Alea Iacta Est von Night_Baroness (Partner-FF by Corab & Night_Baroness) ================================================================================ Kapitel 25: Die richtigen Worte ------------------------------- Kapitel 25: Die richtigen Worte ~ by Corab Sanft glitten die Reifen des Audis über den Asphalt, als Kudo nach links abbog und auf den Parkplatz zusteuerte. Gähnend rieb der Inspektor sich die Augen, hatte er doch bis eben wie ein Obdachloser in einem um diese Zeit ausgestorbenen U-Bahn-Schacht genächtigt. Am liebsten wäre er in diesem sicheren Versteck geblieben, doch seit seiner Flucht vom Hafen war ein ganzer Tag vergangen, den er damit zugebracht hatte, nervös, das Gesicht in den Armen vergraben, in einer Nebengasse zu kauern und trotzdem irgendwie darauf zu achten, ob jemand auffällig lange in seine Richtung sah. Es war eine lächerliche Zeitverschwendung gewesen, doch was sollte er machen? Zwar hatte das Gerät, das er im Auto gefunden hatte, seine Euphorie kurzzeitig neu angefacht, doch seine Ideen, wie er diesen neuen Trumpf nutzen könnte, waren alle lediglich halbgar. Es fehlte ein zentrales Element, um seinen Plan sicher in die Wege zu leiten. Und dabei wäre ich in Osaka bereits am richtigen Ort. Doch diese Überlegungen waren nicht seine einzige Sorge, wie ihn sein schmerzender Magen erinnerte. Er hatte schon seit gefühlten Ewigkeiten nichts mehr gegessen. Das war auch der Grund, aus dem er sich überhaupt aus seinem relativ sicheren Versteck wagte. Er hatte den Parkplatz erreicht und hielt den Wagen an. Der Himmel hatte sich bereits gänzlich verdunkelt, doch die leuchtenden Reklametafeln erlaubten es ihm, alles zu erkennen. Die Straßen waren wie ausgestorben, doch er beugte sich dennoch nach hinten zur Rückbank und griff einen der falschen Bärte, die er sich sicherheitshalber vor der Flucht zugelegt hatte. Tagsüber hatte er gehört, wie Leute sich über seine Flucht unterhalten hatten. Offenbar machte die Polizei bei der Jagd auf ihn mittlerweile ernst, es war also nicht ratsam, ein Risiko einzugehen, auch wenn der Convenience Store, den er aufsuchen wollte, nur wenige Meter entfernt war. Schnell kompilierte er in seinem Kopf eine Liste der Dinge, die er brauchen würde, um nicht zu lange in dem Laden verweilen zu müssen. Sie war nicht lange, Getränke, Fertigmahlzeiten und … ein Ladekabel. Er fischte Aikos Handy aus seiner Tasche und machte eine mentale Notiz der Modellnummer. Seit er den Deal mit Etsuko hatte aushandeln wollen, hatte er es im Standby-Zustand belassen, um den Akku zu schonen. Seine Direktverbindung zur Täterin war wichtig, denn irgendwann würde Etsuko einen Schritt machen. Und wenn sie das tat, musste er erreichbar sein, was nur möglich war, wenn das Handy permanent eingeschaltet blieb, da er Aikos PIN-Code nicht kannte. Als Kudo die Wagentür elektronisch verriegelte, erschauderte er. Es war ein merkwürdiges Gefühl, der zu sein, den man jagte. Sich nervös immer wieder umzusehen, bei jedem Geräusch zusammenzuzucken und beim Klang von Sirenen instinktiv zu verkrampfen. Von den Augen redlicher Bürger in die Dunkelheit getrieben zu werden. Doch seine Angst gab Kudo auch auf eine merkwürdige Art Hoffnung. Es lag eine seltsame Befriedigung darin, dass er obwohl er viele schlimme Dinge getan hatte, noch nicht fühlte