Bruderkuß von Riku (1942) ================================================================================ Kapitel 1: Kapitel I -------------------- Kapitel I 19. - 20. November 1942 Ihm fehlte Kirowohrad. Die von den Deutschen besetzte Stadt in der Ukraine, vollkommen gleichgültig wie zerstört sie mittlerweile auch war, hatte Ludwig im letzten Jahr immer wieder erfolgreich als Lichtblick, als willkommene Abwechslung zur Front und der eintönigen Feldküche gedient. Wie lange hatte er nicht mehr in einem richtigen Bett geschlafen? Kirowohrad hatte mehr als die meisten anderen Städte unter der deutschen Besatzung zu leiden. Der Straßenbahnverkehr war vollkommen lahmgelegt. Im Stundentakt hielten und fuhren Lazarettzüge in die Stadt und verließen sie wieder, brachten Verletzte und Tote von der Ostfront oder fuhren diejenigen, die wieder dazu imstande waren, eine Waffe zu halten, wieder dorthin zurück. Betrunkene Soldaten belagerten die Offizierskasinos, besetzten fremde Häuser und genossen es in vollen Zügen, die Macht des Eroberers auch bei den ukrainischen Frauen ausnutzen zu können. Partisanen, egal wie unbeholfen sie waren oder wie improvisiert die Waffen, die sie gebrauchten, zusammengezimmert waren, wurden kurzerhand erschossen - so zumindest sah die gnädige Variante aus. Ludwig hatte gesehen, wie die Standartenführer mit jenen umgingen, die sich diesem Befehl nicht unterwerfen wollten. Hinzu kam, dass sich die diffusen Anordnungen, die sie aus dem Heimatland erhielten, vielfach und farbenfroh interpretieren ließen. So war es von Offizier zu Offizier vollkommen unterschiedlich, wie und woran sie einen Delinquenten entlarvten und wie sie daraufhin mit ihm umsprangen. Für den einen konnte schon eine vermeintliche Ladehemmung ein Zeichen für mutwilliges Zögern sein. Ludwig hatte keine Sorge um sich selbst. Er gab gut auf sich Acht, auf das was er tat und das was er sagte. Wenn er Zweifel hegte, ob nun am Unterfangen an sich oder solche, die tiefgreifender waren, behielt er sie für sich. Tatsächlich beunruhigte ihn mehr, was das Schicksal seines älteren Bruders betraf. Ludwig hatte drei Wochen in Kirowohrad verbracht, nachdem er kurz vor Stalingrad unter Dauerbeschuss geraten war und sein rechter Oberschenkel, bevor er in den rettenden Schutz eines vollkommen ausgebrannten, russischen Militärfahrzeugs hechten konnte, von drei etwas über fünf Zentimeter langen Geschossen einer Kalaschnikow perforiert worden war. Als Gilbert sich dem Weg zu ihm freigeschossen hatte, war Ludwig kurz davor gewesen, das Bewusstsein zu verlieren. Kurz unter seiner rechten Gesäßhälfte und über seinem Knie klafften zwei faustgroße Austrittswunden. Er hatte nach seinen Wunden getastet und einen betäubenden Schwindel verspürt, als er zwischen warmem, nassen Stoff mit seinen Fingern einen gewaltigen Hautlappen streifte, der sich wie ein Deckel über eine der Wunden gelegt hatte. “Nicht bewegen”, hatte Gilbert gesagt. Selbst ohne den Befehl seines Bruders und Vorgesetzten hätte er nichts anderes vorgehabt. Der Schmerz, der sich durch sein Bein zog, trieb ihm die Galle in den Hals. “Ich bring dich hier raus.” Er war im Lazarettzug erwacht. Allein das Erwachen löste Verwunderung in ihm aus. Er hatte gar nicht gemerkt, wie er weggedriftet war. Neben ihm, auf einer Pritsche aufrecht sitzend, konnte er die schemenhaften Umrisse seines Bruders erkennen. Er hätte die Front nicht verlassen dürfen. Nicht als Offizier. Über beiden Betten baumelten Blutkonserven. Ludwig blinzelte in das Halbdunkel des Waggons. Hinter sich konnte er einen weiteren Offizier leise und schmerzerfüllt stöhnen hören. Gilberts Kopf hing auf seiner Brust, die Augen geschlossen, die Lippen jedoch zu einem stummen Lächeln verzogen. An seinem linken Fuß befand sich ein dicker, blutdurchtränkter Verband. Ansonsten schien er nahezu unverletzt zu sein. Während Ludwig im Kirowohrader Lazarett genug Zeit hatte, um wieder zu genesen, trieb sich Gilbert hauptsächlich in den improvisierten Kasinos der Stadt herum. Viel zu spät hatte er Frontbefreiung beantragt und konnte sich glücklich schätzen, bei seinem kleinen Ausflug, der ihm ohne weiteres als Desertierungsversuch hätte ausgelegt werden können, nicht erwischt worden zu sein. Eine Kugel im Fuß war kein Grund dafür, die Front zu verlassen. Streng genommen war das nicht einmal die Patrone, die in Ludwigs Oberschenkelknochen stecken geblieben war. Aber er beschwerte sich nicht. Vollkommen egal, wie pflichtbewusst er war - jeder Tag an diesem Ort, mit oder ohne diese Verletzungen, war einem Tag in der Hölle gleich. Da zog er den warmen Kleiebrei und die dünnen Lazarettmatratzen dem Mündungsfeuer vor, dem er dort oben im Nordosten täglich in die Augen blicken musste. Nun saß er im Keller irgendeines Hauses auf dem nasskalten Boden, die Luft geschwängert vom Rauch der eigenen Granaten. Er wünschte sich zurück nach Kirowohrad. Er wünschte sich zurück nach Berlin. Doch nun gab es kein Zurück mehr. “Sieh dir das an!” sagte Gilbert und leerte seine Taschen vor ihm aus. “Ich muss einen Generalmajor erwischt haben. Wie viele Sterne haben die noch gleich? Zwei?” “Einen”, antwortete Ludwig und zog seine Beine an sich heran, um sich ein wenig zu wärmen. Gegen Abend hatte es erneut zu schneien begonnen. Durch das unter der Decke gelegene Kellerfenster fiel nun kein einziger Lichtschein mehr. Zwei kleine Feldlampen, die sie unter die Decke gehängt hatten, spendeten wesenloses, gelbes Licht. Zu den Gegenständen, die Gilbert vor ihm auf den Boden legte, gehörten eine kleine Dose Kaffee, Tabak und ein Beutel voll mit golden schimmernden Rubeln. “Wie viel die wohl wert sind? Was denkst du?” “Wohl nicht mehr allzu viel, Gilbert”, antwortete Ludwig widerstrebend. Die wissentlich durch die Sowjetunion herbeigeführte Hyperinflation hatte wahrscheinlich dafür gesorgt, dass diese Rubel nicht einmal mehr halb so viel wert waren wie das Metall, aus dem sie bestanden. Gilbert ging nicht näher darauf ein. Als er die Tabakdose öffnete, sog Ludwig seine Wangen nach innen und presste seine Lippen aufeinander. Der Tabak roch herb und war ein wenig feucht, grob geschnitten und kräuselte sich an den Enden. Aber es war Tabak. Sein Bruder holte eine kleine, langstielige Pfeife hervor, die er anscheinend ebenfalls dem toten Major abgenommen hatte, und begann, sie zu stopfen. Man konnte allein seinem konzentrierten Blick entnehmen, dass er normalerweise Zigaretten rauchte. Gilbert hatte keine Ahnung, wie viel Tabak in so eine Pfeife gehörte. “Verschwende nicht unsere Streichhölzer, Gilbert”, knurrte Ludwig und runzelte die Stirn. Der ältere lachte hohl und zückte ein Streichholzkästchen. “Sag mir nicht, du willst es nicht auch”, schnarrte er mit einem überheblichen Lächeln und schob sich das Mundstück der Pfeife zwischen die Lippen. “Ich kenne diesen gierigen Blick. Du kannst nicht anständig bleiben. Selbst, wenn du es willst.” “Weil du mich dazu treibst.” Ludwig verschränkte die Arme vor der Brust, als Gilbert ein Streichholz entzündete und die Flamme dicht über die Pfeife hielt. Es schien fast so, als ob der feuchte Tabak die dunkelgelbe, zuckende Flamme in sich aufzusaugen versuchte. Immer wieder hielt der ältere das Streichholz schief nach unten, dann wieder gerade, damit die Flamme nicht erlosch, das Holz aber auch nicht zu schnell abbrannte. Als die Flamme auf seinen Fingernägeln brannte, schüttelte er das Streichholz aus und fluchte leise. Noch ehe Ludwig sich beschweren konnte, zündete er das nächste an. Er hatte keinen Blick in das Kästchen erhaschen können, doch es hörte sich nicht so an, als ob sie noch viele hatten. Wieder begann Gilbert, mit dem Feuer zu kämpfen. Von draußen drang durch den Schnee gedämpfter, lange nachhallender Donner. Ludwig blickte an die Decke. Unwillkürlich verkrampften sich seine Hände in den Ärmeln seiner Uniform. Putz rieselte von der Decke. Die anderen Soldaten, die ringsum im Raum saßen und lagen, folgten seinem Blick. Gilbert ließ sich nicht irritieren. Als der Pfeifentabak endlich zu qualmen begann, lächelte er triumphierend und sog fest an dem Mundstück, damit die Glut nicht zu glimmen aufhörte. “Unsere Leute? Oder deren?” fragte er sich leise und setzte sich im Schneidersitz vor Ludwig, die Pfeife in seiner linken Hand. Nun blickte er auch nach oben an die vom Licht der Feldlampen spärlich erhellte Decke. Schattenhaft tanzte der Rauch der Pfeife unter ihr, als die Lampen zu zittern begannen. Unter den Soldaten machte sich leises Raunen breit. Ludwig konnte spüren, wie der Raum sich mit Angst füllte. Es war vollkommen irrelevant, wer die Granaten warf; wessen Panzer es waren, die durch die Stadt rollten. Wenn sie die Häuser beschossen, konnten sie hier nicht bleiben. Wieder zog Gilbert an der Pfeife, dann hielt er sie seinem Bruder vor die Nase. Widerstrebend löste Ludwig seine Hand von der Uniform und griff nach dem kleinen, runden Pfeifenkopf. Als er an ihr zog, zitterte die Decke erneut für einen kurzen Augenblick und ein gewaltiges Grollen schien sich wie eine Welle durch die Wände zu rollen. Er versuchte, den Rauch einzuatmen und ihn nicht zu verschlucken. Der feuchte Qualm kratzte im Hals und fraß sich durch seine Bronchien. „Ich hab 'nen scheiß Generalmajor erlegt“, murmelte Gilbert, der die nächtlichen Kampfgeräusche vollkommen zu ignorieren schien, und verschränkte zufrieden grinsend die Arme hinterm Kopf. „Wie großartig ist das denn bitte?