Torn von Eruwen ================================================================================ Kapitel 8: Schatten der Vergangenheit ------------------------------------- Derselbe Weg. Es war derselbe Weg, den er damals nach dem Shurikentraining nach Hause genommen hatte. An jenem verhängnisvollen Tag, an dem er einmal die Zeit vergessen hatte und zu spät kam. Zu spät, um ihnen zu helfen...Wäre er nur besser gewesen...Wäre er nur schneller gelaufen...Hätte er nur auf die Zeit geachtet... Denselben Weg ging er jetzt, nachdem er das große Tor passiert hatte, das den Eingang zum Uchihaviertel darstellte. Und es war genau wie damals. Obwohl die Sonne schien, obwohl die Blätter leise rauschten, obwohl eine leichte Brise ihn umschmeichelte, spürte Sasuke nur die Kälte der Nacht, die ihm damals entgegengeschlagen war. Sah nur den Mond, der ihm höhnend entgegengeschienen hatte. Hörte nur die gespenstische Stille, die ihm damals Unheil verkündet hatte. Spürte nur die Gänsehaut, die langsam seinen Körper herunterkroch. Und sah anstelle der verblassten Blutflecken noch immer ihre Leichen, die seinen Weg gesäumt hatten. Spürte das unendliche Grauen, das ihn damals befallen hatte, als er an der Stelle vorbeikam, an der sein Onkel getötet wurde, weil er seine Tante beschützen wollte, nur um schließlich doch neben ihrem toten Körper zu liegen. Sein ganzer Clan, dahingemetzelt am Boden. Und seine Knie gaben fast nach, als sich Vergangenheit mit Vergangenheit mischte, und in der Gegenwart in seinem Kopf widerhallte. So deutlich sah er sie da liegen und so klar hörte er ihre Stimmen, wie sie nach ihm riefen, wie sie nach seinem Befinden fragten. Blickte in aufgerissene, tote Augen und sah freundliches Schmunzeln, Augenzwinkern. Doch nie wieder würde er diese wohlwollenden Blicke sehen. Nie mehr würden sie nach ihm rufen und ihm sagen, er solle sein Bestes geben. Damit der Clan stolz auf ihn sein konnte. Und doch war er so eine Schande... Sasuke musste den Impuls unterdrücken, zu seinem Elternhaus zu rennen. Er zwang sich, ruhig weiterzugehen und alle Eindrücke in sich aufzunehmen. Das ist dein Erbe. Das ist deine Pflicht. Du darfst nicht noch einmal wegrennen. Sei nicht mehr schwach! Du hast es geschworen! Es roch nach Tod. Und die Leere dieses riesigen Viertels drohte, ihn zu ersticken. Sie sind nicht mehr da, doch du bist ihnen verpflichtet. Seine Schritte hallten unnatürlich laut an den Wänden längst verlassener Häuser wider, nicht einmal Straßenkatzen lebten hier. Selbst die Tiere schienen die unheimliche Atmosphäre zu spüren und mieden diesen Ort, der nichts Gutes verhieß. Außer dir gehört niemand hierher. Die Einsamkeit ist der einzige Gefährte, der dir zusteht. Er wird dich stets an deine Pflicht erinnern. Ja, so war es. Er war allein. Und so musste es sein. Denn Rächer waren einsam. Sie mussten ihre Bürde allein tragen. Schließlich stand er vor seinem Elternhaus, in dem er auch nach dem Massaker gewohnt hatte. Viele seiner Senseis hatten ihm gesagt, er solle da wegziehen und ihm sogar angeboten, bei ihnen unterzukommen, doch wäre es einem Verrat an seinem Clan gleichgekommen. Und es ging niemanden außer ihn etwas an. Er war hier geboren und aufgewachsen, eingebettet in den Schoß der weitverzweigten Familie der Uchiha. Im Schatten seines Bruders. Itachi... Sasuke schluckte und führte seine Hand zur Tür, um diese zu öffnen. Seine Augen brannten verdächtig. Tou-san...Kaa-san... Mit zitternden Händen öffnete er die Tür und hasste sich für seine Schwäche. Wie sollte er sie denn jemals rächen, wenn er sich nicht einmal im Angesicht der Vergangenheit zusammenreißen konnte? Emotionen machen schwach. Du bist ein Rächer. Benimm dich auch so! Sei stark! Langsam schritt er zu jenem Raum, der, wie alle anderen, vollkommen unberührt geblieben war. Eine dicke Staubschicht war Zeugnis der ungestörten Ruhe. Niemand hatte das Bedürfnis gehabt, je dieses Haus zu betreten. Warum sollte das auch irgendjemand aus dem Dorf tun? Der Clan hatte sich immer abgeschottet und die beiden letzten Überlebenden waren Verräter. Bis heute. Vorsichtig wurde die Tür aufgeschoben und der letzte Clanerbe betrat den Raum, in dem die Seifenblase seiner