Schokolade ist nicht halb so gut von Fusselbande ================================================================================ Kapitel 1: ----------- So kalt war es in der Innenstadt gar nicht, redete er sich immer noch ein, obwohl er klein zusammengekauert in der Nische zwischen Einkaufszentrum und Rolltreppen hockte und erbärmlich zitterte. Fünf Meter höher liefen Menschen an den Glaswänden der Überführung entlang und bestaunten die winzigen weißen Punkte, die vor den Scheiben tanzten. Sie ahnten nichts von dem abgemagerten Jungen, der unter ihnen in einer Ecke kauerte und fror. Es interessierte sie auch nicht. Er wickelte sich noch fester in seine brüchige Lederjacke und versuchte mit seinen bibbernden Armen die Löcher in der alten, fleckigen Jeans abzudecken, damit der Wind nicht so hinein pfiff. In Momenten wie diesen, da wünschte er sich einen Hund oder ein paar Freunde, mit denen er sich wärmen und die Zeit vertreiben konnte, aber für beides fehlte ihm der Mut. Sein schwarzes Haar klebte ihm strähnig verfilzt im Gesicht und am Hals, wenn es nicht gerade von einem weiteren Windstoß umhergewirbelt wurde. Lange Blicke, mitleidig oder verachtend, wurden ihm von den wenigen Passanten zugeworfen und manch einer ließ sogar eine Münze folgen, aber mehr auch nicht. Fünf Meter weiter hatten sie ihn vermutlich schon wieder vergessen und er konnte es ihnen nicht übel nehmen, schließlich hatten sie ihre eigenen Leben, um die sie sich kümmern mussten. So wie er sich um seins. Trotzdem fühlte er sich einsam, wenn er die Menschen beobachtete und sie lachen und scherzen sah. Er vermisste die sozialen Kontakte und trotzdem hatte er zu viel Angst, um sich welche zu suchen und von alleine sprach ihn nie jemand an. An diesem grausig kalten Abend war es anders, denn als der Junge endlich ein wenig weggedämmert war, da riss ihn eine spöttische Stimme direkt bei ihm aus der Ruhe. „Heh, wie heißt du?“ Ein Auge öffnete sich unwillig und musterte den jungen Mann, der da vor ihm stand – groß, schlank, mit dunklem Haar, ziemlich kurz, kantigem Gesicht und unauffälliger, gepflegter Kleidung - und ihn amüsiert angrinste - dann schloss sich das Auge wieder. Einfach ignorieren. „Hey, ich rede mit dir und ich weiß, dass du mich hörst.“ Diesmal öffneten sich beide Augen und starrten den Fremden feindselig an. „Was ist?“ Ein Schulterzucken. „Ich hab dich gefragt, wie du heißt. Ist dir kalt?“ „Nein, ganz sicher nicht.“ Er gab sich keine Mühe, den bissigen Tonfall abzuschwächen. Sollte der Idiot doch wissen, dass er nichts von ihm hielt. Der Mann nickte nur mit einem schwachen Grinsen. „Ach so. Na dann ist ja alles in Ordnung. Sonst hättest du bei mir auf dem Sofa übernachten können.“ Jetzt horchte der Junge auf. So einer war das also. „Danke, ich bin nicht für so was zu haben. Sehe ich aus wie ’n Stricher oder was?“ „Was?“ Einen Augenblick sah der Fremde ehrlich verwirrt aus, bevor er plötzlich lachte. „Sorry, aber das ist ein Missverständnis. Ich steh nicht auf kleine Jungs. Wenn du es dir also anders überlegst, dann kannst du ja vorbeikommen.“ Und damit hielt er ihm eine kleine Visitenkarte hin. Der Junge zögerte einen Moment, dann nahm er sie vorsichtig entgegen. „Mach’s gut. Vielleicht sehen wir uns ja noch mal.“ Er winkte, drehte sich um und ging. Hinter ihm starrte der Junge verwirrt auf die kleine Visitenkarte, auf den Mann und dann wieder auf die Visitenkarte. Auf der anderen Straßenseite ging ein Pärchen mit verfilzten Haaren und zerschlissener Kleidung vorbei und hielt zielstrebig auf die Ampel zu. Oh nein, nicht die... „Nathan…?“ Der Mann wandte sich um und sah ein wenig erstaunt den Jungen, der zwei Meter von ihm entfernt stand und ihn misstrauisch beobachtete. „Ja?