wie ein Verbrecher. Wer weiß, überlegte er, wenn diese Sache ausgestanden ist. Wenn ich bis zum Ende durchhalte … vielleicht gibt es für mich dann noch Hoffnung? Das warme Innere des Geschäfts bildete einen überraschenden Kontrast zur kühlen Nachtluft. Kudo wusste nicht, was ihm lieber war. Die Atmosphäre war hier drin zu angenehm, ein Gefühl, dem er in letzter Zeit misstraute. Erst der Anblick der Überwachungskamera weckte in ihm wieder das willkommene Unbehagen. Zügigen Schrittes arbeitete der ehemalige Inspektor seine Liste ab und steuerte auf die Selbstbedienungskasse zu. Er war mehr als erleichtert, den Kontakt mit einer Verkaufsperson meiden zu können. Seine Freude war jedoch nur von kurzer Dauer. Er seufzte, als er das Schild „Defekt“ vor dem Apparat hängen sah. Einmal könnten Dinge auch glattgehen. Zunächst sah die Frau an der Kasse lediglich der Uhrzeit entsprechend müde und lustlos aus, doch als sie Kudo ihren Blick zuwandte, fuhr er zusammen. Zwar hatte sie blondiertes Haar und wirkte auch im Sitzen etwas kleiner als Ran, doch ihre warmen, braunen Augen versetzten Kudo trotzdem schmerzhafte Stiche. Ran. „Sie kaufen aber spät ein“, sagte die Frau, als sie nacheinander seine Einkäufe einscannte. Der ehemalige Inspektor erwiderte nichts und nahm nur wortlos die Artikel entgegen, was die Kassiererin dazu ermunterte, ihn argwöhnisch zu mustern. „Verstehe, Sie sind einer von diesen Hikikomori. Tut mir leid, dass die Selbstbedienungskasse nicht mehr funktioniert, bis Ende der Woche haben wir das repariert.“ Rein vom Wortlaut her hätten ihre Worte spöttisch gemeint sein können, doch so klangen sie nicht. Es steckte kein Vorwurf darin, nur eine aufrichtige Entschuldigung und etwas Mitleid, was Kudo nur noch mehr an Ran erinnerte. „Aber Sie sollten wirklich mit Leuten reden.“ Die Frau lachte ein aufrichtiges Lachen. Von ihrer Müdigkeit war nichts mehr zu merken. „Sie werden sehen, die meisten sind eigentlich ganz nett.“ Wie lieb, dachte er bitter. Vermutlich würdest du eine Mörderin auch einfach in dein Haus bitten, wenn sie freundlich klingelt. Auch als die Frau fertig war, ihm seine Einkäufe in einer kleinen, hübschen Tüte überreicht und „weiterhin einen schönen Abend“ gewünscht hatte und er ihr seinen Rücken zugedreht hatte, bekam er den Gedanken an Ran nicht aus dem Kopf. Es regnete mittlerweile und auch auf seiner kurzen Strecke würde er völlig durchnässt werden, doch das war ihm egal. Er war mit seinen Gedanken in einer anderen Zeit. Seit zwei Stunden regnete es nun schon. Pünktlich dreißig Minuten nach ihrer Abfahrt hatten die Wassermassen angefangen, sich über ihnen zu entleeren, obwohl die Medien eigentlich „perfektes Ausflugswetter“ versprochen hatten. Entweder hatten Fernsehmoderatoren in Bezug auf einen schönen Ausflug eine gänzlich andere Vorstellung als Kudo, oder sie hatten wieder einmal danebengelegen, ausgerechnet an dem Tag, an dem er sich seit Ewigkeiten wieder frei genommen hatte, um etwas mit seiner Freundin zu unternehmen. Ebenjene saß auf der Beifahrerseite neben ihm und schenkte ihm beschwichtigende Blicke, die ihre Enttäuschung jedoch nur unzureichend zu maskieren vermochten. Der Inspektor nahm ihr das nicht übel, denn sie hatte ja allen Grund enttäuscht zu sein. Polizeiarbeit war eine zeitraubende Sache, und wenn man sich ihr mit all seinem Elan widmete, blieb das Private eben leicht auf der Strecke. „Also“ Er sah sie so aufmunternd wie möglich an, „was wollen wir machen, jetzt, wo der Spaziergang im Park flachfällt?