten harter Arbeit. Fünf Minuten, die ihnen allen wie Stunden vorgekommen waren. Die letzte Überbrückung war gezeichnet. Es war ein wenig wie Schaltkreise umstecken. Der Bannkreis flackerte kurz und sank dann kraftlos in sich zusammen. „Gott sei Dank, ich hab mich nicht verkalkuliert.“, hauchte Urnue glücklich. „Kalkuliert? Was wäre denn passiert, wenn du dich verschätzt hättest?“ „Holt eure Genii da raus, macht schon. Ich weis nicht, wie lange die Überbrückungen halten. Der Bannkreis kann vielleicht wieder anspringen.“, umging er die Frage und wuselte selbst schnell hinein, um Nyu aus dem Kreidekreis zu ziehen, die gerade wieder zu sich kam. „Überbrückung?“, wollte Danny verwirrt wissen. „Hast du das Ding nicht totgemacht?“ „Nein. Ich hab genau genommen deine magische Begabung, Magie zu unterbinden, manuell erzeugt. Das ist nicht ganz einfach, es gibt einige Zufallsfaktoren und Variablen dabei. ... Aber es ist ja nichts passiert!“, grinste er. „Nyu! Nyu, wach auf. Komm schon. Wir brauchen deine Hilfe.“ „Ja, man, du auch, Dicker. Genug gepennt!“, stimmte Josh zu und befreite seinen Genius Intimus von dem Knebel und den Fesseln, die Ybi und Vy ihm verpasst hatten. Sie saßen noch fast zwei Stunden in der alten, baufälligen Lagerhalle fest, weil sie partu keinen Ausgang aus dem Fallen-Bannkreis fanden, der die Tür blockierte. Der Dicke konnte mit seinen Röntgen-Augen auch nicht seine Quelle ausfindig machen. Es war Danny, der letztlich die rettende Idee hatte. Danach ging alles verhältnismäßig schnell. Dannys Hoffnung, daß der Fallen-Bannkreis, der sie in der Lagerhalle einsperrte, kein Dach hatte, wurde erfüllt. Nyu und Josh´s Genius – ein steingrauer, ebenfalls flugfähiger Gargoyl – brachen einfach durch die Decke der Lagerhalle und trugen ihre Schützlinge dann hinaus. Dabei war es schwer, die Harpyie und den Gargoyl davon abzuhalten, sich gegenseitig in der Luft zu zerfetzen. Obwohl sie beide Geschöpfe der Nacht waren, konnten sie sich nicht ausstehen. Das war wohl eine uralte, traditionsreiche Fehde zwischen diesen beiden Rassen. „Ah, da seid ihr ja.“, meinte der fremde Mann freundlich, der ihnen daheim die Tür öffnete. „Ihr seid spät dran. Kommt rein.“ Er zog die Tür ganz auf und machte eine einladende Geste in den Hausflur hinein. Er war jung, er konnte kaum 25 Jahre alt sein. In seinem hübschen, freundlichen Gesicht machte sich ein ehrliches Lächeln breit. Er war etwas kleingeraten und von schmächtiger Statur, die er unter einem bodenlangen Ledermantel zu kaschieren versuchte. Lange, schwarze Haare rahmten wie Vorhänge sein jugendliches Gesicht. Er machte einen durch und durch sympatischen, niedlichen Eindruck. Urnue murrte leise, als er an dem netten Jüngling vorbei eintrat. Er wusste, daß dieses Milchbubi-Aussehen täuschte. Erheblich täuschte! „Ich bin Victor Dragomir Raspochenko Akomowarov.“, meinte er langsam und betont, als wolle er, daß man sich diesen Namen gut merkte. „Aber nennt mich doch Dragomir, das tun sowieso alle.“, fügte er lächelnd an und deutete einladend auf das Wohnzimmer zur linken Seite. Urnue sah sich vorsichtig um. Hier war alles so auffallend normal und geordnet. Er hatte erwartet, das Haus in chaotischen Kämpfen verwüstet vorzufinden. Aber nichts deutete auch nur ansatzweise darauf hin. Das einzige was störte, waren Ybi und Vy, die wie Türsteher mitten im Raum herumstanden. Das die mit Dragomir zusammenarbeiteten, hätte Urnue bis gestern beim besten Willen nicht gedacht. Er hatte die zwei immer für freischaffende Gauner gehalten. „Ruppert!