Meeresflüstern von Coronet (Die Hungerspiele der Annie Cresta) ================================================================================ Kapitel 15: Der Himmel im vierten Stock --------------------------------------- Zum zweiten Mal an diesem Tag betrete ich die riesige Trainingshalle, um mein erstes Mentorentraining mit Floogs und Amber zu absolvieren. Mags ist als Einzige nicht dabei, sondern oben bei Cece im Appartement geblieben. Der Grund wird schnell klar – alle unsere Mentoren tragen Sportkleidung und stehen in einem Halbkreis zwischen den Kampfstationen. Amber empfängt mich mit einem Kopfnicken. »Dann wollen wir mal sehen, ob diese Meerjungfrau auch Zähne hat«, sagt sie ungerührt und bedeutet mir, ihr zu folgen. Wir landen bei den Matten von der Ringkampfstation, die in einem großen Viereck in den Boden eingelassen sind. Ein Blick über die Schulter zeigt mir, dass Pon indessen einen Speer hält und von Finnick in seiner Haltung korrigiert wird. Floogs legt eine Hand auf meinen Oberarm und weist mit einem Kopfnicken zu den Matten. »Keine Sorge, Annie. Wir bekommen das hin. Auch wenn Amber nicht den Eindruck macht, wir haben uns einen sanften Einstieg überlegt.« »Ja, dem Namen nach«, spöttelt Amber, doch auf Floogs finsteren Blick hin tritt sie mit erhobenen Armen zurück und überlässt ihm die Matte. »Stell dich einfach in die Mitte«, weist Floogs mich an. »Entspann dich. Keine störenden Gedanken, lass einfach alle Muskeln los. Ich weiß, das ist schwer, aber versuch es. Bevor wir an Waffen denken, ist es ratsam, den eigenen Körper zu verstehen.« »Und wenn du am Füllhorn keine Waffe bekommst, gehst du wenigstens nicht gleich drauf, solange du auch ohne kämpfen kannst«, ergänzt Amber. Floogs seufzt. »Das auch. Annie, du weißt vielleicht, dass ich nur mit einem Messer bewaffnet die Hungerspiele gewonnen habe. Dazu hat das, was wir dir beibringen wollen, maßgeblich beigetragen. Was auch Amber im Übrigen erst lernen musste.« Er zwinkert mir zu. »Das kannst du auch. Schließ die Augen.« Ich tue wie geheißen. War mein Atem immer schon so laut? Was macht Pon gerade? Von weiter hinten höre ich Waffenklirren. Das Bild des traurigen Finnicks schiebt sich in die Gedanken, gefolgt von meiner Familie, David. Sein anklagender Blick ist nicht zu ertragen. Vorsichtig hebe ich ein Lid, um mich in der Halle umzusehen. Dabei habe ich die Rechnung ohne Amber gemacht. Sie steht keinen halben Meter vor mir, die Arme verschränkt und starrt mich an. Als sie meinen Blick auffängt, schaut sie zur Digitaluhr hoch oben an der Wand und seufzt. »Wo bist du, Annie?« »Äh ... in der Trainingshalle?« »Wie spät ist es?« »Abend –« Ich will ebenfalls zur Uhr sehen, doch Ambers Zungenschnalzen hält mich davon ab. »Wer bist du?« »Annie Cresta ... weiblicher Tribut aus Distrikt Vier.« Amber tritt zurück, keine Regung auf dem Gesicht zu erkennen. »Konzentriere dich auf den Moment, nicht deine überflüssigen Gedanken. Alles, was zählt, ist der konkrete Augenblick. Du bist hier, du bist jetzt, du bist der Moment.« Bevor ich meiner Verwirrung Ausdruck verleihen kann, humpelt Floogs wieder auf die Matten. »Das, was wir dir beibringen werden, ist eine uralte Kampfkunst, die aus einem der verlorenen Länder jenseits des Meers stammt«, erklärt er. »Das schriftliche Wissen darüber ist mit den Jahren verloren gegangen, doch einer unserer früheren Sieger – Brandon – hat mich vor seinem Tod einiges davon gelehrt, wie seine Eltern ihm zuvor. In der Arena gibt es sicherlich keinen zweiten Tribut, der dieses Training bekommt, also pass auf, Annie.