unschuldigen Kindheit endgültig zerplatzt war. Fast meinte er, den stechenden Blick seines Bruders zu spüren. Er kniete sich vor den dunklen Fleck inmitten des Raumes, schloss die Augen und sah sie dennoch vor sich, wie sie dalagen, leblos übereinander. Seine stets so wunderschöne Mutter, fahl, die einst so strahlenden Augen geschlossen. Aus dem Mund, der sich immer für ihn zu einem warmen Lächeln verzogen hatte, rann nun scharlachrotes Blut. Ihre aufbauenden Worte, ihre liebevolle Art, ihre tröstenden Umarmungen: Vergangenheit. Und sein starker Vater lag auf dem Bauch, den Kopf auf die Brust seiner Frau gebettet. So wie er dalag, war von dem Stolz nichts mehr zu spüren. Seine große Gestalt, die kräftige Stimme, die ihn oft mahnte und ihn doch auch gelobt hatte, als er endlich das erste Feuerjutsu beherrschte: niedergezwungen. Und in all diese Erinnerungen hinein, von denen er nicht zulassen konnte, dass sie ihn je verließen, weil er es nicht durfte, flüsterte er leise: "Tou-san, Kaa-san. Ich bin wieder zu Hause. Und ich werde nicht eher ruhen, bis ich meinen Schwur, bis ich die Erwartungen des Clans erfüllt habe. Bisher war ich zu schwach. Gomen nasai." Dabei senkte er den Kopf und nahm seinen Augen den starren Fokus, der bislang auf jenen dunklen Fleck auf dem Holz fixiert war. Nun waren sie von geschlossenen Lidern bedeckt und so sah Sasuke nicht, dass seine Hand fest in seinen linken Unterarm gekrallt war, als wollte sie ihm den Halt geben, von dem er sich so weit entfernt fühlte. Lange verweilte er dort am Boden und kämpfte um Fassung. Zweieinhalb Jahre war er nicht hier gewesen. Zweieinhalb Jahre hatte er seinem Ziel entgegengearbeitet und fühlte sich doch so weit entfernt von dessen Erfüllung. Zweieinhalb Jahre hatte ihn diese starke Präsenz der absoluten Leere, der völligen Einsamkeit nicht jeden Tag damit erschlagen, wer er war, auch wenn er es wohl nie vergessen würde. Ein Rächer. Fukushuu-sha. ~*~ Kakashi war Sasuke unauffällig gefolgt. Erstens, weil es die Hokage befohlen hatte und zweitens, weil er sehen wollte, was Sasuke jetzt tun würde. Er war frei und konnte gehen, wohin er wollte, sofern er innerhalb der Dorfmauern blieb. Zunächst schien er ziellos umherzuwandern, doch dann wurden seine Schritte zielstrebig, bis er vor einem Tor stand, auf dessen Bogen ein riesiger Fächer prangte. Der Fächer. Sasuke sah auf und schien zusammenzuzucken. Er musste tief in Gedanken gewesen sein. Anscheinend führte sein Schützling einen inneren Disput, denn der Uchiha setzte sich nicht sofort in Bewegung. Nach einer kurzen Weile jedoch setzte er langsam einen Fuß vor den anderen und mit jedem Schritt schien er sich mehr zu verkrampfen. Er senkte den Kopf so weit, dass ihm seine Haarsträhnen vor die Augen fielen und ballte die Hände zu Fäusten. Kakashi konnte sich schon denken, was jetzt in dem Kopf des Jungen vorgehen musste. Die Vergangenheit hat ihn immer noch nicht losgelassen. Schließlich sah er Sasuke vor einer Tür stehen. Er hob seine Hand und hielt inne. Hatte er Kakashi jetzt doch bemerkt? Es war schon merkwürdig, dass das nicht eher passiert war. Zwar hatte der Jounin sein Chakra verborgen, doch er lief nun offen auf der Straße. Aber Sasuke merkte nichts. Einmal mehr krampfte sich dessen Hand zusammen und er öffnete die Tür. Weiter werde ich nicht in deine Privatsphäre eindringen. Obwohl Kakashi in diesem Moment seinem Schüler gern hinterhergegangen wäre. Er schien ziemlich mitgenommen zu sein, denn von seiner routinierten Vorsicht als Ninja war nichts zu spüren. Er war immer noch gefangen in der Vergangenheit. Hoffentlich hatte er wenigstens seine Rache aufgegeben. ~*~ Sasuke versuchte, sich zu beruhigen. Er durfte sich nicht so von Gefühlen überwältigen lassen. Schließlich war er ein Ninja, verdammt nochmal! Aber es war nicht so einfach. Und doch musste er sich beherrschen. Er würde Itachi niemals töten können, wenn er allein bei dessen Anblick mit den Erinnerungen kämpfen musste. Itachi... Nein! Er durfte nicht an ihn denken. Nicht an jenen Menschen, der ihm alles bedeutet hatte, zu dem er aufgesehen hatte und der ihn so lange schon verraten hatte. All die lieben Worte, das Lächeln, das nur