Moondust von Rix (Ivan x Gilbert) ================================================================================ Kapitel 1: Of all that was found and all that was lost ------------------------------------------------------ Es ist lächerlich sagt der Stolz Es ist Unglück sagt die Berechnung Es ist nichts als Schmerz sagt die Angst Es ist aussichtslos sagt die Einsicht Es ist was es ist sagt die Liebe Er starrte den Mond an. Seine Augen fixierten den Himmelskörper des Universums über den eine Wolke kroch, als wäre sie ein Parasit. So fern. Er streckte seinen Arm aus, der unheimlich weiß vom Mondlicht beschienen wurde, griff mit seiner Hand nach den Erdsatelliten. Seine schlanken Finger umfassten ihn, zerquetschten ihn, löschte ihn vom Universum. Die Sterne jedoch brannten Löcher in seine Haut. Schlapp ließ er seine Hand wieder sinken, nur um erneut auf den Mond zu starren. So nutzlos. In der Nähe hallten schwere Schritte wieder. Er zog die Knie an, hoffte die Dunkelheit würde ihn verbergen. Eine Tür wurde geöffnet und in dem Moment verschwand die dunkle Wolke vor dem Himmelskörper. Sein weißes Haar leuchtete dank des verhöhnenden Lichts des Vollmondes wie ein Leuchtfeuer in der Nacht. Es dauerte nur einige Sekunden, als er jemanden neben sich spürte, doch er schaute nicht hin, stierte weiter in den Himmel. „Es ist kalt“, sagte die tiefe Stimme zu ihm, Sorge schwang in ihr mit. Ihm war immer kalt. Eine Hand legte sich auf seine Schulter, griff zu. „Wir sollten reingehen.“ Lass mich in Ruhe! Sein Schrei war stumm, nur in seinem Kopf vorhanden. Stattdessen umschloss er mit den Armen seine Beine, bettete den Kopf auf ihnen und funkelte weiterhin den Mond an, versuchte ihn allein mit Gedankenkraft zu vernichten. Die Gestalt sank neben ihm zu Boden, legte schützend und liebend einen Arm um ihn. „Alles in Ordnung?“ Natürlich nicht. Es war schon ewig nichts mehr in Ordnung. „Möchtest du reden?“ Er war des Redens müde. „Ignorierst du mich?“ Endlich erbarmte er sich vom Himmelskörper abzulassen und in das Gesicht seines Bruders zu schauen, der ihn voller Sorge musterte. „Ja, nein und vielleicht.“ Die Verwirrung auf dessen Gesicht machte ihn wütend. Warum verstand er es nicht endlich? Erneut wandte er sich ab, blickte hinauf zu dem schwarzen Meer der Unendlichkeit. „Du bist wütend.“ Er schnaubte nur. „Traurig?“ War er es? „Erschöpft...“, nuschelte er und wurde in eine engere Umarmung gezogen. Lass mich los! Sein Körper versteifte sich. Er wollte keine Nähe, keinen Trost und auch kein Verständnis. Alles was er wollte, war Ruhe. Die Einsamkeit. Den Mond. Sonnenblumen und Schneehasen. Doch war es niemals eine Frage des Wollens. ~ Gilbert rannte so schnell er konnte. Seine Kehle brannte durch die kalte Luft, die er hart und rasch ein- und ausatmete. Sein Herz klopfte in einem wahnsinnigen Tempo gegen seine Brust, fühlte sich an, als wolle es seine Rippen durchbrechen und aus seinem Körper springen. Seine Beine waren wie Pudding, zogen sich schmerzhaft zusammen, weil jeder Muskel bis zum Äußersten angespannt war. Obwohl er alles gab, war es nicht gut genug. Ein harter Gegenstand traf ihn in den Kniekehlen. Er stolperte mit einer immensen Wucht nach vorne, überschlug sich einige Male, bis er keuchend im eiskalten Schnee liegen blieb. Für einen Moment war der Schnee angenehm kühl auf seinem heißem Gesicht. Nach Atem ringend, blieb er kraftlos liegen. Er realisierte seine Niederlage in dem Moment, als ein Paar Schuhe vor seinem Kopf erschienen. Erschöpft schloss er die Augen... Ohne Vorwarnung packte ihn eine große Hand am Haarschopf und zog seinen Kopf gewaltsam in die Höhe. „Scheiße!