“ „Ich weiß nicht… Irgendetwas Schönes eben.“ Shinichi verdrehte die Augen. „Das ist sehr hilfreich.“ Sie stemmte die Hände in die Hüften. „Hast du denn eine Idee?“ Eigentlich hatte er keine – deswegen hatte er ja gefragt – doch auf diese Weise herausgefordert antwortete er mit dem ersten Klischee, das ihm in den Sinn kam. „Wir könnten … Essen gehen?“ „Also darauf habe ich keine Lust“, erwiderte sie schnippisch. „Was? Wieso nicht?“ „Wenn wir ein Lokal betreten, stolpern wir doch sicher nur wieder über eine Leiche.“ Er war sich nicht sicher, ob sie ihn veralbern wollte oder es tatsächlich ernst meinte. „Was soll das denn bitte heißen? Als würde das immer passieren.“ „Es passiert. Ich gehe aufs Klo oder in die Küche oder in die Garderobe oder kurz nach draußen und dann liegt da eine Leiche. Wir rufen die Polizei, du fängst damit an, den Fall zu lösen und jegliche romantische Stimmung können wir vergessen.“ Der Inspektor verstand ihren Standpunkt zwar, war aber auch etwas überrascht, dass sie so dachte. Er hatte eigentlich immer geglaubt, dass das Fälle lösen Teil seines natürlichen Charmes war und mit der Grund, warum diese Frau überhaupt mit ihm zusammen war. „Soll ich denn eine Leiche einfach liegenlassen?!“ Sein Tonfall war unbeabsichtigt etwas lauter geworden, und Ran zuckte zusammen. „So habe ich das doch nicht gemeint. Aber ein Grund, warum ich mich so auf den Park gefreut habe, war, dass er ein echter Geheimtipp sein soll und dort sicher keine Leute sind, die umgebracht werden könnten.“ „Aber…“ „Und überhaupt, wenn wir jetzt essen gehen, was machen wir dann mit unserem Picknickkorb?“ Die kurze Woge der Streitlustigkeit schwand ebenso schnell von Kudo, wie sie ihn überkommen hatte. Ran hatte für diesen Korb viele Stunden in der Küche gestanden und sich um jede Kleinigkeit liebevoll gekümmert, das wusste er. „Dann halten wir einfach irgendwo an und picknicken im Auto.“ Sein Vorschlag wurde wie erwartet abgeschmettert. „Nein, das ist doch total unromantisch. Gehen wir Essen.“ „Jetzt doch?“ „Natürlich. Du wolltest das doch machen. Also machen wir es.“ „Und dein Picknickkorb?“ Irgendwie ging dieser Abend in die ganz und gar falsche Richtung. Aber warum regte sie sich auch so sehr über seinen unschuldigen Vorschlag auf? „Wir können ja auf dem Rückweg bei Genta vorbeischauen.“ Kudo gluckste kurz, aber als es nicht erwidert wurde, verwandelte er sein sich anbahnendes Lachen schnell in einen reumütigen Blick. „Na gut. Wohin wollen wir? Der Italiener im Einkaufzentrum soll ziemlich gut sein.“ Ran sah ihn nicht an. „Dann fahren wir dahin.“ Die Menschenmassen, die das Zentrum überfluteten, zeigten, dass Shinichi und Ran nicht die einzigen gewesen waren, denen der Regen einen Strich durch die Rechnung gemacht hatte. Der Inspektor spürte Rans vorwurfsvolle Blicke an seinem Hinterkopf, als er sie durch die Menschenmassen und an den Automaten, die billiges Plastikspielzeug verkauften, vorbei in das geschmackvoll eingerichtete Lokal führte. Es war überraschend leer, weshalb es ihnen nicht schwerfiel, einen Tisch zu finden. Sie nahmen Platz und bekamen ihre