“, brachte Urnue erleichtert hervor, als er seinen Schützling missmutig auf dem Sofa sitzen sah. „Gott sei Dank, du bist okay! ... Bist du doch, oder?“ Ruppert maulte nur etwas unverständliches in sich hinein. „Nehmt ruhig Platz!“, lud Dragomir die anderen ein, während er sich selbst äußerst geschmeidig und wohlbeherrscht in einen Sessel sinken lies. Überhaupt wirkte jede seiner Bewegungen bis zur psychologischen Vollendung ausgereift. „Warum hast du mich weggesperrt?“, platzte es sauer aus Urnue heraus. „Weil ich dich nicht verletzen wollte.“, entgegnete Dragomir mild. „Ruppert hätte dich nur sinnloserweise auf mich gehetzt und dich in Kämpfe mit mir verwickelt. Nimm es nicht persönlich. Ich wollte weder dir noch deinem Schützling etwas tun, ich wollte lediglich in Ruhe mit Ruppert reden können.“, erklärte der junge, unscheinbare Magier in beiläufigem Tonfall. Alles an ihm war so sanft und ruhig, daß man ihn sich nur schwerlich als mächtigen Krieger geschweige denn als Motus-Stammhalter vorstellen konnte. Langsam verstand Urnue den Spruch, daß Dragomir ein verkappter Führer war. Aufgrund seiner Fähigkeiten hätte er die Motus damals komplett übernehmen und anführen können. Nur sein viel zu sanftes, antiautoritäres Auftreten passte beim besten Willen nicht dazu. Als Befehlshaber nahm man ihn einfach nicht ernst. Wohl darum war er bis zum Ende immer nur die rechte Hand des Bosses geblieben. Aber die Motus gab es nicht mehr, das war Geschichte. Heute war er sein eigener Boss und ging einem höchst zwielichtigen Gewerbe nach. Ihm wurde immer wieder nachgesagt, magisch begabte Menschen anzugreifen. Dragomir selbst war ein Genius ohne Schützling. Es kursierten die tollsten Gerüchte, warum er keinen Schützling hatte. Es hieß, der sei bereits tot, teilweise sagte man sogar, Dragomir selbst habe ihn getötet. Wahrscheinlicher war es aber, daß er nie einen Schützling hatte. Nicht alle Genii waren zum Genius Intimus geboren, es gab auch viele ungebundene. Einen Moment sah er verwundert auf Nyu. „Hast du etwa deinen Genius Intimus gefunden, Danny?“, wollte er im Plauderton wissen. „Ausgerechnet eine Harpyie? Harpyien sind aufbrausend und neigen zu vorschneller Gewaltanwendung. Sie passt gar nicht zu dir.“ „Du erlebst gleich, wie aufbrausend ich sein kann! Urnue zu entführen war dein Todesurteil!“, kreischte Nyu, ihre Stimme schon auf Harpyien-Frequenz umgestellt, und stürzte sich auf den jungen Magister Magicae. „Nyu, nein!“, keuchte Danny. Sie durfte nicht einfach kopflos irgendwelche Leute verprügeln, egal wie sauer oder aufbrausend sie war, das war strafbar! Es war die eine Sache, daß sie ihn in ihrer Panik verletzt hatte. Das konnte er als Unfall deklarieren. Aber Dragomir anzugreifen, war auf jeden Fall ein Vergehen – und obendrein noch Selbstmord! Er wollte sie am Arm zurückhalten, bekam sie aber nicht mehr zu fassen. Auf den nur knapp 5 Schritten bis zu ihm vollzog sie die Verwandlung in ihre wahre Gestalt komplett. Dragomir hob mit einem milden Lächeln ruhig eine Hand und Nyu prallte mit einem dumpfen von seiner Schutzbarriere ab wie von einer Glasscheibe. Verwirrt taumelte sie einen Schritt zurück, ehe sie sich wieder fing. Sofort stürzte sich von der anderen Seite Urnue auf den Magier, unvermittelt in seine Wieselgestalt hinüberwechselnd, wurde aber von einem Feuergebilde zurückgetrieben, das Dragomir mit seiner anderen Hand wie eine Peitsche um sich herumwirbelte, ohne die schützende Barriere aufzugeben. Alle gafften ihn perplex an. Dragomir konnte zwei grundverschiedene Zauber zur gleichen Zeit wirken, wobei er sich auf keinen von beiden sonderlich konzentrieren zu müssen schien. Welches