Meeresflüstern von Coronet (Die Hungerspiele der Annie Cresta) ================================================================================ Kapitel 38: Gewinner und Verlierer ---------------------------------- Counter: 10 Tage, 12 Stunden, 16 Minuten// Tote: 23// Lebende: 1 – Endstand   Lichter blitzen vor meinen Augen auf, Stimmen werden lauter und verschwinden wieder in der Ferne. Ich werde durchgeschüttelt. Etwas Kühles berührt meine Arme. Noch mehr Stimmen undeutlich in der Ferne. Verwirrende Gerüche wechseln sich ab. Schmerzen kommen und gehen. Und immer wieder aufgeregte Stimmen. Es hört sich an als würden sie Fragen stellen. Aber ich kann nicht verstehen. Dunkelheit und Helligkeit kommen und gehen. Zwischendurch immer wieder nur Schwärze und keine Empfindungen mehr. Es fühlt sich an als würde ich körperlos schweben. Wo bin ich? Was passiert? Meine Gedanken entgleiten mir wieder. Ich kann sie einfach nicht festhalten. Erleichtert lasse ich mich fallen. ‚Später, später…‘ flüstert eine Stimme von irgendwo zu mir. ‚Ruh dich aus…‘ Es ist vorbei. Ein Gedanke der mich eigentlich erfreuen sollte. Es war vorbei, aber nicht so wie ich mir das wünschte. An den Flug im Hovercraft erinnere ich mich kaum. Nur an weiß gekleidete Gestalten die mir eine Spritze in den Arm jagen kann ich mich noch entsinnen. Längst habe ich gelernt was sich in den Spritzen befindet: der heiß ersehnte traumlose Schlaf. Immer wieder besuchen mich die Ärzte an meinem Krankenbett, nur um mir wieder eine Spritze zu verabreichen. Wie viel Zeit seit dem Ende der Spiele vergangen ist kann ich nicht sagen. Es könnten Wochen sein, aber auch nur ein paar Stunden. Mein ganzer Körper fühlt sich schlaff an und kein Glied gehorcht mehr meinem Befehl, nicht einmal wirklich mit dem Finger zucken kann ich. Doch das ist egal, so lange auch mein Kopf sich anfühlt wie in Watte gepackt. Zumeist starre ich an die klinisch weiße Decke und präge mir das Muster der Deckenplatten ein. Es ist schwer überhaupt einen klaren Gedanken zu fassen. Mit Mühe kann ich mich überhaupt erst an die Hungerspiele erinnern. Doch die Gedanken an eine Arena und Wasser, so viel Wasser, sind getrübt. Wenn ich nur daran denke fängt mein Kopf an zu schmerzen bis ich anfange zu schreien. Ich begreife, dass es schrecklich ist ohne zu wissen wieso. Vor meinen Augen ziehen immer wieder Gesichter vorbei. Erinnerungen an eine vergangene Zeit. 24 von uns auf Kutschen in überbunten Kostümen. 24 von uns in der besten Abendgarderobe wartend auf ein Interview. 24  von uns in einer Trainingshalle voll Furcht und Wut. 24 von uns auf einer grünen Wiese, wartend auf das Startsignal. Aber jetzt nur noch eine. Stechende Schmerzen schießen in meine Stirn. So gerne will ich die Hände vors Gesicht schlagen, doch mein Körper gehorcht mir wieder nicht. Als wenn ich in meinem eigenen Kopf gefangen bin. Ich versuche mich gegen die unsichtbaren Fesseln zu werfen, doch nichts passiert. Als die dunklen Bilder voller Blut durch meinen Kopf zu geistern beginnen schreie ich. Der einzige Ausweg der mir noch bleibt. Wie vorherzusehen ist öffnet sich sofort eine Tür am anderen Ende des Raumes. Schwere Schritte nähern sich. Es sticht in meinen Oberarm. Fast zeitgleich überschwemmt mich eine Welle der Lethargie. Ein warmes, weiches Gefühl breitet sich durch mich aus und umhüllt die bösen Erinnerungen. Mein Blick trübt sich. Vor meinen Augen verschwimmt die weiße Zimmerdecke. Schlaf überkommt mich erneut. Als ich wieder erwache ist das wattige Gefühl in meinem Kopf verschwunden. Zum ersten Mal kann ich mich auf die Stimmen konzentrieren die mich geweckt haben. „Es sind jetzt schon zwei Wochen. Das ist einfach zu viel!