“ Je weiter die Nacht voranschritt, desto weiter entfernte sich das bedrohliche Donnern. Es schien aus dem Norden der Stadt zu kommen. In der Morgendämmerung verließen sie und die einundsechzig Männer, die von ihrem letzten Sturmbann und den ihnen zugeteilten Wehrmachtssoldaten übrig geblieben waren, den Schutz der Kellerräume. Irgendwo weiter nördlich von ihnen musste sich die 3. Rumänische Armee befinden. Wenn sie zu diesen aufschließen konnten, konnten sie mit deren Funkgerät möglicherweise Kontakt zu ihrem Standartenführer aufnehmen, der sich vermutlich noch außerhalb der Stadt befand. Vielleicht war bereits Verstärkung unterwegs. Sie mussten nur lange genug ausharren, bis sie abgelöst wurden. Und das wichtigste war, dass sie nicht starben. Ludwig sagte es sich immer wieder. Ganz gleich, was geschah. Nicht sterben. Ihr Trupp bestand hauptsächlich aus Männern, die bereits mehr als die Hälfte ihrer Lebenserwartung, ging man von normalen Umständen aus, überdauert hatten. Der älteste von ihnen, ein Mann namens Johan Frisch, zählte zweiundsiebzig Jahre, war für sein Alter aber noch erstaunlich wendig und durchtrieben. Er hatte bereits im ersten, großen Krieg gedient und sprach, selbst wenn man ihn nicht danach fragte, andauernd von den Vorzügen des guten, alten Kaiserreichs. Das jüngste Mitglied ihres Trupps war ein dreizehnjähriger Junge aus Mannheim, der in seinem Wesen, wie Ludwig fand, unglaublich seinem älteren Bruder aus Kindertagen ähnelte. Wäre dieser Junge in einer besseren Welt aufgewachsen, spielte er im Sommer mit seinen Freunden an Tümpeln, um Frösche zu fangen, sie aufzublasen und Schnecken mit Salz zu bestreuen. So ein Junge hätte er sein können. Nun, statt Ameisen mit Feuer zu triezen, hatte er ein Maschinengewehr geschultert. Aufgerissene Hände und schorfige Knie vom Grabenkrieg, nicht vom Bäumeklettern. Als Gilbert und er noch Kinder gewesen waren, hatten sie eine katholische Jungenschule besucht. Sein älterer Bruder hatte schon immer die Tendenz dazu gehabt, genau das Gegenteil von dem zu tun, was man von ihm verlangte. Wahrscheinlich hätte er sich ohne diesen streng religiösen Einfluss, dem Ludwig niemals mehr als die Rolle eines gewissen Leitfadens im Umgang mit anderen Menschen zugemessen hatte, in eine vollkommen andere, vielleicht besser verträgliche Richtung entwickelt. Ludwig hatte viel wegen ihm durchstehen müssen. Als jüngerer Bruder hatte er zu ihm aufgesehen. Er hatte ihm nicht immer vertraut, keineswegs. Sein kindliches, gefühlsgetragenes Vertrauen hatte Gilbert schon in frühen Jahren viel zu oft mit billigen Scherzen aufs Spiel gesetzt. Aber er hatte sich in seiner ungewollten Vorbildfunktion dadurch, dass Ludwig sich mit seiner blinden Bruderliebe gerne ein Beispiel an ihm nahm, oftmals auf dünnem Eis bewegt. So war er Gilbert und dessen Freunden hinterher geschlichen, als diese in der langen Pause über den Zaun hinter der Schule kletterten und sich am See entlang durchs Unterholz schlugen, wo sie nach der Schule manchmal, verbotenerweise, Munitionshülsen suchten und sammelten, hinüber zur Mädchenschule. Aufgrund seines eher ungewöhnlichen Aussehens, dem hellen Haar, der blassen Haut und den rötlichen Augen, war Gilbert nie sehr erfolgreich bei Mädchen gewesen. Aber die, die ihn nicht wollten, waren ohnehin nicht gut genug für ihn. Er schaffte es einfach immer, die Dinge so zu drehen, dass er am Ende gut aussah. Andere Mädchen bewunderten ihn seines enormen Selbstbewusstseins wegen oder waren beeindruckt von so viel geballtem Narzissmus. Gilbert und er hatten außerhalb der Schule nur wenig Möglichkeiten, an die hübschen Mädchenschülerinnen heran zu kommen. Die Brüder wohnten in Berlin, gingen in einem Brandenburger Internat zu Schule und selbst Ludwig merkte, dass sich die Stadtkinder deutlich von denen unterschieden, die hier in den Landschulheimen wohnten. Ludwig hatte sich nie besonders für Mädchen interessiert. Trotzdem war er hinterher gegangen. Natürlich schaffte er es nicht, sich so herrlich auffällig unauffällig zu verhalten, wie die älteren Schüler, die sich dauernd vom Schulgelände schlichen, um heimlich zu rauchen, die Mädchenschule zu besuchen oder Enteneier am See zu klauen. Seine Mutter hatte ihm einmal gesagt, er solle nicht so weit abseits der Wege gehen. Er hatte ihren Rat befolgt und das Unterholz weitgehend gemieden. Darum war er erwischt worden. Und Gilbert gleich mit ihm. Nachdem er und Gilbert sich katastrophal in vollkommen gegensätzlichen Geschichten verstrickt hatten, waren sie beide gleich bestraft und fürchterlich von ihrem Lehrer verprügelt worden. Erst viel zu spät hatte Ludwig von einem der anderen Schüler gehört, Gilbert habe dem Internatsleiter gegenüber gesagt, er hätte seinen kleinen Bruder mitgeschleppt, um ihm die Mädchen vorzustellen und dass dieser gar nicht aus freien Stücken hinterher gelaufen war. Natürlich stritt Gilbert das ab, als er ihn darauf ansprach. Trotzdem hatte sich Ludwig sehr über seinen Einsatz gefreut. Ein Einsatz, der selten war, doch daher umso süßer. Je weiter sie in den Norden der Stadt drangen, desto gewisser war die Hoffnungslosigkeit ihres Vorhabens. Langsam arbeiteten sie sich, unter Gilberts wackerer Führung, von Häuserecke zu Häuserecke vor, ohne auch nur ein heiles Fahrzeug oder einen lebenden Soldaten zu finden. Die, die sie atmend vorfanden, waren zu schwer verletzt, um zu reden, geschweige denn gerettet zu werden. „Ihr wisst, wie ein Sterbender aussieht“, sagte Gilbert laut und zog eine Handfeuerwaffe. „Tut ihnen einen letzten Gefallen und helft ihnen ein wenig!“ Die Wände waren von Einschusslöchern übersät. Die kalte Luft brannte in ihren Lungen und die Schwaden ihres Atemdunstes vermischten sich mit dem Rauch der Brände, die überall in den Straßen vor sich hin schwelten. Es roch nach verbranntem Fleisch, doch er traute sich nicht, die Brandherde näher zu begutachten. In der Ferne, weiter nordöstlich, konnten sie noch immer vereinzelte Maschinengewehrsalven durch die Luft donnern hören. Hier, in diesem Abschnitt, schien alles zu schlafen. Ludwig hielt die Augen auf, das Gewehr im Anschlag. Keine der Leichen, keines der brennenden Fahrzeuge, die sie passierten, gehörte den Sowjets an. Als die Stadtgrenze schon beinahe zu sehen war, hechtete er an den Anfang ihres Trupps und packte Gilbert am Oberarm. „Wir müssen umkehren“, sagte er mit fester Stimme. Gilbert hielt inne und drehte sich um, beide Augenbrauen gehoben und Ludwig abwartend anblickend, als erwartete er eine Erklärung dafür. Der jüngere atmete tief durch und spähte die Straße hinab. „Die Absperrungen sind unbewacht. Das dürften sie nicht sein.“ „Und was ist, wenn wir jetzt umkehren und da vorne zufällig ein Funkgerät rumliegt?“ Gilbert streckte seinen Arm aus und zeigte auf den Stacheldraht, der einmal quer über die Straße führte und mehrfach in sich geschlungen war. Rechts, auf ihrer Seite der Absperrung, war eine Tür aus den Angeln gehoben worden. Irgendetwas lag im Eingang des Hauses, schien ihn aber nicht zu versperren. „Wenn der Posten da niemals unbewacht sein soll, ist er es auch jetzt nicht. Dann sind die da drinnen. Oder sie sind weiter im Norden und hauen den Roten die Köpfe ein! Also, mir nach!