Speisekarten, in deren Studium sie sich sogleich vertieften, um nicht einander ansehen zu müssen. Die italienische Küche vermochte es jedoch nicht, seine Aufmerksamkeit lange zu behalten. Schnell drifteten seine Gedanken wieder zu ihrem albernen Streit ab. Falls es überhaupt ein Streit gewesen war. Wirklich harte Wörter hatten sie ja eigentlich nicht ausgetauscht. Es war einfach nur die gemeinsame Enttäuschung gewesen. Er hatte sich sehr auf diesen Tag gefreut, und sie auch. Er dachte an den liebevoll angefertigten Picknickkorb, der nun einsam im Kofferraum ihres Wagens lag, weil er so leichtfertig den Besuch dieses Italieners vorgeschlagen hatte. Er linste über den Rand der Speisekarte hinüber zu seiner Freundin, die sich durch ihr bereits auf der kurzen Strecke zwischen dem Parkplatz und des Einkaufszentrums völlig durchnässte Haar fuhr. Sie war wirklich schön. Fasziniert betrachtete er ihre Augen, ihr glänzendes Haar. Dieser Tag hätte etwas ganz Besonderes werden sollen. „Ran“, murmelte er, „es tut mir Leid.“ Sie senkte ihre Speisekarte und lächelte. Ein freundliches, offenherziges Lächeln. Ein Lächeln, das er liebte. „Dir sollte nichts leidtun, Shinichi“, murmelte sie entschuldigend, „du kannst ja nichts für das Wetter. Ich war aber etwas gemein. Ich hatte mich eben sehr auf heute gefreut.“ „Ich weiß. Du hast dir so viel Mühe mit dem Picknickkorb gegeben.“ Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ach was, das macht doch nichts. Lass uns jetzt das Beste draus machen.“ Eigentlich waren das eher banale Worte, doch zusammen mit Rans Lächeln lösten sie in Kudo etwas aus. Es gab etwas, das ihm schon lange klar gewesen war, aber das er bisher verdrängt hatte. Aus Zeitmangel, zum Teil, aber hauptsächlich weil er nicht gewusst hatte, wie er es anstellen sollte. Genau genommen wusste er das zwar jetzt nicht besser, doch der Moment schien im perfekt. Und wenn er richtig lag, waren bei einem perfekten Moment die Mittel nicht so wichtig. „Ich muss eben etwas erledigen“, sagte er, stand ohne weiteres Wort auf und stürmte los. Einen Juwelier würde er auf die Schnelle nicht finden können, und die einzige Alternative, die ihm in den Sinn kam, war auch als nächstbeste Möglichkeit fragwürdig. Er rannte zu einem der knallbunten Automaten, an denen er Ran soeben vorbeigezerrt hatte und warf ein paar hastig gezückte Münzen in den schmalen Schlitz. Ein kleines Paket fiel aus dem Automaten, er riss es aus den Plastikschichten, die es umgaben und hielt schließlich ein hübsch-hässliches Irgendwas in der Hand, das entweder eine besonders abstrakte Version eines Tieres oder eine besonders unkreative Version eines Monsters war. Wie auch immer, es war nicht das, was er brauchte. Erneut warf er eine Münze in den Automaten. Einige Minuten später war Shinichi fast froh über die Menschenmassen in dem Gebäude, denn wären es weniger Leute gewesen, wäre jemand, der hoffend sinnloses Kinderspielzeug um sinnloses Kinderspielzeug aus dem Automaten zog, sicher jemandem aufgefallen. Mittlerweile hatte er bereits zehn sinnlose Figürchen und sein Kleingeld war praktisch aufgebraucht. Mit zitternden Händen schob er seine letzte Münze in den Schlitz. Bitte, Gott, dachte er. Der Moment war so perfekt. Es musste einfach klappen. Er riss den Hebel herum und wenige Handlungen waren ihm