Far out of Sight von Selia ================================================================================ Kapitel 1: ° ------------ Der Schneefall hatte nicht aufgehört in den vergangenen Tagen. Vielmehr schien er zwischendurch pausiert zu haben, so als ruhten sich die Wolken aus, ehe sie wieder genügend Vorräte gespeichert hatten, um weitere Flocken auf die Erde segeln zu lassen. Die Winde waren mild, zum Glück, wie Toris dachte und kurz den Kopf in den Nacken legte. Schneidend durften sie nicht werden; dann würde es unangenehm sein, das Haus zu verlassen. Selbst im Haus, beim Feuer, wäre es dann bald unangenehm, da die Kälte, die von dort kam, wo er sich nicht auskannte, durch jede noch so feine Ritze kroch. „Nimm dich in Acht!“, hatte man ihm immer gelehrt und Toris tat, wie ihm geheißen. Er nahm sich in Acht – vor dem unerbittlichen Wetter, vor dem stetig sein Flockenkleid weiter ausbreitenden Winter, und vor Fremden. Grenze an Grenze zu wohnen, war immer ein Risiko. Zustände, Angreifer, konnten hinüber schwappen. Konnten über ihn herfallen wie es die Flocken taten. Mit unerhörter Leichtigkeit oder mit purer Gewalt. Ein Tropfen Eiswasser bildete sich auf Toris’ linker Wange, als dort eine Flocke zerschmolz und letztlich ihren Weg hinab in seinen Schal fand. An seinem rechten Bein spürte er die trotz Kälte beständige Wärme seines pelzigen Gefährten, der gehorsam neben ihm wartete. Darauf, dass Toris sich wieder in Bewegung setzen und sie nach Hause geleiten würde. Hinter den hohen, sich schier ewig duplizierenden Baumkronen, die vom Schneeweiß besetzt waren, erstreckte sich der frühe Nachmittag und zog eine ebenso weiße Sonne hinter sich her, die nicht von den Wolken zu unterscheiden war. Nicht all zu bald würde die Dunkelheit über den Schnee kriechen, diesen gleißend färben. Die Nacht durfte nicht schneller sein als er. Auch heute war es töricht gewesen, herzukommen. Zu der Brücke, die ihn seit einigen Wochen immer wieder anzog. So als rufe sie seinen Namen, seit er kürzlich das fremde Kind dort gesichtet hatte. Bei den Wäldern hatte der Junge mit den blassblonden Haaren gestanden und ihm Hallo gesagt. Freundlich hatte er ausgesehen und Toris war nur eines in den Sinn gekommen: so heruntergekommen wie die Anziehsachen des Jungen waren, konnte er dort nicht bleiben. Er würde sich den Tod holen. Aber die andere Nation hatte seine Bedenken nicht hören wollen. Unter den hellen Haarsträhnen war ein lächelndes Gesicht gewesen, jung und unbeirrbar. Der Junge hatte einfach das Thema gewechselt. So als müsse man seine Gesundheit, sein Wohlergehen, nicht zur Debatte stellen. Toris hätte unter anderen Umständen sicher darauf beharrt, den Jungen zumindest auf eine warme Mahlzeit einzuladen, doch er war abgelenkt gewesen. Sein Gefährte war in gellendes Bellen ausgebrochen. Hatte aufgeregt mit den Pfoten gescharrt und in Richtung des Waldes, des Fremden gekläfft. So wie Toris es normalerweise nur kannte, wenn des nachts ein Einbrecher ums Haus schlich oder etwas Anderes das gehorsame Tier derart verstörte, dass es sich Alarm zu schlagen genötigt fühlte. Ein wenig unangenehm war es Toris in jedem Falle gewesen. Der Junge sollte sich nicht unwillkommen oder gar abgelehnt fühlen durch die Belltirade. Entsprechend hatte Toris seinen Hund zur Ruhe angehalten. Erfolgreich. Die neu eingekehrte Stille, in der Wind und Schnee einander wogen, hatte Toris seinen Verdacht äußern lassen. Der Junge, das