“ Er klopfte Ludwig fest auf die Schulter und rannte dann über die Straße, geradewegs auf die offene Tür zu. Ludwig zögerte einen Augenblick. Natürlich. Er tat mal wieder genau das Gegenteil von dem, was ihm gesagt wurde. Er hob die Hand und gab seinen Männern ein Zeichen, ihm zu folgen. Dann rannte er seinem Bruder hinterher. Das, was Ludwig in der Tür hatte liegen sehen, war die Leiche einer Frau. Sie trug einen Helm und eine Tarnweste, die eindeutig zu groß für sie war. Das Blut, das ihre Kleidung durchtränkte, war dunkelrot und schien gefroren zu sein. Er konnte nicht sagen, wie lange sie hier schon lag. Gilbert ging voran. Die offene Tür führte sie in eine mit Parkett ausgelegte Wohnstube, die von der 3. Rumänischen Armee kurzerhand umfunktioniert worden war. Überall auf dem Boden lagen, zum Teil übereinander, Leichen; ihre Gliedmaßen verdreht und in grotesken Winkeln von ihrem Körper abknickend. Teilweise waren sie notdürftig versorgt worden, doch die starren Gesichter und die trockenen Augen, die ihnen entgegen starrten, verrieten ihnen, dass es umsonst gewesen war. In einem Kamin glühten die kläglichen Überreste eines Feuers. Die Luft, die durch den Raum zog, roch nach süßlicher Fäulnis. Ludwig presste sich die Hand auf den Mund und stellte sich zurück in den Türrahmen, während Gilbert auf Zehenspitzen zwischen den Leichen auf und ab ging, hie und da einen Mann auf den Rücken drehte, Taschen durchsuchte und Ausschau nach einem Funkgerät hielt. Ludwig spürte, wie ihn langsam die Übelkeit überkam. Sein Herz schien in immer unregelmäßigeren Abständen zu schlagen. Er erschrak, als eine Ratte über seine Stiefel huschte. „Hier ist nichts“, murmelte er mit rauer Stimme gegen seine Hand und senkte den Blick auf die tote Frau zu seinen Füßen. Ihr Hinterkopf war ein einziger, fleischiger Klumpen. [tbc] Kapitel 2: Kapitel II --------------------- Kapitel II 20. November 1942 Nur ein leises, monotones Rauschen. Gilbert gab nicht auf. Sie hatten sich in den Schutz einer Durchgangsstraße geflüchtet, nachdem sie das Funkgerät nach langem Suchen aus dem oberen Stockwerk des Hauses geholt hatten und harrten aus, während einer nach dem anderen versuchte, über das Funkgerät Kontakt nach draußen herzustellen. Einige Frequenzen waren tot. Auf anderen waren zumindest verzerrte Stimmen zu erkennen, doch hätte Ludwig nicht einmal sagen können, ob Russisch oder Deutsch gesprochen wurde. Nach einer halben Stunde des Lauschens, da sie ohnehin niemand zu verstehen schien, nahm das Rauschen immer mehr Gestalt an, flimmerte in Form von grauen und weißen Schatten dort, wo der Schnee zu ihren Füßen hätte liegen sollen. Ludwig schüttelte resignierend den Kopf, blinzelte ein paar mal und nahm seine Mütze ab. Die Kälte hatte seine Ohren rot gefärbt. Er konnte seinen Puls in seinen Ohrläppchen pochen spüren. „Gilbert, lassen wir es.“ Die Geräusche des Krieges, das unnachlässige Schießen und die fernen Explosionen kleinerer Granaten, hallten an den hohen Mauern der Häuser wider. „Eckstein, Eckstein“, scharrte Gilbert in das Funkgerät und hörte angestrengt auf das nachfolgende Rauschen. „Alles muss versteckt sein.“ „Es bringt nichts, das Ding ist kaputt.“ „Ach was, nicht dein Ernst!“ Gilbert nahm das Mikrofon des Funkgeräts und schleuderte sie in den Schnee. „Wenn ich mir sicher wäre, dass mich jemand hören kann, hätte ich auch keinen Kinderreim aufgesagt, Ludwig!“ Ludwig runzelte die Stirn und blickte in das Gesicht seines Bruders. Seine Nase war rosig von der Kälte und ließ den Rest seines fahlen Gesichts noch blasser erscheinen. Seine roten Augen schienen zu glühen. Er sah wütend aus. Seine Hände hatte er zu zitternden Fäusten geballt, seine Schultern, auf denen die geflochtenen Schulterstücke leicht abstanden, wirkten steif und angespannt. Gilbert war nicht wütend. Ludwig konnte die Unsicherheit, die ihn langsam befiel, förmlich riechen. „Wir finden ein anderes“, murmelte er beschwichtigend und nickte ihm zu. Gilbert winkte ab, lehnte sich gegen die Wand und kramte den Tabak heraus, den er Tags zuvor der Leiche des Generalmajors abgenommen hatte, den er, wie er es genannt hatte, erlegt hatte. Ludwig blickte auf das Funkgerät auf dem Boden. Noch immer rauschte es leise vor sich hin, das monotone Geräusch nur selten zerrissen von einem verzerrten, undeutlichen Sprachfetzen, von dem er sich nicht einmal sicher war, ob es nicht nur ein weiteres Störgeräusch war. Einen Moment lang rang er mit sich selbst. Dann schaltete er es aus. Als Gilberts Zigarette zu glühen begann, kam einer ihrer Soldaten auf sie zu, gefolgt von zwei weiteren, etwas kleineren Gestalten in deutscher Uniform, die sich bewusst im Hintergrund hielten. An dem Kragen des Vordermanns klebte getrocknetes Blut. Ludwig war sich nicht sicher, ob es seines war. Er sah keine Wunde. „Herr Obersturmbannführer“, sagte er mit scharfer Stimme zu Gilbert, führte mit seiner Hand den charakteristischen Gruß aus und schlug die Hacken zusammen. „Herr Sturmbannführer!“ Das gleiche wiederholte er nochmal bei Ludwig. „Es ist uns gelungen, einen Überlebenden zu finden, der zur 3. Rumänischen Armee gehört. Er spricht nur gebrochen Deutsch, berichtet aber, dass sie von der Donfront weiter in den Nordosten der Stadt abgedrängt wurden und dass ein Teil der Armee außerhalb der Stadt weiter zu kämpfen versucht.“ „Außerhalb der Stadt?“ fragte Ludwig und runzelte die Stirn. „Der Befehl lautete, die Stadt, die Stalins Namen trägt, einzunehmen und die Stellung zu halten! Wie viel bringt es uns denn, wenn sie außerhalb der Stadt kämpfen?“ „Herr Sturmbannführer“, begann der Soldat von neuem und fuhr sich durch sein schütteres Haar. An seiner Kopfhaut hatte er eine offene Stelle, die eher nach sehr spröder Haut als nach einer ernsthaften Verletzung aussah. „Der Soldat meldet, sie hätten bis Sonnenaufgang versucht, die Stellung zu halten. Die rote Armee habe sie schließlich zurückgedrängt. Über sein Funkgerät habe er heute Morgen erfahren, dass sie sich vor der Stadt eingeigelt haben und weiter nach Verstärkung rufen. Die nördliche Stadtgrenze wird wieder von den Roten gesichert, Herr Sturmbannführer.“ „Wo ist das Funkgerät, von dem der Kerl gesprochen hat?“ meldete sich Gilbert zu Wort und stieß sich von der Wand ab. Der Soldat trat bei Seite und ließ seine beiden Kameraden vor. Einer von ihnen war der dreizehnjährige Junge. Ludwig wusste nicht einmal seinen Namen. In seinem Arm trug er ein kleines Funkgerät. „Die Batterie ist leer, Herr Obersturmbannführer“, sagte er zu Gilbert, wobei er seine Stimme offensichtlich tiefer stellte, als sie eigentlich war. „Kein Problem. Das können wir doch sicher über die Stromversorgung von dem großen Funkgerät zum Laufen bringen, oder?“ Der Junge zuckte mit den Schultern. Seine Nase lief. Er zog sie hoch und schniefte ein paar mal lautstark. „Könnte ich versuchen, Herr Obersturmbannführer. Ich habe mal ein Radio gebastelt.“ „Schön, dann machst du das.“ Gilbert zog an seiner Zigarette und grinste schief. Ludwig presste die Lippen aufeinander und schwieg. Die Verantwortung für etwas so Wichtiges auf einen dreizehnjährigen Jungen abzuwälzen, lag ganz und gar nicht in seinem Sinne. Sein Blick fiel auf den Kragenspiegel seines Bruders. So sehr unterschieden sie sich gar nicht. Rechts das Zeichen der Schutzstaffel. Links die vier silbern schimmernden Quadrate auf schwarzem Grund. Nur die beiden Streifen unter diesen konnten von außen sichtbar machen, dass Gilbert nicht nur der Ältere von ihnen war, sondern auch sein Vorgesetzter. Es war vollkommen egal, ob er ihm nun widersprach oder nicht. Seine Beschlüsse waren immer unumkehrlich. Das Seufzen, das seinen Lippen entwich, wurde von einem ohrenbetäubenden Donnern übertönt. Der Junge drückte das Funkgerät gegen seine Brust und duckte sich instinktiv, als der Boden erzitterte und ein Lichtblitz die schmale Straße erhellte. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis alle Soldaten auf den Beinen und an ihren Waffen waren. „Von wo-“ begann Gilbert, doch dann konnte er bereits die schwarze, dicke Rauchwolke über den Dächern der Häuser erkennen. Zeitgleich begann es erneut zu schneien. Ludwig biss die Zähne zusammen und fluchte leise in sich hinein. Gilbert ließ seinem Unmut freien Lauf. „Nordosten, Männer! Bei Schnee kann auch der Feind schlechter sehen!“ rief er und deutete mit seinem Gewehr in Richtung der Rauchschwade. „Schießen wir diesen verschissenem Kommunistenpack ihre roten Schädel ein!“ Als Gilbert bereits durch die Gasse jagte, bückte Ludwig sich nach dem Funkgerät und schloss es von der Batterie ab. Er blickte zu dem Jungen, der noch immer das kleinere Funkgerät hielt, und drückte ihm auch noch die Batterie in den Arm. „Pass gut darauf auf“, knurrte er und erntete eifriges Nicken. „Hast du noch Munition?“ - „Handgranaten, Herr Sturmbannführer.“ „Gut. Dann brauchen wir dich vorne.“ Russische Frauen und Kinder kamen ihnen entgegen gerannt, schlugen aber augenblicklich einen anderen Weg ein, als sie ihre Uniformen erkannten. Schreie erfüllten die Straßen. Die Menschen wussten offensichtlich nicht, ob sie in ihren Häusern bleiben oder sie verlassen sollten. Aus den Fenstern ragten die Gewehre der Partisanen, bewaffnete Zivilisten, welche die Stadt nicht verlassen konnten und daher alles taten, um sie, ihr Leben und das ihrer Familie zu verteidigen. Ihr Glück war, dass sie niemals zu Schießen gelernt hatten. Vollkommen willkürlich schlugen die Kugeln im Boden ein. Ludwig rannte über die Straße, folgte seinem Bruder immer weiter nach vorne, immer weiter dem Knallen der Granaten entgegen. Er konnte spüren, wie sein Herz raste und einen Schlag aussetzte, jedes mal, wenn der glatte Boden, der tief gefrorene, fest getretene Schnee unter ihm erbebte. Sein Körpergefühl schien ihm zu entgleiten. Aus dem Augenwinkel sah er, wie eine Frau mit dickem, wollenen Kopftuch zu Boden ging und beinahe lautlos auf der schneebedeckten Straße aufschlug, ehe sie reglos liegen blieb. Ihre Kinder rannten weiter, ohne sich umzusehen. Ludwig war es erstaunlich egal. Wieder hörte er das Rauschen des Blutes in seinen Ohren und spürte, wie die Hitze des Adrenalins seine tauben Glieder durchströmte. Es trieb ihn dazu an, einfach weiter zu laufen. Laufen, in Deckung gehen, entscheiden und schießen. Seine Schulter schrammte die Wand entlang, als er um die Straßenecke blickte. Er erkannte italienische und rumänische Uniformen, Panzergräben, Stacheldraht. „Gilbert!