« Er zieht mich am Handgelenk zur Seite und wir überlassen die Matte Amber. Sie holt tief Luft, geht leicht in die Knie und schiebt ihre Füße hüftbreit auseinander. Ihr Blick ruht auf einem Punkt weit in der Ferne, womöglich nicht in dieser Halle. Die Fäuste hält sie an ihrer Seite und dann geht alles furchtbar schnell. Ein Schrei, ein Schlag, ein Schritt vorwärts. Die Luft zischt, als Amber sie mit rasanten, präzisen Bewegungen schneidet. Fast wirkt es wie ein Tanz, in dem ihre Choreografie aus Fausthieben und Tritten zusammenschmilzt. Plötzlich ist es auch schon wieder vorbei, Amber steht in derselben Position wie zuvor da, die Augen geschlossen. Nur ihre Brust hebt und senkt sich von der Anstrengung. Ich kann nicht anders – Bewunderung breitet sich in mir aus. Floogs strahlt. »Wunderbar, Amber. Ich sehe, du hast trainiert.« Zum ersten Mal ziert ein Lächeln Ambers Züge. Beiläufig bindet sie die Bandagen an ihren Händen neu, doch ich bin sicher, dass ihr Floogs Lob etwas bedeutet. »Ich würde dich gerne selber trainieren Annie, aber seit einem kleinen Unfall vor ein paar Jahren ist mein Bein schlimmer geworden«, erklärt Floogs an mich gewandt, »daher wird Amber – unter meiner Anleitung – das praktische Training übernehmen.« Wehmut, den ich nicht nachvollziehen kann, schwingt in seinen Worten mit. Warum sehnt er sich danach, selber wieder zu kämpfen? Sein gutmütiges Lächeln passt gar nicht zu diesem Wunsch. Während des restlichen Trainings lassen Amber und Floogs mir allerdings keine Zeit, weiter über die Persönlichkeiten der Sieger zu sinnieren. Ich werde selber auf die Matte gebeten und unter Ambers kritischen Blicken vollführe ich einige Schläge gegen die Luft, bei denen ich mir vorkomme wie eine Witzfigur. Die beiden Mentoren kritisieren einfach alles an meiner Haltung, angefangen bei der Faust, die ich falsch balle, bis hin zu der Fußstellung. Immer wieder halten sie mich auf und zeigen mir beispielsweise, wie meine Fauststöße an Schnelligkeit gewinnen, wenn ich die Hüfte noch mehr drehe. Es geht nie um Kraft oder Muskeln. Alles hängt davon ab, den ganzen Körper zu nutzen; ihn in eine, fließende Bewegung zu verwandeln. Am Ende des Abends bin ich völlig ausgelaugt von all den Eindrücken. Ich schaffe es nicht einmal, erneut zu duschen, sondern falle kraftlos auf mein Bett und versinke in traumlosen Schlaf. Die nachfolgenden Trainingstage verschwimmen in einem Strudel aus Überlebenstraining, Kampfchoreographie und Erschöpfung. Die meiste Zeit bleibe ich alleine und lerne die Basics der Nahrungssuche oder Spurensuche. Noch ein paar Mal probieren Pon und ich verschiedene Kampfstationen im Beisein der Karrieros aus, doch ich kann mich mit nichts davon anfreunden. Im Bogenschießen bin ich passabel, gleichwohl es mir an Kraft mangelt, die Sehne längere Zeit zu halten. Der Speer bleibt die einzige Waffe, die sich nicht falsch anfühlt, und so integriert Floogs ihn hin und wieder in mein Training. Zumindest habe ich zwischen all diesen fordernden Übungen keine Zeit, über David – oder schlimmer, Finnick – nachzudenken. Träumen tue ich kaum und so verdränge ich Distrikt Vier erfolgreich. Bis zum letzten Trainingstag. Es ist mitten in der Nacht, als ich aufschrecke, der Hals trocken wie die Wüste von Distrikt Fünf. Ich stürze ein ganzes Glas Wasser hinunter, doch es bringt keine Linderung. Meine Kehle ist nach wie vor ausgedörrt und der Schrecken des erträumten, obersten Spielmachers, der mich mit null Punkten abspeist, steckt mir in den Gliedern und macht neuerliches Einschlafen erst recht unmöglich. Seufzend schleiche ich in Richtung Küche, um die leere Wasserkaraffe aufzufüllen. Obwohl es fast vier Uhr morgens ist, fällt aus dem Wohnbereich ein Streifen Licht in den Flur und Stimmen sind zu hören. Mit angehaltenem Atem verharre ich. Lauschen gehört sich nicht, das ist mir bewusst, doch in jemandes Gespräch reinplatzen will ich erst recht nicht. »Vielleicht sollte der werten Dame mal irgendwer einen Arschtritt verpassen«, vernehme ich Ambers harte Stimme. »Ich melde mich freiwillig!