“, presste er keuchend hervor, griff nach dem Arm, um sein Gewicht zumindest ein Stück zu verlagern, damit es nicht zu schmerzhaft war. „Hab dich gefangen, Gilbert“, flötete eine gut gelaunte Stimme. Dann wurde einmal an ihm gerüttelt, so als wäre er ein Stück Stoff und kein lebendiges Wesen. Scharf zog Gilbert die Luft ein, öffnete jetzt seine tränenden Augen. Er blickte direkt in das verhasste Mondgesicht von Ivan Braginski, der ihn amüsiert angrinste. Gilbert wollte in diesem Augenblick nichts mehr, als dieses gottverdammte Lächeln dem Russen aus dessen Gesicht zu prügeln. Doch weder besaß er die Kraft, noch die Befugnis dazu. Der Größere zog Gilberts Gesicht jetzt näher heran, so dass er den warmen Atem des Anderen auf seiner Haut spüren konnte. „Das Spiel wird langsam langweilig, findest du nicht auch?“ Es war eine freundliche Frage, doch der Griff, der fester zupackte, entging ihm nicht. „Ja...“, knirschte Gilbert. Der Russe ließ ihn los, richtete sich auf. „Dann lass uns zurückgehen. Das Essen ist sicher schon fertig.“ Ivan hielt ihm einladend eine Hand hin. Es war als freundliche Geste gedacht, doch für Gilbert war es eine Demütigung. Ein Beweis, dass er allein nicht einmal mehr aufstehen konnte. Das er ganz auf den Russen angewiesen war. Wütend schlug er die Hand fort. Unter Argusaugen von Ivan rappelte er sich mit zitternden Beinen auf. Kaum stand der Preuße sicher auf zwei Füßen, schlug ihm Ivan in den Magen. Stöhnend sank Gilbert zurück auf seine Knie, hielt sich verkrampft den Bauch. Erneut griff Ivan nach seinem Haarschopf, riss seinen Kopf unsanft nach hinten, so dass er ihm direkt ins Gesicht schauen musste. „Vergiss nicht, wem du jetzt gehörst, Gilbert.“ Gilbert sagte nichts dazu, starrte Ivan nur voller Verachtung und Hass an. Wie könnte er vergessen, keine Nation mehr zu sein... „Was tust du da?“, fragte Ivan Gilbert. Dieser drehte sich nicht zu dem Größeren um, sondern rollte weiterhin den Schnee zu kleinen Kugeln zusammen. „Einen Schneehasen bauen“, erklärte er schließlich, als der Russe Anstalt machte, ihm auch die nächsten zehn Minuten in den Rücken zu pieksen, wenn er nicht langsam mit der Sprache rausrückte. Erst sagte Ivan nichts dazu, dann ging er neben Gilbert in die Hocke und musterte fragend den unfertigen Schneehasen. „Warum tust du das?