Spätsommer von Molecule ================================================================================ Kapitel 4: Gespräche -------------------- Heute traf Leah sich doch nicht mit Max. Dennoch war sie nach dem Unterricht schon weg. Wahrscheinlich hatte sie noch irgendetwas zu erledigen. Außerdem brauchte sie immer sehr lange für die Hausaufgaben und zum Lernen. 12. Klasse, eine Klasse vor dem Abitur, war ja auch nicht gerade leicht. Noch zwei Jahre, dann mussten sie ebenfalls die Aufgaben machen, die Leah jetzt zu bewältigen hatte. Vielleicht sollten sie auch schon einmal mit dem Lernen anfangen. „Gehen wir wieder zum Spielplatz?“, unterbrach Sascha Noah in seinen Gedanken. Überrascht sah er zu Sascha, der neben ihm ging, jedoch an der entscheidenden Kreuzung stehen geblieben war. Spielplatz oder nach Hause? Die Frage war nicht wirklich schwierig. „Spielplatz“, antwortete Noah mit einem Wort und drehte sich auch schon nach rechts, um den Weg entlang zu gehen. Vielleicht würden sie wieder die beiden kleinen Jungen von gestern treffen. Irgendwie waren die ja schon niedlich. Sascha hatte recht, sie erinnerten auch ihn an früher. Als alles noch so einfach war. So unbeschwert. Wie schon am Vortag setzte er sich mit Sascha auf das Karussell. Er zog die Knie an und betrachtete die Umgeben, als Sascha einen Fuß auf den Boden stellte und anfing, es im Kreis zu drehen. Es sah alles noch fast genauso aus wie früher. Die Bäume waren noch immer die gleichen. Sie waren nur größer geworden. Wie Sascha und er. Sie hatten mehr Äste bekommen; mehr Möglichkeiten. Und doch wurden sie von den anderen Bäumen, die direkt neben ihnen standen, in ihren 'Möglichkeiten' eingeschränkt, da auch diese ihre Äste ausbreiteten. Wenn Bäume denken könnten, würden sie sicher auch sagen, wie einfach früher doch alles gewesen sei. Bäume und denken... Langsam wurde er wirklich verrückt. Dennoch musste er bei dem Gedanken grinsen. „Was?“, fragte Sascha ihn daraufhin, sein Grinsen wohl bemerkt. Auch wenn er keine Ahnung haben konnte, weshalb er grinste, woran er eben gedacht hatte, erwiderte er es mit einen leichten Lächeln. Sascha war schon immer so gewesen. Er passte sich den Gefühlen der anderen irgendwie an. Aber nur, wenn ihm diese Personen wirklich wichtig waren. Wenn ein Fremder traurig an ihm vorbei gehen würde, wäre es ihm egal. Alles wie früher... Ja, es wäre schon, wenn wieder alles wie früher sein würde. Dann musste er nicht mehr daran denken, dass er drei ganze Jahre ohne Sascha aushalten musste. Auch wenn diese Jahre jetzt vorbei waren, wurde er doch immer noch daran erinnert. Noch immer war ihm klar, dass es so war, dass er es nicht rückgängig machen konnte. Er musste nun für immer damit zurecht kommen. Er musste sich immer wieder klar machen, dass es fast 'verlorene' drei Jahre waren. Zwar hatte er Leah kennengelernt, aber die hätte er auch gefunden, wenn Sascha nur ein Jahr weg gewesen wäre. Drei ganze Jahre... Von zwölf bis fünfzehn. Wie hatte er das nur ausgehalten? Dennoch musste er kurz lachen. Er wollte nicht, dass Sascha sich seinetwegen übermäßig Sorgen machte. „Was?!“, fragte Sascha erneut nach, als er statt einer Antwort nur ein Lachen zu hören bekam. „Nichts“, winkte Noah ab. „Ich musste nur gerade daran denken, wie es wäre, wenn Bäume denken könnten...“ „Und das ist so lustig?!“ Normalerweise verstand Sascha immer, was er meinte. Er verstand seine Denkweise. Sicher war das jetzt genauso, auch wenn das Grinsen aus seinem Gesicht verschwunden war. „Ja“, antwortete Sascha. Es war einfach lustig. Es war lustig, dass er gerade Bäume mit Sascha und sich verglich. Dass er überlegte, wie es wäre, wen Bäume reden könnten. „Du warst schon immer merkwürdig.