« Sie lacht leise über ihre Imitation eines Karrieretributs. »Als wenn das etwas ändern wird«, hält Finnick müde dagegen. »Es wird sich nie ändern. Wenn es nicht sie ist, dann eben jemand anders. Irgendwer wird immer zahlen. Sie ist wenigstens nicht wie unser verehrter Spielmacher, der wird seinem Namen in jeglicher Hinsicht gerecht.« Verwirrt halte ich inne. Zahlen? Wofür sollte man Finnick bezahlen? Amber dagegen scheint kein bisschen verwundert, sondern seufzt nur schwer. Ein scharfes Klirren ertönt, offenbar hat jemand ein Glas mit Nachdruck auf dem Sofatisch abgestellt. »Du musst heute Abend nicht mit dem Training weitermachen. Floogs oder ich können das auch übernehmen, Finnick. Hungerspiele in allen Ehren, aber ich will nicht zusehen, wie sich einer der einzigen Freunde, die mir noch geblieben sind, hierfür zugrunde richtet. Das ist es nicht wert.« Schnauben. »Nein.« »Himmel Finnick Odair, schluck einmal deinen Stolz hinunter!« »Der ist schon lange fort. Und trotzdem kann ich nicht zusehen, wie unsere Tribute ... einfach sterben. Nicht schon wieder. Die beiden haben das nicht verdient, sie sind zu gut für diese Scheiße. Ihnen bleibt nur diese eine Chance, möglichst viel zu lernen, die werde ich nicht wegschmeißen!« Mir schnürt sich die Kehle zu. Er will wirklich, dass es einer von uns schafft. Die Karaffe in meinen Händen zittert und ich presse sie gegen den Bauch. »Als wenn ich das will«, murmelt Amber leise in die aufkommende Stille hinein. »Aber es sind eben die Hungerspiele, das weißt du genauso gut wie ich. Du kannst sie nicht beschützen, das müssen sie letztlich selber schaffen.« Finnick seufzt, entgegnet aber nichts. Ich ringe mit mir, doch jetzt, wo die beiden nicht länger sprechen, gibt es keinen Grund, im Flur zu verharren. Sie werden gar nicht merken, dass sie belauscht wurden, rede ich mir ein und trete in den Wohnbereich. Amber steht mit dem Rücken zu mir und vor ihr sitzt Finnick auf dem Sofa, den Kopf in die Hände gestützt. Es braucht einen Moment, bis ich realisiere, dass sein Oberkörper nackt ist. Ich fasse die Glaskaraffe fester und wende rasch den Blick ab. Nicht schnell genug. Die Striemen auf seinem Rücken, die Amber mit Tupfer und Salbe versorgt, sehe ich trotzdem. Klirrend schlägt Glas auf den Boden. Aberhunderte Splitter funkeln wie ein Meer aus Glitzertropfen zu meinen Füßen. Statt der Karaffe greife ich Luft. Was ist hier los? Ich finde keine Worte, weder Fragen noch gestammelte Entschuldigungen. Am liebsten würde ich zurück ins Zimmer rennen. Oder aus diesem fortgesetzten Albtraum aufwachen. Jemand sagt meinen Namen. Finnick. Als ich den Blick hebe, hat er sich ein Shirt übergezogen und ist aufgestanden. Bis auf Ambers blutigen Tupfer erinnert nichts an seine Verletzungen. Doch es reicht, dass ich von ihnen weiß. Ich bin nicht sicher, ob ich verstehen will. »I-ich wollte nur ... was zu trinken ...« Hilflos deute ich auf die Glasscherben. »Annie«, sagt Finnick noch einmal, eindringlicher. Ausnahmsweise scheinen auch ihm die Worte zu fehlen. Er sieht wieder zu Amber, die auf dem Sofatisch ihre Sachen zusammenpackt, dann zurück zu mir. »Bitte ... lass mich –« »Schon gut.« Abwehrend hebe ich die Hände. »Ich gehe einfach!« Die Beteuerungen klingen selbst in meinen Ohren schrecklich schrill. »Nein – hör zu ... darf ich mich erklären?