Schneestürme aus der Hölle von Inzestprodukt (ehemals 'Sie können dich zerbrechen') ================================================================================ Kapitel 7: Eines von fünf Messern trifft ---------------------------------------- So eigentlich stand hier viel Gejammer darüber wie ich mich ärgere, im Krankenhaus zu liegen und alles aber da ich wieder da bin… tada, ich bin zurück! ------------------------------------------- „Das kannst du nicht ewig machen, das weißt du.“ Ob er nun mit sich selbst sprach war ihm nicht ganz bewusst, denn streng genommen gab es momentan zweierlei Aspekte, die sich durch diese Aussage angesprochen fühlen durften. Beide zielten auf ein und dieselbe Sache ab und egal, in welche Richtung man nun drehte und wendete – es war durch und durch illegal. Daher also der unüberlegte Satz im Kopfe des Mannes. Mit der Erkenntnis, wissentlich gegen alles zu verstoßen, was ein halbwegs geschulter Verstand als unmenschliche und zutiefst abstoßende Handlung deklarieren würde, fühlte er sich noch erstaunlich unantastbar; zumindest, bis man eine Razzia in seinem Heim durchführen und den Kern seiner Sorge finden würde. Dieser zumindest stand mit der Nase an der Wand; sprichwörtlich, dennoch berührte er sie beinahe mit dieser. Und dies nun schon seit einigen Tagen, denn immer, wenn er sich in der Verhaltensbeobachtung seines Geiselnehmers befand, stellte er sich nach einigen lustlos irritierten Schritten vor die neutral weiße Wand und starrte diese an; bis man ihn wieder an den Schultern herausführte; der Mann mit dem Kittel nahm ihn meist an die Hand und vermittelte ein beunruhigend vertrautes Gefühl. ‚Geiselnehmer’ war ein sehr hartes Wort für seine fürsorgliche Hingabe, fand Raphael. Immerhin hielt er Michael nicht gegen dessen Willen bei sich gefangen, sondern handelte im Interesse der Medizin, indem er das Verhalten des nun Schwarzhaarigen… „Mika-Chan!“ Es war wieder passiert und erneut hatte er nicht rechtzeitig gehandelt; die Arme ausgebreitet und weiterhin die Wand anstarrend brachen mit einem Mal die Flügel des so zerbrechlich wirkenden Engels aus eben seinem Rücken empor, ein unbeholfener Schlag, ein verzweifelt erstickter Windhauch und dann sank der andere mit der Stirn gegen die Wand, rutschte zitternd an dieser herab und drehte im Fall gerade noch einen Teil seines Körper, sodass er nicht einfach mit dem Kinn aufschlug, sondern seitlich landete und schließlich in einem Zucken auf dem Boden liegen blieb. Die Flügel zogen sich bis dahin wieder zurück und hinterließen nur noch den geschwächten Kinderkörper. Mit einem Satz sprang Raphael über das vor kurzem aus räumlichen Trennungszwecken angebrachte Handgitter, hinter dem er sich befunden hatte und eilte in den ansonsten vollkommen leeren Raum. „Was ist nur los?“ Er schob seine Hand unter den zitternden, in sich nur halb zusammengerollten Körper und zog ihn in die Höhe, überprüfte rein aus Gewohnheit die Vitalzeichen des Feuerengels und hob diesen schließlich auf die Arme. „Das können wir wirklich nicht ewig so machen, hm?“ Seufzend drückte er ihn schwach an sich heran, brachte ihn aus dem Raum heraus. Wie zu erwarten waren die hellen Augen Michaels weit aufgerissen und starrten scheinbar in das Antlitz des anderen Erzengels, doch er wusste es besser. Leider. „Schlafen“, informierte er ihn vollkommen überflüssig, denn passieren würde dies ohnehin erst, wenn der Körper vor Erschöpfung kapitulierte. Als Raphael ihn im Bett abgelegt und zugedeckt hatte, überkam ihn ein bis jetzt emotional unterdrückter Drang nach altbekannter Nähe, doch zögerte er, biss sich sogar in einem Anflug von Verzweiflung auf die