“ „Ich würde sie doch sehr bitten sich da nicht einzumischen! Ihr Zustand ist mehr als schlecht, so ist sie in absolut keinem vorführungswürdigen Zustand. Was sollen denn die Leute denken?“ „Aber darum geht es doch gar nicht! Es geht darum, dass ihr ein junges Mädchen bald drogenabhängig macht und nicht viel von ihr bleibt als eine leere Hülle. Auch wenn es hart ist, aber manchmal muss man die Wirklichkeit einfach ertragen, damit die Zeit die Wunden heilen kann. Ihre Drogen sind kein Allheilmittel!“ Einen Moment herrscht Schweigen. Ich bemühe mich keinen Laut von mir zu geben um die Sprechenden nicht auf mich aufmerksam zu machen. Die Augen halte ich fest geschlossen. „… wir müssen tun was immer das Beste für die Repräsentation der Sieger vor dem Kapitol und Distrikten ist. Dieser Verantwortung müssten vor allem sie sich doch ebenfalls bewusst sein.“ Aus der Antwort wird klar, dass der Sprechende keine weiteren Widerworte duldet. Fast schon klingt die Aussage wie eine Drohung. Es kommt kein Widerspruch. „Sie können ja selber schauen was sie bei ihr bewirken können. Ich für meinen Teil glaube, dass sie längst verloren ist…“, mit diesen Worten verlässt der Sprecher den Raum. Zurück bleibt nur das Summen und Piepen diverser medizinischer Geräte. Zum ersten Mal wird mir richtig bewusst wo ich mich befinde. Es muss eine Art Krankenhaus oder medizinische Station sein für die Überlebenden der Hungerspiele. Jetzt nähern sich sanfte Schritte meinem Bett. Zittrig legt sich eine Hand auf die Meine. Es muss der erste Moment seit Wochen sein, dass ich wieder richtig etwas spüre. Gleichzeitig mit diesem Gefühl kriecht die Angst in mir hoch, dass sogleich wieder blutverschmierte Gedanken hochkommen werden. Das Herz verkrampft sich bereits in Erwartung der nächsten Panik. In meiner Angst greife ich nach der Hand und packe sie fest. „Annie?“ werde ich behutsam gefragt. Flackernd öffne ich die Augenlieder. Neben mir am Bett steht Mags, das runzelige Gesicht zu einer besorgten Miene verzogen. Wie unglaublich erleichternd es sich anfühlt ein bekanntes Gesicht zu sehen! Zaghaft lächelt sie mich an. „Endlich bist du einmal bei Bewusstsein, meine Liebe.“ Ich versuche zu sprechen, will ihr sagen wie dankbar ich bin, dass sie da ist, doch aus meiner Kehle kommt nichts als ein heiseres Kratzen. Doch Mags schaut nur verständnisvoll und streicht mit ihrer freien Hand über meinen Oberarm. „Du musst nichts sagen. Ich war auch einst dort wo du jetzt bist. Ich kann mir vorstellen wie du dich fühlst, zumindest ein wenig.“ Matt nicke ich. Erst jetzt nehme ich den Raum das erste Mal richtig war, abgesehen von der Zimmerdecke. Außer meinem Bett befinden sich einige Monitore und Gerätschaften in dem Raum die konstant brummen. Über einen Schlauch läuft eine klare Flüssigkeit langsam in einen Zugang an meinem Handrücken. An der Längsseite ist ein großer Spiegel in die Wand eingelassen. Ansonsten ist das Zimmer jedoch völlig kahl und komplett in Weiß gehalten. Mags in ihrem bunten Sommerkleid ist der einzige Flecken Farbe in dieser klinischen Ödnis. „Hast du noch Schmerzen?“, fragt sie. Es fällt mir schon leichter den Kopf zu schütteln. Körperlich fühle ich tatsächlich nichts Unangenehmes. Zwar fühlt sich alles noch immer so leicht an, doch ich fühle mich… heil. „Das beruhigt mich. Du hattest einige Verletzungen, aber das bekommen die hier im Nu wieder zusammengeflickt. Jetzt nach zwei Wochen sind nicht einmal mehr Narben zurückgeblieben.