in seinem Leben je spannungsgeladener vorgekommen. Im Fach des Automaten klapperte es verheißungsvoll. Fast traute er sich nicht, es zu öffnen, doch dann gab er sich einen Ruck, er schob die Metallklappe zur Seite. Und hielt den Atem an. Und spürte, wie ein Stein mit einer solchen Wucht von seinem Herzen fiel, dass er Angst hatte, er würde die Erdkruste durchschlagen. Und dann konnte ihn nichts mehr halten. Er bekam nicht mehr mit, wie der Junge hinter ihm in Tränen ausbrach, weil der Automat leer war. Oder wie seine Eltern ihm deswegen entnervte Blicke hinterherschickten. Shinichi Kudo rannte nur noch, rannte dem besten Tag seines Lebens entgegen. Wo blieb er nur so lange? Nachdem sie sich ausgesprochen hatten, hatte Ran eigentlich gehofft, noch einen schönen Abend verleben zu können. Und jetzt wollte Shinichi sie doch wieder versetzen? Garantiert war es wieder ein Mord, der ihn aufhielt. Dass diese Verbrecher damit auch nie bis in die Nacht warten konnten, ärgerte sich Ran. Was waren das alles für Idioten ihre Verbrechen immer tagsüber zu begehen, und immer dann, wenn sie etwas mit Shinichi vorhatte? Doch gerade als Ran ihre genervte Gedankenkette beendet hatte, sah sie Shinichi auf sich zurennen. Feuerrot im Gesicht und animalisch keuchend. Oh mein Gott, dachte sie, warum rennt er so? Der Mörder würde ihn doch nicht gerade verfolgen? Gerade, als sie ihre Hände instinktiv in die Angriffsstellung brachte, bereit, sich schützend zwischen ihren Freund und seinen Verfolger zu werfen, geschah etwas vollkommen Unerwartetes. Shinichi ging vor ihr auf die Knie. „Sh-Shinichi“, murmelte sie verdattert, „du bist zwar ein bisschen spät, aber so musst du dich nun auch nicht entschuldigen.“ Sie lockerte ihre Hände wieder, um ihm zu verdeutlichen, dass sie wirklich nicht besonders böse war. „Ran“, keuchte er, „willst du mich heiraten?“ Das brachte sie nun endgültig aus dem Konzept, falls sie so etwas vorher in irgendeiner Form gehabt hatte. „W-was?“ „Wir kennen uns nun schon so lange und ich wusste immer, dass du besonders bist“, sagte er, nicht mehr außer Atem aber immer noch unverkennbar rot im Gesicht, „und ich habe hierüber schon lange nachgedacht. Ich liebe dich Ran, und ich will den Rest meines Lebens mit dir verbringen.“ „Aber Shinichi…“, flüsterte sie und fasste sich mit der einen Hand peinlich berührt ins Gesicht, während sie die andere nach seiner ausstreckte, „das kommt so plötzlich.“ „Also, willst du?“, wiederholte Shinichi unbeirrt und lachte dabei das Lachen, das sie so liebte. Leicht affektiert, sogar ein bisschen arrogant vielleicht, aber trotzdem unendlich liebenswert. Sie fiel ihm um den Hals „J-ja.“, murmelte sie mit Tränen in den Augen, „Ja, will ich.“ Ran löste sich wieder von ihm und ließ sich den Ring anlegen. Anerkennend betrachtete sie das Schimmern des Steins im Kerzenlicht. „Was ist das für einer? Ein Diamant?“ „Na ja, es ist Plastik.“ „Plastik?“ „Ich hab‘ ihn aus einem von den Automaten.“ „Automaten?“ Sie sah ihn skeptisch an. „Du bist doch nicht etwa degradiert worden, oder? Oh mein Gott! Du hast mir den Antrag doch jetzt nicht nur gemacht, weil du dich nicht getraut hast, mir zu sagen, dass du degradiert wurdest?!