“ rief er, als er sah, wie sein weißer Haarschopf in dem wilden Wust uniformierter Männer untertauchte. Eine Granate explodierte nur knapp hundert Meter von ihm entfernt und riss eine Schneise in die Soldaten. Er kniff die Augen zu und hob einen Arm vor sein Gesicht. Kleine Splitter, Staub und Schutt wurden ihm entgegen geblasen. „Gilbert!“ rief er erneut, absolut darüber im klaren, dass er ihn ohnehin nicht hören konnte. Er blickte sich nach seinen Männern um, gab ihnen ein Handzeichen; dann rannte er seinem Bruder hinterher. Die Luft schmeckte nach Rauch. Er hatte ihn aus den Augen verloren. Gilbert war, gefolgt von einem Dutzend Männern aus ihrem Sturmbann, einfach in diese unkoordinierte Menge scharf schießender Soldaten gerannt. Etwas machte sich in ihm breit, ergriff langsam von ihm Besitz, das er nicht zulassen durfte. Er musste absolut rational denken und handeln, musste seine Männer auf dem sichersten Weg weiter nach vorn, an die vorderste Front bringen. Er durfte jetzt keine Angst bekommen. Schon gar nicht um seinen älteren Bruder. Wenn er sich nur hätte sicher sein können, dass auch er darauf bedacht war, rational zu denken. Ludwig spürte, wie sich seine Kehle wie von selbst zuschnürte und er schnappte hörbar nach Luft. Der Rauch schien immer dicker zu werden und auch der Schnee fiel in immer größeren Flocken. Bald konnte er die verschiedenen Nationalitäten der Soldaten nicht mehr auseinander halten. Er hoffte einfach darauf, irgendwo seine hellen Haare inmitten des Schneegestöbers herausfiltern zu können. Tauwasser lief ihm in den Kragen und ließ ihn frösteln. „Gilbert!“ rief er erneut und blieb inmitten der Straße stehen, die Hand wie einen Schirm über seinen Augen, angestrengt über die Köpfe der Soldaten blickend. Er durfte nicht zögern. Er musste eine Entscheidung treffen. „Mir nach!“ rief er gegen das Donnern einer weiteren Granate an und winkte mit seiner Hand in die Richtung, in der Gilbert verschwunden war. Dann rannte er los. Das Vorankommen war schwierig. Er war nicht der einzige, der wenig erkennen konnte. Von allen Seiten wurde er angerempelt. Schultern stießen ihm in die Rippen. Er duckte sich unter dem Rauch hindurch und hoffte, von keiner verirrten Kugel und von keinem verdammten Partisanen getroffen zu werden. Bei seiner stattlichen Größe gab er ein besseres Ziel ab als die drahtigen Italiener, die ihn, neben den Rumänen, nun umringten. Zwei Panzer kreuzten seinen Weg. Er presste sich an die Wand, um nicht in ihre Schussbahn zu geraten, und schob sich an ihr entlang bis zu einer weiteren Verbindungsstraße. Gerade wollte er in ihren Schutz abtauchen, als er erkannte, dass es klüger wäre, sie nicht zu passieren. Hastig hielt er einen übereifrigen Wehrmachtssoldaten am Kragen fest, der sich ebenfalls in die Gasse flüchten wollte, als vor ihren Füßen eine Kugel einschlug. Der Soldat taumelte rückwärts und spähte nach oben. Durch das Fenster wurde erneut auf ihn angelegt. Ludwig machte eine halbe Drehung aus der Straße, kniete sich hin und legte an. Ein kräftiger Zug am rechten Gurtende nach rechts macht die Waffe feuerbereit. Ein Schuss ertönte aus der Straße, dann ein weiterer. Der Wehrmachtssoldat schrie auf und warf sich rücklings auf den Boden. Mit beiden Händen hielt er sich den Hals. Der Helm rutschte von seinem Kopf. Augenblicklich färbte sich der Schnee unter ihm zinnoberrot. Einer der Panzer gab einen Schuss ab und erstickte die Schreie des Mannes. Ludwigs Finger rutschte nervös auf dem Abzug herum. Er zielte auf den Partisanen im Fenster, doch der Schnee raubte ihm immer wieder die Sicht. Das Gewehr lag ruhig in seiner Hand. Er biss sich fest auf die Innenseite seiner Wangen, hielt die Luft an. Dann drückte er ab. Das Dauerfeuer seiner MG 42 schüttelte seinen Oberkörper durch. Er drückte seine Schulter gegen die Wand und lehnte sich fest gegen den Rückstoß. Als er das Feuer einstellte, sah er, wie das Gewehr des Partisanen aus dem Fenster im zweiten Stock hinab in den Schnee fiel. Ludwig drehte sich um und sah nach dem Soldaten. Noch immer schienen sich seine Finger wie im Würgegriff um seinen eigenen Hals zu verkrampfen, doch in seinen weit offen stehenden Augen schmolzen die Schneeflocken. Ludwig kroch zu ihm hinüber und nahm den Helm, der neben seinem Kopf auf dem Boden lag. Er nahm sich die Mütze ab, schob sie unter seinen Gürtel und ersetzte sie durch den Helm. Dann richtete er sich auf und lief seinen Männern nach. Vor ihm türmten sich Sandsäcke. Er warf sich hinter sie, zwischen zwei italienische Verbündete, und spähte durch den Wust an Stacheldraht, der darüber gespannt war. Einige hundert Meter von ihnen entfernt standen sowjetische Woroschilow-Panzer, die schweren Ketten bewegten sich langsam durch den Schnee auf sie zu. Die waren jetzt nicht interessant für ihn, er konnte mit seinem MG nicht durch neun Zentimeter Panzer schießen. Das musste er dem schweren Geschütz überlassen. Er legte den Lauf des Gewehr auf den Sandsäcken ab und duckte sich hinter sie, spähte durch das Zielfernrohr und fasste die Fußsoldaten ins Auge. Über ihn schossen die Granaten und die 8-Millimeter-Patronen der MG Degtjarjow Pechotnij hinweg. Wieder spürte er, wie seine Hände ruhiger wurden. Er atmete tief ein und hielt die Luft an, ignorierte das Sausen in seinen Ohren und den heftigen Tinnitus, der sich in seinen Gehörgang fraß. Dann drückte er seinen Zeigefinger auf den Abzug. Er dachte an Gilbert. Er hoffte, dass es ihm gut ging. Ihm war fast, als ob er sein Lachen hören konnte, als er, den Finger immer noch fest auf dem Abzugshahn, eine Reihe sowjetischer Soldaten niedermähte. Die Zwölfzylinder-Dieselmotoren der Panzerfahrzeuge heulten. Langsam rollten sie näher. Sie hatten eine Reichweite von etwa 340 Metern, soviel wusste Ludwig. Sie durften nur nicht auf die Sandsäcke schießen. Ludwig hockte sich tief hinter den schützenden Wall und wechselte das Magazin. Diese Gelegenheit nutzte er, um seinen Blick über die Männer schweifen zu lassen, die mit ihm diese Straße verteidigten. Zwei Italiener befanden sich direkt zu seiner rechten. Dahinter ein älterer deutscher Wehrmachtssoldat. Neben ihm lag eine Kiste Granaten. Und neben ihr das Funkgerät. Erst jetzt merkte er, dass der Junge, der die meiste Zeit direkt hinter ihm gelaufen war, nur drei, vier Mann von ihm entfernt hockte. Er hatte noch immer den Stift einer Handgranate im Mund, die Wangen verschmiert von geschmolzenem Schnee und Ruß. Er musste die Augen ein wenig zusammenkneifen, um ihn klar erkennen zu können. Dann spürte er, wie der Knoten in seiner Brust sich augenblicklich löste. Hinter dem Jungen, den Kopf geduckt und durch das Zielfernrohr seines Gewehrs blickend, dessen Lauf auf ein Zweibein gestützt war, hockte Gilbert. Er hatte seine Schirmmütze tief in sein Gesicht gezogen, doch der weiße Haaransatz und seine Uniform waren unverkennbar. Ludwig spürte, wie, der Situation eigentlich vollkommen unangemessen, der Anflug eines erleichterten Lächelns seine Lippen umspielte. Etwas, so groß wie eine Drossel und genauso schwarz, schlug auf dem Boden auf und rollte zwischen Gilbert und den Jungen. Ludwig zog die Stirn in Falten. In seinen Wimpern verfingen sich Schneeflocken. Eine Sekunde lang zögerte er. Dann durchfuhr es ihn wie ein elektrischer Schlag. Es war eine Splittergranate. Er musste daran denken, wie er mit Gilbert im Waldstück, ganz in der Nähe des Landschulheims, Patronenhülsen gesucht hatte. „Die sind aus dem großen Krieg“, hatte Gilbert gesagt und fürchterlich damit angegeben. Ludwig war erst neun oder zehn Jahre alt gewesen, doch er war sich sicher, dass die Patronenhülsen den Jägern und Förstern aus der Umgebung gehörten, die hier Rotwild schossen. Gilberts Begeisterung für Waffen und alles, was Lärm machte, hatte er damals nicht teilen können. Seine Mutter hatte immer gesagt, dass man davon sterben konnte. Ludwig hatte Angst um Gilbert. Er wollte nicht, dass er starb. [tbc] Kapitel 3: Kapitel III ---------------------- Kapitel III 20. - 21. November 1942 Auf Ivan Braginskis Lippen breitete sich ein äußerst mildes, nahezu sanftmütiges Lächeln aus, als er die Rauchschwaden im Nordosten der Stadt aufsteigen sah. Er stand auf der Kühlerhaube eines tarnfarbenen GAZ-Geländewagens, die seit Kriegsbeginn nur noch mit Camouflage-Muster hergestellt wurden; in der linken Hand hielt er ein Fernglas, in der rechten glimmte eine Zigarette. Die beiden Sterne auf seinem Schulterstück waren von einer hauchdünnen Schicht puderigem Schnee bedeckt. Er konnte spüren, wie sein Herz gegen seine Rippen schlug. Er spürte es selten und genoss jeden Ruck, den der Muskel machte, wenn er das Grollen der Sprengkörper bis in seine Magengegend spüren konnte. Die Donfront leistete ganze Arbeit. Sobald sie die nördlichen Stadtgrenzen zurückerobert hatten, würde die Stalingrader Front ihren Soll leisten können. Seine Division hatte Blut