Vom gleichen Schlag von abgemeldet (~Eine Geschichte um God & Princess~) ================================================================================ Kapitel 4: ----------- Snake führte sie zu einem erhöhten Platz auf der Tribüne, wo sie beste Sicht auf das beginnende Spiel hatte. Dennoch fiel es ihr schwer, sich zu konzentrieren, weil noch immer Donivan und sein merkwürdiges Verhalten sie beschäftigten. Sie versuchte, mit Snake ins Gespräch zu kommen und ihn ein wenig auszufragen, doch Donivans sonst offensichtlich so lebhafter Freund schien nicht willens - oder auch fähig - ihr eine Auskunft über den Dialog mit dem älteren Jungen zu geben. Erschwert wurden ihre Bemühungen noch zusätzlich dadurch, dass Snake die meiste Zeit johlend mit einem Krepposter gefährlich nahe vor ihrem Gesicht herum wedelte und "Donivan! Donivan! 2 D!" brüllte, was es ihm manchmal unmöglich machte, ihre Fragen überhaupt zu verstehen. Irgendwann gab sie es auf, weil das Spiel sie mehr und mehr zu interessieren begann. Wie überall in dieser Schule herrschte auch in der Sporthalle ein Heidenlärm, obwohl es sich - wie sie dem an die Wand gepinnten Spielplan hatte entnehmen können - nur um ein internes Spiel zwischen den sechs zweiten Klassen der Hobson High handelte. Allerdings schien das die allgemeine Fußballbegeisterung der meisten Schüler nicht zu beeinträchtigen. "Hey! Das war doch glasklar ein Foul!" hörte sie jemanden direkt neben sich erbost zischen und erkannte weit unten Peter, Donivans Klassenkamerad, der in seinem zitronengelben T-Shirt - denn Trikots hatten sie hier offenbar auch nicht - zielstrebig über das Spielfeld wuselte und den Ball mit sich nahm, als sei er angewachsen. Zwar konnte sie so etwas nicht wirklich beurteilen, aber in ihren Augen spielte er sehr gut und sie glaubte nicht, dass er irgend jemanden gefoult hatte, denn dazu war er viel zu nett gewesen. Peter bremste ab und kickte den Ball geschickt durch eine Verteidigungslinie hinüber zu Thomas ("HOOLIGAN RULEZ!"), der den Pass mit einigen Schwierigkeiten annahm und ihn dann mehr oder weniger sicher ins Tor beförderte. "Toooor!" erscholl es Sekundenbruchteile später begeistert aus ihrer Reihe, die - ihren Nachbarn einmal ausgenommen - von 2-D-Anhängern beherrscht schien, bis selbst der Letzte mitbekommen hatte, dass sie und nur sie hier und heute gewinnen würden. "Tooor!" rief auch sie, ein bisschen leiser als der Rest, jedoch nicht weniger enthusiastisch, und beugte sich noch etwas weiter vor, gespannt was folgen mochte. Leider sah das, was tatsächlich folgte, verglichen mit Peters und Thomas' Leistung eher schwach aus. Terence, der rundliche Junge mit der Dackelfrisur, versuchte vergeblich, einem anderen - "2 B!" pries ihr Sitznachbar - den heißbegehrten Ball zu entwenden, doch erst mit der erneuten Hilfe von Thomas gelang ihm das. Terence dribbelte los und traf dabei wohl ein paar Schienbeine, was mit Buh-Rufen aus der gegenüberliegenden Publikumshälfte und an ihrem rechten Ohr quittiert wurde, ansonsten aber niemanden zu stören schien. Und jetzt trat ihm ein Mädchen in den Weg, eines der wenigen, das den Mut hatte, hier überhaupt mitzuspielen - "Die kenne ich doch!", schoss es ihr durch den Kopf, bestätigt von der Alarmsirene neben ihr: "Tiiiiger!" Tiger preschte vor, ihr rotes Haar leuchtend wie ein Warnsignal. Der arme Terence ergab sich diesem Namen und dieser Mähne augenblicklich, suchte sein Heil in der Flucht und überließ ihr reumütig den Ball. Sogar von ihrem erhöhten Platz aus konnte Wendy Tigers Grinsen sehen. Sie selbst freute sich für dieses Mädchen, das da unten gegen die Jungen spielte