“ „Sei nicht albern“, rief er entrüstet, „ich war darauf einfach nicht so gut vorbereitet. Das war ja ganz spontan und ich…“ Shinichi kratzte sich verlegen am Kopf, überlegte, wie er den Satz fortsetzen konnte, ohne als Geizkragen dazustehen. Er hätte sich die Überlegungen sparen können. Zwei Sekunden später hinderte Rans Mund auf seinem ihn ohnehin daran, etwas anderes als „Grbfhlm“ zu sagen. Obgleich mit dem Verstand eines Meisterpolizisten gesegnet, brauchte er etwas, um diese neue Situation zu erfassen. Dann jedoch schloss er die Augen, drückte seine Verlobte an sich und erwiderte den Kuss. Für Momente, die emotional wie angenehme Ewigkeiten schienen, realistisch gesehen jedoch wohl eher angenehme Minuten waren, standen sie so umschlungen da, bis weltliche Bedürfnisse Ran in die Wirklichkeit zurückholten. „Ich muss kurz aufs Klo“, sagte sie verlegen. „Okay“, lachte er, „ich geh dann schon einmal zum Auto.“ Ran war verwundert. „Wir haben doch gar nichts bestellt.“ „Wir haben ja deinen Picknickkorb.“ Sie lächelte und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. „Ist gut. Bis gleich.“ Als sie gegangen war, reflektierte Kudo noch einmal das, was er soeben gesagt hatte. „Ich liebe dich Ran, und ich will den Rest meines Lebens mit dir verbringen“ – die Worte hallten in seinem Kopf wider und er mochte ihren Klang. Er gab ihm ein Gefühl von Wärme, von Sicherheit, von Liebe. Es waren Worte die er meinte und an die er sich halten würde. Er lächelte zufrieden in sich hinein und machte sich auf den Weg, schaffte jedoch keine zwei Schritte, bevor Rans schriller Schrei die Luft durchschnitt und er wusste, dass er es noch eine Weile dauern würde, bis er das Auto erreicht hatte. Warum konnten diese Idioten einfach nicht bis zur Nacht warten? Trotz des Flashbacks hatte Kudo es auch in Gedanken versunken geschafft, wieder zu dem U-Bahnhof zurückzukehren. Die Schatten an den Gängen des Tunnels waren angsteinflößend, oder zumindest vorsichtsfördernd, doch das galt nur, wenn einem nicht alles egal war. Für den Ausbruchshelfer, Bluthund und hartgesottenen Kriminellen Shinichi Kudo war die Dunkelheit bedeutungslos. Zielstrebig marschierte er durch den Tunnel zu dem Haufen Decken, der ihm seit gestern als Schlafplatz diente. Hastig riss er das Papier von seiner Fertigmahlzeit und schlang den Fraß in wenigen Bissen herunter. Unheimlich, was aus einem Menschen werden kann. Vor einem Jahr hätte er es sicher nicht träumen lassen, dass er einen Kriminellen befreien, seinen Wärter zu Brei schlagen, eine Frau entführen und mitten in der Nacht in einem U-Bahnhof Fertigmahlzeiten in sich hineinstopfen würde. Er seufzte und griff nach der zweiten Packung. Wieder entsann er sich seiner Erinnerungen auf der Herfahrt. Es war unglaublich, wie real sich alles noch jetzt anfühlte, obwohl es gleichzeitig so fern schien. Die Röte von Rans Wangen, die Wärme ihres Kusses, das aufgeregte Schlagen seines Herzens… es war alles noch da. Kudo reflektierte noch einmal das, was er damals gesagt hatte. „Ich liebe dich Ran, und ich will den Rest meines Lebens mit dir verbringen“ – die Worte hallten in seinem Kopf wider und er konnte ihren Klang kaum ertragen. Er gab ihm ein Gefühl von Kälte, von Rastlosigkeit, von Hass. Es waren Worte, die er ehrlich gemeint hatte und an die er sich nicht hatte halten können. Er ballte seine Faust und stand auf, um das Gegenteil von Essen zu verrichten, schaffte jedoch