hatte er gespürt, musste ein Land sein. Eines, das er noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Er hatte Recht. Vom anderen Ende der Brücke bestätigte der Junge dies, die Hände in seinen weiten Schal vergrabend und auf dem Gesicht einen Ausdruck, der ferne Sehnsüchte trug, als er sprach. Mit einer Stimme, die genauso voller kindlicher Sehnsucht war wie seine Miene. Danach war alles so schnell gegangen... Von Freundschaft hatte der Junge gesprochen. Toris hatte sie ihm angeboten, doch die fremde Nation hatte abgelehnt. Noch nicht. Und von noch etwas hatte er gesprochen. Von Besetzung. Besetzung durch die Goldene Horde. Ein Frösteln durchlief Toris’ gesamten Körper, ließ seine Muskeln zittern und ihn mit den Zähnen klappern, als er daran zurückdachte. Dieses Empfinden, was er an diesem Tag verspürt hatte, ließ ihn seither nicht los, sondern hatte ihm eine aufmerksame Besorgnis eingepflanzt. Was auch immer dort war, wo mehr und mehr Schnee fiel und was seinesgleichen nicht mehr als belebbares Territorium abtat, es ließ ihn erschauern. Der andere Junge, diese kleine Nation mit dem Wunsch nach Freundschaft, war womöglich gefallen – oder würde es vielleicht bald tun. All die Kälte, all der Schnee; immerfort hatte Toris den klammheimlichen Verdacht gehabt, sie kämen aus der Richtung, in die das Kind gelaufen sei. Von den weiten Wäldern, die Toris nicht zu überblicken fähig war. Die sich seiner Reichweite entzogen und nichts Erstrebenswertes, bloß Kälte, lieferten. Wie sollte ein Kind in zerlumpter Kleidung dort überleben? Gar nicht, hatte ihm eine innere Stimme zugeflüstert und ihn mit einem unguten Bauchgefühl zurückgelassen. Beinahe glich es Schuld, die er verspürte. Er hatte den Jungen einfach fortlaufen lassen. Ins eisige Nichts. Wenn er nun längst erfroren war? Angetrieben von dieser Befürchtung hatte sich Toris immer wieder entlang der Brücke wandern sehen. Der Schnee mittlerweile so hoch wie seine Knie, hatte er dort an etlichen Tagen gestanden und suchend Ausschau gehalten. Ohne je jemandem von seiner Begegnung zu erzählen; man war vorsichtig, was Fremde betraf. Doch der Junge würde keinen Ärger machten; dachte Toris zumindest... Neben seinem Bein raschelte der Schnee, als sein Hund sich plötzlich anspannte wie ein Flitzebogen und ein Knurren ausstieß. „Hm?“, folgte Toris dem Blick seines Gefährten und konnte, die Augen ob des stöbernden Schnees halb zugekniffen, kurz darauf wahrhaftig etwas zwischen den dichten Bäumen erkennen. Die kleine Person schien ihn ebenfalls in just diesem Moment zu bemerken und hielt in seinen Bewegungen inne. Davon abgesehen machte der Junge aber keinerlei Anstalten einem näher zu kommen. Toris hingegen gab sich einen Ruck und näherte sich mit einem verhaltenen „Hallo“ an. Mittlerweile hatte er die Brücke gänzlich passiert und konnte in das leicht lächelnde Gesicht blicken. „Oh, guten Tag“, grüßte der andere zurück, machte aber einen Schritt zurück in den Wald. So als wolle er sich im Schoße dieser unbekannten Winterkälte verschanzen. Was versprach sie ihm denn bitteschön? Toris kam es merkwürdig vor, so wie ihm restlos alles an dem Jungen seltsam vorkam. Schal und Mantel und Stiefel waren so dermaßen abgetragen, dass man wohl nicht umsonst befürchtete, Eis oder Lungenentzündung würden ihn bald überwältigen. „Du hast deinen süßen Hund ja wieder dabei“, sprach der blonde Junge dann unerwartet und legte den Kopf schief. Toris’ Hand wanderte automatisch zum Halsband seines noch immer höchst aufgebrachten Begleiters, der zwar dieses Mal nicht in wüstes Gebell ausgebrochen war, aber jeder Zeit auf ein Kommando seinerseits den Angriff aufnehmen würde. Nickend wandte sich Toris an das Tier: „Sitz!