Die Gabe von Ray-rey ================================================================================ Kapitel 1: Die Gabe des Sehens ------------------------------ Freitag, 19 Uhr: Die Schlange und ihr Werk Der junge Chinese Yiu stand am Rande einer Klippe und spähte hinunter. Ab jetzt war seine Flucht vor der rasenden Wut des Anderen vorbei. Achtsam drehte er sich um und suchte nach einem weiteren Weg, aber er war in eine Sackgasse gelaufen. Yiu fragte sich ernsthaft wie er Tanju nur davon überzeugen sollte, dass er nicht der Dieb gewesen war. „Tanju! Bitte hör mich an. Ich bin es nicht gewesen!“, flehte er verzweifelt, als Tanju in Hörweite kam; aber als er das von Zorn zerfressene Gesicht Tanjus sichtete, griff er an sein Katana. „Wer sonst soll mir mein Schwert genommen haben!? Ich habe es in deinem Zimmer gefunden und du warst schon immer neidisch auf mich!“, brüllte Tanju ihm, mit gezogenem Schwert entgegen und rannte auf ihn zu. Obwohl Yiu wieder beteuerte, es nicht gewesen zu sein, schlugen die beiden Schwertklingen zusammen und gaben ein eisernes Klirren von sich. Funken sprühten. „Es wurde mir untergeschoben!“, versuchte Yiu, Tanju mit zitternder Stimme zu verstehen zu geben. Schreiend warf sich Tanju, des sich weiterhin betrogen fühlte, auf den augenscheinlichen Dieb. Dieser wehrte und schützte sich vor den Starken hieben, die Tanju ihm verpasste, in der Hoffnung, dass er sich bald beruhigen würde. „Ich will nicht gegen dich kämpfen!“, kreischte der braunhaarige und kleinere Yiu. Tränen sammelten sich in seinen Augen; er hatte den Schwarzhaarigen Tanju noch nie so in Rage erlebt und er wollte ihm einfach nicht zuhören! Ein einziges Mal wehrte sich Yiu so stark, dass Tanju etwas zurück taumelte und viel. Schneller zurück auf den Beinen als man schauen konnte, war er bereit für eine neue Welle von Angriffen. Tanju hob das Schwert waagrecht, ihm entgegen gestreckt und brauste los. Wo Yiu wieder das Gesicht des anderen erfasste, wusste er, dass alles nie wieder so sein würde wie früher, und so ließ er sein Katana fallen. Plötzlich schien die Zeit für ihn stehen zu bleiben. Er nahm wahr, wie die Schwertspitze sich seinem Bauch näherte, wie Tanjus Augen sich weiteten, da er wusste, dass er Yiu in dieser Sekunde töten würde, und wie Tanju versuchte das Schwert in eine andere Richtung zu lenken, die nicht ganz so schmerzlich ausging. Doch es war zu spät. Die Klinge stach blitzschnell durch den schmalen Körper von Yiu, der ein kurzes Keuchen verlauten ließ und hinten über kippte. Eine Träne in Yius Augen, die lange auf sich hatte warten lassen, bahnte sich nun einen Weg nach Unten. Tanju hauchte geschockt seinen Namen, bevor er verhinderte, dass Yiu ganz zu Boden viel. Zusammen mit ihm, ging er auf die Knie. „Warum?... Warum hast du dich nicht gewehrt? Du hättest den Schlag abwehren können!“, presste er hervor und versuchte den aufkommenden Kloß in seinem Hals herunter zu schlucken. „Ich habe dir doch gesagt, dass ich nicht gegen dich kämpfen will...“, wisperte Yiu schnell schwächer werdend. „Ich habe dir nichts gestohlen... das würde ich nie tun. Und ich will auch nicht länger vor dir flüchten...“, fügte er stockend hinzu. „Pssst! Bitte, du darfst jetzt nicht reden, ja?“, flehte Tanju und Tränen liefen über beide Gesichter. „Tanju... Ich liebe dich... Ich habe dich schon... immer... geliebt...