geleckt. Sie wollten kämpfen. Das war nur noch eine Frage von wenigen Tagen. Immerhin waren sie dort in der Stadt eingekesselt. Wohin sie auch blickten, aus welchem Winkel sie auch zu schlüpfen versuchen würden, um aus der Stadt zu flüchten: sie würden der Roten Armee in ihre kalten Augen sehen müssen. Sie konnten nicht fliehen. Anfangs hatte ein massiver Luftangriff über Stalingrad zum Tod tausender Zivilisten, braver Männer, Frauen und Kinder geführt. Es war zu diesem Zeitpunkt noch nicht bekannt, wie viele es geschafft hatten, zu überleben. Sie konnten die Stadt nicht verlassen. Sie durften nicht. Dass sie blieben, steigerte die Moral der kämpfenden, russischen Soldaten. War es nicht viel effektiver, wenn man ihnen sagte, es ginge nicht nur um eine Stadt, eine Wasserstraße, sondern um tausende von Menschenleben, die dort in ihrer Stadt, nur spärlich bewaffnet, um das nackte Überleben kämpften? Die 6. Armee der Deutschen bestand anfangs aus 250.000 Mann. Verstärkt wurde diese von einer Abteilung der 16. Panzerdivision, von der nur noch eine handvoll übrig war, und einigen Verbündeten Armeen aus Rumänien und Italien. Wenn die Sowjetunion wollte, konnte sie auf über eine Million Infanteriesoldaten zurückgreifen. Der Führer des Deutschen Volks hatte sich, so wie es schien, vollkommen verschätzt. Er hatte behauptet, der Roten Armee gingen die Ressourcen aus, sie sei einsturzgefährdet und schwach. Unter keinen Umständen hätten die deutschen, rumänischen und italienischen Soldaten kapitulieren oder den Rückzug antreten dürfen. Diese lächerliche Behauptung, die sich nicht bewahrheitet hatte, hatte unzähligen das Leben gekostet – und der Roten Armee einen entscheidenden Vorteil in diesem Kampf gesichert. Stalingrad wäre wirklich gefundenes Fressen für die Faschisten gewesen. Die Stadt war für die gesamte Sowjetunion von großer Bedeutung. Strategisch war sie gut gelegen; direkt an der Wolga, die als Wasserstraße diente. Mit der zumindest neunzigprozentigen Eroberung Stalingrads durch die Deutschen war diese bedeutende Transportroute abgeschnitten worden. Außerdem, und das war vielleicht noch ausschlaggebender, hatte diese Stadt noch eine symbolische Bedeutung. Stalin selbst hatte sie während der Russischen Bürgerkriege verteidigt. Sie in den Händen der Deutschen zu sehen, die Stadt, die nun Stalins Namen trug, war für die Sowjetunion eine Schmach höchsten Ausmaßes; für die Deutschen war es ein gelungener Zug, ein Stich direkt in die Herzen der russischen Bevölkerung. Beide Seiten hatten schwere Verluste erlitten. Doch nun wendete sich das Blatt – und zwar ganz sicher nicht zu Gunsten des Faschismus. Ivan würde diesem Treiben ein Ende setzen. Er würde diese Stadt befreien. Er zog an der Zigarette, dann warf er sie in den Schnee, wo sie zischend erlosch, und sprang von der Kühlerhaube. Den Rauch stieß er durch seine Zähne aus, als er in den Himmel blickte, den Schneeflocken entgegen. Das Wetter war schlecht. Zu schlecht für die deutsche Luftwaffe und diese verdammte Luftbrücke, die ihre Gegner mit Munition und Nahrung versorgte. Väterchen Frost stand mal wieder auf ihrer Seite. | … | „Gilbert!“ Ludwig konnte seine eigene Stimme nicht hören. Eine enorme Explosion erschütterte den Boden. Er kniff die Augen zu und warf sich in den Schnee, ehe der italienische Soldat zu seiner rechten von der Druckwelle umgerissen und gegen seine Brust geschleudert wurde. Splitter und Schrot schossen durch die Luft, erfüllten sie mit einem todbringenden Surren wie von Bienen. Es roch nach Schwefel. Ludwig spürte einen scharfen Schmerz auf Höhe seiner Lendenwirbel und hielt schlagartig die Luft an, um nicht zu schreien. Er konnte nichts hören. Seine Ohren fühlten sich an, als seien sie mit Wasser gefüllt. Von beiden Seiten schrie ihm der Tinnitus entgegen, bohrte sich mit peristaltischen Bewegungen raupenartig immer tiefer in seinen Kopf. Staub regnete auf ihn nieder und verfing sich in seinen feuchten Wimpern. Er hustete, biss sich auf die Lippe. Das Pfeifen in seinen Ohren ließ nicht nach. Nur langsam konnte er die Kriegsgeräusche hinter dem dicken Mantel aus Watte herausfiltern. Die Schüsse. Die Schreie. Das Kreischen der Motoren. Der Italiener, der an seiner Brust lag, rührte sich nicht. Ludwig konnte spüren, wie sein Herz verzweifelt zuckte, unregelmäßig und fest. Er brauchte Luft, doch selbst ohne bewusst einzuatmen, konnte er den Geruch von faulen Eiern wahrnehmen; er konnte ihn fast schmecken. Panik machte sich in ihm breit. Sein Körper, den er auf totale Selbstkontrolle gedrillt hatte, begann unwillkürlich zu zittern und sich anzuspannen, bis seine Waden schmerzten. Japsend, wie ein Ertrinkender, sog Ludwig schwefelschwangere Luft in seine Lunge und ballte die Hände zu Fäusten. Er musste sich aufrichten. Er musste nach Gilbert sehen. Langsam presste er die Fäuste gegen den schlaffen Körper, der vor seiner Brust lag, und schob ihn von sich weg. Dann erst öffnete er die Augen. Im Kopf des Italieners, kurz über seiner Nasenwurzel, steckte etwas, das wie ein Nagel aussah. Er schien noch nicht tot zu sein. Seine Augenlider zuckten heftig und aus seinem halb geöffneten Mund quoll rot gefärbter Speichel. Er hatte sich ein großes Stück seiner Zunge abgebissen, das hinter seiner unteren Zahnreihe im Blut schwamm. Vorsichtig hob er seinen Blick und erkannte, dass es kein Staub war, der auf ihn niedergangen war. Es war Sand gewesen. Die Granate hatte ein gut ein Meter breites Loch in die erste Reihe Sandsäcke gesprengt. Den Jungen sah er nicht. Aber Gilbert. Ludwig stand auf, dachte im ersten Moment noch daran, sich zu bücken, doch schon im nächsten war es ihm egal. Mit drei, vier großen Schritten stieg er über die Leichen zweier Soldaten. Dort, wo die Granate explodiert war, hatte sie einen Krater in den Schnee gesprengt. Gilbert lag gut vier Meter davon entfernt auf dem Boden. Er hatte seine Mütze verloren. Seine Haare hatten beinahe die gleiche Farbe wie der Schnee. Ludwig spürte sein Herz nicht mehr. Eine fürchterliche Übelkeit stieg in ihm auf. Das Pfeifen in seinen Ohren vermischte sich mit den Tränen, die ihm in die Augen stiegen, und raubte ihm die Sinne, die er brauchte, um zu begreifen, was geschehen war. Mit einem lauten Heulen warf er sich auf Gilberts Körper. Hastig tastete er seinen Oberkörper ab. Sein Rücken fühlte sich feucht an. Er fühlte keine Löcher in der Kleidung. Vorsichtig rutschte er von ihm runter. Noch immer zitterte und bebte er, seine Bewegungen unkoordiniert, die Finger fahrig. Vor Kälte. Vor Angst. Die Kontrolle entglitt ihm. Kalter Schweiß bildete sich auf seiner Stirn, als er die Handschuhe auszog und in den Schnee fallen ließ. „Gilbert“, wisperte er mit dünner Stimme, die sich in seinem Kopf wie das Rauschen anhörte, dem sie über das Funkgerät gelauscht hatten. Er packte ihn an der Schulter und drehte ihn, nur mit Mühe, auf den Rücken. Die Kraft schien vollkommen aus seinen Gliedern zu weichen. Mit jedem schwefelreichen Atemzug, mit jedem Herzschlag. In dem blassen Gesicht seines Bruders klebte Schnee. Seine Augen waren geschlossen. Er konnte ihn kaum erkennen. Ludwig blinzelte, ehe er seine Augen für einen Moment harsch zukniff und rabiat den Kopf schüttelte, bis der Tinnitus in seinen Ohren wie Wasser zu schwappen schien. Er durfte nicht weinen. Zehn Sekunden gab er sich, um sich zu sammeln. Dann zwang er seinen Körper, das Zittern einzustellen. Er wischte sich heftig mit dem Ärmel durch die Augen, dann untersuchte er die dunkle Uniform seines Bruders nach Löchern, durch welche die Splitter gedrungen waren. Viel zu spät dachte er daran, seinen Puls zu fühlen. Das Chaos in seinem Kopf wollte sich nicht legen. Hinter ihm, über ihm, überall wurde einfach weiter geschossen. Konnten sie ihm nicht eine Pause, nur eine kleine, verdammte Unterbrechung gönnen? Verstanden sie denn nicht, was hier gerade passiert war? Dass ein Mensch vielleicht starb...? Er packte an Gilberts Hals und fühlte seinen Puls. Zu seinem Erstaunen ging dieser außerordentlich schnell. Erlöst warf er den Kopf in den Nacken, den Mund offen stehend, einen unidentifizierbaren, hechelnden Laut von sich gebend. Hastig atmend fuhr er sich durchs feuchte Haar, wischte sich den kalt brennenden Schweiß von der Stirn. Dann widmete er sich eilig wieder der Untersuchung des Körpers. An seinem rechten Oberarm spürte er warmes Blut. Die Uniform war zerfetzt, das Unterhemd nur leicht beschädigt. Eine paar Splitter und Nägel waren tief in sein Fleisch eingedrungen, doch das Blut floss nur mäßig. Erleichtert stellte er fest, dass Gilbert die Granate gesehen haben musste, bevor sie explodierte. So ein verdammtes Glück, dachte er, konnte auch wirklich nur sein Bruder haben. Ein paar Splitter hatten ihn am Bauch erwischt doch die dicken Unterhemden und die Weste hatten sie zumindest davon abgehalten, in seine Organe einzudringen. Ludwig hatte gesehen, wie es aussah, wenn die Leber erwischt wurde. Das Blut war fast schwarz. Wie Teer. Gerade wollte er sich seinen Beinen widmen, als er hörte, wie der ältere einen rauen, röchelnden Laut von sich gab. Fast hätte er ihn gar nicht mitbekommen, das Pfeifen in seinen Ohren wollte und wollte nicht schweigen, doch Gilberts Oberkörper zuckte dabei so stark, dass Ludwig beinahe erschrocken wäre. Er sammelte sich hastig, dann rutschte er neben den Kopf seines Bruders und wischte ihm das Schmelzwasser von den Wangen und die Schneeflocken aus den Augenwinkeln. „Gilbert, hörst du mich?