“, stellte er erneut eine Frage. Der Preuße seufzte. Er hasste es, wenn der Russe wie ein Kleinkind alles hinterfragte, was er tat. „Weil ich nichts besseres zu tun habe“, antwortete er genervt und wahrheitsgemäß. Nach etwa drei Monaten hatte Gilbert es aufgegeben, zu versuchen davonzulaufen. Jetzt musste er seinen Tag mit Dingen füllen und wenn es nur das banale Bauen von Schneehasen war. Neben ihm fing jetzt auch Ivan an, einen Schneehasen zu bauen. Schweigend saßen sie nebeneinander und gingen ihrem Werk nach. Nach einigen Minuten beendete Gilbert den letzten Feinschliff an seinem Hasen und betrachtete sein Kunstwerk mit Stolz. Es war eindeutig der schönste Schneehasen, den er je gebaut hatte. Miteinmal sauste eine Faust auf seinen Hasen nieder und zerstörte ihn mit einem Schlag. Geschockt starrte er die Reste seiner Arbeit an, dann wandte er sich rasend vor Wut an Ivan, der schmollend neben ihm hockte. „Was sollte das denn?!“ Ivan nuschelte irgendwas in seinen Schal hinein. Da fiel Gilberts Blick auf Ivans unförmigen Hasen und er verstand die Handlung des Anderen. „Du hast meinen Hasen zerstört, weil deiner ein Krüppel ist!“ „Deiner war viel schöner, das ist unfair!“, verteidigte Ivan sich. „Warum ist das denn unfair?“ Zuerst schwieg Ivan, zog seinen Schal noch enger um seinen Hals. „Jeder mag das Schöne mehr als das Hässliche...“ Gilbert stutzte bei dem traurigen Gesichtsausdruck Ivans. Dieser streichelte jetzt sachte über seinen Schneehasen. „Jeder liebt die anderen Länder mehr als Russland, weil es nicht so schön ist....weil ich hässlich bin. Deswegen ist keiner hier...“ Zum ersten Mal sah Gilbert eine weiche Seite an dem Russen – und es verwirrte ihn. Nachdenklich starrte er Ivans Schneehasen an. „Du liebst mich auch nicht. Du hasst mich, weil ich hässlich bin“, fügte Ivan jetzt mit einem Ton an, der zwischen Trauer und Frust schwang. Gilbert zuckte leicht zusammen. „Nun...es liegt nicht daran das du hässlich bist...“, erwiderte er sachte. Nun ob Ivan den Kopf, schaute ihm direkt ins Gesicht. „An was denn dann?“ „Nun...“, stockend hielt Gilbert inne. Er hasste Ivan dafür, dass er einfach Ivan war. Dafür, dass er ihn geschlagen, ja fast vernichtet hatte. Ihn nicht nach Hause ließ. Ihm das Leben noch schwerer machte, als es ohnehin schon war. „Weil du mich hasst...weil du mich zerstörst“, antwortete er schließlich. Erneut schwiegen sie sich an. „Baust du noch einen?“ Überrascht über die Frage, schaute Gilbert ebenfalls Ivan direkt an. Doch so sehr er es auch versuchte, er wurde aus der Mimik des Russen nicht schlau. „Hm, sicher...“ „Direkt neben meinen?“ „Wenn du willst?“ „Ja...“ Ohne weiter zu zögern, fing Gilbert an. Wenn Ivan einem um etwas bat, dann erledigte man das besser sofort. So hatte er es zumindest qualvoll in den letzten Monaten gelernt. Die ganze Zeit über rührte Ivan sich nicht, beobachtete ihn nur dabei, wie er den Schneehasen direkt neben seinen baute. Als er fertig war, klopfte er sich den restlichen Schnee von den Handschuhen und schaute fragend den Größeren an, der nachdenklich die Stirn in Falten gelegt hatte. „Zufrieden?“ Keine Antwort. „Erde an Russe.“ Ivan sagte noch immer nichts. „Soll ich dir eine Hacke holen? Dann kannst du ihn damit kaputt machen, wenn dir die Faust zu langweilig ist.“ Endlich rührte der Größere sich. Auf Provokationen ging der Andere immer ein. Wahrscheinlich landete er deswegen so oft ohne Abendessen im Bett. „Nein.“ „Nein?“, überrascht hob er eine Augenbraue. „Du willst ihn nicht zerstören?“ Ivan schüttelte den Kopf. Zog jetzt mit seinem Zeigefinger einen Kreis um die beiden Schneehasen. „Er ist schön.