So schnell von Niekas (Eine Geschichte, in der alle Kapitel übertrieben lange Titel haben, die sogar noch länger sind als dieser Untertitel) ================================================================================ Kapitel 8: Achtes Kapitel, in dem Ivan eine Lösung für sein Problem findet, die für Gilbert ein Problem darstellt, während Toris ein ganz anderes Problem hat – bis Ivan alles wieder gut macht ----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- Gilbert Ich erwache davon, dass es an der Tür klopft. Verschlafen öffne ich die Augen. Ich habe irgendetwas geträumt, kann mich aber nicht mehr daran erinnern, was es war. „Gilbert?“ Mir wird schlagartig kalt. Braginsky. Auch das noch. Den gesamten vergangenen Tag über hat er kein Wort mit mir gewechselt. Ich habe ihn zum ersten Mal sprechen hören, als er Galante gegen Abend gesagt hat, er sollte doch bitte in seinem Zimmer Staub wischen. Bevor ich mich entschieden habe, ob ich aufstehen, liegen bleiben oder Braginsky die Krätze wünschen soll, öffnet er die Tür und kommt herein. Er trägt ein Bündel Kleider über dem Arm, das er ohne jede Begrüßung auf meinem Fußende ablädt. „Du wirst abreisen.“ Langsam setze ich mich auf, fahre mir durch die Haare und gähne. „Wie bitte? Ich glaube, ich höre schlecht um diese Uhrzeit. Könntest du das wiederholen?“ „Du hast mich sehr gut verstanden“, sagt Braginsky humorlos. „Du wirst dieses Haus sofort verlassen. Die Kleider darfst du mitnehmen. Bei den Fetzen, in denen du angekommen bist, denke ich nicht, dass du zu Hause bessere hast. Sieh sie als Geschenk.“ „Ich brauche keine Geschenke von dir“, knurre ich. „Und außerdem werde ich jetzt nicht einfach von hier abhauen.“ „Ach nein? Warum nicht?“ „Nicht, bevor du geschworen hast, dass du Galante...“ Er lacht kurz auf. „Ach, geht es immer noch um den kleinen Raivis? Falls es dir noch nicht aufgefallen sein sollte, ich trage die Verantwortung für ihn. Ich behandle ihn so gut, wie es irgend möglich ist.“ „Ach ja?“ Ich lache spöttisch. „Das glaubst du doch wohl selbst nicht! Was war dann das gestern Abend?“ „Gestern Abend?“, wiederholt Braginsky gedehnt. „Was war da?“ „Du hast ihm irgendeine sinnlose Arbeit aufgebrummt, als er schon ins Bett gehen wollte. Er war todmüde, hast du das nicht gesehen? Aber nein, er musste noch etwas tun. Nachdem ich von...“ Im letzten Moment beiße ich mir auf die Lippe. Braginsky muss nicht wissen, dass ich gestern bei Lorinaitis war. „Ich meine, nachdem ich gestern... Gestern Abend gegen elf habe ich noch einmal nach ihm gesehen, und er war immer noch nicht im Bett! Reichlich spät für einen Jungen in dem Alter, der um sechs schon wieder raus muss.“ „Ach?“, fragt Braginsky und zieht eine Augenbraue hoch. „Glaubst du etwa nicht, ich hatte einen guten Grund, ihm diese Aufgabe zu geben?“ „Nun...“, beginne ich und breche ab. Einen Grund? War es etwa nicht aus purer Schikane, um mir zu zeigen, dass er es kann? Aber das kann nicht alles sein. Etwas liegt in Braginskys Blick, ein Leuchten, das mit einen leichten Schauer über den Rücken jagt. Es kann nichts Gutes bedeuten. „Was war das für eine Aufgabe?“, frage ich. „Und was“, fährt Braginskys einfach fort, ohne auf die Frage einzugehen, „lässt dich annehmen, Raivis wäre nicht vor elf Uhr schon im Bett gewesen?“ „Aber ich habe...“, beginne ich und breche ab. Vor meinem inneren Auge sehe ich das leere Zimmer, in dem ich war. Galantes spartanisch eingerichtetes Zimmer, das Bett unberührt. Er selbst nirgendwo zu sehen. „Er war nicht im... nicht in seinem Bett“, flüstere ich. „Nun, dem ist nichts hinzuzufügen“, stimmt Braginsky zu und zuckt die Achseln. „Braginsky“, sage ich sehr leise und versuche, meine Stimme am Zittern zu hindern. „Wenn das hier ein Scherz sein soll, ist es ein verdammt schlechter.“ „Wieso Scherz?“, fragt er gespielt überrascht. „Ich war einsam, und ich hatte Toris nicht zur Verfügung. Ich mag es nicht, einsam zu sein.