und sich Dinge traute, die sie im Leben nicht wagen würde. Tiger holte aus und wollte schießen - als ein schriller Ton sie auf der Stelle erstarren ließ. Wendy, das Kinn in die Hände gestützt, biss sich auf die Lippe. Eine größere Gestalt eilte über das Spielfeld auf Tiger zu und hielt ihr etwas entgegen. "Was, gelbe Karte? Du tickst wohl nicht mehr richtig?! Was soll ich denn bitte schön gemacht haben?" beschwerte sich Tiger verständnislos, die Fäuste in die Hüften gestemmt. "Ach, die rote passt also noch besser zu meinen Haaren? Weißt du was? Du kannst mich mal!" Den letzten Satz schrie sie fast, riss dem Größeren die Karte aus der Hand und stampfte so würdevoll wie möglich vom Feld. Kaum dass sie einen Schritt getan hatte, ertönte eine Woge des Protests, diesmal nicht nur von der gegenüberliegenden Seite, sondern von allen Bänken. Doch der größere Junge hob nur beschwichtigend die Hand und stellte sich wieder auf seinen Platz. "Scheeeeißschiiiiiri!" schrie es hasserfüllt zu ihrer Rechten. "Schiiiiebung!" Wendy blickte auf. Sie hob den Kopf, ihre Hände blieben hilflos in der Luft hängen. Zum ersten Mal seit Beginn des Spiels sah sie sich ihren Sitznachbarn genauer an - ein cholerischer, rotgesichtiger Schüler etwa in Snakes Alter, der definitiv auf der falschen Seite saß. Aber mehr noch als sein Aussehen bestürzten sie seine Worte - der große Junge auf dem Spielfeld war der Schiedsrichter, natürlich! Und vor allem, es war derselbe wie der, mit dem Donivan keine halbe Stunde zuvor so eindringlich gesprochen hatte! Donivan - Donivan erhielt den Ball und versuchte ihn in Richtung des fremden Tors zu manövrieren. Aber er spielte unsicher und vage und noch schlechter als Terence, sodass ein plötzlich auftauchender Gegner ihn ohne große Mühe völlig aus dem Gleichgewicht bringen konnte. Stumm rangen die beiden - zwei, drei Sekunden - der andere Junge wandte ihr den Rücken zu - vier, fünf Sekunden - nun drehte er sich um, Wendy sah sein braunes Haar, seine blauen Augen - sechs, sieben Sekunden - es war der, der sie an Gilbert erinnert hatte, der ihr so hilfsbereit den Weg gewiesen hatte. Dann rammte Donivan ihm das Knie in den Bauch. Der, den sie Gilbert nannte, keuchte und presste die Hände gegen seinen Magen. Doch Donivan zog ein so schmerzerfülltes Gesicht, als sei er derjenige, der getroffen worden war. Der Ball rollte beiseite und wäre ins Aus gegangen, wenn Peter nicht vorgesprungen wäre und ihn gehalten hätte. Aber er schoss nicht. Er wartete. Alle warteten. "Was ist? Worauf wartet ihr?", fragte der Schiedsrichter unwillig und ließ einen lauten Pfiff los. Kurz darauf ging der Ball für die 2 D ins Tor. Der Beifall hielt sich in Grenzen, selbst in ihrer Reihe. Sie hörte es nicht mehr. Sie befand sich noch immer in der Sporthalle der Hobson High School, wacher als je zuvor, aber sie hörte es nicht mehr. Sie konnte es einfach nicht fassen. Noch weniger konnte sie es begreifen. Und eines konnte sie am allerwenigsten, sich das noch länger antun! "Mir ist nicht gut, Snake," sprach sie die altbekannte Lüge aus, die heute, in diesem Fall, keine war, und ging. Donivan sah auf, zu dem Platz, nach dem zu sehen er in den letzten Minuten erfolgreich vermieden hatte, und sah, dass er leer war. Ihr Platz war leer und sie war fort. Teilnahmslos stand er da, ein toter Punkt im lebendigen Netz von Spielern und Ball. Er wünschte sich nichts sehnlicher als die rote Karte, die er, das wusste er genau, nicht bekommen würde. Dafür hatte er schließlich selbst gesorgt. Vielleicht ist sie nur auf die Toilette gegangen, redete er sich ein, doch er glaubte nicht daran. Mit den Fehlern