“, waren Yius letzte Worte, die er seinem Freund noch zuflüstern konnte. Freitag 6 Uhr: Der Morgen davor. Wo? Wo war das Schwert, welches ihm sein Vater überreicht hatte; dass Wertvollste was er besaß. Er konnte sich nicht daran erinnern, das Erbstück seiner Familie von der Wand gehängt zu haben, und wo anders hingelegt zu haben. Allenfalls, auch nachdem er sein ganzes Zimmer durchforstet hatte, war nichts zu finden. Tinju stürzte aus dem kleinen Zimmer, wobei er beinahe in die etwas kleingeratene Xianghua lief. „Oh, verzeih mir Xianghua“, haspelte er aufgeregt. „Mein Schwert ist verschwunden! Hast du jemanden gesehen der es mitgenommen hat?“, fragte er sie sichtlich nervös. Sie nickte und erzählte ihm, dass sie durchaus jemanden gesehen hatte. Yiu, sein Kamerad hatte es bei sich getragen. „Bitte!?“, prustete er ungläubig. Manchmal war er ein wenig ungehobelt und schroff. Er schob sie beiseite und stürmte in die Richtung in der Yius Zimmer lag. Das Kloster in dem sie lebten war groß und die Gänge waren sehr weit. Dennoch kam er schnell an und hämmerte gegen die Türe. „Yiu! Yiu! Mach sofort die Türe auf. Hast du mein Schwert? Weißt du wo es ist? Du kannst nicht einfach meine Sachen nehmen! Was fällt dir denn ein!?“, polterte er los ohne Luft zu holen; aber es kam keine Antwort. Er wusste wo sein Freund den Zimmerschlüssel verbarg, tastete danach und fand ihn auch dort. Flink öffnete er die Türe, fiel in den Raum hinein und suchte nach seinem schönen Stück Erinnerung. Xianghua, die ihm gefolgt war, beobachtete das Schauspiel erst schweigend an der Tür, ging dann jedoch ebenfalls in den Raum und zeigte auf eine herausragende, am Boden liegende Spitze. „Da, schau mal. Ist das dein Schwert?“, fragte sie leise und ein wenig schüchtern, da sie Tanju noch nie so aufgelöst erlebt hatte. Erst war er verwundert darüber gewesen, was sie hier zu suchen hatte, doch als er die gefundene Spitze erkannte, wunderte er sich über etwas anderes. „Warum hat er das Schwert unter dem Bett versteckt?“, fragte er sich murmelnd. Zwar hatte er bei Yiu danach gesucht, aber nicht erwartet es auch wirklich dort zu finden. „Naja, er war schon immer eifersüchtig auf dich“, sagte Xianghua zu ihm obwohl sie die beiden kaum kannte. „Ach wirklich?“, fragte er überrascht. War er wirklich eifersüchtig auf ihn? Wegen seinem Schwert? „Ja, das du so toll kämpfen kannst“, sprach sie mit zweischneidiger Zunge. „Er wollte es bestimmt mitnehmen, weil er es dir nicht gönnt. Er reißt doch heute ab“, fügte sie dem Ganzen noch hinzu und sah zu ihm auf. Tanju starrte eine Weile auf sein Schwert, welches er inzwischen hervor gezogen hatte, bis er überhaupt begriff, was sie eben gesagt hatte. „Was!?“, donnerte er wieder los. „Dieser Mistkerl! Dafür werde ich ihn fertig machen!“ Ohne weiter zu hinterfragen, machte er sich auf die Suche nach dem Dieb, finden ließ er sich allerdings nicht so leicht. Zornig durchkämmte er jeden Winkel des alten Gemäuers und fragte viele Leute nach ihm, nichtsdestotrotz wusste niemand wo er hingegangen war, außer einer: „Yiu? Oh... Ich muss dir leider sagen, dass etwas Schlimmes passiert ist. Er ist hier bei Jun dem Heiler; aber ich denke, dass du zu ihm kannst“, murmelte der alte Mann, mit gesenktem Haupt. Tanju blickte zur Türe, die hinter dem Alten lag und hinter der sich der kleinere Braunhaarige Yiu befinden sollte. Ja, er wollte ihn sehen und sprechen, egal was passiert war. Kurz nickte er dankenderweise dem Ergrauten zu, klopfte und trat in den breiten Raum. Yiu lag in einem der zwei Betten und starrte leblos nach oben, während der Heiler sich über sein Gesicht beugte. Tanju vergaß genau in diesem Moment, weswegen er gekommen war, ebenso wie seine Wut auf seinen Kameraden. Ihm stockte der Atem. „Ist er, ist er tot?