“ „Du hast...“, beginne ich und bringe es nicht heraus. „Es war eine Falle, oder? Du hast ihn zu dir gelockt, nur um... nur um...“ Er sieht mich an und zieht fragend eine Augenbraue hoch. Und ich wollte Galante beschützen, schießt es mir durch den Kopf. Beschützen, und stattdessen ist alles noch schlimmer geworden. „Schwein“, würge ich hervor und balle die Fäuste. „Du verdammtes... verdammtes Schwein!“ Ich stürze mich auf ihn, aber er reagiert schnell. Als ich aufspringe, ist er schon zur Tür zurückgewichen und zieht sie von außen zu. Eine halbe Sekunde später werfe ich mich mit meinem gesamten Gewicht dagegen. Das Holz bebt, gibt aber nicht nach. „Lass mich raus!“, brülle ich ihn an, zerre erfolglos an der Klinke und schlage gegen die Tür. „Sofort!“ „Ich mache dir ein Angebot, Gilbert“, erklingt seine ungerührte Stimme von draußen, während er einen Schlüssel im Schloss dreht. „Du wirst sofort von hier abreisen, dich aber regelmäßig bei mir melden. Wenn du dich vorbildlich benimmst – und ich meine nicht einfach gut, sondern vorbildlich, hast du verstanden? –, werde ich versprechen, Raivis gut zu behandeln.“ „Du tickst doch nicht mehr ganz sauber! Ich soll einfach hier abhauen und ihn völlig schutzlos dir überlassen?“ „Wenn du nicht tust, was ich sage, kann ich für nichts mehr garantieren. Entweder hältst du dich an meine Bedingungen, oder du lebst mit den Folgen.“ „Einen Teufel werde ich tun!“, heule ich wütend. „Lass mich hier raus!“ „In einer halben Stunde kommt ein Auto und holt dich ab. Pack deine Sachen.“ Ich schlage mit den Fäusten gegen die Tür, aber sie öffnet sich nicht. Über mein eigenes Hämmern höre ich kaum, wie Braginskys Schritte sich entfernen. Ivan Ich schließe die Tür auf und erwarte halb, dass Gilbert mir an die Kehle springt, doch nichts passiert. Erleichtert öffne ich die Tür vollständig. Gilbert sitzt auf seinem Bett, den geschlossenen Koffer neben sich und ein kleines Vögelchen auf der Schulter. Er starrt mich an, sagt aber kein Wort. In seinem Blick liegt Wut, aber es ist eine ohnmächtige, verzweifelt beherrschte Art von Wut. Er wird nicht auf mich losgehen, denke ich, er wird sich zurückhalten. Sein Wille ist nicht gebrochen, nur für den Moment irgendwo eingesperrt. Diese Lösung gefällt mir. „Du hast die Kleider eingepackt“, stelle ich mit einem Blick auf das leere Fußende fest. „Du hast doch gesagt, ich könnte sie nehmen“, erwidert er und starrt mich unverhohlen an. „Ja, selbstverständlich.“ Ich lächle ihn an. „Gut, dass du langsam vernünftig wirst. Hast du sonst alles?“ Er nickt wortlos. „Dann komm. Der Wagen wartet schon.“ Er steht auf und greift nach dem Koffer, zögert aber noch kurz. „Ist etwas nicht in Ordnung?“ „Galante“, murmelt er. „Wo ist er?“ „Das geht dich nichts an“, antworte ich freundlich. „Ich will ihn sehen.“ „Ja, das glaube ich dir.“ Seine Unterlippe bebt – nicht, als wolle er weinen, sondern so, als würde er mich gleich anschreien. Ich lächle. „Es geht ihm den Umständen entsprechend gut. Und solange du brav bist, wird das auch so bleiben.“ „Ich möchte mich von ihm verabschieden“, sagt Gilbert leise. „Nur ganz kurz.“ „Nein“, antworte ich unverändert freundlich. In seinem Blick liegt ein solcher Hass, ein solcher Ekel, dass ich spüre, wie ich rot werde. Was für eine groteske Situation, denke ich. Von vorne bis hinten grotesk. „Dann... kann ich ihm schreiben? Später, meine ich. Wenn ich wieder zu Hause bin.“ „Natürlich kannst du das. Ob er die Briefe bekommt, ist eine andere Frage.