“ Seine Lunge brannte, als er sprach. Gilberts Lippen bebten, doch er konnte nichts verstehen. Nur Explosionen, Schüsse und lautes Pfeifen. „Gilbert“, hauchte er noch mal. Dann legte er seine Hände auf seine eigenen Ohren, schlug auf die Ohrmuscheln, presste die Handfläche auf sie. In ein Ohr bohrte er unerbittlich mit seinem Finger, um irgendwie einen Druckausgleich zu schaffen. Das verschaffte nur geringfügig Abhilfe. Zumindest in einem Ohr wurde das Pfeifen langsam leiser. Dafür drangen nun vermehrt die Schüsse, die fielen, in sein Bewusstsein zurück. Er gab es auf und legte eine Hand auf die Brust seines Bruders, die sich wuchtig auf und ab bewegte, als ob es ihm furchtbar schwer fiel, genügend Sauerstoff aus der Luft zu filtern. Seine Augenlider flackerten. „Gilbert, ich bin direkt neben dir“, sagte Ludwig mit rauer Stimme. „Zeig mir, dass du mich hörst und mach die Augen auf.“ - „Nein“, krächzte Gilbert, gefolgt von einem schmerzerfüllten Röcheln. Ludwig biss die Zähne zusammen. „Ich will dich hier weg schaffen. Aber dabei musst du mir helfen. Kannst du laufen?“ - „N-nein.“ Sein Bruder kniff die Augen zu und presste die Lippen aufeinander. Seine Nase lief und schlug Blasen, als er hastig durch diese ein- und ausatmete. Ludwigs Mund fühlte sich trocken an, trotzdem musste er schlucken. „Wir können nicht hier bleiben.“ „Ludwig -“ Gilberts Stimme klang unglaublich schrill. Seine Hände zuckten. Als er seinen rechten Arm heben wollte, zischte er auf und ließ ihn wieder sinken. Die linke Hand bewegte er langsam seinen Oberschenkel hinauf. „Ludwig... Es... tut echt weh...“ Ludwigs Blick folgte seiner Hand. Das rechte Hosenbein hatte überall kleine Risse, das linke war an einigen Stellen vollkommen aufgefetzt. Der Reißverschluss seiner Hose war in der Mitte gerissen. Aus seinem Schenkel und Schritt quoll dunkles Blut, das sich im Schnee zwischen seinen Beinen sammelte. Über einer Schulter trug er beide Waffen, seine und Gilberts. Über der anderen trug er seinen Bruder. Er hatte seine Handfeuerwaffe gezogen, die nicht halb so schwer war wie das Gewehr, und sie entsichert, um sich im Notfall verteidigen zu können. Zum ersten mal in seinem Leben hatte die Flucht erste Priorität. Dass er seinen Männern den Rückzug befohlen hatte, schmerzte ihn sehr, doch als er sah, dass nur gut die Hälfte der ursprünglichen Zahl ihnen folgte, war er beinahe erleichtert, diese Entscheidung getroffen zu haben, auch wenn er nicht wusste, ob seine Männer gefallen oder noch mitten im Dauerbeschuss waren. Noch immer schmerzte sein Rücken. Er war sich sehr sicher, dass auch er von etwas getroffen worden war. Mit jedem Schritt schien sich etwas scharfes, spitzes tiefer in sein Fleisch zu fressen. Der Junge hatte drei Meter von den Sandsäcken entfernt auf dem Boden gelegen. Erst hatte er ihn nicht erkannt. Sein Gesicht war nicht mehr als ein Wulst aus Fleisch und Blut gewesen, aufgequollen, lippenlos. Zwischen seinen Zähnen hatte der Stift einer Handgranate gesteckt. Ohne nachzudenken hatte Ludwig seine Hundemarke an der Sollbruchstelle gebrochen und die eine Hälfte in die Tasche seiner Uniformjacke gesteckt. Eine Nummer, eine Blutgruppe. Kein Name. „Ruki vverkh!“ brüllte Ludwig und zielte mit seiner Waffe in einen Hauseingang. Die Hand, mit der er Gilbert auf seiner Schulter festhielt, fühlte sich mittlerweile schmierig und feucht an. Die russische Familie, die in der Stube des Hauses saß, in das er zielte, nahm wie befohlen die Hände hoch und rückte zusammen, die Augen angstgeweitet. „Provalivaĭ!“ rief er und schob sich, nachdem er die Ecken gesichert hatte, in den Raum. „Provalivaĭ! Vse podryad!“ Die Russen reagierten nicht, sahen ihn nur stumm und entgeistert an. Der jüngste Sohn begann leise zu weinen. Schwerfällig legte er Gilbert auf dem Boden ab, der ein leises Seufzen von sich gab. Ludwigs Russisch war mehr als schlecht. Vielleicht hatte er sich falsch ausgedrückt. Sie sollten alle den Raum verlassen, geordnet. Ob sie im Haus blieben oder ganz verschwanden war ihm erst einmal egal. Er hatte kein Interesse daran, Zivilisten zu töten aber eigentlich wollte er nicht riskieren, von ihnen angegriffen zu werden. Ein paar Mann seines Sturmbanns und zwei Wehrmachtssoldaten folgten ihm in die Stube und richteten ihre Gewehre auf die Familie. „Wie lautet der Befehl?“ fragte einer der Älteren. Ludwig sicherte seine Waffe und spähte hinüber zum Eingang. Ein paar Straßen weiter fielen Schüsse, explodierten Granaten. Dort wurde gekämpft. So lautete der offizielle Befehl. Verluste akzeptieren. Verletzte lieber töten, als sie verrecken zu lassen. Kein Rückzug. Angriff. „Zwei von euch suchen das Haus nach Waffen, Verbandszeug, Medizin und Essen ab! Einer sperrt die Familie im Keller ein und bewacht die Tür! Wer will, kann zurückgehen und kämpfen, aber drei von euch brauche ich erst einmal hier.“ Die Soldaten sahen sich an, dann nickten sie, gaben den Befehl nach draußen weiter und teilten die Aufgaben untereinander auf. Der greise Wehrmachtssoldat widmete sich dem Wegsperren der Familie, wobei er Ludwigs Provalivaĭ in äußerst aggressivem Tonfall immer wieder wiederholte; vermutlich ohne zu wissen, dass es raus hier bedeutete. Zwei der vergleichsweise jüngeren Soldaten, beide etwa Mitte dreißig, begannen, die Stube und die anderen Räume zu durchsuchen. Als Ludwig sich zu Gilbert hockte, merkte er, dass die anderen Soldaten zögerten. Er konnte ihnen ansehen, dass es ihnen nicht gefiel, wie er seinen Befehl formuliert hatte. Wenn sie wollten, konnten sie zurückgehen und kämpfen. Was bedeutete es für sie, wenn sie blieben, außer, dass sie damit wahrscheinlich ihren Tod etwas verzögern konnten? Was sagte das über ihre Motive, ihre Liebe zum Vaterland, für das sie kämpften, und ihre Zuverlässigkeit, ihr Verantwortungsgefühl, ihre Prägnanz, ihre Gehorsamkeit dem Führer gegenüber? Ludwig knöpfte die Uniform seines Bruders auf. Solange der Obersturmbannführer außer Gefecht gesetzt war, hatte er das Kommando. „Wer noch von meinem Sturmbann übrig ist, bleibt hier. Ich brauche noch drei Leute, die mir mit dem Herrn Obersturmbannführer helfen. Und mindestens einer muss mir Decken und Kissen holen“, sagte er mit barscher Stimme. Seine blauen Augen hatten die Soldaten an der Tür fixiert. „Drei oder vier sollten sich innen vor die Tür setzen und sie bewachen. Die Wehrmacht hat andere Befehle. Zurück an die Front. Verstanden?“ „Jawohl, Herr Sturmbannführer“, antworteten sie desolat. „Wir haben noch ein Panzerkorps in petto.“ Ludwig hatte sich an die Wand gelehnt und lauschte den Gesprächen seiner Männer. Draußen schwiegen die Kanonen noch immer nicht. Es war mittlerweile dunkel geworden und wahrscheinlich längst nach Mitternacht. Unaufhörlich fiel der Schnee wie ein weißer Vorhang vorm Fenster, angestrahlt durch die Kerzen, die sie aufgestellt hatten, um den Generator zu schonen. „Sie stehen hier in Scheunen bereit. Zwar tschechische Panzer aber immerhin besser als gar nichts.“ „Und sobald es zu schneien aufgehört hat, bekommen wir auch wieder Nachschub an Munition. Panzerfäuste bräuchten wir. Und Granaten.“ „Ja. Das Ding ist immer noch zu gewinnen.“ „Ja, es sah schon mal schlechter aus. Vielleicht schicken sie die Luftwaffe. Dann können unsere Leute die Arschlöcher vor der Stadt platt machen.“ Die Arschlöcher vor der Stadt. Ludwig legte sich auf die Seite und blies die Kerze aus, die an Gilberts Kopfende lag. Sie hatten ihn auf Laken gebettet, seine Wunden versorgt und mit zwei dünnen Decken vor der Kälte versucht zu schützen, die durch alle Ritzen drang. Der greise Soldat, Johan Frisch, hatte Ludwig mit einem Messer den Querschläger aus dem Muskelfleisch am Rücken geholt, der ihn getroffen hatte. Erst dann hatte es ordentlich zu bluten begonnen und pochte wild im Rhythmus seines Herzschlags, aber seine Verletzungen waren gar nichts im Vergleich zu dem, was Gilbert durchstehen musste. Aus seinem rechten Oberarm hatten sie vier Nägel und einige Metallsplitter gezogen, die auch in seinem Bauch steckten, allerdings dort etwas oberflächlicher und leichter zu entfernen. Anfangs hatten sie ihn dauernd davon abhalten müssen, sich unbewusst am Bauch zu kratzen, während er in seiner erlösenden Ohnmacht vor sich hin dümpelte. Seine Oberschenkel waren seinem Oberarm, mit dem er sein Gesicht geschützt hatte, sehr ähnlich. Die Nägel und Splitter steckten tief im Fleisch aber Frisch, der bereits im ersten Weltkrieg gedient hatte, hatte offenbar gute Improvisations-Lazarett-Erfahrung entwickelt und neben einigen kleinen Splittern ganze acht Nägel und vier Metallstücke herausoperiert. Von Gilberts linkem Hoden war fast nichts mehr übrig. Sie hatten ihn mit einem Stück Draht abgebunden und so die Blutung gestillt. Seine Vorhaut war an einigen Stellen so tief eingerissen, dass man bis auf das Fleisch blicken konnte. „Worüber reden sie?