keine zweite Schritte bevor sich eine massige Gestalt vor ihm aufbaute. Das Gesicht der Person konnte er in der Finsternis kaum erkennen, doch sie löste, groß und breit gebaut, seinen Fluchtreflex aus und er stürmte in die entgegengesetzte Richtung davon. Am Klang der Schritte konnte er hören, dass die Person ihn verfolgte. Polizei? Ein Obdachloser, der auf eine Revierstreitigkeit aus war? Kudo wusste es nicht, und Zeit nachzudenken blieb ihm auf nicht. Er sprintete weiter, warf immer wieder nervöse Blicke an die Wand, und maß den Abstand seines Schattens zu dem seines Verfolgers. Mit jedem Mal, das er nachsah, wurde er kleiner. Kudo versuchte, sein Tempo noch weiter zu erhöhen, das letzte aus seinen Muskeln herauszuholen. Seine Beine brannten, seine Lunge fühlte sich an wie unter tausend Nadelstichen, jeder Teil seines Körpers wollte ihn zu einem Stopp bewegen, doch er kämpfte weiter. Das … Auto … Muss … zum … Auto. Etwa hundert Meter entfernt sah er die Drehkreuze. Dieser Bereich des Bahnhofs war selbst zu dieser Nachtzeit noch erleuchtet. Das Licht brannte in seinen Augen, womit sie sich in sein ohnehin viel zu großes Sortiment der schmerzenden Körperteile einreihten. Es war unwichtig, geradeaus rennen konnte er auch halb blind. Er war jetzt bei den Kreuzen angelangt, sprang in einem beherzten Satz über sie hinweg und rannte weiter. Vielleicht ist mein Verfolger ja bei der Polizei und lässt brav sein Ticket einlesen? Seine Lunge hatte ihre Grenzen fast erreicht. Er keuchte. Nur einmal hatte sich sein Körper so angefühlt. Damals, als er Ran den Ring geben wollte, war es auch um jede Sekunde gegangen. Nur nicht später kommen als nötig, hatte er gedacht. Renn um dein Leben. Das hatte er getan. Und jetzt musste er es wieder tun. Die Treppe hatte er überwunden, jetzt war sein Wagen nur noch wenige Meter entfernt. Er entriegelten den Wagen elektronisch, riss die Tür auf und ließ den Motor an. Er hatte es geschafft. Er war entkommen. Grinsend fuhr er los. Ein wenig plagte ihn die naturgemäße Neugier in Hinblick auf die Identität seines Verfolgers schon, doch es gab Wichtigeres. „Stehenbleiben!“, rief eine Stimme, die er kannte, aber nicht sofort zuordnen konnte. Die Gestalt stürmte die Treppe hoch aus dem U-Bahnhof in die Nacht. Als Kudo erkannte, wer es war, fiel ein Schuss. Er traf nichts, doch die Botschaft war klar. „Stehenbleiben, habe ich gesagt!“ Kommissar Otaki stürmte mit gezückter Waffe zu Kudos Fahrertür. „Stehenbleiben und aussteigen!“ Kudo gehorchte – was sollte er tun? Er hatte es nicht geschafft. Er war nicht entkommen. „Hallo, Shinichi“, begrüßte ihn Heijis alter Kumpel mit einer traurigen Stimme, einem traurigen Gesicht und hängenden Schultern, „hast‘ ‘n ordentlichen Sprint hingelegt, aber bitte mach‘ jetzt keine weiteren Probleme.“ „Habe ich nicht vor“, gab Shinichi zurück und wartete auf den Klang von Sirenen, doch er hörte keine. Ein Hoffnungsschimmer? „Ihre Kollegen lassen sich aber Zeit.“ „Die kommen nich‘. Nur du und ich hier.“ Als Kudo das hörte, öffnete er das Handschuhfach. Otaki erschrak. „Was hast du vor?“ Kudo hob beschwichtigend eine Hand und zog mit der anderen Stift und Papier aus dem Fach. „Wie haben Sie mich gefunden?