“ Genau das, war auch lustig. Dass es immer nur Anspielungen auf früher gab. Diese drei Jahre gab es kaum. Nur davor und danach, jetzt. Aber die Zeit dazwischen gab es nicht wirklich. Sie existierte wohl in ihnen beiden, in ihren Erinnerungen. Doch niemand sprach darüber. Niemand wagte es, das Thema anzusprechen. Als wäre es verschlossen. Ein Buch – oder eher ein Kapitel – mit sieben Siegeln, das niemals wieder geöffnet werden sollte. Doch Sascha hatte gestern darüber reden wollen. Er hatte in der ganzen Zeit Leah gehabt. Er hatte ihr alle Geschichten erzählt, hatte sich bei ihr ausgeweint und mit ihr über Saschas und seine 'Beziehung' gesprochen. Hatte Sascha das etwa nicht gekonnt? Hatte er deswegen mit ihm reden wollen? Dieser Gedanke beschäftigte enorm. Er konnte nicht aufhören darüber nachzudenken, obwohl ihn durch die ganzen Umdrehungen schon längst schwindelig sein müsste. Doch die Realität gab es für ihn gerade nicht mehr. Die Bäume, die ihre Position zu ändern schienen, waren zwar noch da, aber vor Noahs Auge herrschte ein anderes Bild. Sascha. Der Vergleich von vor drei Jahren und jetzt. Hatte er sich wirklich nicht verändert? Manchmal wirkte er merkwürdig. Beinahe müde. Als würde er nur noch alles über sich ergehen lassen, um endlich zu sterben. Früher war er niemals so gewesen. War er es vor zwei Jahren gewesen? Noah wusste es nicht. Er hatte keinen Kontakt mehr mit ihm gehabt. Sascha war wie vom Erdboden verschluckt gewesen. Nur zu gern wollte er wissen, wie Sascha in der Zeit war. Wie er war, als er Noah verloren hatte. „Sascha?“, setzte Noah an und hob seinen Kopf. Er wollte nicht darüber reden. Er wollte es wirklich nicht. „Hattest du auf der anderen Schule Freunde?“ Vielleicht konnte er sich mit denen in Kontakt setzen. Vielleicht konnte er herausfinden, wie Sascha zu der Zeit war. Das Karussell kam zum Stillstand. Saschas Augen taxierten ihn eine Weile. Er suchte nach Worten. Suchte nach der richtigen Antwort. „Freunde... kann ich es nicht nennen...“, war dann endlich die Antwort. Damit war das Thema auch abgetan. Sascha wollte nicht darüber reden. Und Noah auch nicht. Er sollte einfach still sein. Nach weiteren schweigenden Minuten hörte Noah Gelächter. Zwei Jungen. Wahrscheinlich die Jungen. Er musste etwas lächeln, als er die beiden um die Ecke laufen sah. Kaum sah er zu Sascha, erkannte er auch auf dessen Gesicht ein Lächeln. Die beiden Kleinen bleiben stehen, schienen sich einen Augenblick zu unterhalten, ehe sie auf Sascha und ihn zugingen. „Wie heißt duuu?“, sagte er wohl Ältere der beiden. Noah konnte sich ein Lachen nicht mehr verkneifen. Das war zu süß. „Sascha“, antwortete sein bester Freund grinsend, schien sich auch zusammenzureißen zu müssen. „Und daas?“, fragte er kleinere und sah zu Noah. „Das ist Noah“, erklärte Sascha den beiden. Noah musste erst einmal zurückfinden und aus seinen Gedanken, die sich schon damit beschäftigten, wie er das Leah erzählte, zurückfinden. „Ihr seid Tommy und Maxi, richtig?“, fragte Sascha nach und beugte sich nach vor. „Richtig!“, bestätigten beide. Wieder musste Noah ein weiteres lautes Lachen zurückhalten. „Tommy?! Maxi!“, rief eine Frauenstimme barsch. Sofort zuckten die beiden zusammen und drehten sich um und verließen mit einem „Tschüss“ den Spielplatz. Die Mutter war natürlich total spießig. Allein schon dieser lange Rock mit dem Blumenmuster. Er und Sascha waren nicht alt, trotzdem ließ sie die Kinder nicht mit ihnen reden. Das war nicht fair. Doch selbst das konnte Noah nicht davon abhalten, dass er jetzt wieder lachen musste. „Hach, nein, wie putzig“, kicherte er. Das war echt niedlich gewesen, wie die beiden aufgetreten waren und dann auch noch gleichzeitig geantwortet hatten. „Du bist nicht nur schwul, du wirst auch noch weiblich!“, bemerkte Sascha lachend. „Was?! Nein!“, lachte er sofort. Eigentlich würde er die Erklärung Sascha sofort ins Gesicht sagen, aber dafür musste er zu sehr lachen. Er und weiblich?! Leah hatte einfach nur zu viel Einfluss auf ihn! Außerdem war er schwul, da war es doch klar, dass er sich etwas zu viel von den Frauen abschaute, um Männer rumzukriegen. „Ich habe nur das gesagt, was Leah gesagt hätte!