Drachenauge von Flordelis (Löwenherz Chroniken I) ================================================================================ Prolog: Schwinge ---------------- Im Jahr 2500 begann der vierte Weltkrieg der Menschen, die glücklich genug gewesen waren, den dritten zu überleben. Ursachen, Auslöser und Beteiligte des Krieges gerieten allerdings rasch in Vergessenheit durch all jene Dinge, die im Nachhinein geschahen. Der Krieg endete noch im selben Jahr, nicht durch die Hand von Menschen, sondern durch eine Macht, die sich niemand hätte im Traum einfallen lassen... Einen kurzen Moment hielt er inne. Seine eigene Formulierung ließ ihn ins Stocken geraten. Konnte er das wirklich so schreiben? Aus lauter Nachdenklichkeit biss er sich auf die Unterlippe, weiterhin zögernd. Der Inhalt des Geschriebenen war korrekt, nur die Formulierung bereitete ihm einiges Kopfzerbrechen, immerhin war es gut möglich, dass irgendjemand das einmal zu Studienzwecken lesen würde und was sollten jene Personen dann von ihm denken? Dass er ein verkappter Romanautor war, aber nie den einen Schritt dorthin geschafft hatte? Doch schließlich zuckte er mit den Schultern, dachte sich, dass die anderen froh sein sollten, dass er überhaupt etwas aufschrieb und fuhr fort. Die letzte Schlacht des Krieges fand in dem vom dritten Weltkrieg verwüsteten Japan, ein Landstrich bar jeglichen Lebens statt. Die Soldaten kämpften um Ressourcen für Männer, die sie nur von einer Leinwand kannten. Wieder zögerte er einen Moment, dieses Mal aber wegen der Frage, ob er dazu schreiben sollte, welche Ressourcen gemeint waren. Eigentlich erschien es ihm absolut unwichtig, andererseits wären seine Ausführungen irgendwann einmal vielleicht das einzige Zeitzeugnis. Aber wenn er ehrlich war, wusste er es selbst nicht so genau. Zu den Zeiten des Krieges war er gerade mit einigen anderen Dingen beschäftigt gewesen. Also entschied er, dass es ohnehin gleichgültig war. Die Soldaten kämpften verbissen, bis zu jenem Moment, in dem ein furchterregendes und markdurchdringendes Kreischen die Schlacht unterbrach. Zum dritten Mal in Folge hielt er inne, innerlich lachte er bereits darüber und fragte sich, ob er seine Aufzeichnungen so jemals beenden könnte. Aber zumindest pausierte er dieses Mal nur, um sich selbst zu dieser Formulierung zu gratulieren. Im ersten Moment glaubten alle Soldaten, sich getäuscht zu haben, doch schon einen Augenblick später brach etwas aus dem Boden hervor. Etwas, was symbolisch für das Ende einer Ära werden sollte. Er rief sich diesen Moment in Gedächtnis, die erstaunten Gesichter aller Männer, als ihnen klar geworden war, dass sich das alles wirklich vor ihren Augen abspielte. Auf die Erkenntnis war die Furcht gefolgt, dann ein Sekundenbruchteil, in dem jeder von ihnen eine Entscheidung traf – und schon im nächsten Augenblick waren sie alle geflohen. Es war die lederne Schwinge eines Drachen, die sich aus dem sich öffnenden Erdboden erhob. Ein Drache, so wie jene in unzähligen Legenden und Geschichten, die sich in diesem Augenblick schlagartig alle als Wahrheit herausstellten. Diesem einen Drachen folgten weitere seiner Art, die das Aussehen von Menschen annahmen und damit veränderte sich das Gesicht der Welt für immer. Die Menschheit, wie man sie kannte, starb langsam aus und wurde fast unmerklich durch Mischwesen ersetzt, deren Herkunft für immer ungeklärt bleiben sollte. Großstädte verwaisten, weil