Unterlippe. „Ich bin gleich bei dir, warte hier…“ Das konnte er nicht ohne ein gewisses Maß Eigensarkasmus sagen, denn weggehen würde Michael in diesem Zustand bestimmt nicht. Was auch immer dies für ein Zustand sein sollte. Raphael überraschte sich selbst, welch Ruhe er momentan walten ließ und zündete sich auf dem Weg zurück in das zweckentfremdete Gästezimmer, in welchem er Michael momentan beobachtete, noch eine Zigarette an. In aller Ruhe betrat er den auf die Schnelle ausgeräumten und weiß übergestrichenen Raum, schaute von seinem Platz aus in die Ecken. Wenigstens mit einer abgerissenen Tapete hätte er in den letzten zwei Wochen gerechnet; mit einem Wutausbruch, angeschrieen werden, Verbrennungen. Nichts. Ruß, Wut, Zerstörung – nichts hatte der Raum ertragen müssen. Raphael bückte sich nieder, fasste seinen Notizblock und den fallen gelassenen Stift und schaute mit einem doch eher desinteressiertem Blick auf seine eigene Handschrift; viel stand dort nicht geschrieben und so ergänzte er unter die paar wenigen Informationen vom heutigen Tage noch die, dass der Schwarzhaarige wieder zu Boden gefallen war. Danach streckte er sich die beiden Utensilien in die Tasche seines Kittels und warf noch einen letzten Blick in den Raum, ehe er sich umdrehte und mit dem erlöschenden Licht einen weiteren, gescheiterten Tag abschloss. Die Zigarette fand ein trostloses, nur halb erfülltes Ende in einem Aschenbecher im durchquerten Wohnzimmer, dann zog er sich auf dem Rest des Weges noch den langen Kittel aus und schob die Tür wieder auf, hinter der sich das Objekt der Begierde… das war übertrieben, doch dort war eben Michael. „Ich bin zuhause, Liebling.“ Schmunzelnd trat er ein, schloss die Tür mit einem leisen Einrasten und ging langsam auf das Bett zu, in welchem der Engel des Feuers unverändert liegen geblieben war. Keine Reaktion auf den scherzhaften Satz; nicht einmal eine abfällige Bemerkung, ein Schnaufen. Ein Anspucken wäre schon fast schön. Einen letzten, zweifelhaften Moment blickte der Blonde auf seinen ‚Schützling’ herab, schlüpfte dann jedoch aus seinen Schuhen heraus und ließ sich vorsichtig auf die Matratze sinken, richtete dabei konsequent den Blick auf das blasse Gesicht vor ihm, doch weiterhin: Keine Regung. „Na? Was soll ich noch mit dir machen, hm?“ Seufzend erhob er die Hand – und erzielte tatsächlich eine Regung. Schwach, kaum als solche zu erkennen und leider entging sie somit auch Raphael, denn das ohnehin verstörte Starren des Kleineren bewirkte, dass er den Anflug von Angst nicht bemerkte und ungehindert mit der Hand nach ihm langte. Vorsichtig erfasste er eine der schwarzen Strähnen, drehte diese schon beinahe zärtlich in seinem Finger ein, ließ dann die flache Hand über den ungewohnt kühlen Kopf gleiten. „Was ist nur mit dir passiert? Immer muss ich mich um dich kümmern, irgendwann verlange ich deswegen einen Mindestlohn, jeder vierzehnjährige Babysitter hat mehr von der ganzen Sache.“ Ein Bein zog er mit auf das Bett, drehte sich ihm mehr zu und beugte sich auch ein geringes Maß nieder, ließ die Hand über das durch und durch angespannte Gesicht gleiten, befühlte die Wange. Die Zähne knirschten etwas durch die Spannung, die Michael in seinem Kiefer aufbaute, doch diesen davon abzuhalten wäre ein im Gegensatz zu allem, was ihm momentan zu fehlen schien, ein wirklich banales Unterfangen und so hielt Raphael sich in diesem Punkt vorerst zurück, zog nun noch das zweite Bein hoch und gestattete sich selbst, neben ihn zum Liegen zu kommen, den Kopf im freien Arm gebettet und die Augen fest auf die zitternde Gestalt gerichtet. Dass er sich in den letzten zwei Wochen auf irgendeine