“, fragte er. Der Polizist starrte immer noch verwirrt auf Kudos Hand mit dem Schreibwerkzeug. Als er seinen Mund abermals öffnete, bedeutete Kudo ihm zu schweigen. Er öffnete die hintere Wagentür, schob seinen Fuß unter den Sitz und holte vorsichtig ein kleines Gerät nach vorne. Als Otaki erkannte, um was es sich bei dem schwarzen Kasten handelte, schloss er seinen Mund wieder. „Also?“, wiederholte Kudo seine Frage und kritzelte dabei etwas auf das Papier. „Na ja“, Otaki kratzte sich am Kopf und folgte fasziniert Kudos Fingern, „vor ein paar Minuten hat ‘ne Kassiererin bei uns angerufen, dass se dich gesehen hätt‘, wie de da eingekauft hast. Und na ja, du bist jetzt schon ‘ne Weile auf der Flucht, also war davon auszugehen, dass de, wenn de noch in Osaka bist, ‘nen Versteck hast. Zu weit von dem Laden konnte es nicht entfernt sein, wär ja ‘n Risiko, und ich kenn die Stadt gut genug, um zu wissen, dass der U-Bahnhof das einzige is, was da in Frage kommt. Schließlich is‘ man nur da wirklich vor Blicken geschützt.“ „Heiji wäre stolz auf Sie“, murmelte Kudo anerkennend, was die Falten in Otakis Gesicht nur noch vertiefte. „Wenn er es mitbekommen würde, sicher.“ „Wird er immer noch vermisst?“ Eigentlich war die Frage sinnlos. Natürlich wird er das. Etsuko wirft keine Trümpfe weg. Nicht, wenn sie sie so bitter nötig hat. „Ja“, Otakis Stimme war rau und belegt, „und du hast ihn Higa gegenüber erwähnt. Weißt du, was mit ihm is‘?“ Wieder notierte Kudo etwas auf das Blatt. Ja. Ich weiß, wer ihn hat. Er ergänzte noch einen Satz und überreichte die Notiz dem Polizisten. „Tut mir leid, ich kann Ihnen da nicht weiterhelfen, Kommissar“, sagte er, während Otaki mit geweiteten Augen las. „Schade“, murmelte Otaki und zückte seinerseits einen Stift, „deshalb war ich zuerst allein gekommen. Dachte, du redest vielleicht besser ohne einen Haufen Polizisten. Aber jetzt komm bitte mit.“ „Das kann ich nicht.“ „Es tut mir wirklich leid, Shinichi, aber bitte komm mit. Lass uns diese Sache auf dem Revier klären. Du kannst auf meine Hilfe zählen.“ Er gab Kudo das Blatt zurück. Dann ging alles schnell. Shinichi stieß Otaki mit voller Wucht nach hinten, woraufhin dieser auf den Asphalt krachte und aufstöhnte. „Kudo! Bleib hier!“, brüllte der Kommissar laut, doch die Motoren des Audis heulten auf und wenige Sekunden später war Shinichi Kudo verschwunden, wieder ein Teil der Nacht. Der gelbliche Zettel war aus der offenen Wagentür herausgeweht und in einer Pfütze gelandet. Otaki bückte sich und hob ihn auf. Das Papier wellte sich, doch trotz des dreckigen Wassers war ihre Konversation zumindest noch teilweise lesbar. Ja, ich weiß, wer ihn hat. Aber er schwebt in großer Gefahr, und die Person, die ihn hat, will mich erpressen, also brauche ich ihre Hilfe – wenn Sie mich verhaften, wird er sterben. Ist gut. Ich halte mich an das, was du oben geschrieben hast. Außerdem werde ich die Anrufprotokolle löschen, damit niemand weiß, dass du gesehen wurdest. Ich werde dich jetzt „verhaften“ – wehre dich und hau ab. Was genau Kudo oben geschrieben hatte, war nicht mehr zu lesen, doch das war auch nicht nötig, denn es war Otaki noch absolut präsent. Der Kommissar betrachtete müde die Reifenspuren, die dort waren, wo eben noch der Audi gestanden hatte. Ich hoffe, du und Hei-chan kommen aus dieser Sache raus. Viel Glück, Shinichi Kudo. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)