war es wie mit den Hausaufgaben, man musste sie machen und wenn man damit nicht fertig wurde, war man selber schuld und bekam zur Übung gleich noch einmal das Doppelte auf. Sein Fehler war wohl, dass er seinen Plan nicht gut genug geheimgehalten hatte. Und das Doppelte hieß jetzt nur eins: Weiterspielen. Gewinnen, um das Verlorene zu vergessen. Eine Viertelstunde später hatte er gewonnen, doch das Verlorene war das Einzige, woran er denken konnte. Wie viele Fehler zuvor stürzte er aus der Umkleidekabine der 2 D, die trotz des überraschenden Sieges wortkarg und nicht zu Scherzen aufgelegt war, und wie zuvor rannte er fast in jemanden hinein - was hieß fast, er prallte mit voller Wucht gegen ein Mädchen, dass er zuerst für Wendy hielt, weil sie brünette Locken hatte und kleiner war als er. Aber hier hörten die Gemeinsamkeiten auch schon auf, denn ihre Augen waren von einem warmen Braunton und das viel dunklere Haar fiel ihr offen über die Schultern "Entschuldigung," sagte er atemlos und ihm wurde fast schlecht bei dem Gedanken, dass er vor nicht allzu langer Zeit jemandem das Knie so fest wie möglich in den Bauch gerammt hatte, ohne auch nur etwas Annäherndes sagen. "Nicht schlimm," meinte sie lächelnd, "Ich bin ja auch gerannt, ich suche nur meinen Cousin, er hat sich beim Fußballspiel verletzt." Er spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg. Aber wenn sie ihn erkannte, so ließ sie sich nichts anmerken. Auf einmal fiel ihm auf, dass sie ihn schon eine ganze Weile ansah, doch sie schwieg, hatte nur wieder dieses eigentümliche Lächeln auf den Lippen, aus dem fast so etwas wie... Mitleid sprach? Es störte und fesselte ihn gleichermaßen, nahm der Begegnung jede Flüchtigkeit und machte es ihm so unmöglich, sie zu beenden. "Was... was hältst du von Fußball?" fragte er das ihm völlig fremde Mädchen aufs Geratewohl und war sich durchaus bewusst, dass seine Frage nicht gerade von Intelligenz strotzte. Unerwartet wurde sie ernst. "Ich frage mich, warum man sich um einen Ball streiten muss, wenn doch alle einen haben können?" Noch einmal ein Lächeln, ein leises Lachen, ehe sie weiterging. Er konnte beim besten Willen nicht einordnen, ob es er, sie oder ihr Cousin war, über den sie lachte. Wie hatte er sie nur mit Wendy verwechseln können? Sie sah ganz anders aus. Er fand sie am Parkplatz, dort, wo seine Mutter sie beide hatte abholen wollen. Die Arme eng um die Schultern geschlungen, stand sie da und blickte ins Leere, als ob sie innerlich bereits sehr weit fortgegangen war. "Wendy!" rief er. Plötzlich erwacht, fuhr sie herum. Zerzauste Strähnchen, die sich aus der festen Frisur gelöst hatten, umflatterten ihren Kopf und gaben ihr das Aussehen eines zerrupften Jungvogels. Die Tränenröte betonte ihre blauen Augen in dem blassen Gesicht und ließ sie größer erscheinen, als sie tatsächlich waren. Sie wirkte wie ein Mensch aus Porzellan, jemand Zerbrechliches und Beschützenswertes, doch Porzellan war gleichzeitig auch ein ebenso hartes und scharfes Material. Schweigend sah sie ihn an. Er las von Zweifeln, Verwirrung und Angst, ihren Verdacht bestätigt zu sehen, Angst, die sie die Flucht hatte ergreifen lassen, bis er sie hier eingeholt hatte. Den ganzen Weg war er gerannt, getrieben von der irrationalen Hoffnung, sie möge es nicht herausbekommen haben. Nun besiegte ihre Angst seine Hoffnung. Ihr Blick zwang ihn, es ihr gleichzutun und ebenfalls haltzumachen. Einen Moment lang teilten beide die selben Gefühle, fürchteten beide die Konfrontation. Sie konnten versuchen, sie zu verdrängen, sie aufschieben und unter Ausflüchten begraben, aber eines Tages würde