“ „Ja, das ist er. Immerhin ist er mein großartiger Hase.“ „Meiner ist hässlich.“ „Du hast halt kein Talent.“ Eigentlich wartete Gilbert nur darauf, dass Ivan endlich auf seine Worte einging und mit seiner mächtigen Faust ausholte. Doch zu seiner Verwunderung blieb solch eine Reaktion aus, stattdessen lächelte ihn Ivan mit einmal an. „Stimmt und dennoch ist dein Hase ganz nah bei meinem.“ Gilbert spürte wie er rot wurde. Er hatte Ivan noch nie lächeln gesehen, nicht so und erst recht nicht so etwas sagen hören. „So ist meiner nicht einsam, auch wenn er hässlicher ist, nicht wahr?“ „...ja...“ „Und der Schöne kann nur schön sein, wenn er beim Hässlichen ist, richtig?“ „...ja...“ „Also müssen Beide zusammen sein, weil sie allein nicht das bekommen, was sie wollen!“ Darauf sagte Gilbert nichts mehr. Stattdessen starrte er jetzt die beiden Schneehasen an. Er spürte wie Ivan einen seiner lange Arme um ihn legte und ihn an sich heran zog. Der eine Hase konnte ohne den anderen Hasen nicht sein... Er war warm. Das Rascheln des Bettlakens, seine Stirn, die sich noch enger an seine Brust drängte, seine großen Hände, die ihn noch fester umklammerten. Zögerlich strich er durch das aschblonde Haar, bis er schließlich damit anfing zu spielen und die Kopfhaut darunter leicht zu kraulen. Ein zufriedenes Schnauben war die Antwort. Unsicher musterte er den Haarschopf vor sich. Er war immer davon ausgegangen, dass er kalt sein müsste. Seine Hände stoppten in ihrer Tätigkeit. Zuerst kam keine Reaktion – und plötzlich ohne Vorwarnung starrte ihn zwei lila Amethysten an. „Du hast aufgehört.“ Sein Lächeln war so falsch wie sein freundlicher Ton. Zuerst zögerte er einige Augenblicke, dann fuhr er fort seine Finger durch das dichte Haar zu winden. „Du bist warm.“ Ein Gegengewicht drückte seine Hand weg. Zwei starke Arme kesselte ihn jetzt ein und ein Oberkörper bedeckte ihn wie ein Dach. Neugierig schaute der drohende Himmel auf ihn herab. „Ist das so?“ Ein Moment der Stille. Schließlich schaute er zur Seite, zuckte mit den Schultern. „Scheint so...“ Ein dumpfes Kichern. Eine warme Nasenspitze, die seine Kalte berührte. Schwere Haare, die sein Gesicht kitzelten. Ein warmer Atem, der seine Haut streichelte. „Du bist kalt.“ Schweigen. „Soll ich dich wärmen?“ Er krallte sich ins Bettlaken fest. Die Nasenspitze streichelte jetzt über seine Wangen, der Atem wurde in sein Ohr gehaucht. „Möchtest du meine Wärme, Gilbert?“ Der Preuße bis sich auf die Lippen. „Ja...“ Weiche Lippen pressten sich auf seine Spröden. Gilbert hätte niemals gedacht, dass Ivan so warm sein könnte. Verwundert starrte der Preuße die Sonnenblume an. Sie wackelte einige Mal hin und her, wie hypnotisiert folgte er der Bewegung mit seinen roten Augen. Dann rückte sie näher an ihn heran, worauf er nur die Stirn runzelte. Sollte er sie berühren? Die gelben Blütenblätter bewegten sich in Richtung Gesicht. Dort angekommen, streichelten sie verspielt über seine Wangen, zogen seine Konturen nach. Sollte er sie wegschieben? Nun hielt die Sonnenblumen in ihren Bewegungen inne, rührte sich nicht mehr. Der angenehme Blumengeruch stieg ihm in die Nase. Die Erinnerung an längst vergangene