Niveau hatte dieser Kerl? Gab es überhaupt noch jemanden, der ihn schlagen konnte? Nyu war egal, wer oder was dieser Dragomir war. Wild kreischend warf sie sich immer wieder gegen seinen Schutzzauber, der wie ein Schild vor ihm stand, in der Hoffnung, ihn irgendwie gewaltsam durchbrechen zu können. Dann schleuderte sie ihre Klauen-Angriffe aus zwei Schritten Entfernung auf ihn, wobei sie ihre Fähigkeit der Distanzüberbrückung nutzte. Dragomir rollte genervt mit den Augen, als die auf Distanz übertragenen Energieladungen wie Donner auf seinen Schutzschild krachten, aber natürlich nichts ausrichteten. „Vy, würdest du wohl bitte mal?“, bat er im gelangweilten Tonfall. Aber so wie er das aussprach, stürzten sich schon Urnue und Josh´s Dicker auf die Zwillinge, um sie aufzuhalten. Dragomir stützte missmutig eine Hand in die Hüften, die andere hatte er noch gegen Nyu zur Abwehr erhoben. Es war eine Geste, hart an der Grenze, überheblich zu wirken, weil sie so gar nicht zu seinem bisherigen, weichen Auftreten passte. Nyu deckte ihn wie eine Furie immer weiter mit Schlägen und krachenden Energiesalven ein, ohne dessen müde oder überdrüssig zu werden. Urnue balgte sich mit Ybi herum, die für eine menschliche Frau erstaunlich viel Kraft hatte. Josh´s Genius Intimus hatte ebenfalls seine wahre Gestalt angenommen, die eines steingrauen Gargoyls, und prügelte sich mit ihrem Genius Vy, der sich inzwischen in einen Minotauren verwandelt hatte. Kurzum, es war ein unbeschreiblicher Krieg der unterschiedlichsten Fabelwesen, und das Wohnzimmer war binnen weniger Augenblicke ein einziger Trümmerhaufen. Gellende Schreie erfüllten das Chaos, Danny und Josh wollten aus dem Zimmer hasten und sich vor den tieffliegenden Zaubern in Sicherheit bringen, leise untermalt vom verängstigten Wimmern ihres Vaters, der mit einer kostbaren Vase in den Armen hinter einem Sessel kauerte. Der einzige Ruhepol in der ganzen Schlachterei und Prügelei war Victor Dragomir, der mit einer Hand seinen Schutzschild aufrecht hielt und das Spektakel nur kopfschüttelnd verfolgte. „Genug!“, gebot er schließlich und hob die andere Hand mit einer weichen Bewegung. Schlagartig kehrte Stille ein. Alle erstarrten. Man wusste nicht, ob er sie allesamt mit einem Paralysezauber belegt hatte, was eine reife Leistung wäre, oder ob sie einfach nur zu viel Angst vor ihm hatten, um seine Weisung zu ignorieren. „Ihr seid ja wie tollwütige Hunde. Was soll das?“, wollte er wissen. „Bringt Gewalt hier irgendjemanden weiter?“, fügte er genervt an. „Das sagt einer, der Magier und ihre Genii angreift.“, maulte Nyu und lies die Hörner des Minotauren los, auf den sie sich inzwischen gestürzt hatte, weil sie an Dragomir nicht herankam. Sie verwandelte sich zurück in ihre menschliche Gestalt. „Ich sage nicht, daß Gewalt immer zwecklos ist. Aber jetzt, in diesem Haus, ist es einfach nur Kraftverschwendung.“, gab Dragomir lächelnd zurück. „Heute bin ich nur geschäftlich hier. Euer Vater und ich haben einen Deal. Na los, Ruppert, lass hören!“, verlangte er mit gleichmütiger Stimmlage. Dannys Vater kam zögerlich, mit verstohlenem Blick hinter seinem Sessel hervorgekrochen und räusperte sich. Bedächtig stellte er seine Vase zur Seite, die er schützend an sich gepresst hatte, nur um Zeit zu gewinnen. Er war sichtlich verlegen, so hatten sie ihn noch nie in ihrem Leben gesehen. Er war immer der harte Kerl gewesen, der seinen Kopf rabiat durchsetzte. „Ich ... ähm ... also ...“ Er überlegte nochmal kurz und strich sich die Anzugjacke glatt. Dann holte er vernehmlich Luft. „Urnue. Ich muss mich ...“ „Ich WILL mich ...