sie kommen. Weil sie unausweichlich war. "Ich frage mich, warum man sich um einen Ball streiten muss, wenn doch alle einen haben können?" hatte ein fremdes Mädchen zu ihm gesagt und über diese sonderbare Welt gelacht. Er gab sich einen harten Ruck und ging weiter, weiter, bis sie einander gegenüberstanden. "Donivan," fragte sie ihn, "hast du den Schiedsrichter bestochen?" "Ja," sagte er, "das habe ich." Alles hätte sie geschluckt: Eine Ausrede, einen Versuch der Rechtfertigung, eine Lüge, ganz gleich wie durchsichtig - sie hätte sie geschluckt, weil es ihren Erwartungen entsprach. Jeder log, wenn die Situation es erforderte: Ihre Eltern, seine Eltern, sie und er. Man bog die Wahrheit ein wenig zurecht, drapierte sie hübsch, beschattete die unschönen Seiten, verdeckte die häßlichen Schmutzflecken. Da war nichts Schlimmes bei, es machte das Leben erträglicher. Dieses Leben, bei dem man Schritt für Schritt nebeneinander herging, die gleichen Sorgen, Zweifel und Ängste mit sich trug, ohne sie jemals zu teilen, von diesen Sorgen niedergedrückt wurde, bis man schließlich, irgendwann, zu Boden fiel und nicht mehr weitergehen konnte. Die Lüge half und verhinderte, dass man stehenblieb, seinem Gegenüber in die Augen blickte und Dinge erkannte, die das reibungslose Nebeneinander zerstörten. So oft hatte sie es erlebt, sich daran gewöhnt und gelernt, damit umzugehen. Sie hatte geglaubt, dass er es genauso hielt. Aber seine rückhaltlose Ehrlichkeit jetzt, hier, in diesem Moment, war mehr als sie ertragen konnte. "Und wieviel hast du ihm gegeben?" erkundigte sie sich, ein verzweifelter Versuch, sachlich zu bleiben, ihre Stimme, die es nach oben zerrte wie ein angebundenes Pferd, im Zaum zu halten und sich nicht von seiner Wahrheit fortreißen zu lassen. "100 Dollar," sagte er. "100 Dollar!" fauchte sie, als hätte er ihr gerade erzählt, dass er den Eiffelturm gekauft hatte, "Und wovon hast du das bezahlt?" "Von meinem Taschengeld natürlich," gab er zurück. Auf seinen Lippen lag ein Lächeln, das so scharf war wie ein Rasiermesser. Doch es war ein zweischneidiges Messer, das sie beide verletzte. Sie fühlte, wie es tief in sie schnitt und wie aus dem Schnitt etwas hervorquoll, was sie mit aller Kraft unterdrückt hatte. Und endlich reagierte sie. Sie schrie: "Warum hast du das gemacht? Du gottverdammter Idiot, warum um alles in der Welt hast du das gemacht? Wie konntest du bloß so gemein und hinterhältig und unehrlich sein? Warum hast du Gilbert weh getan und Tiger verraten und Alice ihr Wunderland kaputt gemacht? Warum?" "Ich musste gewinnen," sagte er, "weil du dabei warst und zugesehen hast. Und da ich das anders nicht bewerkstelligen konnte, habe ich Sheldon das Geld gegeben." Es lag kein Vorwurf in seinen Worten, es war, als er erkläre er einfach nur eine simple Tatsache. ,Das Donivansche Gesetz besagt demnach: Wendy => Gewinnen = Geld + Schiedsrichter', genauso hätte es in "Physik für Mädchen" stehen können. Und das machte sie rasend. Sie sah ihm in die Augen. Sie waren blaugrün und fast immer ein wenig zusammengekniffen, als dächte er angestrengt nach oder versuchte, etwas in der Ferne zu entdecken. Sie konnten freundlich und tröstend blicken und angespannt und nervös, manchmal vielleicht auch ein bisschen überheblich und eingebildet, doch noch nie waren sie ihr so kalt erschienen. "Du bist so dumm! Du bist so dumm! Wie kannst du nur so DUMM sein? Ich hasse dich!" schrie sie weinend, schlug ihm ins Gesicht, wollte ihn aufwecken, seinen Ausdruck ändern, sein Handeln rückgängig machen - vergeblich. (c) by Amber 2003 Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)