« Ich blinzle. Wartend, verwirrt. »Geht mich ja nichts an«, würge ich hervor. Finnick zuckt mit den Schultern. »Trotzdem würde ich gerne.« Genauso unentschlossen wie er hebe ich die Achseln. Und tatsächlich lächelt er, wenn auch kaum merklich. »Komm.« Sein Ton bleibt vorsichtig, fragend, obwohl er hier eigentlich einen Befehl erteilt. Zaghaft werfe ich einen Blick auf Amber, die mir mit unergründlichem Ausdruck zunickt, bevor sie in die entgegengesetzte Richtung entschwindet. Also folge ich Finnick durch das Appartement und frage mich, wer jetzt die Glasscherben aufkehren wird. Ein Avox? Wir passieren eine Tür, an der ein Schild besagt, dass nur Mentoren Zutritt haben, aber das hält Finnick nicht auf. Dahinter wartet ein großer Raum mit einem gewaltigen Glastisch in der Mitte. Exakt sechs Stühle verteilen sich darum und schwarze Monitore säumen die Wände. Mein Blick wird allerdings von dem gefangen, was sich hinter der Glasfront am anderen Ende des Zimmers befindet. Ein Balkon, über und über von Grünpflanzen bedeckt. Gewächse, die ich noch nie gesehen habe, reihen sich in Töpfen entlang der Balustrade aneinander oder ranken die Sichtschutzwände zu den Seiten empor. Ein grüner Himmel, mitten im Kapitol. Ich seufze vor Überraschung auf – mehr noch, als Finnick eine Glastür öffnet und mir der frische Geruch von Pflanzen entgegenschlägt. Der Balkon wirkt so friedlich, dass ich fast vergesse, wo wir uns befinden. Obwohl es nur die vierte Etage des Trainingscenters ist, wird mir schwindelig beim Anblick der Straßen weiter unten, die von bunten kleinen Personen wie Ameisen bevölkert werden. Um uns ragen andere Häuser in den Himmel hinauf, aber ihre Glasfassaden sind glatt, schwarz und balkonlos. Fast könnte man meinen, dass Finnick und ich die Einzigen sind, die hier auf halber Höhe im Kapitolhimmel schweben. Als gäbe es so etwas wie Privatsphäre. Finnick sinkt in einen Korbstuhl, über dessen Lehnen dicke grüne Blätter hängen, und bietet mir mit einer Geste den zweiten Stuhl daneben an. Vorsichtig zupfe ich ein wenig Pflanzengrün beiseite, bevor ich mich setze, die Hände unter meine Oberschenkel geschoben. »Du hast gesehen, wie mein Rücken aussieht.« Ich nicke, obwohl es keine Frage ist. Es fällt mir schwer, Finnick anzusehen, der die Kiefer fest aufeinandergepresst hat und dessen Blick über den dunklen Horizont gleitet. Einige Minuten lang schweigen wir, während der laue Sommerwind unsere von Klimaanlagenluft gekühlten Gesichter wärmt. »Du hast das Gespräch gehört.« »Ich wollte es nicht. Es tut mir wirklich leid –« »Schon okay.« Finnick nickt, als hätte er nichts anderes erwartet. »Mir war immer klar, dass es irgendwann jemand mitbekommt. Und ich bin froh, dass du es bist und keiner der Karrieretribute aus den letzten Jahren.« Unsicher, ob er tröstende Worte braucht oder doch nur ein offenes Ohr, bleibe ich stumm sitzen und schaue auf die erstaunlich bevölkerten Straßen. »Was ich dir erzähle, musst du für dich behalten. Es ist ... nicht ungefährlich.« Wieder nicke ich. Meine Hände kleben an den Oberschenkel, aber ich bin unfähig, mich zu rühren. Sämtliche meiner Überzeugungen werden gleich erschüttert, das sehe ich nahen, wie einen Herbststurm am Horizont. Finnick zupft an einem ledrigen Blatt. Er rollt es zusammen und langsam kommen auch die Worte ins Rollen. »So sieht es aus, wenn das Kapitol einen ... liebt.« Sein Seufzer schwingt voller Verachtung. »Das ist es, was die Menschen, die ihren Siegern zujubeln, mit ihnen machen, wenn keiner hinsieht. Das sind die immerwährenden Hungerspiele.