“, korrigierte Dragomir von der Seite. „Ich will. Ich will mich entschuldigen ... bei dir ...“ Urnue trat befremdet einen Schritt zurück, wandte sich sogar eine Winzigkeit von Ruppert ab, völlig verstört über so ungewohnte Worte, und musterte ihn mit skeptischen Augen. War mit Ruppert alles okay? „... entschuldigen für alles, was ich dir ... ähm ... angetan habe, in gewisser Weise. ... Ich weis, ich hatte nie den nötigen Respekt vor dir. Ich habe dich immer nur mit Verachtung gestraft, obwohl du mir mehr als einmal das Leben gerettet hast. ... also ... ich weis nicht, wo Dragomir dich hingebracht hat, aber diese Stunden ohne deinen Schutz haben mir endlich vor Augen geführt, wie sehr ich doch auf dich angewiesen bin.“ Urnue hatte sich ungläubig alle zehn Finger links und rechts an die Wangen gelegt, weil er nicht mehr wusste, wohin sonst mit seinen Händen. Das war einfach zu viel, er war sprachlos. Ein leichtes Zittern ging durch seinen gesamten Körper, während er Ruppert mit großen Augen ungläubig anstarrte. „Und ...“, fuhr Ruppert nach kurzem Hadern fort. „ ... und ich will dir ab jetzt mehr Freiheiten lassen und dich nicht mehr so ... ähm ... unterdrücken.“ Das Wort kam ihm nur schwer über die Lippen. „Schwöre!“, verlangte Dragomir von der Seite. „Ich schwöre es!“, gab Ruppert verzweifelt zurück und machte eine untertänige Verbeugung vor dem Magier. „Nicht mir! Schwöre es deinem Genius Intimus!“, verlangte dieser aber fast wütend. Der Banker nickte und drehte sich schnell wieder zu Urnue um. „Urnue, ich schwöre, ich werde dich ab jetzt besser behandeln. ... Verzeih mir. Bitte.“ Der völlig in schwarz gekleidete Genius fuhr sich ratlos durch die Haare. Solche Töne hatte Ruppert noch nie gespuckt. Konnte er das ernst nehmen? Und was um Himmels Willen lief hier? Das Ruppert ihn besser behandelte, war der Preis ... wofür eigentlich? Er hatte mit Dragomir einen Deal? ... War Dragomir am Ende etwa einer von den Guten? „Entschuldigung angenommen!“, meinte Urnue und ging zu seinem Schützling, um ihn in die Arme zu schließen. Ruppert sah fix und fertig aus. Das alles hatte den groben Haudegen wohl doch mehr mitgenommen als gedacht. „Ybi, Vy, wir sind fertig, kommt.“ ordnete Dragomir an und setzte sich in Bewegung. „Ich hab dich weiter im Auge, Ruppert.“, fügte er noch drohend an und war dann zur Tür hinaus und auf dem Weg, das Haus zu verlassen. „Das war eine harte Aktion.“, quasselte Vy fröhlich, als er den Magister Artificiosus Magicae hinausbegleitete. „Ihr habt gute Arbeit geleistet.“ „Springt da vielleicht eine kleine Belohnung raus?“, wollte Ybi in ihrer quietschigen Stimme wissen. „Mal sehen, ich verspreche euch nichts.“, meinte Dragomir noch amüsiert, dann fiel die Haustür hinter den dreien zu. Ruppert, Danny, Josh und ihre drei Genii blieben schweigend im Wohnzimmer zurück. Sie alle hatten viel Stoff zum Nachdenken. Gespenstige Stille senkte sich über die ganze Szene. Alle schauten bedröppelt von einem zum anderen. „U., wolltest du nicht schon immer Gitarre spielen?“, warf Ruppert etwas kleinlaut ein, wohl um das peinliche Schweigen zu unterbrechen. „Sollen wir dich in einer Musikschule anmelden?