“ Gilberts Stimme klang rauchig und unglaublich dünn. Ludwig rückte etwas näher an ihn heran und legte seinen Kopf zu ihm auf das Kissen. Sein Tinnitus war zu einem leisen Singen verkommen, trotzdem fiel es ihm schwer, seinen Bruder zu verstehen. Er bekam kaum seine Lippen auseinander. „Darüber, dass wir gewinnen werden“, antwortete Ludwig und zog Gilberts Decke bis zu seinem Hals hoch. Die Hand ließ er auf seiner Brust liegen. „Werden wir das?“ „Wenn du weiter kämpfst, können wir dann überhaupt verlieren?“ Ludwigs Stimme klang sarkastischer, als er es beabsichtigt hatte, doch seine Worte hatten ihren gewünschten Effekt. Gilbert öffnete langsam seine roten Augen. Seine Mundwinkel zuckten leicht in die Höhe. Dennoch wirkte seine Mimik steif vom Schmerz. Sie hatten kein Morphium mehr. Nicht einmal etwas ähnliches. „Wie steht's um mich, Doktor?“ „Nicht schlecht“, murmelte Ludwig und drückte seine Stirn gegen die seines Bruders. Sie fühlte sich feucht und kalt an. „Du überlebst es. Wirst jetzt weniger Probleme haben, wenn du deine Beine übereinander schlagen willst.“ Gilbert lachte schnaubend. Er sah traurig aus. Ludwig konnte sehen, wie seine Hand unter der Decke in seinen Schritt wanderte. „Scheiße... Scheiße, Ludwig...“ „Ja“, antwortete er. „Scheiße.“ „Die Frauen werden es lieben, hm?“ Gilbert kniff die Augen zu. Dann drehte er langsam seinen Kopf weg. Ludwig schob seine Hand zu dem Kinn seines Bruders. Es fühlte sich rau und unrasiert an. Vorsichtig legte er eine Hand auf seine Wange. „Wenn wir hier raus kommen, wird das alles richtig behandelt. Dann wirst du wahrscheinlich beschnitten, sagt der Alte. Aber das ist nicht selten, aus medizinischen Gründen. Das heißt nicht, dass du irgendwie... eingeschränkt wirst.“ Er lehnte sich an ihn, als er spürte, wie seine Brust zu beben begann. Ludwig schluckte schwer und presste die Lippen aufeinander. Er fühlte, wie die Traurigkeit wieder von ihm Besitz ergriff. Es war mehr als ungewohnt, seinen Bruder so zu sehen. Zu spüren, wie sein Körper sich gegen die Tränen wehrte, die sich aus ihm heraus kämpfen wollten. „Dann sehe ich nackt aus wie ein Jude, hm?“ brummte er leise. „Du hattest nie was gegen Juden, Gilbert.“ „Ja“, sagte er. „Ja. Ich hatte nie was gegen Juden...“ [tbc] Kapitel 4: Kapitel IV --------------------- Kapitel IV 24. November 1942 In den letzten Tagen hatte ein erstaunlich mildes Klima vorgeherrscht. Der Schnee hatte sich tagsüber in nasskalten Schneeregen verwandelt, dessen klamme Hände durch die Löcher und Nähte der Uniformen krochen. Sich durch die Innenstadt und bis zum Flughafen Morosowskaja durchzuschlagen, erwies sich als einfacher, als Ludwig es vermutet hätte. Gilbert, der nur schwer voran kam, wurde von zwei relativ jungen Mitgliedern der Waffen-SS unterstützt. Es hatte eine Weile gedauert, bis Ludwig ihn dazu bekommen hatte, sich überhaupt helfen zu lassen. Es war nicht ungewöhnlich, dass seine Haut blass war. Er hatte, zumindest was seinen Hautton und die empfindlichen Augen betraf, schon immer etwas kränklich gewirkt. Nun aber hatte seine Haut beinahe die Farbe der weißgrau verputzten Stadthäuser angenommen, deren leere Fenster im Zwielicht des Morgens wie weit aufgerissene Münder anmuteten, die Mundwinkel eingerissen von den Erschütterungen der Bomben, die am ersten Tag, dem 23. August, wie Hagelschauer auf die Stadt niedergegangen waren. Eine Straße hatten sie passiert, die von kahlen Bäumen gesäumt war. Wie Windspiele hingen die Partisanen, an Kabeln und Stricken aufgeknüpft, an ihren Ästen. Ihre Köpfe hingen schlaff und leblos auf ihre Brust herab, die Gesichter fremd und erstarrt, farblos, sodass es kaum vorzustellen war, dass diese Hüllen einmal Leben enthalten hatten, das ihnen genommen worden war. Es schien den Einwohnern eine Warnung zu sein. Niemand, der keine Uniform trug, griff sie an. Anders als in den Randgebieten der Stadt schienen die Menschen sich hier ihrem Schicksal zu fügen oder es zumindest nicht herausfordern zu wollen. Morosowskaja gehörte zu den beiden Flughäfen, die sie hatten einnehmen können. Hier landeten die Versorgungsflugzeuge - wenn es denn, aufgrund der Wetterbedingungen, möglich war. Und hier standen die Panzer, verteilt auf Flugzeughangar und umliegende Scheunen. Das Stroh, das in den Scheunen gelagert wurde, war feucht, diente aber als hervorragendes Feldbett. Ein improvisiertes Lazarett war in dem hinteren Teil einer Scheune errichtet worden. Die Wärme der Körper, die auf dem Stroh lagen, ließ die klammen Halme dampfen. Gilbert schlief, schien das Donnern der Granaten in der Ferne kaum noch wahrzunehmen. Immer wieder wurden Menschen in die Halle hinein getragen und aufgebahrt, entweder vollkommen regungslos oder sich unter starken Schmerzen biegend und krümmend. Sie hatten kein Morphium mehr. Nicht einmal hier, wo die Versorgungsflugzeuge ankommen sollten, hatten sie genügend Material, um die Verletzten zu versorgen. Ludwig hatte sich auf eine Holzkiste gesetzt und drehte sich eine Zigarette. Aufgrund des Ranges, den sein Bruder innehatte, wurde er bevorzugt behandelt. Er war einer der Helden dieses Krieges, wenn auch unfreiwillig zu einem solchen glorifiziert. Und er musste lebend nach Deutschland zurückkehren. Nicht nur, um den Menschen dort Hoffnung auf einen baldigen Sieg zu geben. Er musste dem angeschlagenen Ruf der Waffen-SS wieder etwas Glanz verleihen. 21. August 1942 Der Zigarettenrauch hing in dicken, blaugrauen Schwaden unter der Decke und verschleierte das Licht, das von den niedrigen Decken auf die Häupter der Soldaten hinab schien. Es roch süßlich, nach Erbrochenem und vergossenen Bier, nach Wein, nach Parfum. Ludwig lehnte sich zurück und ließ seinen Blick über die Tische schweifen. Am Eingang saßen ein paar Wehrmachtssoldaten, angestrengt über einem Haufen Spielkarten brütend, als studierten sie die Stellungen den Feindes. Schales Bier stand, von der Schaumkrone nichts mehr übrig, vor ihnen; bereits zu warm, um getrunken zu werden aber zu schade, um es wegzuschütten. Der Tisch, an dem sie saßen, wirkte ein wenig prunkvoller. Wein stand, der Korken wieder mit roher Gewalt halb in die Flasche gedrückt, damit er nicht an Aroma verlor, in der Mitte des Tisches. Französischer Wein. Deutsches Bier. Englischer Whiskey. Ein guter Deutscher kann keinen Franzmann leiden aber seine Weine trinkt er gern. Ludwig verzichtete auf den Wein. Er und sein Bruder, der neben ihm saß und weit mehr Aufmerksamkeit genoss als er selbst, tranken frisch gezapftes Weizenbier. Das hatte nichts damit zu tun, dass sie die Franzosen nicht mochten. Sie mochten nur ganz einfach keinen Wein. Zumindest traf das auf ihn selbst zu. Bei Gilbert, und das war eigentlich schon traurig genug, war er sich da nicht so sicher. Es waren Flieger der Royal Airforce vom Himmel geholt worden, in denen sie ganze Zeitschriften voller böswilliger Polit- und Deutschlandsatire gefunden hatten, die sich an nichts anderem als dem bediente, dass ein Deutscher jeden hasste und nicht dazu imstande war, auch nur seine eigene Mutter zu lieben. Ludwig war es egal, was die Welt von ihm dachte. Er hatte einen Job zu erledigen. Seine Familie stolz zu machen. Das Land, das er liebte, zu verteidigen. Er hatte den Menschen gegenüber eine gewisse Verantwortung zu erfüllen, nachdem der Einfluss seines Vaters ihn und seinen Bruder schon so weit gebracht hatte, dass sie sogar einen gewissen Einfluss auf die Ausführung der Befehle hatten, die der Schutzstaffel erteilt wurden. Aber er hasste nicht. Weder die Juden, noch die Franzosen oder Briten. Alles, was die Franzosen falsch gemacht hatten, war Deutschland den Krieg zu erklären. Wegen Polen. Wegen einem Stück Land, das, wie Ludwigs Vater oft wiederholte, rechtmäßig ihnen gehörte und, wie es schon seit Jahrhunderten Gang und Gebe war, von dem Stärkeren erobert worden war. Ludwig hatte nicht in Frankreich gekämpft und so, wie er es von denen gehört hatte, die in Paris einmarschiert waren, hatte ihnen ohnehin kaum ernstzunehmende Gegenwehr gegolten. Ludwig verzog das Gesicht, als ein Stück angespeicheltes Spiegelei auf seinem Kragen landete und tastete nach einem Taschentuch, um es wegzuwischen. Der Offizier, der vor ihm saß und schon im nüchternen Zustand eine recht feuchte Aussprache zu besitzen schien, sprach mit vollem Mund. „Fünfhundert Tonnen Versorgungsgüter pro Tag!