« Seine Worte sind nur eine Andeutung und dennoch – plötzlich ergibt es so viel Sinn. Der Finnick, der im Dunkeln des Appartements sitzt und ganz deutlich betont, dass er an mir kein Interesse hat; der wütend wird, als ich seine Liebschaften anspreche. Der Finnick, der wirkt, als könne er auf einen Knopfdruck die Laune wechseln. Die Verwirrung, die mich in seiner Nähe überkommt, wenn er ganz anders ist als in der Öffentlichkeit. »Das ... ist nicht – nicht wirklich dein Wille, oder? Diese ... Sachen.« Ich bringe es nicht über mich, Worte wie ‚Affären‘ in den Mund zu nehmen. »Das ist ... Show?« Seine Finger halten inne mit der Tortur des Blattes. Sind es nur die fernen Lichter, die sich in seinen Augen spiegeln ... oder ist Finnick Odair den Tränen nahe – schon wieder? »Das hätten meine Worte sein sollen«, stellt er leise fest. »Du machst es mir zu einfach. Aber ja. Show, Verpflichtung – so kann man es nennen. Glaub mir, wenn ich Interesse haben dürfte, dann nicht an ... diesen Menschen. Nicht an Leuten, für die ich ... eine Ware bin, ein hübscher Körper ohne Kopf.« Die Zunge ist mir an den Gaumen gekleistert, doch mein Gesichtsausdruck scheint für mich zu sprechen. Ich erinnere, wie Finnick davon redet, dass ich schön genug für Sponsoren bin und wie unglücklich er darüber schien. Er sieht nur kurz zu mir, bevor sein Blick erneut in die Ferne gleitet, als hätte er denselben Gedanken. Wieder und wieder rollt er das Blatt durch die Finger. »Ich weiß nicht einmal, warum ich dir das erzähle. Nichts für ungut, aber ... selbst mit Amber hat es Wochen gedauert, bis ich darüber reden konnte.« Er schüttelt den Kopf. »Es kann einen verrückt machen, aber ich habe das Gefühl, dich schon so lange zu kennen, dabei sind es nur ein paar Tage. Im Trainingscenter fühlt sich ein Tag an wie Jahre. Und plötzlich sind es doch nur Sekunden gewesen.« »Na ja – falls es dich beruhigt – wir sind uns schon früher begegnet.« Er starrt mich an und ich bohre die Fingernägel in die Unterseite meiner Oberschenkel. Wenn ungeschickte Worte eine Waffe wären, ich könnte ein ganzes Blutbad veranstalten. Doch Finnicks Mundwinkel zucken urplötzlich. »Ja. Vielleicht ist das auch der Grund. Ich weiß es nicht. Vielleicht will ich mich auch nur rechtfertigen, weil du eh schon schlecht von mir denkst und ich nicht will, dass du meine Hilfe nur deshalb ablehnst.« Ich gedenke zu protestieren, doch er schneidet mir die Worte ab. »Und das ist dein gutes Recht. Ich weiß, wie ich für alle daheim aussehe. Aber kannst du mir glauben, dass ich keine andere Wahl habe?« Nicken, das schaffe ich zum Glück noch. »Danke.« Er hebt den Kopf und sieht mich zum ersten Mal seit dem Vorfall im Wohnzimmer direkt an. Ein ehrliches Lächeln umspielt seine Lippen. »Wirklich.« »Nein, ich danke dir, dass du mir das anvertraut hast. Ich ... hätte dich nicht verurteilen sollen. Das war unfair und kindisch.« Ich hebe die Mundwinkel ebenfalls ein Stück, bevor ich neuerlich seinen zugerichteten Rücken vor meinem geistigen Auge sehe und mir der Herzschlag gefriert. »Aber ... kommt das wieder in Ordnung? Tut es sehr weh?« Schon überlege ich, ob es hier wohl gewisse Kräuter gibt – die Arbeitsverletzungen meines Vaters haben wir daheim immer mit selbstgemachter Heilpaste aus heimischen Pflanzen behandelt. Finnick winkt allerdings ab. »Nicht der Rede wert. Amber hat ... Erfahrung damit. Und die Medizin des Kapitols wirkt wahre Wunder. Es sieht schlimmer aus, als es ist.« Das Blatt in seinen Fingern knirscht leise. »Das Schlimmste sind die Erinnerungen.