Frühlingsmonate spielten sich in der hintersten Ecke seines Bewusstseins ab. Sollte er sie fortfahren lassen? Erneut bewegte sich die Blume, wanderte jetzt unter sein Kinn. Die Berührung assoziierte er mit der Hand des Russen, wenn dieser ihn küssen wollte. Ihm wurde heiß und sein Herz machte ein paar Sprünge. Sollte er sie annehmen? Kurz verschwand die Sonnenblume, stoppte einige Meter kurz vor seinem Gesicht in der Luft. Dann fiel sie vorwärts, direkt auf seinen Mund. Sollte er sie küssen? Nach wenigen Sekunden verschwand sie gänzlich von seinem Gesicht. Kehrte in ihre Ausgangsposition zurück. Noch immer war sein Blick auf sie geheftet. Sie war so groß und stark, hell und schön, anders als alles andere in diesem Land aus Schnee und Eis, Dunkelheit und Hässlichkeit. „Sie ist für dich“, sagte Ivan schließlich. Gilbert schaute ihn dennoch nicht an, betrachtete weiterhin die Sonnenblume. „Nimm sie“, forderte der Große ihn auf, hielt sie ihm entgegen. Sie war so schön... „Ich will sie nicht.“ Eine Stille folgte, die Sonnenblume schwankte unschlüssig hin und her. „Warum?“, fragte der Russe. Endlich sah Gilbert auf. „Ich brauche sie nicht.“ Der Größere starrte ihn nur emotionslos an. „Weshalb?“ Gilbert zuckte mit den Schultern, senkte seinen Blick und musterte Ivans Schuhe. „Ich habe schon eine große Sonnenblume...“ Es dauerte nur zwei Schritte und eine Sekunde bis der Russe seine Arme um den Preußen schlang. Sollte er sie umarmen? Während Ivan ihn fest umschlossen hielt, starrte er weiterhin die Blume an, die jetzt achtlos auf den Boden lag. Sollte er sie mögen? Einsamkeit. Gilbert hatte dieses Wort niemals verstanden. Sein Bruder hatte ihm immer gesagt, das läge daran, weil er nie einsam gewesen sei. Wenn der Preuße so auf sein Leben zurück schaute, stimmte es sogar. Um ihn herum waren immer Leute gewesen, Feind und Freund. Dennoch meinte er jetzt zu verstehen, was Einsamkeit bedeutete, jedoch auf einer anderen Ebene als erwartet. Er spürte die Rufe seines Volkes nicht mehr, weil es keines gab. Hörte die Stimme seines Bruders nicht mehr, weil er hinter eine unüberwindbaren Mauer war. Sah niemanden mehr, der ihn einst etwas bedeutet hatte, weil er sie in dem vergangenen Krieg verletzt hatte . Er war ganz allein. Seufzend lehnte der Weißhaarige sich zurück gegen die kalte Mauer, starrte hoch zum nächtlichen Firmament. Seine roten Augen fixierten den Vollmond. Er sollte sich einsam fühlen, nicht wahr? Immerhin war er keiner der Sterne mehr am Himmel. Abgestürzt auf die Erde, unwiderruflich vom All getrennt. Doch er fühlte sich nicht einsam. Anfangs ja, doch anfangs hatte er so viel gefühlt. Wut, Trauer, gekränkter Stolz, Angst - sie waren mit ihm täglich erwacht und schlafen gegangen, waren sein Schatten Tag um Tag gewesen. Irgendwann jedoch war die Sonne untergegangen, der Mond aufgestiegen und der Schatten hatte sich mit der Umgebung vermischt, war nichts mehr als eine Ahnung, eine leichte Silhouette, die im Wind verging. Nun, wo ihn sogar sein Schatten verlassen hatte, sollte er sich einsam fühlen. Die Einsamkeit sollte sein stetiger Begleiter sein, war dem nicht so? Warum blickte er dann zum Mond und war noch nie glücklicher? Kein