“ Traurig lächelt sie mich an. Keine zurückbleibenden Schäden? Fast hätte ich es nicht für möglich gehalten, dass ich überhaupt lebend aus der Arena herauskommen würde. Und jetzt hatte das Kapitol all meine schweren Wunden mit einem Fingerschnipsen wieder geheilt, so als wäre nie etwas gewesen. Ich weiß nicht, wie ich mich angesichts dieser Tatsache fühlen soll. Also starre ich einfach nur in Mags runzeliges aber liebenswürdiges Gesicht. Mitfühlend legt Mags ihre andere Hand auch auf meine und drückt sie sanft. „Du bist so stark Annie, ich weiß du kannst das schaffen“, sagt sie ganz, ganz leise. Mit einem leichten ziehen zieht sie die Kanüle aus meinem Handrücken. „Danke“, erwidere ich mit heiserer Stimme. Mags bleibt noch eine Weile und erzählt von den normalen Dingen des Alltags. Es sind eigentlich belanglose Kleinigkeiten wie die Topfpflanze die sie gepflanzt hat und die nun zum ersten Mal blüht. Doch es gibt mir etwas auf das ich mich konzentrieren kann. Ihre beruhigende Stimme lenkt mich von den anderen Gedanken ab die sonst meine Sinne verdunkeln würden. Ich merke nicht einmal, dass ich eingeschlafen zu sein scheine, doch als ich erwache ist das Licht im Zimmer aus und Mags fort. Die Kanüle steckt nach wie vor nicht mehr in meiner Hand, was wohl erklärt warum ich mich nicht mehr so benebelt fühle. Leider ist damit auch die Gleichgültigkeit verschwunden. Alle meine Sinne erscheinen viel schärfer als gewohnt. Unzählige Gedanken rasen nun auf einmal durch meinen Kopf. Selbst die Decke die über meine nackten Beine streift fühlt sich nach zu viel an. Hastig schmeiße ich sie vom Bett. Mir ist heiß und ich schwitze. Ich trage nicht mehr als ein papiernes Nachthemd, welches nun an meinem Körper klebt. Durstig und hungrig bin ich ebenfalls. Ehe ich mich versehe habe ich meine nackten Füße auf den kalten Fußboden gesetzt und bin aufgestanden. Schwindelig muss ich mich am Bett abstützten, ehe ich auf eigenen Beinen stehen kann. Die Welt scheint sich noch einen Moment um mich zu drehen, dann kann ich mich langsam sortieren. So schnell es mir mein Zustand erlaubt gehe ich zur einzigen Tür im Raum hinüber. Doch als ich die Klinke hinunterdrücke passiert nichts. Es ist verschlossen. Ich starre auf die Tür, dann schlurfe ich langsam wieder zum Bett zurück. Hilflos rolle ich mich dort so eng wie möglich zusammen. Aus den dunklen Ecken des Zimmers kriechen die dunklen Geister hervor. Die Augen fest verschlossen weine ich mich in den Schlaf. Am nächsten Tag bin ich zum ersten Mal bei vollem Bewusstsein als der Arzt mein Zimmer betritt. Es handelt sich um einen kahlrasierten Mann undefinierbaren Alters der vor allem durch seine tiefrot tätowierten Lippen auffällt. Er spricht mich nicht an, sondern erledigt ganz routiniert seine täglichen Handgriffe. Erst als er die herausgezogene Kanüle bemerkt stutzt er und sieht mich direkt an. „Sicher, dass es auch ohne Morfix geht?