“, sagte er grinsend, als er wieder atmen konnte. Nachdem sie noch eine Weile weiter gelacht hatte – natürlich sinnlos – schnappten sie sich ihre Taschen und gingen wieder los. Wieder bis zur Kreuzung. Wie jeden Tag. „Rufst du nachher an?“, fragte Noah, bevor Sascha an diesem Tag gehen konnte. Das wäre das erste Mal, dass sie nach Saschas Rückkehr nach der Schule telefonieren würden. „Kann ich machen“, antwortete Sascha, fügte dann aber noch etwas hinzu. „Wenn ich einen Moment finde, in dem meine Mutter mich nicht beobachtet.“ Er lachte kurz. „Nein, werde ich schon schaffen. Ich rufe auf jeden Fall an, verlass dich drauf.“ Erst nachdem das klargestellt war, ging Sascha nach Hause. Wieder den gleichen Weg entlang wie gestern. Wie die letzten vier Wochen. Zuhause warf er seine Tasche in die Ecke und pflanzte sich auf sein Bett. Eine Weile blickte er suchend im Zimmer umher, auch wenn er nicht einmal wusste, was er eigentlich suchte. Aber würde er es finden, wusste er es sicher! Da Sascha noch anrufen wollte, konnte er auch nicht mit Leah telefonieren. Hausaufgaben? Seufzend wechselte er in die kniende Position, nah an den Bettrand, und versuchte nach seinem Rucksack zu angeln. Aufstehen war zu anstrengend. Außerdem schaffte er es ja auch so. Jetzt nur noch schnell einen Text schreiben. Erörterung. Wie er den Deutschunterricht schon immer gehasst hatte... Nicht, dass er es nicht konnte oder dass es zu einfach war. Nein, es war in Ordnung. Aber es war einfach langweilig und noch dazu wurde es langweilig dargeboten. Mit Deutsch hatte er sich nie anfreunden können. Er hatte immer Sascha gehabt. Da er nach der Einleitung schon wieder an Sascha denken musste, legte er das Heft zur Seite und warf sich auf den Rücken, um an die Decke zu starren. Vielleicht konnte diese ja reden. Oder denken. Aber leider konnte sie das genauso wenig wie die Bäume. Vermutlich sogar noch weniger, weil sie kein Lebewesen war. Er konnte nicht sagen, wie lange er so dagelegen hatte. Jedenfalls riss das Klingeln des Telefons ihn aus seinen Tagträumen. „Fuck..“, murmelte er und rappelte sich schnellstmöglich auf. Seine Mutter durfte nicht ans Telefon gehen! „Ich geh!“, rief er, während er in den Flur rannte, dann die Treppe nach unten. In der Küche fand er das Telefon endlich – unter mehreren Zetteln, Briefen und Rechnungen, die er achtlos zur Seite geworfen hatte. Deswegen starrte seine Mutter ihn skeptisch an. „Leah“, sagte er nur und ging dann schon wieder nach oben. „Ja?“, meldete er sich am Telefon zu Wort. Er hatte nicht einmal auf die Nummer gesehen, um zu gucken, ob es wirklich Sascha war. „Hey“, hörte er Saschas Stimme vom anderen Ende der Leitung. „Wie versprochen, der Anruf.“ Grinsend warf Noah sich auf sein Bett, wieder die Decke anstarrend. „Weißt du was? Decken können auch nicht reden“, informierte er ihn über seine neusten Entdeckungen. Er hörte Sascha lachen, hörte, dass es schon immer so gewesen war. Sein Lachen. Nichts hatte sich daran verändert. „Wie kommt's überhaupt, dass du noch keinen Freund hast?“, kam die unerwartete Frage. Eine der Themen, über die sie nie reden würden, wenn sie sich gegenüber standen. „Wieso? Sollte ich?“, fragte Noah etwas misstrauisch zurück und setzte sich nun wieder auf. Was sollte diese plötzliche Frage? So etwas würde Sascha sonst nie fragen. „Also wenn ich schwul wäre, wärst du sofort mein“, meinte Sascha daraufhin. Noah biss sich auf die Unterlippe. Achja? Interessant zu wissen. „Warum bist du dann nicht schwul?“ Wünschte Noah es sich etwa? Wollte er, dass Sascha schwul wurde, damit sie zusammen sein konnten? Vielleicht. Aber er wollte ihn niemals zu etwas zwingen. Einige Sekunden lang drang nur das Schweigen durch die Leitung. So lange, dass es Noah schon fast wieder zu laut wurde. „Ein Vorschlag, ja? Ich bin bi, aber nicht schwul, ja?