“ Ich kann seinen Blick nicht mehr ertragen, wende mich ab und tue so, als würde ich es nur tun, um die Tür weit zu öffnen. Er gibt es auf, mit mir reden zu wollen, drückt den Koffer an sich und geht an mir vorbei. Der Ärmel seines Hemdes (eines, das ich ihm gegeben habe – wie erleichternd) streift meine Brust. Einen Moment lang bleibe ich stehen und spüre der Berührung nach, die eigentlich gar keine war. Nur Stoff, kein Hautkontakt. Hautkontakt ist etwas, das mir fehlt, seitdem Toris sich so bockig verhält. Hoffentlich wird er sich wieder beruhigen, denke ich. Sobald Gilbert wieder weg ist, drehe ich die Uhren zurück. „Wo geht’s hier raus?“ „Folge mir“, sage ich und gehe voraus über den Flur. Ich warte darauf, dass Gilbert etwas sagt wie Endlich komme ich aus diesem Drecksloch raus. Zu meiner Überraschung hält er den Mund, die ganze Zeit lang, bis wir die Haustür erreichen. Anscheinend trägt die kleine Notlüge mit Raivis mehr Früchte, als ich es mir hätte träumen lassen. Das kann nur gut sein, denke ich. Oder etwa nicht? „Dieser Wagen ist es.“ „Ist ja auch der einzige, der da ist“, brummelt er in seinen Bart und steigt die Treppenstufen hinab in den Hof vor dem Haus, auf dem der Wagen mit laufendem Motor parkt. Ein Soldat, der neben dem Kofferraum steht, nimmt ihm den Koffer ab und verstaut ihn. Gilbert würdigt den Mann keines Blickes, soweit ich erkennen kann. Er sieht sich zu mir um, mit einer Hand abwesend über das Gefieder des Vögelchens auf seiner Schulter streichelnd. „Ich verlasse mich darauf, dass du dein Wort hältst, Braginsky“, sagt er düster. „Natürlich tue ich das“, sage ich. „Ich werde Raivis kein Haar krümmen, solange du dich ruhig verhältst. Es sei denn, er selbst zwingt mich dazu.“ Gilberts Lippen werden schmal. Er streicht etwas zu fest über den kleinen Vogel, der sich erschrocken auf seiner Schulter zusammenkauert, dann den Kopf ausstreckt und tadelnd nach Gilberts Zeigefinger pickt. Gilberts Hand zuckt zurück, und einen Moment lang sieht er aus, als wollte er das possierliche Tierchen packen und ihm den Hals umdrehen. Nach einer Schrecksekunde weicht die Wut aus seinem Blick und seine geballten Fäuste entspannen sich wieder. Er sieht müde aus, denke ich. Beinahe resigniert. Wortlos nimmt Gilbert den Vogel von seiner Schulter, haucht einen Kuss auf den kleinen, flaumigen Kopf und schiebt ihn unter seinen Kragen. Er sieht mich ein letztes Mal an und nickt. Danach dreht er sich um und steigt in den Wagen. Ich bleibe auf dem obersten Treppenabsatz stehen und überlege, wann ich ihn wiedersehen werde. Spätestens dann, wenn er in irgendeiner Art aufmuckt. Wie lange es wohl bis dahin dauern wird? Ich bemerke, dass ich wann frage und nicht ob. Selbstverständlich wird Gilbert nicht ewig eingeschüchtert bleiben, er ist schließlich nicht wie Raivis. Eines Tages wird seine alte Unbeugsamkeit zurückkehren, vielleicht penetranter als je zuvor. Aber wenn es passiert, wird er nicht in meiner Nähe sein, denke ich. Soll sich sein Boss doch mit ihm herumschlagen. Wenn es passiert, ist es nicht mehr mein Problem. Toris Dunkel, so dunkel. Irgendetwas tropft, weit entfernt, tropft und tropft, und ich habe Hunger. Es ist so kalt, und es tropft. Ich kann kaum noch klar denken. Unser Vater im Himmel, geheiligt werde Dein... Ich kann nicht denken. Warum ist es so dunkel? Wenn ich nach ein paar weiteren Stunden unruhigen Schlafes in der feuchten Kälte die Augen öffne, bleibt es dunkel. Es ist falsch. Wenn man morgens die Augen aufschlägt, muss es hell sein. Meine Augen sind schon offen, aber es bleibt dunkel, ich will sie noch einmal öffnen, kann man offene Augen öffnen? Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben... wir vergeben... tun wir? Vergeben wir? Ich will hier raus. Ich will. Vielleicht bin ich blind. Blind, taub, stumm. Ich kann nicht sprechen. Ich möchte singen, völlig egal, was, komm, lieber Mai, und mache die Bäume wieder grün... aber ich kann nicht sprechen. Stumm und taub. Und so dunkel, so dunkel. Augen, Ohren, Mund ausgeschaltet, nur die Nase funktioniert noch, es stinkt nach Pisse. So dunkel. Ich will die Augen aufmachen, aber es bleibt dunkel. Komm, lieber Mai, ich bin hier. Gleich hier. Wo bist du? Die Tür, die über den Boden schleift, und plötzlich ist es hell, ohne dass ich die Augen geöffnet hätte. Hatte ich sie die ganze Zeit geöffnet? Vielleicht das Gericht, denke ich, vielleicht der jüngste Tag. Was habe ich getan? Erlöse uns von dem Bösen. Bin ich das Böse? Soll irgendwer oder irgendetwas von mir erlöst werden? „Toris?