“, fragt er in einem merkwürdigen Singsang. Mit zusammengebissenen Zähnen nicke ich. Von dem was ich gestern in seinem und Mags Gespräch belauschen könnte kann ich daraus schließen, dass Morfix nichts Gutes ist. Dem Kapitol will ich auf keinen Fall noch weiter ausgeliefert sein als so schon. Doch der Doktor zuckt nur mit den Schultern und wendet sich wieder der Aufgabe zu irgendwelche Daten von den Monitoren abzulesen. Ohne ein weiteres Wort verschwindet er schließlich. Diesmal dauert es jedoch nicht lange bis ich erneut Besuch bekomme. Eine kleine Frau mit himmelblauem Haar schwebt herein, ein Klemmbrett unter dem Arm. „Guten Morgen meine Liebe“, flötet sie gutgelaunt. Ein strahlendweißes Lächeln schlägt mir entgegen. Sie reicht mir ihre Hand. Ihr Händedruck ist kalt und fest. „Ich bin Tia, deine persönliche emotionale Beraterin“, erklärt sie freudestrahlend während sie sich einen Stuhl aus der Zimmerecke heranzieht. „Meine was?“, frage ich verwirrt. Doch sie lacht nur verschwörerisch und erwidert: „Deine emotionale Beraterin, ich will das es dir gut geht und deiner geistigen Genesung ein wenig auf die Sprünge helfen!“ Sie lacht leise und legt sich das Klemmbrett auf den Schoß. Aus der Innentasche ihres knallpinken Blazers zieht sie einen eleganten silbernen Stift und tippt auf das oberste Blatt. „Also Annie, wie geht es dir?“ Schweigen. Wie soll ich auf diese Frage antworten? Mir schwirrt so viel durch den Kopf! Warum sollte ich überhaupt einer völlig unbekannten Frau Einblicke in meine Gefühlswelt geben? Was will sie mit diesen Informationen anstellen? Weiterhin blickt sie mich abwartend an, aber ihr Blick bohrt sich tief in mich. Ihre grässlichen Kreolen glitzern im künstlichen Licht. Allgemein ist ihre gesamte Erscheinung typisch für das Kapitol: Accessoires im Übermaß. Armbänder und Ringe mit glitzernden Steinen, eine riesige schwere Kette und eine Haarspange die wie eine fette Spinne in ihren blauen Löckchen liegt. Sie scheint die Geduld zu verlieren, denn sie hakt sogleich weiter nach: „Wie ist dein Gefühl momentan? Traurig, verwirrt… stolz?“ Ihr bemüht verständnisvolles Gesicht ist der blanke Hohn. Ich soll mich stolz fühlen? Stolz auf den Tod von 23 anderen Menschen? Ich spüre wie Hitze in mir aufsteigt. Gleichzeitig verschwimmt meine Sicht, da Tränen sich in meinen Augen sammeln. „Ich bin nicht stolz!“, presse ich hervor. Der Kugelschreiber gleitet beflissen über das Papier. „Was fühlst du stattdessen angesichts deines großartigen Sieges?“ Es gibt kein großartiges, tolles Gefühl in mir. Ich habe nur gewonnen, weil mir jemand Pon genommen hat! Alles fühlt sich an als würde erneut das Wasser auf mich eindringen und  zermalmen wollen. Hilflos krampfen sich meine Hände um die Bettdecke. „Aber Annie, irgendetwas musst du doch fühlen! Beschreibe es mir!“, werde ich gedrängt. Doch in meinem Kopf toben längst die Bilder meines Überlebenskampfes. Nichts versteht sie, nichts! Und sie wird es auch niemals verstehen können! Ich schlage die Hände auf die Ohren und krümme mich vorne über. Aber die Dämonen die sie erweckt hat wollen nicht Ruhe geben. Also schreie ich so viel meine Lungen hergeben. Ich will sie vertreiben, vergessen! Erst als ich heiser bin und keine Luft mehr in den Lungen ist verhallt mein Schrei. Keuchend und Tränen überströmt sinke ich zur Seite. Die Frau namens Tia sagt nichts mehr sondern macht sich nur noch eilig einige Notizen, dann verschwindet sie.   