« Mein eigenes Schlucken erscheint mir in dem folgenden Schweigen so laut wie der Kanonendonner in der Arena. Ich kann Finnick nicht ansehen, ohne daran zu denken, was er heute Nacht wohl erlebt hat. Es sich vorzustellen ist wie ein innerer Zwang. Fragen zu stellen steht mir nicht zu – und ich will es auch gar nicht –, aber mein Verstand füllt die Lücke unbarmherzig mit Bildern. Und als ich diese Gedanken verdränge, kommt die Angst. »Müssen alle Sieger ...?« »Nein.« Finnick schüttelt den Kopf. »Nicht alle. Kein anderer aus Vier. Und niemand so häufig wie ich.« »Ich würde nicht wollen, dass Pon ...« Ich beiße mir auf die Unterlippe. Es ist nicht fair, jetzt von den kommenden Spielen zu sprechen. Aber welchen Sinn gibt es noch, die Hungerspiele zu überleben, wenn es danach so weitergeht? »Zum Glück will ich nicht siegen.« Es ratscht – Finnick hat eine Ecke des Blattes eingerissen. Sein Blick ruht auf dem Nachthimmel, aber er hat die Fäuste geballt. Bestürzt schlage ich die Hände vor den Mund. »Entschuldige! Ich –« »Ist schon gut. Den Gedanken kann ich dir nicht verdenken. Ich habe mich selber oft genug gefragt, wozu wir das alles machen. Trainieren. Gewinnen. Hoffen.« Das Blatt in seinen Händen protestiert, als er es endgültig zerdrückt. »Und trotzdem kann ich nicht von dem Gedanken lassen, dass ich nicht mit zwei Särgen zurückkehren will. Vielleicht bin ich einfach ein Egoist.« Der Drang, Finnick zu berühren – ihm eine Hand auf den Rücken zu legen oder dergleichen – wächst. Zur Ablenkung ziehe ich meine nackten Beine an und schlinge die Arme darum. »Dann bin ich auch eine Egoistin. Ich will immer noch, dass Pon überlebt. Damit ich nicht mit seinem Tod leben muss.« Finnick sieht mich von der Seite an. »Ich hasse es, mich entscheiden zu müssen zwischen zwei Tributen. Sich gegen dich zu entscheiden fühlt sich falsch an, auch wenn ich weiß, dass du es willst. Mags hat mir gesagt, dass ihr darüber gesprochen habt.« »Oh.« »Aber wenn es so weit kommt ... werde ich deinen Wunsch respektieren. Und Pon vor diesem Irrsinn beschützen. Das wollte ich dir noch sagen.« Darauf fällt mir nichts Gescheites ein. Dieses Mal ist das Schweigen jedoch kein Unangenehmes. Irgendwann ergibt sich ein neues Gespräch – über das Leben in Distrikt Vier, unsere Hobbys und alles, was fern von Spielen und Kapitol ist. Ich erzähle von dem Boot meiner Familie, von David und Blumenkränzen. Finnick hört zu oder wirft ab und an eine Frage ein. Mit den Stängeln herabgefallener Blätter und Blüten demonstriert er mir seine Knotentechniken und wir tauschen harmlose Anekdoten über Cece und Bürgermeister Southshore aus. Zu guter Letzt erzählt Finnick sogar davon, wie sein Vater frühzeitig verstarb und das Stipendium für die Trainingsakademie ihn vor einem Leben auf der Straße bewahrte. Der Horizont färbt sich blassrosa, als ich das Gefühl habe, eine ganz andere Person kennengelernt zu haben. Nicht Finnick Odair, den Sieger der 65. Hungerspiele, sondern Finnick, der keine Steine werfen kann. Ein normaler Junge aus Distrikt Vier, in dessen Gegenwart es erstaunlich einfach ist, die Spiele zu vergessen und wieder zu lachen. Im Angesicht der frühen Morgensonne und dem herannahenden letzten Trainingstag begleitet Finnick mich schließlich zurück zu meinem Zimmer. Einem Impuls folgend, schlinge ich die Arme um ihn, als wir vor der Tür stehen. Nicht fest, meine Hände berühren seinen Rücken kaum, aber das reicht. Nach einer Sekunde des Zögerns erwidert er die Umarmung erstaunlich zart. Sein Atem streift mir über die Stirn und mir wird kalt – nicht wegen der Klimaanlagenluft. Noch nie hat so eine kleine Geste mein Herz derart zum Rasen gebracht. »Danke«, flüstern wir beide zeitgleich. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)