Schatzkammer von Hepho (Ein Perlmutt-Oneshot für Vinc) ================================================================================ Kapitel 1: Schatzkammer ----------------------- Die Taube hockte auf dem Käfigboden und glotzte ihn an. Wenigstens hielt sie diesmal die Klappe und fauchte nicht direkt los, als er ans Gitter trat. Gott, mit den vereinzelten überlangen gelben Daunen und diesem Schnabel sah das Küken aus wie eine struppige Ente. Anscheinend war er das Einzige an ihm, das nicht täglich wuchs. Tatsache war, die Taube glotzte ihn an, und bis er wieder ging, würde sie den Blick nicht von ihm lassen. Das handhabte sie so, sobald er den Raum betrat. Wann immer er zu dem Küken herübersah, ruhten dessen schwarze Glubschaugen auf ihm und verfolgten jede seiner Bewegungen. Anscheinend war das der springende Punkt: Er bewegte sich. Alles Andere in diesem Raum, den er nostalgisch seine »Schatzkammer« nannte und Charlotte eine »modernde Bruchbude«, stand still: Massive Bücherschränke reihten sich an Vitrinen, die sich wiederum um einen dreibeinigen Schreibtisch und einen pompösen Sekretär scharten. Auf dem Boden breiteten sich diverse Teppiche aus, zum Teil mit Mottenlöchern, die er irgendwie mit weiteren Möbelstücken oder einer zweiten Schicht Teppich kaschiert hatte. Alles Gegenstände, die er mit der Zeit in den Trümmern dieses Straßenzugs gefunden, hergeschafft und mit Säge und Hammer und Nagel und Schraube und Schleifpapier und Schweiß und Spucke wieder hergerichtet hatte. Die Taube in den Käfig zu stecken, war das einzig Vernünftige gewesen. Seine Bücher und der alte Ledersessel dankten es ihm, der Dielenboden auch – wenngleich der ohnehin reichlich abgegriffen war und Charlotte sich kopfschüttelnd eine Bemerkung verkniffen hatte. Trotzdem – es war sein Dielenboden, und der sollte in dem Zustand, in dem er ihn vor drei Jahren vorgefunden hatte, noch mindestens sechsmal so lange bleiben. Ätzender Taubenkot war nachgerade unwillkommen. Die weiß gefleckten Treppenstufen draußen, über denen die Stadttauben nachts im Gebälk saßen, reichten ihm schon. Seit einigen Tagen war das Küken so agil geworden, dass es aus dem Karton abwanderte und in seiner neuen Umgebung auf Erkundungstour ging. Man hörte es rappeln, mindestens eine Minute, dann klatschten Federn und Haut auf die Tischplatte, dann schlurften Krallen über das Holz und weg war das Tier. Hier drückte sich Möbelstück an Möbelstück, und bevor dieser Federball in eine Ritze zwischen der Wand und den massiven Bücherregalen oder hinter den rostigen Heizkörper oder sonst wohin fiel, wo er ihn nie wieder rausbekommen würde, hatte er ihn kurzentschlossen hinter Schloss und Riegel gebracht. Aus dem Karton und in den Käfig. Irgendwie musste er das Viech ja am Leben halten. Ganz davon zu schweigen, dass er die wandernde Fluse mitunter am liebsten eigenhändig erwürgt hätte. Zum Beispiel in solchen Momenten, wenn sie mal wieder seine Nähe gesucht hatte – irgendwie ganz rührend – und dann Interesse an dem Buch gefunden hatte, das er soeben las, oder an seinen Dokumenten, und entschied, dass sie sich auf ihre Verdaulichkeit prüfen lassen müssten – weit weniger rührend. Um ehrlich zu sein, hätte er die Taube draußen zwischen den geborstenen Betonplatten sitzen lassen, auf dem Vorsprung vor seinem Fenster, der irgendwann mal ein Balkon gewesen war. Eine Katze oder ein Marder hätten sich sicherlich gefreut. Aber nach drei Tagen intensiver Beobachtung war Charlotte endgültig zu der Überzeugung gekommen, dass das arme Ding verlassen war, und dass man es nicht einfach seinem Schicksal überlassen könne. Und nicht genug damit – nein! Sie hatte ja unbedingt selbst über den Engpass kraxeln müssen, um dieses ausgefranste Scheusal aus den Trümmern zu bergen, und sich dabei fast das Genick gebrochen. Für dieses kleine hässliche Ding, das aus nicht mehr als ein paar Flusen, zwei riesigen Glubschaugen und einem ohrenbetäubenden Organ bestand, das immerfort krächzte … Hungerhungerhunger. Ihm wurde immer noch schlecht bei dem Gedanken daran, wie sie ausgerutscht und halb vom Sims gestürzt war. Er wusste nicht, was ihn mehr erschreckt hatte: der Moment, in dem sie am Beton herunterrutschte oder der erstickte Schrei, den sie ausgestoßen hatte, als ihre Finger den Halt verloren. Um ein Haar hätte er auch noch danebengegriffen. »Ist sie verletzt?« Das waren die ersten Worte, die sie hervorbrachte, als er sie durchs Fenster gezogen hatte. Er starrte sie perplex an. »Ich hab zugedrückt, als ich abgerutscht bin«, erklärte sie. »Wie geht’s ihr?« »Oh, dem Vogel geht’s gut«, sagte er. »Bei dir bin ich mir da nicht so sicher.« Da hatte sie gegrinst und die aufgeschürften Hände aneinander gerieben. Alles für eine Handvoll Federn. Und jetzt saß diese Handvoll vor ihm auf dem Käfigboden, legte den Kopf schief, starrte ihn mit ihrem runden Auge an und robbte zum Gitter. Und fiepte heiser. »Du bist wirklich potthässlich«, sagte er zärtlich. »Wie sieht’s aus? Hungrig?« Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)