Tag für Tag widerholt sich dieses Spiel von da an. Ich werde von meiner ‚emotionalen Beraterin‘ besucht die mich immer wieder bedrängt etwas zu erzählen. Zunächst versucht sie sich nach meiner allgemeinen Gefühlslage zu erkunden. Als das keinen Erfolg zeigt fängt sie an mich nach konkreteren Dingen zu fragen. Sie erkundigt sich wie es mir in der Arena ging oder warum ich wie gehandelt habe. Doch egal was sie tut, sie schafft es immer die schrecklichsten Erinnerungen in mir hervorzuholen. Jedes der Treffen mit ihr ist so schrecklich auslaugend, dass ich anfange mich schlafend zu stellen um ihr auszuweichen. Doch von da an fängt sie an mich mehrmals am Tag zu besuchen und schließlich werden auch meine normalen Schlafmittel drastisch reduziert. Die nächtlichen Albträume sind ebenso schlimm wie ihre Fragen, also gebe ich auch diese Taktik wieder auf. Abgesehen von ihr kommt nur Mags mich noch besuchen, die mir erklärt, dass nur eine Person von den Mentoren in den Krankenflügel darf. Sie beteuert, dass alle mich gerne besuchen würden, aber sie hätten sich gemeinschaftlich für Mags entschieden. Ich bin den anderen sehr dankbar, denn Mags ist ein Ruhepol für mich. Von ihr kommen keine Fragen über meinen Gefühlszustand oder die Arena. Sie scheint nicht einmal zu erwarten, dass ich auch etwas sage und so höre ich ihr meist zu. Es sind seichte Themen und ein bisschen Klatsch und Tratsch die Mags anschneidet. Und kommen mir doch einmal wieder die unaufhaltsamen Tränen so reicht sie mir ein Taschentuch und wartet stumm an meiner Seite bis sich der Anfall wieder auflöst. „Mags“, frage ich sei eines Tages, „wann hat es bei dir aufgehört?“ Sie muss nicht einmal nachfragen was ich meine, sondern weiß es sofort. „Nie“, antwortet sie ehrlich, „aber man kann lernen es zu akzeptieren. Weißt du, auch ich habe noch immer genügend Albträume.“ Für einen Moment verdunkelt sich ihr Gesicht und sie scheint etwas zu sehen, dass ich nicht einmal erahnen kann. Doch auch diese Zeit geht vorüber. Eines Tages kommt Tia nicht mehr vorbei. Stattdessen erscheint mein volles Vorbereitungsteam mit einem ganzen Schönheitssalon im Gepäck. Aufgeregt schnatternd schwirren sie um mich herum wie ein hektischer Vogelschwarm ehe ich verstehe worum es überhaupt geht. Heute Abend findet die letzte große Veranstaltung der Hungerspiele im Kapitol statt. Ein großer Rückblick auf die 70. Hungerspiele, live zusammengefasst und kommentiert von Caesar Flickerman zusammen mit der Sieger – mir. Die Karten sind heiß begehrt und das ganze Kapitol ist bereits sehr gespannt auf diesen Abschluss auf den sie immerhin drei Wochen warten mussten. Nicht anders als vor der großen Parade muss ich auch jetzt wieder auf Vordermann gebracht werden. Haare werden entfernt, die Haut mit verschiedenen Wässerchen behandelt und eingecremt. Es tut gut mal wieder in eine schaumige Wanne heißen Wassers einzutauchen. Endlich entspannen meine Glieder sich einmal ein wenig. Die einzelnen Teammitglieder schwatzen größtenteils untereinander über ihre eigenen Pläne für diesen Abend, was sie anziehen wollen und wen sie hoffen dort zu treffen. So bleibe ich innerlich weiterhin ungestört und genieße ein klein wenig die luxuriöse Behandlung. Meine Haare die ich mir in der Arena eigenmächtig abgeschnitten habe um dem verschlingenden Wald zu entkommen werden ordentlich geschnitten und in Form gebracht. Innerhalb weniger Stunden sehe ich fast wieder aus wie vor den Spielen. Als ich mich im Spiegel betrachte erkenne ich mich dennoch fast nicht wieder. Seit ich die Arena betreten habe, habe ich mich selber nicht mehr wieder gesehen. Nicht alles kann das Kapitol wieder richten: Ich habe einiges an Gewicht verloren und bin fast nur noch Haut und Knochen. Die Augen die mich aus dem Spiegel heraus anblicken wirken seltsam stumpf und ausdruckslos. Mit all der Schminke sieht mein Gesicht eher wie eine Maske aus. Es dauert eine Weile bis ich mich von meinem Spiegelbild losreißen kann, so sehr schockiert mich der Anblick. Doch als