“ Die Stimme ist furchtbar laut, aber wenigstens bin ich nicht taub. Nicht taub. Und es ist hell, nicht mehr so dunkel. „Ich denke, das genügt jetzt. Du warst lange genug hier.“ Obwohl ich die Worte nicht verstehe, jedenfalls nicht bewusst, kann ich ihren Sinn erraten. Tränen schießen mir in die Augen, ohne dass ich etwas dagegen tun könnte. Es ist vorbei. Es ist hell, und es ist vorbei. Ich erahne die Bewegung eines sehr großen Körpers, der sich vor mir auf den Boden hockt. „Gilbert ist fort.“ Die Stimme ist die erste, die ich seit einem halben Leben höre. Ich versuche, mein Schluchzen zu unterdrücken, und sauge gierig jedes Wort auf. Gilbert? Gilbert ist fort? Aber er hatte Licht. Gilbert hatte doch Licht. „Ich habe ihn... erpresst, so muss man es wohl sagen.“ Ein Lachen, das erste Lachen seit einer Ewigkeit, das ich höre. Am liebsten würde ich mit ihm lachen, obwohl ich nicht weiß, was er mir sagen will. Und obwohl das Lachen alles andere als fröhlich klingt. „Ich habe so getan, als hätte ich Raivis... als hätte ich... du weißt schon.“ Nein, ich weiß nicht, ich weiß nichts, aber das ist egal. Hauptsache, jemand spricht mit mir. „Als ob ich das jemals könnte. Er ist ein Kind! Ich meine... du weißt, dass ich nie jemanden, dass ich auch dich niemals... ich werde niemals... gegen deinen Willen... nicht gegen deinen Willen. Niemals, Toris.“ Sobald es mir besser geht, werde ich zu ergründen versuchen, was er mit diesen Worten meint. Aber noch nicht jetzt. Plötzlich bin ich so furchtbar müde. „Dass er es mir geglaubt hat... beinahe hätte ich es nicht durchgehalten. Ich war einige Male kurz davor, alles aufzulösen. Dass er mir wirklich zutraut... glaubt er denn, ich würde mich an einem Kind vergreifen? Diese Demütigung... das ist doch... ist doch...“ Er findet keine Worte mehr. Ich schluchze noch einmal auf und schließe die Augen. Das Zuhören ist so ermüdend, mir ist kalt und alles ist nass und stinkt nach Pisse und ich zittere in meinen Kleidern. „Du siehst nicht gut aus.“ Eine sanfte Berührung an meinem Kopf. „Ich werde dich in dein Zimmer bringen, in Ordnung? Damit du dich ausruhen kannst. Das wird alles wieder, Toris. Du hast deine Lektion doch gelernt, oder? Hast du das? Du wirst nie wieder so unhöflich sein, nicht wahr?“ Ich werde nicht ich verspreche dass ich Sie können sich darauf verlassen bitte verzeihen Sie mir ich werde niemals glauben Sie mir niemals ganz sicher Sie können sich darauf verlassen ich bin doch Ihr Toris glauben Sie mir ich bin Ihr Toris Toris ich bin Toris! „Ist ja gut, Toris“, plötzlich so viel Worte, die aus mir heraus brechen, so schnell, dass meine Zunge Schwierigkeiten hat, mit meinen Gedanken Schritt zu halten, „nun beruhige dich doch. Ich verzeihe dir, Toris. Es ist doch alles gut.“ Ich hänge in der Luft, zwei Arme auf Höhe der Knie um meine Beine geschlungen, eine Schulter drückt in meine Magengrube. Noch immer laufen die Tränen über mein Gesicht, die älteren sind längst kalt geworden. Kalt und nass, alles ist nass, ich zittere in den nassen Kleidern. Ich verspreche ich werde nie wieder bitte verzeihen Sie mir bitte denn Dein ist das Reich und die Kraft und die... „Sei lieb, Toris“, murmelt die Stimme. „Damit ich so etwas nicht mehr tun muss, ja? Es ist nur zu deinem Besten... auf lange Sicht. Also sei von jetzt an lieb, verstanden? Ja, ich weiß doch, wie Leid es dir tut. Sag jetzt nichts mehr, Toris. Alles wird wieder gut. Ich mache alles wieder gut.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)