“ Der Hund tat, wie ihm geheißen. Selbst wenn seine Muskeln den Befehl nur widerwillig auszuführen schienen. „Du bist zurück gekommen...“, stellte Toris leise fest, als sich zwischen ihnen nur noch Wind und Wetter zu unterhalten schienen. Vielleicht brauchte der Junge Zuflucht, traute sich aber nicht, danach zu fragen? Doch einer anderen Nation Zuflucht zu gewähren, war keine einfache Angelegenheit. Es würde Konsequenzen nach sich ziehen und Toris kam sich, kaum dass in seinem Kopf diese Bedenken aufkeimten, schäbig vor. Man sollte helfen, wo Hilfe nötig war und nach dem letzten Gespräch zu urteilen, hatte der Fremde nicht mal einen Freund... Gewiss hatte er ja nicht umsonst nach Freundschaft gefragt. Dann wiederum hatte er sie aber verweigert. Toris ging dies nicht aus dem Kopf. Gleichzeitig schöpfte er Hoffnung. Vielleicht hatte der andere seine Meinung mittlerweile geändert? Kam sich nun ‚stark’ genug vor? „Bist du hier, damit wir Freunde werden können?“ Toris’ Worte segelten zerbrechlich über die dicken Schneeflocken hinweg und ließen die bleichen Wangen des anderen Jungen einen Deut rosiger erscheinen. Seine Augen schlossen sich, als er selig breiter lächelte. „Nein.“ Toris’ Schultern sackten ein deutliches Stück herab, kaum dass sein Verstand die Ablehnung angemessen verarbeitete. Bis zu diesem Augenblick war ihm nicht mal bewusst gewesen, sich bemüht gerade hingestellt zu haben. Doch die Frage hatte ihn Mut gekostet. Ihm wurde kalt. „...also nicht“, flüsterte er sich selbst zu und hörte gleichermaßen Enttäuschung sowie Beruhigung in seiner Stimme mitschwingen. „Warum dann?“ Der andere Junge ließ die Hände wieder in seinen Schal wandern und rückte diesen zurecht, damit weniger Winterluft durch die vereinzelten Löcher drang. „Ich wollte nur schauen... was dem Winter gehört.“ Toris’ Augenbrauen verzogen sich kritisch; mitunter, da er nicht mit Bestimmtheit sagen konnte, ob er den Jungen akustisch richtig verstanden hatte. Dessen lilaleuchtende Augen schienen ihren Blick an Toris vorbei gleiten zu lassen, weit über das in weiß gekleidete Land, das den Namen Litauen trug. „Irgendwann gehört alles, was dem Winter gehört, mir. Dann, wenn ich stark genug bin. Dann können wir endlich Freunde sein, ja?!“ Wiederum zweifelte Toris an seinem Gehör. Vielleicht stand der Wind ungünstig, vielleicht intrigierte er mit den schweren, schneegebeutelten Bäumen gegen ihn? Denn was der Junge sagte, ergab keinen rechten Sinn. Der Winter machte doch vor nichts und niemandem Halt! Er war erbarmungslos in seinem Vorgehen und es war ihm egal, wenn Kinder unter seiner Decke ihren sicheren Tod fanden. Es gruselte Toris. All das hier gruselte ihn. Ein trockenes Schlucken presste sich seine Kehle hinab. Fast begann er, laut mit den Zähnen zu klappern, als eine plötzliche Böe an seinem Mantel riss und ihm ins Gesicht schlug. Als Toris die Augen wieder öffnete, bemerkte er, dass sich sein Gegenüber von ihm abwandte. „Warte!“ Er wollte nicht, dass der Junge wieder spurlos verschwand. Tatsächlich hielt der Angesprochene verwundert inne und Toris bemühte sich, möglichst rasch zu ihm durch den Schnee zu stapfen. „Hier! Der Winter wird sonst noch dein sicherer Tod!