gewonnener Krieg, kein Lächeln seines Bruders, kein Lachen mit seinen Freunden hatte ihn je glücklicher gemacht, als der Anblick des Mondes und die Kälte um ihn herum. Er sollte nicht glücklich sein. Sollte sein Schicksal verfluchen, sollte schreien und kämpfen, sollte die alte Zeit missen. Sollte versuchen Preußen wieder aufleben zu lassen. Doch sein Inneres sagte ihm, dass er dem schon lange überdrüssig geworden war, dass er etwas Neues gefunden hatte, etwas was ihn mehr erfüllte, als alles andere auf der Welt. Es war falsch. Gilbert schloss die Augen. Wenn er jetzt einfach einschlafen würde und nie wieder erwachen, es wäre in Ordnung. Er hatte lange gelebt, lange gekämpft, Freud und Leid ertragen und sein Körper war voller Narben, die ihn an die unzähligen Jahre immer erinnerten. Preußen war nicht mehr und er hatte endlich einen Ort gefunden, wo seine Seele zur Ruhe kam. Wo er nicht mehr nach Kampf gierte, wo er die Dinge einfach loslassen konnte und weiterging. Halb dösend, entschwand er langsam der Schwere, die ihn umfing. „Gilbert?“, drang eine besorgte Stimme durch den nebeligen Schleier der Müdigkeit. Nur mit Mühe und Not raffte er sich dazu auf seine Augen erneut zu öffnen. Vor ihm stand Ivan einen dicken Schal in der einen Hand und eine dampfende Tasse in der Anderen, blickte ihn lächelnd, jedoch mit fragenden und besorgten Augen zugleich an. Schwach lächelte er zurück. Eine Weile sahen sie sich nur so an, als er das erste Wort ergriff. „Du stehst im Weg.“ Ivan legte kindisch wie er war, den Kopf einige Zentimeter schiefer. „Uh?“ „Du versperrst mir die Aussicht auf den Mond.“ Ivan drehte sich wie auf Kommando herum und schaute hoch zu dem leuchtenden Ball, der die Welt in ein silbernes Licht tauchte. Abermals schwiegen sie, dann wandte Ivan sich ihm wieder zu. „Warum schaust du den Mond an?“ Er erinnert mich an dich. Seine Worte spielten sich nur in seinem Kopf ab, nicht möglich, sie jemals auszusprechen. Noch nicht, vielleicht in ein paar weiteren Jahren... „Er ist ziemlich groß hier.“ Ivan lächelte und Gilbert meinte etwas Stolz zu sehen. „Nirgends größer“, sagte der Russe und tatsächlich schwang Stolz in der Stimme mit. Gilbert schnaubte nur. „Gehören tut er dir trotzdem nicht.“ Ivan antwortete zuerst nicht, bewegte sich nur auf ihn zu und ließ sich neben ihn fallen. „Noch nicht“, erwiderte der Größere schließlich. Schulter an Schulter schauten sie auf zum Himmelskörper, der so mächtig über ihnen thronte. Nein, er war nicht einsam. Ohne große Vorwarnung legte Ivan den mitgebrachten Schal um sie beide herum. Sofort spürte Gilbert die mollige Wärme, roch den unverkennbaren Duft von Ivan. Er war glücklich. Der Russe hielt ihm die dampfende Tasse hin. Zögernd nahm Gilbert sie entgegen. Es war falsch, so zu fühlen und nicht anders. Ein Schluck und er musste husten. „Was hast du da rein gemacht?!“ „Vodka, was sonst?“ „Du kannst Vodka nicht überall reinschütten!“ „Schmeckt es dir etwa nicht?“ Gilbert starrte Ivan an, der ihn jetzt furchteinflößend anlächelte. Ergebend seufzte er. „Passt schon...