“, fragte er mit eingefrorener Mimik und bleich werdendem Gesicht. Der Heiler wand sich nicht zu ihm und erkannte ihn sofort. „Nein, Tanju. Er redet mit den Göttern... Ich hoffe nur für ihn, dass er den Weg zu uns zurück findet“, raunte der Mann, dessen Bart über der Schulter hing und der Kinder noch nie hatte leiden können. „Was kann so wichtig sein, dass er mit den Göttern sprechen muss?“, fragte sich der Junge naiv, denn davon verstand er nichts. Der Heiler schüttelte den Kopf . „Wird euch Kindern gar nichts mehr beigebracht? Das war doch nur ein Sprichwort. Er hat eine Vision! Eine Vision vom Kommenden, oder vom Vergangenem.“ Die Stunden vergingen und Yiu blieb vollkommen reglos. Es sprach sich unter den Mönchen im Kloster herum, dass einer der Jungen mit der Gabe des Sehens gesegnet war. Doch der Älteste von ihnen wusste, dass nicht viel Zeit blieb. Er suchte den besten Freund des Jungen auf und bat ihn, Yiu beizustehen. „Wenn er noch länger bleibt, wird er nie wieder aufwachen. Möchtest du das?“, frage er, wartete aber keine Antwort ab. „Du musst mit ihm reden und ihn überzeugen, zurückzukehren und das kannst du nur, wenn du ihm folgst.“ Fragend sah der junge Tanju ihn an. Wie sollte er zu ihm gelangen? Wo sollte er überhaupt hin? Und wie sollte er ihn überreden, wenn er doch gar nicht wusste warum er dort war? Der Mönch wusste schon, was ihm durch den Kopf ging und antwortete ihm, ohne dass er danach fragen musste. „Ich werde dich leiten und dich in seine Vision bringen. Auch ich habe die Gabe zu sehen, aber ich bin zu alt und zu zerbrechlich um selbst zu gehen. Die Götter würden mich nur in ihrer Welt behalten“, sagte er ruhig und mit einem Lächeln im Gesicht. Erst zögerte er, doch dann nickte Tanju leicht, schluckte jedoch schwer. "Ich werde ihm helfen!" Sagte er zu sich selbst und fing an den Alten zu befragen. Es dauerte nicht lange und Tanju legte sich, wie besprochen in das andere Bett und schloss die Augen. Er spürte wie sich die warmen Hände des Alten, auf seinen Kopf nieder legten. Plötzlich verging jeder Zweifel in seinem Herzen und ein wohliges Gefühl breitete sich in ihm aus. Er glaubte ganz langsam eingeschlafen zu sein; doch er lag nicht mehr in dem Krankenbett als er wieder erwachte, sondern auf etwas, was sich wie Gestein mit Moos anfühlte. Er öffnete die Augen, und als er aufsah, merkte er, dass er sich in dem Gebirge, hinter dem Tempel der Mönche befand. Alles schien wie immer, nur ein wenig farbloser. „Hallo?... Yiu, bin ich jetzt in deiner Vision?“, rief er. Er fragte sich, ob er nicht doch alles geträumt hatte; aber plötzlich war das Geräusch von knirschenden und brechenden Blättern hinter ihm zu hören. Schnell stand er auf und als er sich umdrehte, um zu sehen, was grade hinter ihm geraschelt hatte, blickte er auf das verschreckte Gesicht Yius. „Da bist du ja!" sagte Tanju freudig aber der Braunhaarige rannte einfach an ihm vorbei, ohne von ihm Notiz zu nehmen. "Yiu!? Yiu...?