“ bellte er. Speichel tropfte von seiner Unterlippe und landete in der abartigen Unrasiertheit auf seinem Doppelkinn, die er wohl als Bart bezeichnet hätte. Dieser Offizier gehörte wohl zu den Menschen, die in ihrer gesamten Karriere noch nie einer Schlacht beigewohnt hatten, dafür aber gerne von den Vorzügen ihres Ranges profitierten. Jeder Zentimeter seiner Haut wirkte rot, aufgedunsen und schwammig; sein Hintern lappte zu beiden Seiten des Stuhls herab, auf dem er nicht richtig zu sitzen schien, da sein Heck so viel Platz einnahm, dass sein Schritt vor der Sitzfläche des Stuhl im Leeren hing. Schweißperlen glitzerten auf seiner Stirn. Aber er war nicht der einzige, der hier unten schwitzte. „Das hat Göring schon im Frühjahr beschlossen! Sobald der erste Flughafen in deutscher Hand ist, landen jeden Tag Versorgungsflieger. Theoretisch wäre das rund um die Uhr möglich.“ „Fünfhundert Tonnen“, wiederholte Gilbert und grinste breit, Ludwig auf die Schulter klopfend. „Das wird ein Kinderspiel.“ Ludwig warf einen kurzen Blick auf seinen Bruder, ehe sein Augenmerk wieder zu dem breiten Froschgesicht des Offiziers wanderte, der jetzt einen ganzen Haufen gebratenen Schweinespeck auf seinem Teller auf eine Gabel spießte und es sich auf einmal in den Mund stopfte. Das grenzte schon beinahe an Kannibalismus. „Gut, momentan hapert's ein wenig bei der Versorgung. Engpässe. Gibt’s ja überall momentan.“ „Und wie lange, glaubt Göring, brauchen wir für die Eroberung Stalingrads?“ Ludwig verschränkte die Arme vor der Brust und legte seine Stirn in Falten. Das Bier, das vor ihm stand, war bereits sein viertes und langsam fiel es ihm schwer, logische Schlüsse zu ziehen. „Nicht lange“, antwortete Gilbert und drehte sich langsam von dem Offizier weg, seiner zuckenden Oberlippe nach zu urteilen wohl eher aus aufsteigenden Ekel als der tatsächlichen Absicht, seinem Bruder beim Sprechen in die Augen zu sehen. „Wir schicken die Luftwaffe vor. Mit der Bahn dürften wir ein oder zwei Tage später eintreffen. Ich nehme mal an, dass wir uns nur noch zu der Wehrmacht gesellen und die Lorbeeren abholen müssen.“ „Und die Briten? Ich meine, wir brauchen die Luftwaffe. Dass ein englischer Flieger auf sechs deutsche kam ist lange her; die haben aufgerüstet.“ „Ist alles eingeplant“, sagte Gilbert. Ludwigs Kopf sackte nach vorne, als ihm fest auf den Rücken geklopft wurde. Ludwig rieb sich den Nacken. Sein Blick ruhte auf der Schaumkrone seines Biers, die sich mit jeder Sekunde ein wenig dezimierte, als schmolz sie in der Wärme des stickigen Souterrains dahin. Ihm wurde eine Zigarre gereicht. Er schüttelte den Kopf, zweimal, nahm sie dann aber doch, da der Offizier, der ihm die Zigarre vor die Nase hielt, schon gar nicht mehr auf ihn zu achten schien. Er sprach mit dem Mann zu seiner Linken, der ihn zu kennen und sich bereits an den Anblick der auf seinem Doppelkinn zitternden Fettschlieren gewöhnt zu haben schien. „Das sind die Söhne von Beilschmidt“, hörte er ihn sagen. „Beide bei der Schutzstaffel; beide Offiziersstatus. Wahnsinn! Aber war ja auch nicht anders zu erwarten. Das sind die Gene, sag ich dir. Zwei arische Jungs; einer deutscher als der andere.“ Ludwig sah zu Gilbert, der sein Bier leerte und dachte an seinen Vater. Es war kein besonders gutes Gefühl an ihn zu denken. Er wusste, wo er sich aufhielt. Er wusste, was er tat. Und er fragte sich, wie viele andere Menschen in Deutschland gerade an ein Familienmitglied dachten, einen Freund, Nachbarn oder Bekannten, unwissend, wie es um ihn stand, nur mit der absoluten Sicherheit, dass sie ihn höchstwahrscheinlich nie wieder sehen würden, weil sie ahnten, wie unwahrscheinlich es war, aus dieser Hölle, wenn sie einmal dort gewesen waren, zu entkommen. Ludwig wusste, wie es in den Außenlagern von Krakau zuging. Er war mehrmals dort gewesen, um seinen Vater zu besuchen. Auch er arbeitete dort. Allerdings nicht an Ketten und nicht mit der Angst bei der nächsten Selektion nach Auschwitz deportiert zu werden. Als Lageroffizier hatte er ein sehr bequemes Leben, dort unten in Krakau. 25. November 1942 „Was soll das heißen, sie fahren nicht?!“ Gilbert saß gegen die Wand gelehnt auf seinem Feldbett, die roten schimmernden Augen nur halb geöffnet. Ludwig drehte ihm eine Zigarette. Den ganzen Morgen über waren die Panzer überprüft worden. Seit der Befehlshaber der Panzerdivision eingetroffen war, hatten die Soldaten überlegt, wie sie es ihm am besten beibringen konnten. Von allen Panzern, die hier lagerten, waren vielleicht dreißig Stück noch betriebsbereit. Es war nicht die Kälte, die ihnen zugesetzt hatte. Sie hatten keinen Rost angesetzt. Das Problem war genau so einfach zu erklären wie schwer zu beheben. Mäuse, die in den Scheunen und Hangern lebten, hatten sich in die Panzer gefressen und die Kabel in ihrem Inneren zerbissen. „Das ist nicht möglich!“ donnerte es durch den Hanger, gefolgt von leisen, zurückhaltenden Erklärungsversuchen der Soldaten. Ludwig ignorierte es. Das fiel nicht in seinen Aufgabenbereich. Er setzte sich neben Gilbert, reichte ihm die Zigarette und blickte durch das offene Tor hinaus auf die zugeschneite Landebahn. Nichts, was versprochen worden war, ist eingehalten worden, dachte er und begann, sich selbst eine Zigarette zu drehen. Es war kein deutscher Flieger gelandet. Gestern nicht. Heute nicht. Die fünfhundert Tonnen pro Tag hatten sich als knapp einhundertzehn Tonnen pro Woche herausgestellt. „Weißt du was das Beste an dieser verschissenen Kälte ist?“ knurrte Gilbert und zündete sich seine Zigarette an. Ludwig hob eine Augenbraue. „Nein. Ganz ehrlich, ich kann der Kälte absolut nichts Positives abgewinnen“, antwortete er und leckte sein Zigarettenpapier an. „Der Geruch.“ Gilbert grinste zittrig und stieß den Rauch durch die Nase aus. „Geruch?“ „Ja. Riechst du was?“ Ludwig lehnte seinen Kopf gegen die Wand. Er roch nichts. Nichts außer Stroh und Zigarettenrauch. Langsam schüttelte er den Kopf. „Nein.“ „Eben.“ Gilbert deutete auf die andere Seite der Halle. Die Seite, auf der die Verletzen lagen, die keinen Offiziersstatus hatten. Die Verletzen, die also auch kein Stroh brauchten, auf dem sie liegen konnten. Die, die man sterben lassen konnte. Einige von ihnen hatten es wahrscheinlich nicht einmal durch die letzte Nacht geschafft. Ludwig hatte nicht bemerkt, dass einer nach ihnen gesehen hätte. „Und jetzt stell dir mal vor, wie das hier riechen würde, wenn wir keine Minusgrade hätten, Mann...“ Gilbert schnaubte und reichte Ludwig die Streichhölzer. Zumindest von denen hatten sie wieder ein paar. Er nickte stumm und musterte die Männer, die noch kräftig genug waren, ihre Beine zu bewegen und Laute von sich zu geben, die nichts Menschliches mehr an sich hatten, aber zumindest signalisierten, dass sie noch lebten. „Gilbert“, murmelte er, nachdem sie eine Weile geschwiegen hatten. Sein Bruder hatte seine Augen geschlossen und atmete schwer. Er hatte Schmerzen. „Das ist es nicht wert.“ „Sag so was nicht.“ Gilbert rutschte an der Wand hinab und winkelte seine Beine an, sie langsam und mit verkrampftem Gesicht spreizend. „Ich habe lange darüber nachgedacht“, gestand Ludwig und tastete nach seinem Tabak, um seinen Bruder nicht ansehen zu müssen. Er sprach leise, die Stimme zu einem finsteren Murmeln gedämpft. Es musste ihnen niemand zuhören. Es fiel ihm schwer genug, seine Bedenken vor seinem Bruder zu äußern. Tatsächlich hatte er seit geraumer Zeit darüber nachgedacht. Beinahe genauso lange hatte er überlegt, wie er es ansprechen sollte, wenn die Zeit dafür gekommen war. Deutschland hatte sich verändert. Das Land, das ihre Großeltern geliebt hatten, hatten sie zwar niemals kennen lernen können doch allein der Wandel, den es in den letzten zehn Jahren hatte durchmachen müssen, war keiner, für den Ludwig hätte einstehen wollen. Eine Verstümmelung; eine Amputation, wo ein Antibiotikum genügt hätte. Unter normalen Bedingungen hätte sein Bruder sich, da war er sich sicher, niemals einer solch bedingungslosen Vernichtung von Menschenleben, einer solchen Säuberungsaktion angeschlossen. Man konnte das, was sie taten, nicht mit Unwissen entschuldigen. Sie waren alt genug, um zu wissen, was sie taten. „Ich will das nicht mehr. Ich will mein Leben nicht für das riskieren, was uns zu Hause erwartet.“ „Ludwig...“ „Selbst wenn wir das hier überleben sollten, habe ich... kein Interesse daran, wieder zurück zu gehen.“ Den letzten Teil des Satzes zischte er schnell und nahezu unverständlich. Mit fahrigen, kalten Händen umklammerte er das Zigarettenpapier und versuchte, viel zu viel Tabak darin einzuwickeln. Gilbert schwieg. Er wusste nicht, ob er ihn ansah oder die Augen geschlossen hatte. Alles, was er hörte, war der schwere, schmerzerfüllte Atem. „Versteh mich nicht falsch“, flüsterte er schließlich, das unangenehme Schweigen zu brechen versuchend. „Ich liebe mein Land. Du weißt, dass ich das tue. Und ich wäre durchaus dazu bereit, für mein Land zu sterben... aber nicht –“ – „Nicht für diese Regierung“, ergänzte Gilbert heiser. Jetzt sah Ludwig ihn an. Gilbert hatte seine Augen geöffnet und erwiderte seinen Blick, einen Mundwinkel nach oben gezogen, im anderen seine Zigarette, die nur noch kümmerlich vor sich hin qualmte. „Also. Was hast du geplant?“ [tbc] Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)