für ihn erstrahlte, die Fürsorge, wenn er sich wehgetan hatte - Lüge! Ja, er hat dich verraten. Er war niemals der große Bruder, für den du ihn gehalten hast. Er ist nur ein Verräter! Und jetzt hör auf an ihn zu denken! Er sollte wirklich aufhören, an seinen großen Bruder zu denken, sonst würde er womöglich wieder diese Träume haben, die er nicht haben durfte und die er nicht ertragen konnte, denn sie führten ihm gnadenlos vor Augen, was er noch verloren hatte. Träume von einem geliebten großen Bruder, der auf ihn aufpasste... Oder die Träume, von diesem verdammten kleinen Bengel, der ihm verführerische Dinge ins Ohr flüsterte, auf die er nicht hören durfte. Nein, er sollte sich lieber einen sicheren Schlafplatz suchen, da der erste Tiefschlaf nach so langer Zeit versprach, grausam zu werden. Denn wahrscheinlicher war es, dass sie wiederkommen würden. Die Schatten der Vergangenheit. Und wieder und wieder würde er sehen, wie sie dahingeschlachtet wurden. Von seinem eigenen Bruder. Würde sehen, wie sie wiederauferstanden, ihm ihre anklagenden Gesichter zuwandten, ihn umringten und sie alle ihm sagten, dass er eine Schande sei. Dass er zu schwach sei. Dass er Itachi niemals besiegen könnte. Dass er es nicht wert war, diesen Fächer auf dem Rücken zu tragen. Dass er kein wahrer Uchiha sei. Dass er es nicht einmal wert war, durch die Hand des Clanverräters zu sterben. Das hatte ihm doch auch Itachi gesagt. Er war eine sinnlose Existenz. Und das Blut würde kommen. Das Blut, dessen furchtbaren Geruch er nicht ertragen konnte und dessen metallischer Geschmack ihm auch noch ins Bewusstsein folgte, denn oft verbiss er sich in seine Unterlippe, während er in seinen Alpträumen versank, um nicht zu schreien. Das hatte sein Unterbewusstsein ihm wohl bei Orochimaru so einprogrammiert. Bloß keine Schwäche zeigen, besonders nicht im Schlaf. Denn das war ihm schon einmal zum Verhängnis geworden. Immer nach dem Aufwachen waren diese verhassten Gefühle am stärksten, denn nachts, wenn der Geist wehrlos war, ließen sich die Gedanken nicht in die hinterste Ecke des Bewusstseins drängen. Dann krochen sie hervor und peinigten ihn. Denn er fühlte Schuld. Eine alleszerfressende, glühende Schuld für etwas, wofür er eigentlich nichts konnte, aber das zu begreifen, war Sasuke unmöglich. Er hätte nur stärker sein müssen, ein würdiger Uchiha sein müssen, wie es sein Vater gefordert hatte. Und doch war er nie fähig gewesen, diese Forderungen zu erfüllen. Schuld, weil er seine Pflicht nicht erfüllen konnte. Schuld, weil er sie nicht mehr erfüllen wollte. Schuld, weil er nicht einmal mehr den Willen hatte, die Pflicht seiner Familie gegenüber zu erfüllen. Schuld, weil er sich mit dem Verräter verbündete und so selbst zum Verräter wurde. Schuld, weil er so schwach war. Und diese Schuld führte zu Selbsthass, zu Zweifeln und zu so tiefer Trauer, dass sie ein Außenstehender wohl nicht begreifen konnte. Schuld, die ihn täglich begleitete und nachts besonders quälte. Wenn er Pech hatte, war sein Körper so erschöpft, dass er ihn nicht aufwachen ließ. Das konnte er ab und zu, wenn er merkte, dass die Träume begannen. Doch manchmal konnte er es nicht und er musste die Träume in ihrem ganzen Grauen durchleben. Besonders nicht, wenn er in einer tiefen Ohnmacht gefangen war. Dann brauchte er Hilfe von außen. Ein Wecker reichte da nicht... Wie es ihr wohl geht? Hier hatte er allerdings keine Hilfe. Konnte er es bereits am ersten Tag riskieren, sich schlafenzulegen? Sicher würde heute irgendjemand ein Auge auf ihn haben. Vermutlich Kakashi. Und der war leider viel zu gut darin, sein Chakra zu verbergen. Sasuke konnte nicht einmal einen Hauch wahrnehmen, wenn der Jounin es nicht wollte. Und er durfte niemandem zeigen, wie schwach er wirklich war. Wie sollte er stark sein, wenn alle anderen ihn für schwach hielten? Ein Uchiha war nicht schwach. Durfte nicht schwach sein. Außerdem konnte man diese emotionale Schwäche sehr gut gegen ihn verwenden. Auch das hatte er auf die harte Tour bei Orochimaru lernen müssen. Ganz davon abgesehen waren da noch diese anderen Befürchtungen... Hosted by Animexx e.V. 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