“, sagte Sascha dann. Wurde heute auf Fragen nur noch mit Fragen geantwortet? „Warum? Was soll das bringen?“ „Das sollte eine Antwort auf deine Frage sein, man.“ Wie war das denn eine Antwort? Da Noah nichts darauf antwortete, schien Sascha zu verstehen, dass er es nicht kapiert hatte, sodass er versuchte, es ihm zu erklären. „Ich bin nicht schwul, weil ich bi bin.“ Wieder brauchte Noah einige Zeit, bis er endlich verstand, wie das gemeint war. Warum bist du nicht schwul? - Weil ich bi bin. Weil Sascha eben noch auf Mädchen, auf Frauen, stand. Nicht nur Männer. Klar, darauf hätte er auch früher kommen können. Vielleicht hatte er es nur nicht gewollt. Vielleicht hatte sein Unterbewusstsein nicht gewollt, dass Sascha bisexuell war, sondern dass er schwul wurde. Vielleicht hatte er es deswegen nicht verstehen wollen. Doch diese Logik ergab noch weniger Sinn als Saschas Antwort. „Achja...“, setzte Sascha irgendwann an. „Ich musste mir das Telefon klauen. Hatte eben voll Stress mit meiner Mutter... mit meinem Vater wird’s noch schlimmer, wenn der heute Abend nach Hause kommt...“ „Was? Wieso...?“, fragte Noah perplex nach. Hatte Sascha irgendwas angestellt? „Sie weiß von dir. Sie weiß, dass du hier wohnst, dass wir auf die gleiche Schule gehen...“ Unfähig etwas dazu zu sagen – er musste sich schon anstrengen, den Telefonhörer festzuhalten – blieb er einfach nur still sitzen und hörte Sascha weiter zu, auch wenn wieder gerade ein Pause gemacht hatte. Wahrscheinlich um Noahs Reaktion abzuwarten. „Und... was heißt das jetzt...?“, brachte er dann endlich heiser hervor, räusperte sich dann aber. Verdammt, seine Stimme... „Erstmal nichts... Ich habe abgestritten, dich gesehen zu haben... Aber wahrscheinlich glaubt sie mir das nicht. Wahrscheinlich wird sie mich jetzt die ganze Zeit beobachten und dann gleich auch deine Mutter anrufen und von ihr dasselbe verlangen. Das wäre ihr zuzutrauen.“ „Fuck...“, fluchte Noah leise. Das war doch nicht fair! Wieso durften sie sich nicht treffen?! Jetzt waren sie drei Jahre älter, jetzt hatten sie eigene Meinungen! „Was ist mit Freitag?“, fiel es ihm dann wieder ein. Sascha hatte ja fragen wollen. „Also noch lässt sie mich. Ich hab' aber keine Ahnung, wie das aussieht, wenn sie doch noch mitkriegt, dass wir uns wiedergetroffen haben.“ „Fuck...“, kam es ein zweites Mal aus Noahs Mund. Hoffentlich würden Saschas Eltern das nicht erfahren. „Das sagtest du schon.“ Er konnte förmlich sehen, wie Sascha dabei grinste. „Verdammt, das ist nicht lustig!“, ermahnte er ihn ernst. Das war wirklich nicht lustig. Er sah das verdammt ernst. Niemals wieder würde er es aushalten, von Sascha getrennt zu sein. „Ich weiß doch... ich weiß...“ Durch Saschas ruhige Stimme seufzte er schwer und warf sich wieder auf den Rücken. „Es sind nur drei Tage. In der Zeit findet meine Mutter bestimmt nicht mehr heraus. Mein Handy werde ich behalten und die Nummer, die ich gerade angerufen habe, werde ich auch gleich löschen.“ Mussten sie nur deswegen jetzt wirklich auf so viel achten? Das würde er niemals alles schaffen. Sicher war er es, der einen Fehler machte. „Noah?“ Bei Saschas Stimme zuckte er zusammen. „Hm?“, machte er fragend. Er hatte eben kaum etwas mitbekommen. „Komm... Das schaffen wir. Ein zweites Mal lassen wir uns nicht trennen.“ Auch wenn Saschas Aufmunterungsversuch echt lieb gemeint war, konnte er ihm nur ein leichtes und kurzes Lächeln entlocken. „Wir sollten auflegen...“, sagte Sascha dann. „Wir sehen uns ja morgen.“ Ja, morgen. Das war noch so lang. „Ja... Bis dann...“, meint Noah und starrte noch kurz auf das Display, ehe er die Taste zum Auflegen drückte. Er sollte Leah anrufen. Sie konnte ihn immer aufmuntern. Das hatte sie drei Jahre lang geschafft, da musste es schon etwas bedeuten; sie hatte echt Talent. Allein der Gedanke daran, ließ Noah kurz schmunzeln. Es konnte ja nicht so deprimiert einschlafen. Leah musste etwas ändern! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)