“ Dann schwiegen sie erneut. Nach und nach lehnte er sich gegen den Größeren, der ohne ein weiteres Kommentar den Arm um ihn legte. So saßen sie eine Ewigkeit zusammen, schauten zum Mond auf und genossen die Ruhe. Genossen die vertraute Einsamkeit ihrer Zweisamkeit. Die Nachricht brach aus wie ein Lauffeuer. Zuerst konnte Gilbert es nicht fassen, war völlig überrumpelt von den Gefühlen, die sich in ihm auftürmten. Niemals hätte er es für möglich gehalten, dass dieser Tag kommen würde. Ohne weiter nachzudenken, gab er seinem inneren Instinkt nach, rannte die Treppen von Ivans Zuhause hoch ohne auf irgendwen oder irgendwas zu achten. In seinem Zimmer angekommen, packte er so schnell wie er konnte wahllos Sachen zusammen. Er musste unbedingt sich selbst davon überzeugen, ob es wahr war – und wenn es wahr war, würde er keine Minute länger zögern. Als der Preuße sich umdrehte, starrte er in das Mondgesicht von Ivan. Dieser stand völlig außer Atem im Türrahmen, schaute ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Ihr Blick traf sich und zum ersten Mal stoppte Gilbert in seiner Eile. „Du hast es gehört, ja?“, fragte Ivan keuchend. „Ja“, antwortete er ihm monoton. „Du wirst gehen?“ Gilbert zögerte, Angst vor der Reaktion, die er mit seiner Antwort auslösen könnte. Nie würde er Ivans Eisenstange vergessen und die Narben, die sie auf ihn hinterlassen hatte. Dennoch raffte er seinen ganzen Mut zusammen, er würde sich nie vor einer Herausforderung kneifen. „Ja, und wenn es wahr ist, werde ich johlend über die Überreste springen.“ Darauf sagte Ivan nichts, senkte den Blick. „Du wirst unter gar keinen Umständen bleiben?“ „Nicht einmal, wenn du mir alle Knochen brichst.“ In Ivans Gesicht blitzte etwas auf. Allem Anschein hatte er über diese Option tatsächlich nachgedacht. Nachdem der Russe einfach nur schweigend dastand, setzte Gilbert sich langsam in Bewegung, immer darauf vorbereitet von dem Anderen angegriffen zu werden. Als er schon fast durch die Tür war, drehte Ivan sich blitzschnell um und griff gewaltsam nach seinem Arm. „Ich erlaube dir nicht zu gehen! Du gehörst mir! Du darfst nicht gehen!“, schrie er ihn an, wobei der feste Griff mehr als schmerzhaft war. Wut packte den Preußen. „Ich habe dir niemals gehört und werde dir nie gehören, du riesengroßes Arschloch!“ Ohne noch etwas dagegen unternehmen zu können, traf ihn eine harte Rechte mitten ins Gesicht. Gilbert stolperte zurück und fiel unsanft auf die Fliesen. Panisch, einen weiteren Angriff erwartend, hob er abwehrend die Arme. Doch zu seiner Verwunderung blieb jede weitere Attacke aus. Verwirrt schaute er auf. Sein Herz stoppte. Ivan, der so große, kindliche, furchteinflößende Ivan, der Ivan, der das mächtige und brutale Russland war, dieser Ivan stand vor ihm und weinte. „Was?“, brachte Gilbert in all seiner Bestürzung nur heraus. Heftig schüttelte Ivan den Kopf, wischte sich fahrig über sein Gesicht, weil ihm die Tränen zu stören schienen. „Wenn du jetzt gehst, dann kommst du nicht wieder, ja?“ Gilbert schwieg. „Du gehst wie jeder Andere auch, ja?“ Betroffen musterte der Preuße seine Hände, nicht mehr in der Lage die Tränen des Größeren zu sehen. „Hasst mich wie jeder auf dieser Welt, ja?