schließlich Roan, der Chefstylist mit einem großen Kleidersack in seinen Händen in meinem Krankenzimmer auftaucht ist es Zeit sich davon zu lösen. Auch in der Zwischenzeit ist er nicht sympathischer geworden. Ohne viel Federlesen weißt er mein Team an mich einzukleiden. Er sieht durchaus stolz aus ein Siegerkleid entworfen haben zu dürfen, doch weniger glücklich darüber, dass ausgerechnet ich es ausfüllen soll. Beim Anblick seines kalten Blickes und seiner künstlichen Kiemen läuft mir ein eisiger Schauer über den Rücken. Ich bin dankbar, dass Kolibri, die bunte kleine Helferin aus meinem Vorbereitungsteam, ihn hinausscheucht damit sie mir in das Kleid helfen kann. Das Kleid ist tiefgrün und von sehr eleganter Passform. Es ist am Hals hochgeschlossen, hat dafür aber einen schönen Rückenausschnitt und einen fließenden Rock. Eingearbeitete Partikel lassen das Kleid im richtigen Licht leicht schimmern. Die Haare werden locker zusammengesteckt. Insgesamt fühle ich mich in diesem Ensemble recht in Ordnung, auch wenn die hohen Schuhe mir nach wie vor Probleme bereiten. Sobald ich in ihnen stehe bekomme ich Schmerzen in den Gelenken und auch das Gehen ist eher holprig am Anfang, doch ich werde ermutigend von Alexis unterstützt. „Du siehst wunderhübsch aus“, erklärt mein Team mir freudig, „fehlt nur noch die Krone. Wir haben dir extra eine schlichte Frisur gegeben, damit die Krone nachher auch gut zur Geltung kommt!“ Die Krone, denke ich mit einem Stich. Natürlich bekomme ich für meinen Sieg auch die traditionelle Krone von Präsident Snow aufgesetzt. Was auch bedeutet, dass ich Präsident Snow begegnen muss. Der mich bedroht hat, mir alle die ich je geliebt habe wegnehmen wollte. Für ihn hätte ich Maylin töten sollen um meine Familie zu retten. Doch stattdessen habe ich nur zugesehen wie Maylin getötet wurde, unfähig mich selbst zur Rettung meiner eigenen Familie zu überwinden eine Waffe in die Hand zu nehmen. Haltlos fange ich an zu zittern. Was wird Snow noch alles von mir nehmen? Bis jetzt habe ich nicht mehr an diese Begegnung denken müssen. Doch nun zieht die Angst um meinen Vater mein Herz zusammen. Er ist alles was mir noch geblieben ist! Was könnte Snow den anderen angetan haben, vor allem Finnick? Noch bevor ich es verhindern kann steigen dunkle Zukunftsvisionen in mir auf und ich schmeiße mich, ungeachtet des Kleides, auf den Boden und drücke meinen Kopf gegen den kühlen Boden, die Arme über dem Kopf. Ich weiß nicht wie lange ich schreie und weine, doch diesmal will es einfach nicht versiegen. Erst eine Spritze in meinen Oberarm erlöst mich. Erneut fühlt sich alles an als wäre es in Watte gepackt. Die Welt ist seltsam verschwommen und alle Stimmen hören sich an als würden sie unter Wasser sprechen. Matt erdulde ich es, dass ich erneut geschminkt und frisiert werde. Wie ein Lamm zur Schlachtbank geführt wird werde ich schließlich aus meinem Krankenzimmer hinaus durch einen langen Flur und zur Tür hinaus geführt. Dort wartet bereits eines der Hovermobile mit verdunkelten Scheiben. Im Eiltempo kurven wir durch die abendliche Innenstadt, vorbei an hellerleuchteten Wohneinheiten. Dort drinnen warten die Leute bestimmt schon auf die Übertragung der heutigen Feierlichkeiten im staatlichen Fernsehen. Doch trotz aller Mühe kann ich keine rechte Nervosität aufbauen, da was auch immer sie mir gegeben haben, vermutlich eine starke Dosis Morfix, alles blockiert. Teilnahmslos starre ich stattdessen aus dem Fenster in die aufkommende Nacht. Schließlich