“ Verwirrt gaffte er ihm hinterher. Noch viel verwirrter, und gleichzeitig geschockt, blinzelte er sich selbst hinterher, als er gerade an sich vorbei rannte. Wie war das nur möglich? „Ich bin in der Zukunft oder?“, fragte Tanju überrascht, erhielt allerdings keine Antwort. „Wartet!“, schrie er hinter ihnen her. Schon spurtete er los, um zu sehen was passierte und weswegen sie hier waren; aber sie waren schnell, und obwohl er hinter sich selbst her rannte, konnte er kaum Schritt halten. Es dauerte nicht lange, bis die Verfolgungsjagd endete. Schreie waren zu hören und das auf einander treffen von Schwertern. Als Tanju zu dem Streit kam, sah er, wie sich ein Schwert in den Magen des Kleineren bohrte. Er ließ einen Schrei los. „Nein! Nein!“, kreischte er und rannte zu dem Ereignis. „Was hast du getan!?“, brüllte er sich selbst entgegen, rutschte auf den Boden und starrte die Beiden an. Niemand konnte ihn sehen, geschweige denn hören. Tränen liefen ihm über die Wangen. Er konnte nicht fassen, dass er seinen besten Freund in naher Zukunft umbringen sollte. Leise fing er an zu weinen und als Yiu ihm die Liebe gestand, war er in der ganzen Schlucht zu hören. „Yiu... Yiu ich liebe dich doch auch! Bitte komm zurück!“, presste er heulend hervor. „Bitte komm wieder zurück zu mir...“ Er sah sich selbst dabei, wie er sich an den toten Körper klammerte, wie er darum flehte, dass er zurück kommen sollte und wie er die Götter darum bat, das Übel zu verhindern. Dunkelheit breitete sich um Tanjus jetziges Ich aus. Ihm wurde bewusst, dass diese Vision von heute spielte, und wäre Yiu nicht leblos im Bett gelegen, hätte er ihn vor lauter Dummheit getötet; was er jetzt bestimmt nicht mehr tun würde. „Danke...“, hauchte er leise als er die Botschaft verstanden hatte. „Ich werde ihm bestimmt nie wieder etwas tun... Ich werde nie wieder so leichtsinnig anderen Glauben schenken“, sagte er am ganzen Körper zitternd. Lange Zeit war nur noch sein leises Weinen zu hören; bis plötzlich eine wohl bekannte Stimme zu ihm durchdrang die ihn schimpfte: „Tanju? Tanju, wach schon auf du dumme Nuss und hör auf zu weinen!“ Wer? Was?... Tanju schreckte auf und erblickte den quicklebendigen Yius, genau vor sich und im Hier und Jetzt. „Yiu! Es tut mir so leid, ich...!“, polterte er los, erntete allerdings nur einen sehr perplexen Gesichtsausdruck. Stille brach ein und sie beäugten sich für eine Weile, bis Tanju die Stille wieder unterbrach. „Erinnerst du dich denn an gar nichts mehr?“, wollte er wissen. „Hä? Was ist? Ich will endlich aus dem Krankenzimmer. Kannst du nun aufstehen oder nicht?“, nörgelte der Braunhaarige und Tanju fing an leicht zu lächeln. „Ach nichts... Einfach schön zu wissen, dass es dir gut geht“, hauchte Tanju erschöpft und traurig darüber, dass er sich an wirklich gar nichts mehr erinnerte. Andernfalls, wenn er so darüber nachdachte, war es vielleicht ganz gut. Während Yiu ihn verwirrt ansah, fragte er noch: „Sag mal Yiu, magst du mich?“ Yiu blinzelte leicht und sah noch weitaus verwirrter aus als vorher; dann lächelte er aber. „Ob ich dich mag? Ich glaube nicht, dass ich mit dir reden würde, wenn ich dich nicht mögen würde.“ Mehr sagte er nicht dazu. ~Ende~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)