“ Noch während der Dunkelhaarige alarmiert sprach, zog er sich die neuen Handschuhe von den Fingern und hielt sie dann dem anderen hin. Seit ihrer letzten Begegnung musste Toris gewachsen sein. Nicht viel, aber er überragte den Fremden um wenige Zentimeter. Vermutlich fehlte dem Jungen auch die Basis, um überhaupt anständig wachsen zu können. Zumindest jetzt noch unter der Fremdherrschaft... „Ah...!“ Die Miene des anderen Jungen legte den überraschten Ausdruck ab und kehrte zu ihrem Lächeln zurück. Anstalten, um nach den Handschuhen zu greifen, machte er allerdings keine. Toris’ Finger wurden unterdessen eiskalt. Zwischen ihnen warf der Wind übermütig Schnee umher. „Der Winter...“, flüsterte der Blonde schließlich belegt, noch immer lächelnd, aber plötzlich nicht mehr über die nötige Kraft verfügend, Toris dabei ins Gesicht zu sehen. Seine Aufmerksamkeit schien erneut in die weiten Fernen abzudriften. Dabei wirkten seine Augen ermattet, regelrecht betrübt, erloschen und müde, allerdings konnte sich Toris keinen Reim darauf machen. Stattdessen ließ er verschreckt die Handschuhe fallen, als der andere Junge seine rechte Hand leicht ausstreckte und Toris so erstmalig ihre Innenseite zu Gesicht bekam. Sie war rot. Rot von getrocknetem Blut. Ohne darüber nachzudenken, wich Toris zurück. Zwei Schritte, dann zwei weitere. In ihm loderten Angst und Panik plötzlich so hoch wie die Flammen eines Scheiterhaufens. Dass die Handschuhe im neu gefallenen Schnee quasi versackten, war ihm unter diesen Umständen egal. Das Gesicht des Blonden hielt trotz einkehrender Irritation das Lächeln aufrecht. Nur die Augen ließen auf etwas Anderes, wohl gar tiefsitzenden Schmerz schließen. „Ich arbeite schon ganz hart, damit ich groß und stark werde. Und wenn ich erst mal stark bin, werden wir wirklich Freunde sein. Du wirst sehen. Warum..läufst du weg...?“ Toris kannte die Antwort nicht. Aber noch während der andere sprach, hatte ihn die schiere Angst endgültig übermannt, sodass er herumwirbelte und einfach nur rannte. Durch den Schnee, über die Brücke, weg vom Wald. Weg von der fremden Nation. Hauptsache weg! Weg, weg, weg! Neben ihm wetzten die vier Pfoten seines Hundes über den Boden, ließen gleichsam wie Toris’ Stiefel Schnee hoch fliegen und ihn erst stoppen, als seine Lunge brannte und er keinen Schritt mehr tun konnte. Mit Schwindel im Kopf und einem Herz in der Brust, welches ihm den Brustkorb zu sprengen drohte, stützte sich Toris an eine nahe gelegene Häuserwand. Seine Knie waren weich, seine Muskeln hissten die weiße Flagge. Vor seinem inneren Auge thronte nach wie vor das Bild der völlig blutverschmierten Handinnenfläche. Es war nicht das Blut des Jungen gewesen, oder? Er hatte nicht verletzt gewirkt. Toris hatte zumindest keine Wunde in der Handfläche erspäht. Nur das Blut. Dieses dunkelrote, in allen Linien festsitzende Blut... Zitternd legte Toris seine steif gefrorenen Finger zusammen; seine Lunge haschte rasselnd nach Sauerstoff. Nie wieder. Nie wieder würde er zu der Brücke gehen. Nie wieder den Jungen suchen, der dorther kam, wo der Winter zu residieren schien... Toris wollte keine Freunde mehr, an deren Händen Blut klebte. Denn womöglich – damit musste man leider immer rechnen –,würde es irgendwann das eigene Blut sein. Over my shoulder Running away Feels like I'm falling Far out of sight .° .° °. Cold Drunk Tired Lost. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)