halten wir in einer unterirdischen Parkgarage, von wo aus ich durch einen weiteren langen Gang geführt werde und dann mit einem Fahrstuhl in einen geräumigen Garderobenbereich gelange. Außer uns ist niemand hier. Zwei schwere metallene Türen führen zur Bühne. Doch Alexis erklärt mir, dass wir noch einen Moment warten müssen bis es losgeht. Sie sehen alle recht nervös aus, sodass ein Aufatmen durch die Reihen geht, als die Fahrstuhltüren sich ein weiteres Mal öffnen und Mags hereinkommt. Sie trägt ein schlichtes schwarzes Kleid und ist ebenfalls ein wenig zu Recht gemacht worden. Ohne ein Wort zu sagen schließt sie mich innig in die Arme. Beruhigend streichelt sie über meinen Rücken. Bis das Signal kommt, welches meinen Auftritt ankündigt sitzen wir einfach nur stumm da und halten uns an den Händen. Als schließlich der Gong ertönt stehe ich wie in Trance auf. Es ist so weit. Die Türen öffnen sich und strahlend helles Licht schlägt mir entgegen. Ein Raunen geht durch das Publikum. Ich stehe einfach nur da und starre in die unkenntliche Masse des Publikums. „Annie Cresta, die Siegerin der 70. Alljährlichen Hungerspiele!“, höre ich eine donnernde Stimme durch die Watte hindurch verkünden. In einen glitzernden rosa Anzug gehüllt steht Caesar Flickerman da, den Arm in meine Richtung ausgestreckt. Wackelig stakse ich zu ihm herüber und ergreife seine Hand wie eine Ertrinkende. Applaus brandet ringsum auf. Caesar führt mich nach vorne in die Mitte der Bühne wo ein Podest aufgebaut ist. Auf einem Sockel davor liegt, aufgebahrt auf einem roten Kissen, der goldene Reif mit dem ich ganz offiziell zur Siegerin gekürt werden soll. „Als letzter überlebender Tribut gebührt ihr jetzt die Ehre von Präsident Snow gekrönt zu werden“, kündigt Caesar brüllend an. Das Publikum erhebt sich zu stehenden Ovationen, während Snow durch eine weitere Tür hereingeschritten kommt. Von Caesar bekomme ich einen unsanften Stups in den Rücken und alleine erklimme ich die drei Stufen hinauf auf das Podest. Snow hat ein leichtes Lächeln auf den Lippen und bringt den allgegenwärtigen Geruch nach Rosen mit sich. Trotz des Morfix spüre ich Furcht und auch Hass in mir aufwallen. Meine Hände ballen sich unwillkürlich zu zitternden Fäusten. Der Präsident hält eine kurze Ansprache, doch ich verstehe keines seiner Worte durch das Rauschen in meinen Ohren hindurch. Ich sehe nur wie das Publikum ihm zujubelt. Können sie denn nicht alle das Monster erkennen was vor ihnen steht? Gerade als ich das Gefühl bekomme, dass meine Beine jeden Moment unter mir wegsacken könnten, spüre ich die Hand Caesars an meinem Unterarm. Doch anstatt einer beruhigenden Geste verspüre ich einen Einstich oberhalb des Handgelenks. Vor Überraschung will ich zusammen zucken, doch da strömt bereits erneut Gleichgültigkeit durch mich. Das Morfix hüllt mich noch stärker ein und selbst wenn ich wollte ich könnte Snow nicht einmal eine böse Grimasse zeigen. Mit seinen langen weißen Fingern hebt er die schmale Krone hoch und steigt ebenfalls hinauf auf das Podest. Unter ohrenbetäubendem Jubel legt er mir die Krone aufs Haupt. So nah wie er vor mir steht nehme ich den schwachen Geruch nach Blut wahr. Ein wölfisches Grinsen auf dem Gesicht flüstert Snow kaum merklich: „Enttäusche mich in Zukunft nicht noch einmal Annie Cresta. Du bist doch so ein wundervolles Mädchen…“. Mit diesen Worten wendet er sich ab und lässt sich zu seinem Ehrenplatz geleiten um die weiteren Feierlichkeiten zu genießen. Während Caesar