“ Danny hätte sicher eingeworfen, daß er dann aber auch Schlagzeug lernen wolle. Aber er kam nicht mehr dazu, denn in diesem Moment nahmen ihm die schmerzenden, entzündeten Wunden auf seinem Oberkörper endgültig das Bewusstsein. Epilog: "Was ist passiert?" --------------------------- So, noch ein kleiner Abspann ^^ Ich danke ganz lieb den Freischaltern, die so fleißig alles freigegeben haben. Und Salix, noch einmal ausdrücklich dafür, daß ich mich in ihre geniale Idee mit einklinken durfte. Und natürlich eventuellen heimlichen Lesern - ich hab genau gesehen, daß es welche gab! XD _____________________________________________________________ Als Danny wieder zu sich kam, hatte ihn ein Gefühl der Desorientierung und Betäubung vereinnahmt. Er wusste nicht wo er war, wer er war und warum alles so war wie es eben war. Müde sah er sich um. Um ihn herum war ein steril wirkender Raum, er lag in einem Bett mit chemisch riechender Bettwäsche. Gruselige Geräte, die er nach kurzem Überlegen für medizinischen Ursprungs hielt, blinkten ihn skeptisch und monoton an. War das hier ein Krankenhaus? Am Fußende seines Bettes entdeckte er Nyu, sie war im Sitzen eingeschlafen und nach vorn auf sein Bett gesunken. Eigentlich erkannte er sie nur an dem üppigen, schwarzgrünen Haarschopf, der sich schwungvoll auf der Decke ausgebreitet hatte und den Rest von Nyu´s zierlichem Körper halb begrub. „Ach, bist du auch endlich wieder wach?“, wollte Urnue wissen, der lautlos in den Raum geschlüpft kam, ganz seiner wieseligen Art entsprechend. Ihm dicht auf den Fersen folgte Dannys Vater Ruppert. „Was ist passiert?“, krächzte Danny und bemerkte erst jetzt, wie entsetzlich trocken sein Hals war. Nyu regte sich, geweckt von dem Gequatschte, und richtete sich stöhnend auf. Sehr bequem war ihre Schlafhaltung auch nicht gewesen. Danny fragte sich, warum sie sich nicht ins Bett gegenüber gelegt hatte. „Was passiert ist? Du bist nach Dragomirs großem Auftritt umgekippt, ganz einfach. Die Krallenwunden waren böse entzündet, du glaubst ja nicht, wieviel Antibiotika die Ärzte dir in den Hintern gejagt haben.“, grinste Urnue. „Aber jetzt solltest du über den Damm sein. Die Wunden werden verheilen und fertig. Mit etwas Glück bleiben nichtmal Narben zurück, sagt die Oberschwester. ... Hier, trink was.“ Danny rieb sich kurz seufzend über die Stirn. Er war noch gar nicht ganz wach und hatte Probleme, den Erklärungen zu folgen. Trotzdem musste er seine dringlichste Frage einfach loswerden, auch auf die Gefahr hin, daß er die Antwort gerade gar nicht verarbeiten konnte. „Wer zur Hölle war dieser Victor Dragomir Raspo... wie auch immer!? Was wollte der Kerl von uns?“ Sein Vater setzte sich mit einem betretenen Nicken auf das leere Krankenbett gegenüber und erweckte den akuten Eindruck, daß das eine längere Geschichte werden würde. Urnue pflanzte sich einfach daneben. „Victor war ein ... Kollege von mir, könnte man sagen.“, begann Ruppert. „In der Motus.“, kommentierte Danny missmutig. „Warum fragst du, wenn du es schon alles weist?“, gab sein Vater eben so mürrisch zurück und verschränkte die Arme. „Entschuldige.“ „Ja, in der Motus. Die Motus war eine maffia-artige Organisation, die mit Genii gehandelt und riesige Sklavenmärkte betrieben hat. Ich möchte keine großen Ausführungen zu diesem kriminellen Kartell machen. Zu den Guten gehörten die jedenfalls nicht. Victor war die rechte Hand vom Boss, was ihm nur durch einige Kriege und Intrigen und eine ... ähm ... äußerst zwielichtige Begebenheit gelungen ist. Nach außen hin hat er seinen Posten als Stellvertreter des Chefs gut ausgefüllt, hat den Schein hervorragend gewahrt, aber nach innen hat er dem Boss immer wieder ins Handwerk gepfuscht.“ „Das wusste ich gar nicht.“, warf Urnue verwundert ein. „Das wusste so gut wie keiner. Der Chef der Motus hat sich das nie anmerken lassen, weil er sein Gesicht nicht verlieren wollte. Jedenfalls, Victor hatte schon immer etwas gegen die radikalen Methoden der Motus und hat nach Kräften versucht, ihre Machenschaften zu vereiteln. Sicher haben nur seine gewaltigen Fähigkeiten ihn davor bewahrt, selbst auf dem Sklavenmarkt zu enden. Ehrlich gesagt wundert es mich, daß er nie von der Motus umgelegt wurde. Als die Motus vor knapp zwei Jahren zerschlagen wurde, ging das hauptsächlich auf Victors Konto.