“ Tausend Nadeln durchstachen sein Herz, wollte dagegen protestieren, doch kein Wort verließ seinen Mund. „Снег кролик умрет без его любви“, brachte Ivan stockend hervor, doch Gilbert verstand ihn nicht, hatte keine Ahnung, was er ihm da erzählte. Der Preuße rührte sich nicht. Die Situation überforderte ihn. Noch nie war er zwischen Freude und Schmerz so sehr hin und her gerissen gewesen. Gerade als die Gefühlswellen einigermaßen unter Kontrolle hatte, brach erneut eine über ihn ein, als der Russe ohne Vorwarnung nach seinem Gesicht griff. Bevor Gilbert ihn zurückweisen konnten, lagen Ivans Lippen schon auf seinen. Gedankenlos erwiderte er den Kuss, schmeckte den salzigen Geschmack von Tränen und den Herben von Vodka. Sein Inneres drehte sich wie verrückt und in dem Augenblick begriff er, was sein Gehen bedeuten würde. Es bedeutete Ivan zu verlassen. Kaum hatte er diese Tatsache realisiert, lösten sich die Lippen des Russen. Panik überkam ihn, griff nach dem Anderen, doch dieser war schon aus seiner Reichweite. Mit traurigem Gesicht und einem herzzerreißenden, falschen Lächeln schaute ihn Ivan an. „Я люблю тебя, мой снег кролика“, flüsterte er, dann rannte er an Gilbert vorbei und war verschwunden. Zuerst rührte der Weißhaarige sich nicht. Schließlich stand er mit wackeligen Beinen auf, schulterte seinen Rucksack und machte sich auf den Weg, die Treppen hinab, vorbei an Räume voller Erinnerungen an die letzten Jahren, an vertrockneten Sonnenblumen und der Küche, wo im Kühlschrank ein Schneehasenpärchen ihr Dasein fristeten. Als die schwere Haustür hinter ihm ins Schloss fiel, fühlte Gilbert eine unglaubliche Leere. Die Mauer war gefallen. ~ „Schneehasen sterben ohne ihre Liebe.“ „Bitte?“ Gilbert schüttelte den Kopf. Zuckte mit den Schultern. „Vergiss es.“ Schweigen. „Du wirst dir eine Erkältung holen“, sagte sein Bruder besorgt. Er schnaubte nur abfällig. „Komm mit rein.“ Keine Reaktion. „Gilbert...“ Genervt schloss er die Augen. „Bitte“, flehte sein Bruder. „Gleich“, antwortete er ihm. Sein Bruder lehnte sich zu ihm hinüber, drückte ihn einen Kuss ins weiße Haar. „Danke.“ Ein Ziehen im Magen. All die Wörter und die Zuneigung kollabierten, machten ihn krank. Sah er das nicht? Eine Bewegung, ein Rascheln der Kleidung und sein Bruder entfernte sich von ihm. Die schweren Schritte hielten inne. „Kommst du wirklich?“ Nein. „Natürlich.“ „Gut...bis gleich, Bruder.“ Die Schritte verhallten und er war erneut allein mit dem Mond und den Sternen. Müde schaute er auf. So weit weg... „Ich liebe dich, mein Schneehase...“, vertraute er der Nacht an und nur ihr. Keine Antwort. Keine Sonnenblume. Kein Schal. Kein Vodka. Keine Wärme. Kein weiterer Schneehase. Nur die Einsamkeit in der Einsamkeit. Schloss die Augen. Die Kälte griff nach ihm, zog ihn tiefer in ihre Welt hinab. Hinter seinen Lidern verschwand das strahlende Licht des Himmelskörper. Bevor er wegdriftete, meinte er den Geschmack von Salz und Vodka auf seinen Lippen zu spüren. Dieses Mal weckte ihn niemand auf. --------------------------------------------------------------------------- Снег кролик умрет без его любви = Der Schneehase wird ohne seine Liebe sterben Я люблю тебя, мой снег кролика = Ich liebe dich, mein Schneehase Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)