mir erneut den Arm reicht und mich zu einer Couch führt räumen einige Avoxe zügig das Podest fort. Kaum auf dem Sofa sitzend flackern um uns herum riesengroße Leinwände mit dem Siegel von Distrikt vier auf. „Es wird Zeit die 70. Hungerspiele noch einmal Revue passieren zu lassen“, ruft Flickerman energisch. Dies scheint das zu sein, worauf die Menge sich am meisten gefreut hat, denn es scheint sie kaum noch auf ihren Plätzen halten zu können. Zunächst werden einige Aufnahmen von der Ernte und der Ankunft im Kapitol gezeigt, alles begleitet von den Kommentaren Caesars. Immer wieder sind auch die anderen Tribute zu sehen, manche voller Hoffnung und Stolz, andere voll Furcht. Es erscheint mir als würde ich Aufnahmen aus dem Leben eines anderen sehen. Das Mädchen im roten Kleid das bei der Ernte ausgesucht wird ist nicht dieselbe Person die jetzt hier sitzt. Ich will irgendetwas spüren, doch da ist nur das Morfix. Betäubt sehe ich zu wie Caesar mit dem Publikum darüber diskutiert warum ich nicht wie die nächste Siegerin wirkte. Ab und an versucht er mir eine Frage zu stellen, doch mehr als ein Kopfschütteln oder zaghaftes Nicken bringe ich nicht zustande. Doch das Schlimmste steht mir erst noch bevor. Denn jetzt kommen wir zu der Berichterstattung aus der Arena. Zum ersten Mal sehe ich meine eigenen Spiele wie es alle Zuschauer gesehen haben. Aus den unterschiedlichsten Winkeln wird der Überlebenskampf gezeigt. Je hässlicher die Verletzung, desto näher sind die Kameras. Noch einmal wird jeder einzelne Tod eines jeden Tributs gezeigt. Ich versuche den Blick abzuwenden, doch überall sind die Leinwände. Die Kameras versuchen jede meiner Regungen einzufangen. Schonungslos jubelt das Publikum immer wieder wenn ein Tribut stirbt oder seufzt traurig. Selbst wenn ich die Augen fest verschließe höre ich noch immer wie Caesar die einzelnen Schicksale beschreibt und das Publikum sogar lacht. Es ist fast noch grausamer als den Fernsehbildern zuzusehen, denn so gesellen sich meine eigenen Bilder dazu. Nichts ist grausamer als die selbsterlebte Realität. Nie war es mir egaler, was das Publikum denken mag, denn ich presse nun auch fest die Hände auf die Ohren, doch trotzdem wird das Spektakel um mich herum nicht angehalten. Irgendwie schaffe ich es so den größten Teil der Veranstaltung rumzubekommen, bis die Stelle erreicht ist an der nur noch fünf Tribute übrig sind. Eine kleine Stimme in meinem Kopf beginnt zu rufen „Annie… Annie rette mich…“. Tränen ergießen sich als erstes über mein Gesicht. Doch Pon hört nicht auf mich zu traktieren. Das Publikum applaudiert begeistert, als die Kanone zwei Tode hintereinander verlauten lässt. Doch in meinem Kopf schreit die Stimme immer lauter, von Schmerzen gequält. Ich kann nicht mehr, ich gerate außer mir! Laut gellend zerreißt mein Schrei die Atmosphäre. Schlagartig bricht das Jubeln um mich herum ab, doch davon merke ich nichts mehr. Längst bin ich wieder gefangen in meiner eigenen Welt und versuche die Erscheinungen zu vertreiben, mit meinem Schreien ihre Schreie zu übertünchen. Hände packen mich und zerren an mir, schleifen mich unter Anstrengung von der Bühne. Es ist mir alles egal. Arme hüllen mich ein, packen mich ganz fest. Ich versuche zu schlagen, kratzen treten und beißen, doch sie lassen nicht von mir ab. Unbeirrt hält mich die Person fest und flüstert leise in mein Ohr. „Ich bin da Annie. Ich bin da.“ Schluchzend sinke ich gegen Finnicks Brust. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)