aufdringliche oder auch nur freundschaftliche Art angenähert hätte, wäre eine reine Lüge. Ob es eine Frage von Respekt war, konnte der Blonde nicht sagen. Den hatte er zweifelsfrei in einem beinahe unnatürlich hohem Maße, doch im Moment konnte man darauf weniger Rücksicht nehmen, denn wenn Michael Herr seiner Sinne – und das war er momentan schlicht weg nicht – wäre, würde er sich niemals von Raphael waschen lassen. Aber er musste es tun, niemand sonst würde ihn anfassen, niemand durfte ihn anfassen. Klingt ja beinahe, als hättest du versucht ihn flachzulegen schlug sich ein Gedanke den Weg nach vorn und ließ ihn abermals unpassend schmunzeln. Was würde mehr einer Vergewaltigung gleich kommen, als den nun so wehrlosen Michael mit sich zu nehmen? Und eben das war der Punkt, an welchem sich der nicht sonderlich vorbildliche Gedanke verfestigt hatte, ihn bei sich zu behalten. „Was hätte ich denn machen sollen?“, murmelte er leise und streichelte abermals das kindliche Gesicht vor sich, suchte sich abermals eine Kleinigkeit heraus, mit der er sein Verhalten vor sich selber rechtfertigen konnte. „Wenn dich der Richtige in diesem Zustand sieht… haben wir nicht mehr viel Freude an dir.“ Oder war es nur er selbst, der die Gesellschaft des eigentlichen Rotschopfes zumindest meistens als angenehm empfand? Wenn er nur an Uriels Verhalten dachte… Unter seiner Hand regte sich das Gesicht und zog somit wieder die volle Aufmerksamkeit des Heilers auf sich, welcher mit einem Seufzen näher an den kleinen Gast rückte, einen Arm über dessen Hüfte schob und ihn in minimalistischer Präzisionsarbeit an sich heran zog, mit der Hand über den durch und durch angespannten Rücken strich. „Alles wird gut“, brach es in einer Standartfloskel aus ihm heraus, während der Blonde sein Kinn auf den so ungewohnt scheinenden Haaren ablegte, sich nicht traute die Augen zu schließen. „Mika-Chan… du musst wieder du werden, hörst du? Ich brauche das, ohne dich geht hier alles ein… sie suchen schon nach dir.“ Und das bedeutete, dass sie ihn früher oder später wahrscheinlich entlarven würden. Sie würden ihn ihm wegnehmen. Egoistisch, oder? In seinen Armen ließ das Zittern etwas nach, die verkrampfte Haltung der Hände, die ihm schon früher aufgefallen war, lockerte sich jedoch kaum. Prüfend drehte er den Kopf herum und betrachtete den Engel vor sich, drückte mit den Fingern in einer fachmännischen Gewohnheit – eines seiner Laster, welches eben bei jahrelanger Patientenfürsorge langsam in Entwicklung trat – immer wieder über die Muskulatur des Rückens, über die Schulterblätter, an denen sich die imposanten Schwingen bildeten. Warum sie sich immer wieder unkontrolliert ausbreiteten, war ihm ebenso ein Rätsel. Schon eigenartig, dachte Raphael. Wir Engel sind doch wirklich ein seltsames Völkchen. Kaum einer kann sich vorstellen, wie unsere Flügel funktionieren, wie wir sie einfach willkürlich heraufbeschwören können. Wo verschwinden schon Knochen und Blut, Federn; die großen Schwungfedern und die weichen Daunen… wo ist das alles… jetzt? Ein Mensch würde uns nie verstehen… „Das müssen sie auch nicht, solange wir uns haben, nicht wahr?“ Noch einmal streichelte er über den Rücken, ließ die Hand dann auf dem linken Schulterblatt liegen, übte dort schwach kreisende Bewegungen aus. Wie gern würde er die Schwingen des Feuerengels genauer betrachten, sie einfach nach einem Defekt untersuchen und seine Finger in den strahlend weißen Federn vergraben. Dass er sich die insgesamt sechs Flügel mit Luzifer teilte, machte die ganze Sache noch einmal etwas komplizierter, denn Raphael wusste, dass sein ‚Mika-Chan’ nie wirklich allein war. So sehr er sich diesen Zustand auch selbst herbei sehnte – Michael war es nicht. Niemals. Er verdrängte diese Tatsache vielleicht erfolgreich für ein paar Äönchen, doch irgendwann brach die Erkenntnis wieder aus ihm heraus und die enge Verbundenheit zu Luzifer ließ etwas in dem eigentlich roten Kopf aussetzen. Dass dies der Grund für zahlreiche Todesfälle unter den Engeln war, die zu dem Zeitpunkt das ungemeine Pech hatten Michael zu begegnen, wusste Raphael. Es war ohnehin ein offenes Geheimnis unter den paar wenigen ‚Vertrauten’ des Feuerengels, dass der bloße Gedanke an Luzifer einen Schalter umkippte. Man sollte meinen, dass dies nach all den Jahren des provisorischen Friedensabkommens mit dem Herrn der Unterwelt zumindest einen winzigen Funken brüderlicher Zuneigung in dem kleinen Erzengel ausgelöst haben sollte, da dieser ja ohnehin unklar mit seinen eigenen Gefühlen in Hinblick auf den ‚älteren Zwilling’ war, doch dem war nicht so. Man könnte meinen, Michael fühlte sich hintergangen und obgleich er sich – meistens – an den von ihm so verhassten Vertrag hielt, gab es doch genügend ausschweifende Erlebnisse, an die sich der Heiler spontan erinnerte. Da wäre diese Wunde im Fuß seines Freundes nach dem Ausflug mit Camael, zahlreiche Knochenbrüche, die in den Augen des Verletzten jedoch kaum der Rede wert waren und dann doch unter Zwang einer Behandlung zum Opfer fielen… das passierte nicht beim Trainieren. „Und du warst bestimmt nicht allein, als das hier mit dir passiert ist.“ Was es auch war, es musste ein Ende finden; es raubte Raphael seine Komponente, seinen Stand. Ja, er war eben durch und durch egoistisch. In seinen Armen zuckte es, lenkte somit wieder wahrscheinlich eher ungewollt die Aufmerksamkeit des Größeren auf sich, welcher nun doch einen geringen Abstand aufbaute, um den anderen wieder ansehen zu können. Wie eine starre Puppe lag Michael dort, die Augen noch weit offen und die Hände an die Brust gezogen. Raphael richtete sich auf, schob die Beine vom Bett herunter und tastete mit der Hand den Brustkorb des verkrampften Engels ab, vor welchem die Finger starr ineinander gehakt waren. Raphael fuhr mit dem Zeigefinger über den Handrücken des Schwarzhaarigen, hob eine Augenbraue an und beugte sich wieder herab, nahm dabei einen roten Schimmer unter all dem schwarzen Haar wahr; es wuchs nach, würde aber noch einige Zeit in Anspruch nehmen, bis man den alten Michael wieder erkennen konnte und ihm das Haar nur auf Grund der dunklen Farbe vom Kopf zu schneiden brachte Raphael nicht übers Herz. Der Zopf war schon eine hohe Entbehrung, bei dem geringen Haarwuchs hatte es ewig gedauert, ehe er halbwegs zufrieden mit sich gewesen war. Natürlich, er war in erster Linie Soldat und eigentlich sollte es ihm da egal sein, wie er auf andere wirkte; das war auch zu größten Teilen der Fall, doch einen gewissen Grundsatz Arroganz besaß schließlich jeder von ihnen. Wieder und wieder runzelte Raphael an diesem Tage die Stirn, nun jedoch nicht aus Unverständnis für den Feuerengel und dessen Verhalten, sondern… „Bleib hier, Mika-Chan. Schlaf gut.“ Fürsorglich und mit höchster Sorgfalt zog er die Decke über den seitlich liegenden Körper, zog sich seine Schuhe wieder an und überprüfte noch einmal zügig den Puls des Kleineren und strich ihm dann mit der Hand fürsorglich zum Abschied über die Wange, ging dann langsam und leise aus dem Raum heraus. Vollkommen allein würde er ihn ohnehin nicht lassen, seine Arbeit ruhte ebenso seit dem Erscheinen des nächtlichen Eindringlings. Das war nun einmal der Vorteil, wenn man als leitender Arzt eines Krankenhauses fungierte – er konnte sich Urlaub nehmen und mit fadenscheinigen Begründungen etwas Zeit herausschlagen. Sicherlich nicht mehr lange, selbst Barbiel schien den Grundprozess eines Verdachtes zu schöpfen, doch immerhin noch einige Zeit. Genug würde es dennoch nicht sein, das würde an ein kleines Wunder grenzen. „Was machst du hier?“ Die Tür hatte er möglichst lautlos geschlossen, auch der Weg zurück wurde mit einem kleinen Schlenker bewältigt; wer wusste schon, was sein ungebetener Gast für Beweggründe hatte? Natürlich war es vollkommen überflüssig und im Endeffekt würde Michael auch schnell gefunden werden, wenn man es denn auf ihn abgesehen hatte. Dennoch fühlte Raphael sich geradezu dazu verpflichtet, jeden verzweifelten Halm zu ergreifen und den Feuerengel so lange in Schutz zu halten, wie es mit seinen begrenzten Mitteln möglich war. Dass man seine Astralkraft nicht lesen konnte, war zudem ein relativ hilfreicher Aspekt, den er zwar noch irritiert aber dankbar zur Kenntnis genommen hatte. In der Hand hielt sein Besuch eine kleine Figur, drehte sie und stellte sie dann wieder achtlos auf den Wohnzimmertisch ab, wobei Raphael sich beinahe sicher war, dass sie eigentlich hinten auf der Theke stehen sollte. Nun ja, seine Inneneinrichtung änderte sich durch Michaels Besuche des Öfteren, die meisten Dinge gefielen ihm wahrscheinlich nicht einmal wirklich und standen nur zur Tarnung herum. Wobei diese Besuche nun schon einige Zeit her waren. „Ich wollte nur nach dir sehen. Man hört nichts von dir, seit neustem gehst du nicht mehr zur Arbeit und skandalöse Frauengeschichten bleiben auch aus. Irgendwer muss ja sichergehen, dass du wirklich du bist.“ „Stell das Ding wieder hin, ich bring dir ein Getränk.“ Die vorherige Aussage übergehend schritt er vorbei, nahm eines der Gläser von der Halterung in der Küche und füllte in eigenmächtiger Entscheidung etwas Mineralwasser ein, nahm sich selbst nichts; er hatte kein Bedürfnis, den charmanten Gastgeber zu mimen und hoffte so ein Zeichen zu setzen, ihn bitte bald wieder allein zu lassen. Der ungebetene Besuch hatte die wieder aufgenommene Figur erneut abgestellt und sich auf einen Sessel niedergelassen, nahm dankend das Glas entgegen, stellte es jedoch unangerührt auf den Tisch, neigte den Kopf und fasste den Blonden ins Auge. Dieser hatte sich in auf die Couch fallen lassen, erwiderte den Blick mit möglichst wenig Ungeduld im Gesicht, denn genau diese zog ihm durch die Adern; er konnte das gerade wahrlich nicht gebrauchen. „Also?“ Ein Schmunzeln von der anderen Seite, welches er jedoch schlagartig als unecht entlarvte; seine Höflichkeit ließ es aber nicht zu, ein Wort darüber zu verlieren. „Ich hab es doch gesagt. Ich wollte nur nach dir sehen. Wie geht es dir? Was macht die Arbeit?“ „Ich esse genug, ich schlafe regelmäßig, ich putze mir gehorsam meine Zähne, wasche mich hinter den Ohren, nehme keine Süßigkeiten von Fremden an und hätte ich Hausaufgaben, würde ich sie noch vor dem Spielen erledigen.“ Das Schmunzeln seines Gegenübers verwandelte sich in ein fahles, unamüsiertes Lächeln, die blauen Augen wurden eine Spur härter; er befand sich auf Messers Schneide, doch auch vor ihm saß jemand mit einer ausgezeichneten Erziehung und einem zu hohen gesellschaftlichem Stand, um sich zu einer wütenden Aussage hinreißen zu lassen. Trotzdem war die Verärgerung über den Spott deutlich zu spüren. Teilweise kapitulierend lehnte sich der Engel des Windes zurück und breitete die Arme auf der Kante der Rückenlehne aus, seufzte nun doch ungehalten. „Ich hab mir etwas Urlaub genommen und verzeih wenn ich da falsch liege aber wir hatten noch nie den meisten Kontakt. Was nicht heißt, dass ich mich nicht über deinen Besuch freue, aber im Moment kommst du leider etwas ungelegen. Ich habe wirklich zu tun und sollte bald möglichst wieder den Raum verlassen. Wir können das gern verschieben und wenn du mich das nächste Mal vorher informierst, mache ich uns etwas zu essen oder eher lasse ich uns etwas bereiten, wir könnten uns mal wieder unterhalten, wie wär’s? Du hast doch deine alte Position wieder eingenommen und…“ „Raphael…“ „Nein wirklich, wir holen einfach etwas nach. Meine Güte wir sind ja quasi eine Art Familie, es ist schon fast traurig, dass wir alle so wenig miteinander in Kontakt stehen. Natürlich, Mika-Chan und ich haben uns hin und wieder gesehen aber da war von Zuneigung wohl kaum die Rede, du weißt ja, wie er sein kann. Ich frage mich, warum wir nicht schon viel eher…“ „Raphael, wirklich…“ „…ßerdem wird das doch alles ziemlich eintönig. Immer nur arbeiten, arbeiten, arbeiten… Klar Berufung und alles aber irgendwo will man ja auch noch leben und…“ „Sei doch bitte einmal…“ „… und sowieso sind wir immer die, die am Ende den Schaden zu tragen haben. Und das nur, weil…“ Sein Redeschwall stoppte abrupt, als ihn der Inhalt aus dem Wasserglas im Gesicht traf. Verdattert blinzelte er, doch da zog sich die Nässe bereits zurück und landete wieder dort, wo sie hergekommen war. Jibril lächelte nun wirklich, jedoch aus Verlegenheit. „Entschuldige… und mir ist bewusst, dass wir trotz unserer gesonderten Stellung keinen wirklich nennenswerten Kontakt gepflegt haben; im Nachhinein können wir viel bereuen aber wenig wieder glätten. Das ist aber nicht der Grund, warum ich hergekommen bin.“ Ausgebremst blickte der Blonde den weiblichen Erzengel an, beugte sich schließlich auf den eigenen Beinen gestützt etwas nach vorn, zog sich eine Zigarette aus der Hemdtasche, jedoch mangelte es danach am Feuer, so musste er sie wieder wegstecken. „Denkst du, ich bin vollkommen verblendet?“ Die Stimme war weniger euphorisch als gerade noch, eher gedrückt. Er war genervt. „Vor ein paar Tagen war Uriel hier und er und ich haben weiß Gott nicht das beste Verhältnis zueinander gehabt… trotzdem taucht er hier auf und fragt angeblich ganz nebensächlich nach meinem Befinden und ob ich in meiner Suche nach Mika-Ch… Michael einen Hinweis erzielt habe…“ Wieder suchte er nach einem Feuerzeug, entdeckte schließlich eine Schachtel Streichhölzer hinter dem Sofakissen und zündete sich die lang ersehnte Zigarette an. Mit einem sehnsüchtigen Zug inhalierte er den ersten Schub, fuhr sich mit der freien Hand durch das Haar. „Was denkt ihr? Dass ich ohne Mika-Chan nicht lebensfähig bin? Er ist unterwegs, hat sich ein Kampfschiff genommen und bricht mal wieder den Friedensvertrag, indem er ein paar Dämonen wegfegt, mischt ein paar Kampftruppen auf oder jagt sich ein neues Fell oder sonst was für sein Schlafzimmer, wieso sollte ich mir Sorgen machen? Das ist doch… das ist Schwachsinn.“ Ein leichtes Lachen kam ihm am Ende über die Lippen, den Blick hatte er demonstrativ von Jibril abgewandt, welche ruhig auf ihrem Platz verharrte, ihn betrachtete. „Das ist nicht wahr.“ Sie erhob sich, straffte die Körperhaltung noch einmal und begab sich dann langsam zu der Couch, auf welcher der Engel des Windes saß. Raphael schaute auf und stellte fest, dass sie wie so oft ein Kleid trug; Bodenlänge, kaum Ausschnitt, freie Arme, ein dünner Schal um den Schultern, um nicht zu viel Haut zu offenbaren. Langsam ließ sie sich neben dem Blonden nieder, atmete mit einem folgenden Seufzen ungewohnt hörbar ein. „Kein Kampfschiff fehlt und dass sein Schwert noch im Schlafzimmer lag, wissen wir.“ Seinen prüfenden Blick nahm sie mit erhobener Augenbraue entgegen, legte ihre Hand auf den Unterarm des Hausherrn und überschritt somit die Grenze zum Körperkontakt, die sie eigentlich selber stets zu wahren versuchte. „Du glaubst es vielleicht nicht aber auch Uriel und ich machen uns unsere Gedanken. Da ist eine Art geschwisterliches Band, ob wir nun blutsverwandt sind oder nicht… Trotzdem kennen wir ihn nicht so gut wie du und…“ „Richtig.“ Raphael entfernten seinen Arm von ihrer Berührung, zog ein weiteres Mal an der Zigarette und blies den Qualm zur Seite aus. „Wobei ich denke, dass allein das schon ein Trauerspiel ist. Er ist, wie er ist. Er war, ist und wird bleiben, wenn du es so nennen willst.“ Nun stand er auf, richtete sich das dunkelgraue Hemd und drückte die Zigarette aus, drehte sich von Jibril weg. Sie wollte ihm nichts Böses doch er empfand das Verhalten von ihr und auch Uriel als schlichtweg scheinheilig. Man erwartete, dass sie Michael suchten und ihn möglichst bald wieder in seinen alten Posten einsetzten, denn seine Soldaten würden unter keinem anderen kämpfen. Wenigstens die Verteidigung des Himmels sollte stehen, kein Friedensabkommen würde sie im Falle eines Falles schützen und alleine wegen dem war der Feuerengel noch nicht ersetzt worden. Es war anders als mit Uriel, denn dessen Bestimmung schien erfüllt, nachdem keine weiteren Probleme mit den Totengeistern bestanden. Das funktionierte jetzt aber nicht. Auch Jibril war nun aufgestanden, trat jedoch nicht näher. „Raphael, wenn du irgendeinen Hinweis hast…“ „Soll ich ihn dir nennen, damit du mit einem Schwall irgendeiner Garde antanzt und ihn einfach so mitnimmst. Dort wird es wie damals von vorne losgehen.“ Er drehte sich wieder um, blickte auf die etwas kleinere Frau, welche möglichst Fassung wahrte. „Verlass mein Haus. Und sag Uriel, er soll gefälligst selber vorbeikommen, wenn ihm meine Methoden nicht passen. Ich bin müde, verzeih.“ Er fuhr sich abermals durch das Haar, wollte Jibril wenigstens noch zur Tür geleiten, ihr damit einen noch friedlich gestimmten Eindruck vermitteln, denn auf Streit mit seinen engsten Verbündeten konnte er nun verzichten. „Wie bist du eigentlich in mein Wohnzimmer gekommen?“ „Durch die Tür und dann den Flur durchquert, wie sonst? So schwer ist das ja nun…“ „Nicht?“, half er dem unvollendeten Satz auf die Sprünge, drückte einen gelösten Knopf behutsam durch eine Öse, doch es kam keine Antwort. Verwundert hob Raphael den Kopf, hatte dann aber das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Hatte er das je getan? Eigenartig, er erinnerte sich gar nicht, wie das ging. „Luzifer…“ Das Flüstern aus Jibrils Mund riss ihn zurück; trotz allem rechnete eben niemand damit, den Teufel persönlich hier anzutreffen. Rasch trat der blonde Engel vor, erfasste die Hand des anderen und zog ihn langsam zu sich, schob dessen Kopf zu Recht und blickte in die verklärten Augen hinein; wieder nichts, was ihn an den eigentlich wachen Geisteszustand erinnerte. „Nein, nicht Luzifer“, murmelte er und hatte das Gefühl, etwas Glühendes drehte seine Eingeweide auf einen Stab, um sie danach zum Sonderverkauf anzubieten. Seine Handflächen wurden nass, als er den kleinen Körper vor sich her schob, ihn so langsam wieder in Richtung Bett drängte; dicht gefolgt von Jibril, die jäh aus einer Starre zu erwachen schien. „Ist das etwa Michael?!“ Nun wurde sie doch lauter, holte den kurzen Abstand zu den beiden schnell auf, blickte entgeistert af den vollkommen zerstört wirkenden Feuerengel. „Raphael, Erklärung!“ Sich jedoch nicht aus der Ruhe bringen lassend half er dem kleineren Engel wieder in das Bett hinein, schob dessen Beine noch nach und deckte ihn wieder zu, ließ sich dann mit einem entnervten Stöhnen sinken, breitete die Arme wie zu einer Einladung aus. „Ich weiß es nicht.“ „Du weißt was nicht? Warum Michael aus deinem Schlafzimmer kommt? Warum er schwarze Haare hat und aussieht wie der Leibhaftige persönlich? Und das ist nicht einmal falsch, er sieht aus wie Luzifer!“ „Na nun komm aber! Sie sind nicht eineiig, selbst als Luzifer noch jünger war sah er nicht… nicht so aus! Bis auf ein paar Ähnlichkeiten ist da…“ „Ach hör auf zu reden, natürlich sehen sie sich ähnlich! Warum um alles in der Welt hat er schwarzes Haar? Und sagt nichts?“ Nun trat auch sie an das Bett heran, blickte auf die inzwischen wieder verkrampfte Person vor sich. Anders als Raphael traute sie sich jedoch nicht, ihn in irgendeiner Art und Weise zu berühren. Sie wirkte sogar etwas betreten, dass ihren sorgenvollen Worten wohl doch schnell Taten gefolgt waren. Dies beobachtend empfand der Erzengel des Windes nicht etwa Mitleid; es befriedigte ihn ungemein, Jibril in dieser überforderten Art – ein für sie eigentlich nur schwer zu erreichender Zustand – vor sich zu haben. „Er stand vor zwei Wochen mitten in der Nacht in meinem Badezimmer, mit schwarzen Haaren und eigenartigen Klamotten.“ „Eigenartiger als das, was er immer trägt?“ Dass ihr der Vorwurf nicht ins Gesicht sprang, war auch das höchste aller Gefühle. Sich sammelnd rieb sie sich kurz die rechte Schläfe, schaute noch einmal auf den starr liegenden Michael. „Zumindest werden wir ihn offiziell einweisen und unter ärztliche Beobachtung stellen, ich gebe weiter, dass er wieder aufgetaucht ist und…“ „Nein, nichts davon wirst du machen. Er steht unter meiner ärztlichen Beobachtung, was willst du mehr?“ Er war doch wieder aufgestanden; es war eine Art Machoallüre aber wenn er sich vor einer Frau aufbaute und auf sie herabsehen konnte, fühlte Raphael sich etwas stärker. Nur war er kein primitiver Schläger und das war auch der Frau mit dem blauen Haar bekannt. „Raphael bitte hindere mich nicht daran, mich meinen Pflichten hinzugeben.“ „Dazu gehört kaum die genaue Beobachtung und Überwachung anderer Engel, meinst du nicht auch?“ Inzwischen fühlte er sich wie der abgehalfterte Security-Mann vor einer schäbigen Diskothek, die in einem Stundenhotel enden würde; fehl am Platz, denn Jibril und er sollten nicht darüber diskutieren müssen, wer den Engel des Feuers verraten sollte. „Das tue ich nicht, wenn du deinen Horizont etwas erweitern würdest, könntest du das auch erkennen. Aber deine Welt dreht sich einzig in deinem kleinen, egoistischen Zentrum in dem du glaubst, Michael hätte irgendwelche besonders gearteten Gefühle der Freundschaft für dich. Du bist keine höhere Macht, Raphael. Nur weil er sich zufällig in deiner Obhut befindet, wird er nicht aus diesem… diesem… Zustand erwachen und dich direkt wie früher aufziehen. Es geht jetzt ausnahmsweise mal nicht um dich sondern darum, dass er seinen Job wieder antritt und so wie es aussieht, ist das gerade so nicht möglich. Oder was sagst du, Michael?“ Provokativ hatte sie sich an Raphaels Schulter vorbeigelehnt und auf die Gestalt im Bett geblickt – nichts. „Und jetzt geh mir aus dem Weg und verhalten dich bitte etwas kooperativer.“ Wieder schob sich der Blonde zwischen Jibril und sein eigenes Bett, blickte ihr stur entgegen. „Ich werde ihn in niemandes Hände geben, die aus rein beruflichem Interesse daraus aus sind, ihn wieder zusammenzuflicken und zurück an die Front zu jagen.“ “Das ist sehr schade…“, murmelte sie, hob ihr Messer und trennte in einem schnellen Schlag Raphaels Kopf von den Schultern. ------------------------------------------- Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)