“, fuhr Ruppert fort. „Er war also ein Deserteur? ... Woher weist du das alles?“, wollte Danny gespannt wissen und setzte sich vorsichtig im Bett auf. Ruppert lächelte dünn. „Ich war derjenige, der Victor nach dem Niedergang der Motus wochenlang versteckt und geschützt hat.“ „Na toll. Und zum Dank hat er dich jetzt angegriffen? Was treibt der überhaupt gerade?“, maulte Nyu dazwischen. Dieser Kerl wurde ihr immer unsympathischer. „Das Gerücht, daß er immer wieder magisch begabte Menschen angreift, ist zutreffend. Er legt sich mit solchen Menschen an, die ihren Genius Intimus nicht angemessen behandeln. Das war der Grund, warum wir damals im Streit auseinander gegangen sind. Ich habe Victor zwar geholfen und fand die grausamen Methoden der Motus auch nicht korrekt, aber grundsätzlich teilte ich die herablassende Haltung der Motus gegenüber den Genii schon. Dementsprechend bin ich auch mit Urnue umgegangen.“ Und das war auch der Grund, warum er den Magier nicht nannte, wie alle anderen. Er wurde nur von seinen Feinden genannt. Aber das sagte er den hier anwesenden Leuten und Genii besser nicht. Nicht nachdem er ihnen erzählt hatte, daß der Typ eigentlich zu den Guten gehörte. Er hatte Victor Dragomir damals nicht freiwillig geholfen. Der Magister Artificiosus Magicae hatte einige sehr unschöne Ässer im Ärmel, mit denen er andere gehörig unter Druck setzen konnte. „Und das macht er aus reiner Nächstenliebe?“, gab Nyu verächtlich zurück. „Im Großen und Ganzen, ja. Er hat natürlich eine Stiftung im Rücken, die ihn deckt und finanziert. Sein Treiben ist trotz allem mehr als illegal, so edel seine Ziele auch sein mögen. Er wird als Verbrecher polizeilich gesucht.“ Danny schaute kleinlaut, fast entschuldigend Urnue an. Er hatte Urnue in jener Nacht auch dazu gebracht, mit ihm in den Zirkus einzubrechen und ganz illegal Nyu zu befreien. Er konnte Dragomir verstehen. Aber ihm war bis jetzt nicht in den Sinn gekommen, daß das eine Straftat gewesen sein könnte. Wenn das jemals rauskam, würde er eingebuchtet werden, und Urnue vermutlich gleich mit. „Okay, er befreit also unterdrückte und versklavte Genii. Aber eins musst du mir erklären.“, warf Urnue nachdenklich ein. „Welcher kuriose Deal lief zwischen euch, damit du mich besser behandelst?“ Wie er Ruppert kannte, konnte es nur etwas finanzielles sein. Gut möglich, daß fast Rupperts ganzes Vermögen Dragomir gehörte und große Teile seiner Bank-Kette unter Dragomirs Kontrolle standen. Wohlmöglich war er ohne Dragomir einfach nur ein großes, rundes Nichts. Ruppert senkte betreten den Blick. „Man kann es kaum als Deal bezeichnen. Er hat dich einfach stundenlang weggesperrt und mir damit vor Augen gehalten, daß ich nicht ohne dich auskomme. Ich musste mir eingestehen, wie viel du mir bedeutest, was ich bisher so konsequent geleugnet habe. Ich hätte dich nie wiedergesehen, wenn ich nicht zur Vernunft gekommen wäre.“ „Und warum hat er Josh und mich da mit reingezogen?“, maulte Danny verständnislos. Er hatte seine Nyu nie schlecht behandelt. „Hat er nicht, das war Zufall. Oder besser gesagt, ich war das. Ich habe euch ja losgeschickt, Urnue zu suchen. Das war nicht geplant, daß ihr Victor in die Falle geht, aber er hatte seinen Heidenspaß daran, das könnt ihr mir glauben.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)