“ „Ahm…“ Der Junge strich sich nervös sein strähniges Haar aus dem Gesicht. Seine Stimme klang rau, ein kurzes Räuspern. „Kann ich heute Nacht doch bei dir übernachten?“ „Sonst hätte ich das nicht angeboten, oder?“ Nathan – zumindest stand der Name auf der Visitenkarte und der Nachname stimmte mit dem auf dem Türschild überein – wohnte nur ein paar Straßen entfernt in einer sehr einfachen, aber ordentlichen Wohngegend mit kleinen Gärten vor den Mehrfamilienhäusern. Seine Wohnung lag im ersten Stock, hatte drei Zimmer, Küche und ein abschließbares Bad, wie der Junge bei einer kleinen Führung erleichtert feststellte. An der Wand über dem Geschirrschrank tickte eine hölzerne Küchenuhr in altmodischem Design – die spitz zulaufenden Zeiger vibrierten bei jeder Bewegung und unter dem verglasten Ziffernblatt bewegte sich das Pendel hin und her, das das laute Ticken von sich gab. „Verrätst du mir jetzt deinen Namen?“ Mit einer kurzen Handbewegung wies Nathan auf einen der Küchenstühle und lehnte sich selbst an die hölzerne Arbeitsfläche zwischen Spüle und Kühlschrank. „Dann bekommst du auch was zu essen. Es ist zwar nichts Besonderes da, aber Tiefkühlpizza dürfte kein Problem für dich sein, oder?“ Der Junge seufzte tief. „Voice“, murmelte er mit seiner kratzigen Stimme, „das rufen die anderen, wenn sie mich sehen. Weil ich so selten spreche.“ Davon war Nathan nicht sonderlich überrascht, denn genau das hatte er vermutet, als er die Stimme des Jungen zum ersten Mal gehört hatte. „Ich mag den Namen, er gefällt mir besser, als mein alter.“ „Wie ist dein alter Name?“ „Patrick.“ Jetzt musste Patrick – oder Voice zum ersten Mal ein wenig Grinsen. „Scheiße, oder?“ Der junge Mann schüttelte langsam den Kopf. „Finde ich gar nicht, ich mag den Namen. Aber du möchtest lieber Voice genannt werden…?“ Das eilige Nicken ließ die schmutzigen Haarsträhnen wild schlackern. Jetzt wandte sich Nathan von seinem Schützling ab und öffnete das Gefrierfach im Kühlschrank. „Wie alt bist du, Voice?“, fragte er, während eine bunte Packung mit zwei Tiefkühlpizzen ihren Weg auf die Arbeitsfläche fand. „Welches Datum haben wir?“ Verwirrt von der Frage hielt er kurz inne und warf dem Jugendlichen an seinem Küchentisch einen erstaunten Blick zu, aber er sagte nichts dazu. „Den vierten Februar.“, meinte er nur. „Dann siebzehn. Am vierzehnten habe ich Geburtstag.“ „Du bist fast achtzehn? Ich hätte dich für fünfzehn gehalten.“ „Glaubst du mir nicht? Willst du meinen alten Schülerausweis sehen? Da steht mein Geburtsdatum drin.“ Und ohne auf eine Antwort zu warten, holte er aus der Gesäßtasche seiner schmuddeligen Hose ein verblichenes, verschmutztes Stück Papier. Tatsächlich war es ein Schülerausweis aus einer Stadt im Norden des Landes, ausgestellt für das vorletzte Schuljahr. Patrick Chaney stand drin und das Geburtsdatum stimmte. „Chaney…“ Ausgerechnet dieser Name. Das Schicksal machte einen Narren aus ihm. „Wie alt sind Sie?“, weckte ihn Voice aus seinen Gedanken und nahm den alten Ausweis vorsichtig wieder entgegen. „Siez mich nicht, bitte. Ich bin erst dreiundzwanzig.“ Ein Schulterzucken. „Okay.“ „Möchtest du dich waschen? In dem Korb in der Dusche sind Shampoo und Duschgel und im Regal frische Handtücher. Ich kann dir auch gerne ein paar Klamotten von mir borgen, so viel kleiner als ich bist du ja nicht, da wird sich schon was Passendes finden.“ Als Voice vorsichtig nickte, zeigte er ihm noch einmal den Weg zum Badezimmer. „Die Tür kannst du abschließen, pass aber auf, die klemmt manchmal ein wenig. Ich leg dir die Klamotten vor die Tür.