die neuen Rassen es vorzogen, sich in kleineren Kolonien zusammenzurotten. Die alten Grenzen wurden aufgelöst, neue Länder entstanden, neue Religionen wurden gegründet. Dieses Mal hielt er inne, um leise zu seufzen. Noch fiel es ihm schwer, darüber zu schreiben, immerhin war es noch nicht allzu lange her. Aber er hatte beschlossen, das einmal festzuhalten, also war es möglicherweise besser, es auch bis zum Ende durchzuziehen. Das neue Gesicht der Welt bietet neue Herausforderungen, für jede neue Rasse, aber auch für die aussterbende Menschheit. Ich bin einer der ersteren Gruppe, einer der allerersten, wie ich zu behaupten wage. Deswegen fühlte ich, dass es meine Verantwortung war, dies niederzuschreiben. Dabei war die Idee gar nicht von ihm selbst gekommen. Er warf einen Blick über seine Schulter auf die andere Seite des Raumes. Dort, in einem Bett, das kaum von dem Licht der Laterne berührt wurde, lag jene Person, die ihn in einem scherzhaften Ton dazu aufgefordert hatte und schlief, um sich von den zahlreichen Verletzungen zu erholen. Eigentlich hätte er die Geschichte dieses Mannes eher für aufschreibenswert befunden, aber wenn er sagte, dass es besser sei, wenn es seine Geschichte war, dann sollte es so sein. Er richtete seinen Blick wieder auf das beschriebene Papier und stellte fest, dass noch etwas ganz Entscheidendes fehlte. Russel Lionheart, am 25. August 2781. Kapitel 1: Der Kaiser der Drachen --------------------------------- Eines jener neuen Reiche, die nach dem vierten Weltkrieg entstanden waren, war Drakani. Geografisch nach heutigen Standpunkten bemessen, befand es sich dort, wo einst China gewesen war. Der Großteil der Bevölkerung bestand aus Drachenmenschen, jener neuen Rasse, die sich dort mit Vorliebe versammelte, um unter Ihresgleichen zu sein. Es gab noch normale Menschen und auch andere Rassen, aber jede von ihnen versuchte, unter sich zu bleiben. Die Menschen, früher so verfeindet miteinander, rückten zusammen, um sich gegen den gemeinsamen Feind zu verteidigen und als Antwort darauf zogen auch die anderen Rassen es vor, unter sich zu bleiben. Regiert wurde dieses Volk ebenfalls von einem der ihren, auch wenn das nicht immer so gewesen war. Im Jahr 2901 war den versammelten Bewohnern erstmals ins Bewusstsein gerückt, dass sie jemanden brauchten, dem sie folgen könnten, der ihnen eine gemeinsame Identität außer dem Dasein als Drachenmenschen gab, immerhin hatten alle anderen Völker auch so jemanden. Just in jenem Jahr tat sich ein bis dahin unbekannter junger Mann besonders hervor. Albus de Silverburgh besiegte zahlreiche Monster und auch Banditen, die das Land unsicher machten und auch im Umgang mit anderen Menschen bewies er rasch Führungsqualitäten, so dass er mit einer überwältigenden Mehrheit zum Anführer bestimmt wurde und er sich dann selbst zum Kaiser ernannte. Bald darauf gründete er eine Familie und dank seines neuen Status war es ohne jede Frage, dass seine Kinder die Thronfolge im Fall seines Todes übernehmen sollten. So kam es, dass im Jahr 3000, dem Jahr, in dem unsere Geschichte beginnt, sein jüngster Sohn Ryudo, der selbst in seinem Volk von allen nur Ryu genannt wurde, den Titel Kaiser innehatte – auch wenn ihm das nicht sonderlich gut gefiel. Mühsam unterdrückte er ein Gähnen, während er dem heutigen Bericht seines Beraters lauschte. Immer wieder fielen ihm Strähnen seines violetten Haares in die Stirn, die seine Sicht beeinträchtigten, weswegen er sie fahrig zurückstrich. Auch wenn sein Berater, ein älterer Herr, dessen Haar bereits ergraut und dessen Gesicht von Falten gezeichnet war, es sich nicht anmerken ließ, wusste Ryu ganz genau, dass seine eisblauen Augen hinter den Brillengläsern jede Bewegung, die er tat, bemerkten und sie sich gedanklich notierte, um es ein andermal zur Sprache oder direkt einen Friseur zum Kaiser zu bringen. Zumindest waren die Audienzen bereits vorbei, das war für ihn um einiges schlimmer als die Stunden, die er mit seinem Berater verbrachte. Es störte ihn nicht, mit so vielen Menschen zu tun zu haben, er genoss den Kontakt zu seinem Volk, aber manche von ihnen kamen mit derart lächerlichen Anliegen zu ihm, dass es ihm grauste, besonders da jeder von ihm erwartete, eine Lösung für diese Probleme zu finden. Aber was sollte man jemandem antworten, der wissen wollte, wie er seine Spielschulden bezahlen sollte? Ryu fragte sich ohnehin, warum es so überraschend viele Spieler in seinem Volk gab, die sich deswegen verschuldeten... oder waren es immer dieselben, die stets erneut mit dem Problem zu ihm kamen? Das einzig Schlimme an den Stunden mit seinem Berater, war der Ort an dem diese Unterredungen stattfanden. Statt im weiträumigen Audienzsaal, saßen sie in einem Raum hinter diesem, der wesentlich kleiner war. Ein großer Schreibtisch fand darin Platz, so wie drei Stühle – mehr als drei Leute darin würden nur zu Beklemmungen führen – und ein gut gefülltes Bücherregal, allerdings kannte Ryu von all den darin befindlichen Folianten nur die Titel, gelesen hatte er sie nie. Ansonsten gab es nur noch ein Fenster, durch das milchiges Licht hereinfiel, das aber nie geöffnet wurde, so dass die Luft stickig war und einen dazu verleiten wollte, zu gähnen. Aber ein Gähnen hätte nur dazu geführt, dass auch dieses notiert und gegen ihn verwendet worden wäre. Er betrachtete seinen Berater oft nicht als jemand, der für, sondern eher gegen ihn arbeitete – aber das war auf sein junges Alter zu schieben, wie seine ältere Schwester Joy immer sagte. „Eure Hoheit?“ Die Stimme seines Beraters riss ihn aus den Gedanken und lenkte ihn wieder auf das eigentliche Gesprächsthema. „Was ist los?“ Der Mann schüttelte tadelnd mit dem Kopf. „Ihr dürft nicht einfach mit Euren Gedanken fortschweifen, hier geht es immerhin um wichtige Dinge.“ Am Liebsten hätte er erwidert, dass er all das, was besprochen wurde, nicht als wichtig erachtete, aber er beließ es dabei, dass er das lediglich dachte. Sein Berater, so sehr er ihn auch manchmal als Feind betrachtete, war wichtig für ihn, es wäre kontraproduktiv, ihn gegen sich aufzubringen, nicht zuletzt, weil das zu Ärger mit Joy geführt hätte. „Verzeiht, Sir Pail.“ Argus Pail war nach Albus' Tod von Joy zu Ryus Berater ernannt worden, sie vertraute diesem Mann, also musste Ryu das ebenfalls tun. Meist fiel es ihm nicht sonderlich schwer, bei faktischen Fragen zweifelte er auch nicht an dem Wissensstand des Mannes, aber er war jung und wollte eigentlich andere Dinge tun als mit einem alten Mann über irgendwelche Bedürfnisse des Landes zu sprechen. Argus verstand das entweder nicht oder es war ihm zum Wohle des Landes egal und das wiederum störte Ryu noch mehr, auch wenn er wusste, dass er es nicht böse meinte. „Worum ging es nochmal?“ In Argus' Augen leuchtete erneut Tadel auf, aber schon im nächsten Moment kehrte er zu seiner altbekannten Professionalität zurück. „In der Bevölkerung wächst die Befürchtung vor den Menschen in Ektorn.“ Südlich von Drakani, in etwa dort, wo sich einst Indien befunden hatte, existierte das Land Ektorn, eine der letzten Bastionen der aussterbenden Menschen. Es war bekannt, dass sie die Bewohner ihres Nachbarlandes fürchteten und sie den Verlust ihrer eigenen Zivilisation beklagten. Das wiederum flößte Ryus Volk Furcht ein und ließ sie glauben, dass die Menschen beständig planten, sie auszulöschen. In unregelmäßigen Abständen wurden dann Gerüchte laut und Ryu musste diese wieder entkräften, sei es durch eine Ansprache oder durch ein spontan organisiertes Fest. Zumindest Feste waren ein guter Grund, um Kaiser zu sein, aber wenn er zu viele in einem Jahr gab, erntete er wieder Tadel von seinem Berater. „Dasselbe wie immer?“ Argus schüttelte mit dem Kopf. „Dieses Mal halten sich die Gerüchte hartnäckig, mit den üblichen Methoden wird das nicht getan sein, fürchte ich.“ Aufmerksam blickte er Ryu an, wie üblich, wenn sich ein neues Problem auftat. In solchen Momenten wollte er wissen, ob der Kaiser in der Lage wäre, sich etwas einfallen zu lassen, das dieses Problem klärte. Aber wie immer blieb sein Gehirn leer, keine Antwort tauchte aus den Tiefen seines Bewusstseins auf. In solchen Momenten war er davon überzeugt, dass Seline die bessere Kaiserin geworden wäre, ihr wäre bestimmt in jeder Situation etwas eingefallen. Er hob die Schultern. „Ich weiß nicht, was wir tun könnten.“ Argus schloss die Augen, was bedeutete, dass er innerlich seufzte, doch statt einen eigenen Plan zu präsentieren, wechselte er das Thema und setzte die Besprechung fort als hätte er das eben nie erwähnt und als wäre es eigentlich gar nicht weiter wichtig. Ryus Gedanken drehten sich allerdings weiterhin um dieses Thema, was in ihm den Wunsch weckte, mehr über das Gerücht zu erfahren, er musste wissen, was in der Stadt erzählt wurde. Möglicherweise würde ihm dann auch ein Einfall kommen, was er dagegen tun könnte. Aber ganz so einfach durfte er den Palast nicht verlassen, deswegen müsste er sich etwas anderes einfallen lassen. Als die Besprechung schließlich endete und er sich auf den Weg zum Speisesaal machte, um das Abendessen einzunehmen, hatte sich bereits ein Plan in ihm gefestigt, den er direkt im Anschluss umzusetzen gedachte. Ein roter Teppich dämpfte seine Schritte. Links und rechts davon war der weiße Boden zu sehen, der jeden Tag gesäubert wurde, so dass man sich regelrecht darin spiegeln konnte. Rechts von ihm, an der weißen Wand, waren in regelmäßigen Abständen die Wappen der Familie Silverburgh zu sehen, ein schlangenförmiger Drache, der sich kunstvoll wand, um sich selbst in den Schwanz zu beißen, eingerahmt von einem Kreis. Links von ihm war eine Fensterfront durch die man in den schattigen Innenhof sehen konnte, in dem sich ein kleiner Tempel befand, den eine unheilvolle Aura umgab, weswegen kaum jemand sich in dessen Nähe traute. So gut wie jeder Gang im Palast war nach diesem Muster aufgebaut, weswegen er selbst nach 18 Jahren manchmal noch Probleme hatte, sich zurechtzufinden und nicht selten ganz woanders landete als eigentlich beabsichtigt. Außer ihm befanden sich auch mehrere Dienstmädchen auf dem Gang, die diesen im Gegensatz zu ihm allerdings beschäftigt durchquerten. Dennoch fand jedes von ihnen noch die Zeit für eine kurze Verbeugung und eine respektvolle Begrüßung, wenn es an ihm vorbeiging. Er erwiderte jeden Gruß mit einem einstudierten Lächeln. Früher einmal war es noch ehrlich gewesen, damals hatte er auch versucht, die Namen der Angestellten zu lernen, damit er diesen bei der Begrüßung nennen könnte, aber den Plan bald wieder verworfen, weil es aussichtslos gewesen war, es gab einfach zu viele – oft wechselnde – Angestellte. Endlich angekommen, blieb er für einen kurzen Moment wieder stehen, um durchzuatmen, da sich das so gehörte, ehe man in einen Raum eintrat. Ihm war nicht aufgefallen, wie hastig er gelaufen war, aber nun holte ihn die Erschöpfung ein, was ihm wieder einmal zeigte, wie wenig Zeit er für sein Kampftraining aufbringen konnte. Er öffnete die viel zu schwere, viel zu dunkle Tür, die in den Speisesaal führte. Der Raum war geradezu lächerlich groß, wenn man bedachte, dass nur ein großer Tisch darin stand, der Platz für etwa zwanzig Leute bot. Früher hatte er mit seinen Eltern und seinen beiden älteren Schwestern hier gegessen. Seit dem Tod seiner Eltern allerdings, musste er allein essen. Joy war stets beschäftigt und die älteste Schwester, Seline, war auf eine Reise gegangen, die offenbar nie enden würde. Da ihm das aber zu einsam geworden war, hatte er eines Tages seinen Leibwächter gebeten, mitzuessen – und das war zu einer Gewohnheit geworden. Dementsprechend befand er sich bereits hier und unterhielt sich mit einem der Küchenmädchen, wobei er sich immer wieder mit der Hand durch das schwarze, zu einem Pferdeschwanz gebundenem Haar fuhr. Sein Name war Dracon Lionheart und er war dem Kaiser mehr vertraut als sein eigener Vater und nicht selten hatte er sich bereits gewünscht, dass dieser Mann wirklich sein Vater wäre. Dann wäre er nicht an all diese Pflichten gebunden und könnte tun und lassen, was er wollte. Außerdem sahen sie sich ähnlich, wie der Kaiser fand, dieses leicht feminin wirkende, spitz zulaufende Gesicht, die feingliedrigen Finger... es war eine Schande. Lionheart unterbrach sein Gespräch und wandte sich Ryu zu, als er diesen bemerkte. „Eure Hoheit, wie schön, Euch zu sehen.“ Seine blauen Augen verrieten, dass er sich wirklich freute, anders als wenn er mit so manch Angestellten im Palast sprach. Er stand nicht auf, um sich zu verneigen, das bereits stehende Küchenmädchen machte allerdings sofort einen Knicks, als ihr ebenfalls bewusst wurde, dass er hier war. „Ich werde das Essen sofort servieren!“ Damit wirbelte sie bereits davon in Richtung Küche. Ryu setzte sich gegenüber von Lionheart an den Tisch und atmete erleichtert auf. „Endlich ist der Tag heute vorbei.“ Der Leibwächter schmunzelte. „Anstrengend?“ „Langweilig“, erwiderte Ryu seufzend. „Dasselbe wie immer. Audienzen, Beratungsgespräch...“ Er legte die Stirn in Falten, als er wieder daran dachte, was Argus ihm erzählt hatte. „Lionheart, habt Ihr von den neuen Gerüchten über Ektorn gehört?“ Im Gegensatz zu ihm durfte sein Leibwächter den Palast verlassen, weswegen er sich bei ihm oft über Gerüchte informierte, die im Umlauf sein sollten. Aber an diesem Tag enttäuschte er ihn, er schüttelte mit dem Kopf. „Nicht, dass ich wüsste, aber ich war auch schon eine Weile nicht mehr außerhalb des Palastes unterwegs.“ Im selben Moment wurden sie beide von demselben Gedanken heimgesucht. Lionheart schmunzelte. „Scheint als würden wir heute Nacht wieder einen kleinen Ausflug unternehmen.“ Ryu nickte zustimmend und endlich einmal lächelnd. „Ja, so sieht es aus. Es ist schon eine Weile her, nicht wahr?“ Früher hatten sie sich oft aus dem Palast geschlichen, um in der Hauptstadt etwas zwanglose Zeit zu verbringen, aber seit gut einem Jahr war das kaum noch möglich gewesen, weil Ryu nachts zu müde gewesen war und seinen Schlaf gebraucht hatte. Außerdem waren sie einmal von einer sehr eifrigen Wache erwischt worden, der Tadel von Joy klang ihm an diesem Tag noch in den Ohren. Dementsprechend aufgeregt waren er und Lionheart auch. Beide waren nicht sehr von dem Leben im Palast angetan, obwohl einer von ihnen sogar hineingeboren worden war. Ständig wurde man beobachtet, überwacht und man durfte kaum einen Schritt hinauswagen. Es war ein Leben im goldenen Käfig und Ryu hasste es mit jedem Jahr mehr. Er wusste, dass es Lionheart genauso ging und war daher dankbar, dass sein Leibwächter dennoch blieb, obwohl ihm freigestellt war, zu gehen. Ohne seinen Vertrauten wäre das Leben noch um einiges eintöniger. Als das Küchenmädchen mit einem kleinen Servierwagen zurückkehrte, schwiegen beide wieder, damit außer ihnen niemand etwas von ihren Plänen erfahren würde. Aber beiden genügte ohnehin ein Blick, um klarzustellen, dass sie wussten, wo und wann sie sich später treffen würden. Während des Essens sprachen sie, aufgrund der Anwesenheit des Küchenmädchens, nur über all jene Dinge, die Ryu im Laufe des Tages erlebt hatte. Meist war es immer dasselbe, denn als Kaiser erlebte er nicht sonderlich viel Abwechslung, aber Lionheart lauschte ihm immer geduldig und manchmal bot er sogar Lösungsansätze, die er zuvor nicht hatte sehen können. Aber wann immer Ryu von den verschuldeten Spielern sprach, lachte der Leibwächter immer nur. Als sie sich nach dem Essen wieder voneinander verabschiedeten, sahen sie sich erneut mit einem verschwörerischen Blick an, den keiner außer ihnen zu deuten wusste – zumindest glaubten sie das. Ryu legte den Weg in sein Zimmer zurück. Seit seiner Geburt lebte er in diesem Raum, selbst eine seiner ersten Kindheitserinnerungen beinhaltete dieses Zimmer. Es war geradezu riesig, das fand selbst er, obwohl er es gar nicht anders kannte. Das Buchregal, das eine ganze Wandseite einnahm und bis an die Decke reichte, beinhaltete mehr als dreihundert Bücher, die er alle bereits mehrmals gelesen hatte, nicht wenige davon waren sogar schon richtiggehend abgegriffen. Auf seinem Schreibtisch befand sich alles, was man zum Briefe schreiben brauchte, obwohl er ohnehin nie dazu kam, einen zu schreiben und er nicht einmal wüsste, an wen er einen schicken sollte. Selbst die kaiserlichen Briefe wurden von einem Sekretär geschrieben, so dass er sie nur noch unterschreiben musste. Er öffnete die Balkontür und ließ die kühle Abendluft herein. Früher hatte er abends oft seinen Ausblick über die gesamte Stadt bewundert, aber inzwischen war er davon müde geworden, so dass er sich nach tiefem Durchatmen wieder abwandte und zu seinem Bett hinüberging. Es war ein Himmelbett mit Vorhängen, die man schließen konnte, wenn man von der Welt nichts mehr wissen wollte, aber er tat das nie, nicht einmal, wenn er wirklich in einer solchen Stimmung war. Da es noch einige Stunden dauern würde, bis er sich gefahrlos mit Lionheart treffen könnte, ließ er sich auf das viel zu weiche Bett nieder. Nach dem langweiligen Tag, der viel zu früh begonnen hatte, schafften es die Geräusche der Stadt rasch, ihn in einen unruhigen Schlaf zu wiegen. Blut. