Alea Iacta Est von Night_Baroness (Partner-FF by Corab & Night_Baroness) ================================================================================ Kapitel 21: Schach ------------------ 21. Kapitel: Schach ~ CLASH-Kapitel Substanzlose, blutrote Hände züngelten zum Himmeln, tanzten, stoben auseinander wobei sie sich in nicht zu benennende Einzelteile zerlegten und wenige Augenblicke später wieder zusammenfügten, als wäre nichts geschehen. Funken zischten in alle Richtungen als wollten sie vor ihren großen Meistern fliehen, nur um von der Glut gefressen zu werden und die flammende Hölle neu anzufeuern. Ach Prometheus, dachte sie mit einem höhnischen Grinsen auf den Lippen. Wie konntest du den Menschen nur das Feuer geben. Einzelne Aschenkörner lösten sich aus dem Flammenmeer und stiegen wie die Geister der unzähligen Kadaver, die in ihm verbrannten, in den Himmel auf. Wie konntest du nur. Beinahe wehmütig blickte sie auf das alte Haus zurück das langsam aber sicher vom Feuer verschlungen wurde, ebenso wie alles, was sich darin befunden hatte. Und darin gestorben war. Obwohl es ärgerlich war, hatte sie schon damit gerechnet, diesen Ort bald aufgeben zu müssen. Zwar stand das Haus allein, sodass der Gestank, der trotz der Abdichtungen immer noch teilweise durch die Kellerschächte gedrungen war oder die Schreie wohl niemandem aufgefallen wären, aber mit der Zeit hatte sie immer mehr von sich preisgegeben, um das Spiel am Leben zu erhalten, sodass es nicht mehr lange dauern konnte, bis jemand diese Spur verfolgte. Zwar war die Polizei gerade nicht Shinichi Kudos bester Freund, aber ihre Risikofreudigkeit reichte nicht aus, um sich direkt ans Messer liefern zu lassen. Dafür spielte sie noch viel zu gerne. Immerhin ist nicht alles verbrannt. Lächelnd strich sie sich ein paar Strähnen aus dem Gesicht, die aufgrund der Hitze schweißnass an ihrer Stirn klebten und ging zu ihren Geiseln hinüber, die benommen von einem Betäubungsmittel, hustend gegen den Rauch ankämpften. „Keine Sorge, bald habt ihr es geschafft. Einen von euch kann ich sogar sofort bei seiner neuen Bleibe absetzen, der andere hat leider noch eine kleine Mission zu erfüllen.“ Sie packte die beiden an den Fesseln und drängte sie somit dazu aufzustehen, während sie ihnen eine Waffe an den Kopf hielt und ein engelsgleiches Lächeln schenkte. „Bald habt ihr es geschafft.“ Nachdem sie sich immer noch röchelnd hochgehievt hatten, zerrte sie sie mit der gleichen unbekümmerten Miene hinüber zum Auto, die Pistole weiterhin direkt auf sie gerichtet, was jeden Widerstand zwecklos machte. Ohne auch nur den Versuch zu unternehmen, die von Betäubungsmittel und Rauch geschwächten Glieder gegen sie einzusetzen, fielen die beiden beinahe teilnahmslos in den geräumigen Kofferraum, der wenige Augenblicke später in pechschwarze Dunkelheit gehüllt war. Bevor Etsuko selbst einstieg, warf sie noch einmal einen letzten Blick auf das brennende Gebäude, in der Ferne waren bereits Sirenen zu hören. Wie das Aschekorn, das aus den Flammen aufsteigt, dachte sie. Kräne. Ihr Erscheinen in der Ferne kündigte Osakas Seehafen an, auf den der schwarze Audi zusteuerte. Sie hatten etwas Majestätisches, doch irgendwie wirkte die Größe der roten Stahlgiganten auch beängstigend auf Kudo, als wären sie geradezu prädestiniert, auf ihn herabzustürzen und wie einen bemitleidenswerten Käfer zu zerquetschen. Es wäre nicht das erste, was heute umstürzt, zusammenfällt und meine Hoffnungen unter sich begräbt. Der junge Mann schluckte, als er spürte, dass eine Träne aus seinem Auge rollte. Eine Träne der Trauer, aber auch eine Träne des Zornes. Des Zornes auf die Mörderin seiner Frau. Und des Zornes auf sich selbst. Sie sollte sich stellen. Das war der Plan gewesen. Das war der Handel gewesen, den er Etsuko hatte vorschlagen wollen. Er tat ihrer Schwester nichts, und dafür musste sie sich den Behörden stellen. Oder ihm stellen. Das hatte er noch nicht entschieden gehabt, doch soweit war es ja ohnehin nie gekommen. Wütend schlug er auf sein Lenkrad. Nachdem sie seine Frau ermordet hatte, hatte diese Schlampe es gewagt, seinen Freund anzugreifen. Heijis verängstigte Stimme klang Kudo noch immer in den Ohren. „Kudo? Kudo, bist du das? Scheiße, was ist hier los? Kudo, sag mir, was los ist, Kud-“ Er hörte noch immer, wie sein alter Freund plötzlich mitten im Satz abgebrochen hatte. Er spürte noch immer, wie still es danach gewesen war. Und jetzt würde er tauschen. Seine Chance auf Gerechtigkeit gegen das Leben seines Freundes. Ein unmenschlicher Tausch. Er sah hoch zu den Kränen. Vielleicht wäre es wirklich besser, wenn einer von euch mich zerquetscht, bevor ich mich und alle anderen noch tiefer in die Scheiße reite. Aber vermutlich, dachte er und warf einen Blick zu der gefesselten Frau auf der Rückbank, Ist es dafür bereits zu spät. Während sie in gemächlichem Tempo die spärlich befahrene Straße entlang fuhr – mittlerweile durften wohl auch die größten Workaholics ihre Arbeit niedergelegt haben – betrachtete sie nachdenklich die vorbeiziehenden Lichter. Immer wieder blitzen sie kurz auf und verloschen wieder wie Sternschnuppen, um die Straße in völliger Dunkelheit zurückzulassen. Etsuko war angespannt. Es war jedoch keine unangenehme Anspannung, im Gegenteil, sie spürte, wie ihr Jagdtrieb langsam wieder hochkochte und ihren Körper mit Wärme erfüllte. Ihre ohnehin schon geschärften Sinne liefen zur Höchstform auf. Bereit zum Sprung, bereit erneut zu spielen. Wieder tauchte ein Licht neben ihr auf und verschwand. Etsuko warf einen kurzen Blick nach hinten und stellte zufrieden fest, dass sich nichts regte – ihr Opfer war weiterhin betäubt und schlief friedlich. Es würde noch ungefähr eine gute Viertelstunde dauern, bis sie den Hafen von Osaka erreichte, wo der Austausch stattfinden sollte. Sie hatte ihn bewusst ausgewählt, zum einen, weil sie Orte liebte, die diesen industriellen Charme versprühten und zum anderen, weil sie dort mit Sicherheit ungestört sein würden. Um diese Uhrzeit sollte der Schiffsverkehr schon weitgehend zur Ruhe gekommen sein, sodass sie bei ihrem kleinen Deal keine lästigen Augenzeugen haben würden. Je näher sie ihrem Ziel kam, desto ruhiger schien auch die Straße zu werden, während sich Osakas Kern immer weiter von ihnen entfernte. Chinatsu Sawaguchi, dachte sie. So hat es angefangen. Seine Frau war einfach nur ein weiteres Spiel, eine Laune, nichts von Bedeutung. Aber dennoch reizte mich der Gedanke zu sehen, wie er darauf reagierte, etwas, das ich sonst noch nie empfunden habe. Ich wollte nicht einfach aufhören, dieses eine Mal war mir das Töten nicht genug, ich wollte weiterspielen. Also nahm ich mir diese Identität, spionierte einen unfähigen Polizisten aus – der sich jetzt in meiner Gewalt befindet – und tötete den einzigen Zeugen, der mich zu verraten in der Lage gewesen wäre. Ich habe nie so lange gespielt wie jetzt, aber vielleicht entwickle ich mich erneut weiter. Vielleicht ist das eine neue, bessere Form des Spiels, ein Spiel, in dem es nicht nur Opfer gibt, sondern auch einen würdigen Gegner, ein Spiel um alles oder nichts. Az-zahr ist nicht mehr nur der „Würfelkiller“, wie ihr ihn nennt. Von jetzt an werde ich viel mehr sein als das, ich werde das Spiel, das ich entwickelt habe, revolutionieren. Und ihr werdet meine Spielsteine sein. Mit einem kaum hörbaren Quietschen kamen die Reifen ihres Vans zum Stehen. Um sie herum herrschte nun völlige Stille über der schwarzen Landschaft, die nur vom fahlen Licht des Mondes und ein paar vereinzelten Laternen erhellt wurde. Direkt gegenüber ihres Stehplatzes ragten bedrohlich ein paar rote Kräne in den Himmel, deren Lackierung im Mondlicht unheimlich schimmerte. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte sie etwas zu erkennen, ohne das Licht anschalten zu müssen. Gerade als sie es aufgeben wollte, fiel ihr unter einem der Kräne ein Schatten auf – dort stand ein Wagen. Ein siegessicheres Lächeln legte sich auf ihre Lippen, als sie den Sicherheitsgurt löste. Er ist da. Mögen die Spiele beginnen. Kudo musste nicht nachsehen, um das Geräusch, das er gehört hatte, Etsukos Wagen zuzuordnen. Vielleicht war es nur Einbildung, oder die Tatsache, dass niemand sonst um diese Zeit wirklich Grund hatte, diese entlegene Stelle des Hafens aufzusuchen, doch als es sein Ohr drang, kochte er. Sein Blutdruck schoss in die Höhe, sein Herz schien seinen Brustkorb durchbrechen zu wollen, sein Gesicht lief heiß an. Der Hass, den er auf diese Person spürte, durchströmte seinen ganzen Körper. Er wandte sich seiner Geisel zu, die, noch immer gefesselt und geknebelt, auf dem kalten Betonboden der Lagerhalle zusammengekauert dalag. „Es tut mir Leid, Aiko“, murmelte Kudo, „vermutlich haben Sie all das nicht verdient. Vielleicht war ihr einziger Fehler wirklich, denselben Eltern zu entstammen wie ihre Schwester. Sollte das so sein, bitte ich Sie, mir zu verzeihen, sobald Sie verstanden haben, was tatsächlich passiert ist. Was das alles hier sollte. Sobald Sie wissen, was ihre Schwester getan hat. Dass sie eine Mörderin ist.“ Als sie den letzten Satz hörte, riss die junge Frau ihre Augen weit auf und wand sich auf dem Boden. Entsetzen. Vermutlich ist sie wirklich unschuldig. Kudo schluckte. „Aiko, ich werde Ihnen jetzt eine Frage stellen. Sie werden sie nicht sofort beantworten können, denn den Knebel kann ich leider nicht entfernen. Dennoch bitte ich Sie, nachzudenken. Kam Ihre Schwester Ihnen je seltsam vor? Haben Sie irgendwann einmal in Ihrem Leben gedacht, dass mit ihr vielleicht etwas nicht stimmt? Dass sie anders ist? Dass sie allen anderen Menschen etwas vorspielt? Hatten Sie diesen Hauch des Zweifels je in Ihrem Leben?“ Er musterte Aikos braune Augen sorgfältig. Der Ausdruck in ihnen hatte sich verändert, war aber nicht eindeutig. Egal. Ich muss es riskieren. „Sollten das der Fall sein, möchte ich Sie bitten, Ihrer Schwester hiervon nichts zu erzählen, wenn sie Sie in die Arme schließt.“ Langsam zog Kudo sein Mobiltelefon aus der Hosentasche, das er erst vor wenigen Tagen gekauft hatte. Er hatte den Akku im Auto aufgeladen. Unnötig fest betätigte er eine Taste, um das Gerät hochzufahren und steckte es in die Tasche von Aikos plüschigem Bademantel. Das ist das einzige, was sie trägt. Ich glaube nicht, dass Etsuko da auf die Idee kommt, sie zu durchsuchen. Und wenn ich mich der Polizei stelle, wird mir Hattori sicher helfen, auch seine Entführerin mit dem Handy aufzuspüren. Vom Risikomanagement ist der Plan eine Katastrophe, aber er ist besser als nichts. Zumindest hoffe ich das. Behutsam schloss sie die Tür hinter sich und setze sich in Bewegung, allerdings nicht, ohne sie vorher sorgsam abzuschließen. Wäre ja zu schade, wenn du ihn einfach befreien könntest, oder Kudo? Wo bleibt da der Spaß? Ein lautes Kreischen durchschnitt die Ruhe des kahlen Platzes. Direkt über ihr kreiste eine Möwe. Als Etsuko nach oben blickte, stieß das Tier erneut einen klagenden Schrei aus und flog davon. Einen Augenblick lang hallte das Echo noch wider, dann legte sich erneut eine fast beklemmende Stille über den Hafen. Ohne zu wissen warum, schloss Etsuko kurz die Augen und lauschte. Ganz fern glaubte sie das Meer in behutsamen, fast zärtlichen Bewegungen gegen die verlassenen Anlegestellen schlagen zu hören, untermalt von einem fernen Rauschen. Wenn dieses Gefühl dich überkommt, dann schließ' die Augen. Atme tief ein und aus, solange bis dieser schmerzende Druck verschwindet, so lange bis alles wieder klar wird. Kannst du das Meer rauschen hören? Konzentriere dich darauf. Es ist so friedlich… Irritiert öffnete sie die Augen. Wieso erinnerte sie sich gerade jetzt daran? Waren diese Worte nicht schon so alt, dass sie schon fast nicht mehr wahr waren? Doch gerade jetzt, als sie es am wenigsten brauchen konnte, schienen die Bilder auf einmal so furchtbar nah zu sein, klar und greifbar, als würde es gerade vor ihren Augen passieren. Sie war ein junges Mädchen, überströmt mit Tränen, das sich in die Arme einer alten Frau fallen lässt, das Gesicht so zerfurcht und müde wie das des Mondes, übersät von Rissen und Kratern. Ein Gesicht, das die ganze Welt gesehen hat und jede Zeit überdauert. Ich bin nicht normal. Hör einfach dem Rauschen zu, es trägt alle Gedanken fort. Manchmal, wenn sie nachts wachlag, hatte sie Angst bekommen. Angst einzuschlafen und von wirren Träumen übermannt zu werden, die ihr schreckliche Dinge einflüsterten, Dinge, die sie eigentlich nicht hören wollte, obgleich sie nicht leugnen konnten, dass sie sie erregten. Denn je euphorischer sie wurde, desto klarer wurde ihr auch, dass etwas nicht stimmte. Sie konnte diese Gedanken verbergen, eine Maske aufsetzen, die Menschen mit einem Messer hinter dem Rücken anlächeln, doch obwohl es so wunderbar funktioniert hatte, hatte ein Teil von ihr rebelliert. Ein einziges Mal hatte sie es versucht, war zu dieser Frau gegangen, der alten Mondfrau, wie man sie nannte. Man glaubte, sie konnte Gedanken lesen und einem in die tiefsten Tiefen der eigenen Seele blicken. Etwas, das die Menschen mit all ihren Geheimnissen überhaupt nicht gerne sahen. Sie war genau wie ich, nicht normal. Die Mondfrau hatte ihr ruhig zugehört, als sie mit ihr sprach, sie hatte nicht einmal mit der Wimper gezuckt, als sie ihr von dem Hasen erzählte, der Blick starr, jede Träne längst versiegt. Die Maske saß perfekt. Nachdem Etsuko geendet hatte, war sie aufgestanden und hatte sie mit ans Meer genommen. Das Rauschen der Wellen war ähnlich ruhig und friedlich gewesen und Etsuko hatte auch damals die Augen geschlossen und gelauscht. Wenn es über dich kommt dann atme, atme und lausche bis es versiegt. Sie hatte die alte Frau nie wieder gesehen. Hastig verdrängte sie den Gedanken und versuchte, ihre Konzentration wiederzuerlangen, doch der Hauch eines bitteren Nachgeschmacks blieb zurück. Konzentriere dich auf deine Mission, das bist nicht du. Das Mädchen am Meer ist längst tot. Als sie das Auto fixierte, das immer noch im Schatten des Kranes auf sie wartete, spürte sie, wie ihr Jagdinstinkt zurückkehrte. Wie um sie anzufeuern schrie die Möwe erneut, dann trat vollkommene Stille ein. Selbst das Meer schien stumm zu sein. Mit geschmeidigen Bewegungen schlich Etsuko weiter, direkt auf den Wagen zu. Ihre Hand schloss sich um die Waffe in ihrer Jackentasche, als sie geduldig auf die schwarzen Scheiben starrte, bereit jederzeit hinter einen Container zu springen, falls Kudo irgendetwas versuchen sollte. Doch nichts geschah. Unschuldig blickten die erloschenen Lichter des Audi sie an, als sich auch nach weiteren fünf Minuten nichts regte, ließ sie die Waffe behutsam los und schlich weiter. Ein kurzer Blick genügte, um zu erkennen, dass der Wagen nicht verriegelt war. Warum auch? Schließlich hast du keinen Grund, unwesentliche Figuren zu decken. Ein feines Lächeln huschte über ihre Lippen. Wirklich sehr nachlässig von dir, Shinichi Kudo. Plitsch. Der Schweißtropfen löste sich von Kudos Nasenspitze und traf überraschend geräuschvoll den Boden. Der Laut riss den Mann aus seiner Starre, doch sein ganzer Körper war noch immer angespannt. Er hatte das Schließen der Wagentür gehört. Und jetzt hörte er klackernde Stöckelschuhe. Sie war unterwegs. Sie kam zu ihm. Der ehemalige Inspektor ballte seine Hände bei dem Gedanken so energisch zu Fäusten, dass sich die Fingernägel, die er noch nicht abgekaut hatte, tief in das Fleisch seiner Hand gruben. Der Schmerz war deutlich, doch er ignorierte ihn. Seine Gedanken waren woanders. Er erinnerte sich dessen, was er verloren hatte. Er sah seine Hochzeit, eine wunderschöne Zeremonie mit einer Mischung aus shintoistischen und westlichen Riten. Er sah seine Frau deutlich in ihrem prachtvollen Kimono vor sich, auf den Wangen trotz der weißen Schminke eine zarte Röte. Sie war ein wunderschöner Anblick. Er erinnerte sich an die Reinigungszeremonie des Priesters. Seinen Versuch, das Brautpaar von Sünden reinzuwaschen. Und dann kam ihm Aiko in den Sinn, geknebelt mit einem Stofftaschentuch, das durch ihren Speichel bereits klatschnass war. Hat wohl nicht so ganz geklappt mit dem Reinwaschen. Zumindest bei mir. Er erinnerte sich an sein Ehegelübde, schließlich hatte ihn das Verfassen desselben viele Tage und Nächte gekostet, weil ihm die rechten Worte einfach nicht eingefallen waren. „Ran“, hatte er gestammelt, nervös und unsicher seine Stimme, „i-ich mag dich, seit ich klein bin und ich weiß“ - er schluckte - „dass wir zusammengehören. Ich verspreche dir, immer für dich da zu sein und dich immer zu beschützen. Ran, ich liebe dich.“ Das war seine stärkste Erinnerung. Worte, die tief in ihm brannten, Worte, für die er sich den Kopf zermartert hatte. Worte, die er ernst gemeint hatte. Ich wollte dich beschützen und habe es nicht geschafft. Doch der Shinichi von damals existiert nicht mehr. Er warf einen Blick auf Aiko, die sich immer noch am Boden wand. Denn das hätte er sicherlich nicht getan. Und wenn der neue Shinichi dich schon nicht beschützen kann, Ran, er holte tief Luft, so wird er dich doch zumindest rächen. Und dementsprechend spürte er nur eines, als das Klackern der Stöckelschuhe endete und er Etsuko in die Augen sah: Rachedurst. „Ich hoffe, du musstest nicht zu lange warten, Aiko.“ Etsukos Blick war starr auf Aiko gerichtet, fast so, als würde Kudo nicht existieren. Ein überraschend warmes Lächeln erschien auf ihren Lippen. „Keine Sorge, es wird alles wieder gut.“ Shinichi zog seine Waffe und richtete sie voller Hass auf ihre Brust. „Wo ist Heiji?“, fragte er und betonte dabei jedes einzelne Wort. „Na na, nicht so eilig. Ich musste doch erst mal nachsehen, ob du Aiko überhaupt bei dir hast.“ Shinichi unterdrückte seinen Brechreiz. Er erinnerte sich nur zu gut an das Gefühl, das verspürt hatte, als er Chinatsu Sawaguchi erstmalig getroffen hatte. Jetzt war es viel schlimmer. „Das sollte jetzt definitiv klargestellt sein. Wo. Ist. Heiji?!“ „Immer mit der Ruhe.“ Ihr Lächeln bekam eine spöttische Note, was ihn nur noch mehr in Rage brachte. Es kostete ihn all seine Kraft, sich zu beherrschen. „Ich bringe dich zu ihm.“, sagte sie knapp und machte ein paar Schritte aus der Lagerhalle. Als er nicht folgte, drehte sie sich irritiert um. „Du musst schon mitkommen.“ Die Art wie sie mit ihm sprach, machte ihn wütend. Am liebsten hätte er ihr diesen grässlichen Hochmut mithilfe seiner Waffe ausgetrieben, doch er wusste, dass das ein fataler Fehler gewesen wäre. Also riss er sich zusammen, stand auf und ging ebenfalls nach draußen, die Augen starr und kalt vor Hass und Verachtung. Die verängstigt wirkende Aiko ließ sich ohne Widerstand mitziehen, nachdem er ihre Fußfesseln gelöst hatte. Etsuko wartete auf ihn. „Weißt du, Kudo?“, fragte sie. „Ich frage mich: Wie genau kann ich verhindern, dass du mich tötest, sobald du deinen Freund Hattori wieder wohlbehalten bei dir hast?“ Kudo grinste grimmig und drückte seinen Revolver in Aikos Rücken. „Wir alle fragen uns Dinge.“ Etsukos Lächeln erstarb. Ihre Augen schienen Funken zu sprühen, als sie ihn fixierte, zum ersten Mal wurde Kudo bewusst, dass sie genauso angespannt sein musste wie er selbst, immerhin hing das Leben ihrer Schwester am seidenen Faden. „Komm mit.“ Sie führte ihn zu ihrem Wagen, wobei er mit jedem Schritt wachsamer wurde und die Anspannung ins Unermessliche stieg. Heiji Hattori, sein bester Freund, war in diesem Auto. „Dann bereite dich mal auf das freudige Wiedersehen vor.“ Die Scheinwerfer des Wagens leuchteten kurz auf und Etsuko holte ihre Geisel heraus, deren Kopf mit einem braunen Sack bedeckt war. Kudo spürte, wie sein Herz noch heftiger schlug. Heiji. Mit einem Ruck riss Etsuko ihm den Sack vom Kopf und Kudo starrte in das Gesicht des Mannes, den er nicht kannte. „Wer sind S-“ Bevor er den Satz vollenden konnte, traf ihn Etsukos Knie mit voller Wucht in den Bauch. Alle Luft entwich aus seinen Lungen, während sein Magen regelrecht zerquetscht zu werden schien. Hustend ging er zu Boden. Sein Revolver rutschte ihm aus der Hand und flog weg, mit einem lauten Knall löste sich ein Schuss, der die unheimliche Stille schmerzhaft durchschnitt, während er in unerreichbarer Ferne landete. „Überraschung.“ Etsuko lachte höhnisch und zog ihre Waffe. Wie in Zeitlupe hob sie ihren Arm und zielte. „Es tut mir leid, dass ich das tun muss. Es tut mir leid, aber das Mädchen am Meer ist längst tot.“ Sie drückte ab. Aikos Kopf platze, Blut und Gehirn spritzen in alle Richtungen und verunzierten den weißen Bademantel mit hässlichen roten Flecken. Noch ehe Shinichi begriffen hatte, was soeben passiert war, war Aikos Leiche auf dem Boden angekommen. „Wieso?“, hauchte er. „Wieso? Weil wir alle verrückt sind! Ich bin verrückt, du bist verrückt“, Ihr lautes Lachen hallte beängstigend auf dem weitläufigen Platz wider. Jetzt richtete sie ihre Waffe auf den Mann neben ihr. „wenn du es nicht wärst, wärst du nicht hier.“ Er versuchte, sich etwas aufzurichten, ließ sie dabei aber nicht aus den Augen. „Übrigens Kudo, dass dieser Mann, Shinji Miyoshi sein Name, hier ist, heißt nicht, dass ich deinen Freund Hattori nicht trotzdem hätte und deshalb wirst du, um sein Leben zu retten jetzt schön brav mitspielen. Steh auf!“, befahl sie, die Waffe nun bedrohlich auf ihn gerichtet. Während er sich langsam erhob, wirbelte sie jedoch herum und schlug die Waffe mit voller Wucht gegen den Kopf des Mannes, der sofort zusammensackte und benommen liegen blieb. „Ich möchte, dass du ihn aufhebst und zu meinem Auto trägst.“ Der Lauf der Pistole zeigte erneut auf ihn. Widerstrebend ging er zu dem armen Kerl hinüber und beugte sich über ihn, dunkelrotes Blut quoll mittlerweile aus seinem bereits etwas lichten Haarschopf hervor und vermischte sich auf dem staubigen Boden mit dem von Aiko. Als er ihn ächzend anhob, spürte er, wie sich die kalte Waffe schmerzhaft in seinen Rücken bohrte. „Nur um sicher zu gehen.“, höhnte Etsuko. Shinichi legte den Mann, so behutsam es ihm möglich war, in den Kofferraum und trat gerade noch schnell genug zurück, bevor Etsuko die Klappe herunter knallen ließ. „So und jetzt gehen wir schön zurück in die Lagerhalle.“ „Wie konntest du nur?“ Die Fassungslosigkeit trieb ihm Tränen in die Augen. „Sie war deine Schwester!“ „Und deswegen hätte ich sie verschonen sollen?! Du verkennst mich, Shinichi, Fairness gehört zu meinen obersten Prinzipien. Ich kann es doch nicht riskieren, eine Zeugin am Leben zu lassen. Überhaupt hatte das Ganze noch einen höheren Sinn, sieh dir deine Waffe doch nochmal ganz genau an.“ Sie zwinkerte ihm zu. Jetzt wo er darüber nachdachte, wurde ihm klar, was sie meinte. Er musste sich nicht extra umdrehen, um das herauszufinden. Ihre Waffe ist ein silberner Revolver, das gleiche Modell wie meiner. „Ein Ausbruchshelfer begeht auf der Flucht einen Mord an einer reichen Göre, ein paar Mysterien werden für die Polizei verbleiben, aber mit der Patrone, die Aiko traf, dir und deiner Waffe am Tatort, werden sie trotzdem keine andere Wahl haben. Dich zu töten wäre nicht genug, aber das ist mein Sieg, Shinichi Kudo.“ „Das also war dein Plan? Dafür hast du dich bei der Polizei eingeschleust?“ „Nein, diese Idee hatte ich erst, als ich von deinen geheimen Treffen mit Agasa erfuhr. Immerhin wusste ich, dass er dich zu Aiko führen würde. Vorher, das mit dem Jungen, das war nur Schadensbegrenzung.“ Hass, der gleichzeitig eiskalt und brühend heiß zu sein schien, machte sich in ihm breit, bis er jedes seiner Glieder erfasst hatte. Er begann am ganzen Körper zu zittern und seine Hände verkrampften sich in dem Wunsch, Etsuko am Hals zu packen und so fest zuzudrücken, dass ihr Gesicht blau anschwoll. „Immerhin habe ich eine Wanze an dem Jungen befestigt und konnte ihn so jederzeit aufspüren. Die Polizei brauchte ich nur, um festzustellen, wann ihr auf ihn aufmerksam werdet.“ „Du verdammte Schlampe!“ Sie lächelte amüsiert. „Ich wünsche dir einen angenehmen Aufenthalt.“ Bevor er reagieren konnte, schubste sie ihn in die Halle und verschloss die Tür. „Lauf nicht weg, während ich die Polizei rufe.“ Das letzte, was Shinichi Kudo hörte, waren ihre leiser werdenden Tastentöne und Schritte, die sich entfernten. Dann war wieder alles still. Jetzt ist es auf jeden Fall zu spät. Teaser zu Kapitel 22: Shinichi Kudo scheint besiegt, doch Etsuko hat immer noch zwei Geiseln in ihrer Gewalt und wiegt sich in vollkommener Sicherheit. Welches perfide Spiel plant sie als Abschlussvorstellung?! Hosted by Animexx e.V. 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