“ Er wandte sich ab, um zu gehen, hielt dann aber doch noch einmal inne und meinte mit einem flüchtigen Grinsen: „Und trödele nicht zu lange, in zwanzig Minuten ist die Pizza fertig.“ Erstaunlicherweise rang sich auch der Junge zu einem matten Lächeln durch. „Alles klar, Chef.“ Dann schloss er die Tür hinter sich. Nathan saß bereits eine Dreiviertelstunde wartend in der Küche, als sich die Tür endlich öffnete und Voice unsicher in den Raum trat. Ohne den Gürtel wäre ihm die viel zu weite Hose wahrscheinlich kurzerhand in die Kniekehlen gerutscht und auch das Hemd war um einiges zu groß, aber unter den nassen Haarsträhnen , die dunkle Flecken auf dem schwarzen Kragen hinterließen, leuchteten seine Augen glücklich. Seine eigene abgetragene Kleidung hing als zusammengeknülltes Bündel in seinen Armen. „Wohin kann ich meine Sachen tun?“ „Die Klamotten kannst du in den Wäschebottich im Bad tun, das andere auf den Wohnzimmertisch oder in die Hosentaschen oder so. Wo auch immer du möchtest.“ Wenig später saßen sie einander gegenüber am Küchentisch und machten sich über die lauwarme Pizza her. Irgendwann nachdem der größte Hunger gestillt war, sah der Junge zwischen zwei Bissen auf und meinte: „Was machst du eigentlich beruflich?“, bevor er weiteraß. Seinen beinahe geleerten Teller beiseite schiebend antwortete Nathan: „Ich studiere. Pädagogik.“ „Du bist Student?“ Voice’ große Augen sahen ihn erstaunt an. „Und dann wohnst du in so einer riesigen Wohnung? Ich dachte immer, dass Studenten in schmutzigen kleinen Löchern hausen…“ „Tun sie auch“, erwiderte der junge Mann mit einem Lachen. „Normalerweise, jedenfalls. Meine Eltern haben ein bisschen mehr Geld als andere, die können sich so eine Wohnung für ihren Sohn eben leisten. „Ein Bonzenkind, also…“ Das hatte er mehr zu sich selbst als zu Nathan gesagt. Laut dagegen fragte er: „Du studierst also Pädagogik? Wieso?“ „Wieso nicht?“ Jetzt schob auch der Junge seinen Teller ein Stück von sich weg. „Du wirst doch wohl einen Grund haben, weshalb du studierst, was du studierst, oder? Was möchtest du damit machen?“ Nach einer Pause fügte er mit einem Anflug von Verachtung hinzu: „Oder bist du einer von denen, die irgendwas studieren, um Mutti und Vati glücklich zu machen und von ihrem Vermögen zu leben?“ „Ich möchte Kindern und Jugendlichen helfen, die Probleme haben. Der Vater meines besten Freundes war Alkoholiker und er hat sehr darunter gelitten. Ich durfte ihn nie zu Hause besuchen und so. Je älter wir wurden, desto komischer wurden die Leute, mit denen er sich herumgetrieben hat. Dass er Drogen genommen hat, habe ich erst erfahren, als er deswegen im Krankenhaus lag.“ Er brauchte einen Augenblick, um sich wieder zu sammeln. „Damals lernte ich zum ersten Mal seinen Vater kennen und an dem Tag habe ich mir geschworen, dass ich mich für Jugendliche wie meinen Freund stark mache.“ Voice sagte nichts mehr und auch Nathan war die Lust am Sprechen vergangen. Nach ein paar Schweigemomenten räumte der Student den Tisch ab und setzte sich ins Wohnzimmer vor den Fernseher. Der Junge folgte ihm vorsichtig, wie ein wildes Tier, und setzte sich schließlich auf die Ecke des Sofas, die näher an der Tür lag. Auch dann sprachen sie kaum ein Wort miteinander, aber das störte keinen von ihnen. Sie saßen einfach nebeneinander auf dem Sofa und waren froh nicht alleine sein zu müssen. Sonnenstrahlen drangen durch die Fensterscheibe und die karamellfarbenen Gardinen, die das gleißende Leuchten in sanftes Schimmern verwandelten. Das war das erste, das Voice am Morgen wahrnahm. Dann fiel ihm auf, dass die Kälte fehlte und der Wind und der harte Beton unter ihm. Es war merkwürdig, ungewohnt und nach den zwei Jahren, die er jetzt auf der Straße zugebracht hatte, irgendwie auch ein wenig unangenehm. Er blieb nicht liegen, sondern schwang sofort seine Beine vom Sofa und stand auf. Einen Moment blieb sein Blick an der zerwühlten Decke auf dem dunkelroten Polstermöbel hängen, überlegte, wie er alles ordentlich machen sollte, doch stattdessen nahm er sich seine frisch gewaschenen Klamotten, die ordentlich zusammengelegt auf dem Tisch lagen und zog sie an. Hinter ihm fiel die Tür ins Schloss. Draußen schien die Sonne viel versprechend hell und freundlich vom Himmel, aber trotzdem war es unangenehm kalt, an den Fensterscheiben der Häuser an denen er vorbeikam glänzten filigrane Eisblumen. Seine Füße suchten sich ganz von allein ihren Weg in sein gewohntes Revier, in das Einkaufszentrum. Dort war es warm und die Luft schnitt nicht so aggressiv in die Atemwege. Es war merkwürdig, von keinem Menschen wahrgenommen zu werden. Alle gingen an ihm vorbei ohne ihn zu beachten. Er war einer von ihnen, ein ganz gewöhnlicher Mensch, der an einem ganz gewöhnlichen Tag einkaufen ging. Kein Schandfleck am Rand, dem alle entweder angewiderte oder mitleidige Blicke zuwarfen. Keine unangenehme Erinnerung an die Schattenseiten der Stadt, an die verlorenen Kinder der Gesellschaft. So stromerte er durch die Gegend und erkundete die Läden zum ersten Mal seit langer Zeit ohne die misstrauischen Blicke der Verkäufer und Verkäuferinnen. Erinnerungen holten ihn ein, Bilder, Töne und Gefühle drangen in sein Bewusstsein, die er schon so lange verdrängt hatte. Seine Eltern, sein Bruder, sein behütetes Leben bevor er seine Sachen gepackt und bei Nacht und Nebel verschwunden war. Seitdem hatte er sich selbst verboten, daran zu denken, denn er hatte Angst gehabt, dass sein Entschluss ins Wanken kommen könnte. Und nichts konnte schmachvoller sein, als nach so langer Zeit wieder vor seinen Eltern zu stehen, als heruntergekommene, gescheiterte Existenz. Irgendwann wurde es Abend und im Einkaufszentrum schlossen sich nach und nach die Ladentüren und so landete er am gleichen Ort, wie am Tag zuvor: In der kalten Ecke bei der Straßenüberführung. Hoffentlich fror es in dieser Nacht nicht wieder. Ein heruntergekommenes Pärchen schlenderte auf ihn zu. Na wunderbar, das hatte gerade noch gefehlt. „Guten Abend, Kleiner.“ Der kleine, dürre Mann mit dem aufgedunsenen Alkoholgesicht grinste abfällig. „Hast du dir gestern ein paar Kröten verdient?“ Mit einem ordinären Lachen zischte seine ebenso rot geäderte Freundin boshaft: „Stricher.“ Der Mann ignorierte sie und sprach weiter: „Sei so nett und gib uns was ab, ja? So unter alten Freunden.“ „Ich hab nichts bekommen.“ „Abgezogen worden, ja? Das glaubst du doch selbst nicht, Schwuchtel. Willst du Probleme bekommen?“ Sein Atem roch streng nach Schnaps, als er Voice unangenehm nah rückte. Plötzlich stand eine schlanke, hoch gewachsene Gestalt vor ihnen, das kurze Haar ungekämmt und durcheinander, als wäre er gerade erst aufgestanden. „Gibt’s Probleme?“ Nathans Blick glitt feindselig von einem zum anderen. „Aaaaahh…“ Der rot geäderte Blick des Mannes stierte in Nathans kantiges Gesicht. „Da kommt die Kavallerie.“ Voice nutzte die Ablenkung, um sich unauffällig an der Wand entlang von den beiden zu entfernen und an die Seite seines Helfers zu treten. Mit einem unauffälligen Zupfen an dessen Mantelärmel machte er ihn auf sich aufmerksam. „Lass uns gehen.“, murmelte der Junge ohne seinen Blick von den Betonfliesen unter ihnen abzuwenden. Also wandten sie sich ab und gingen, ohne die hinter ihnen her gerufenen Beschimpfungen des Alkoholikerpärchens zu beachten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)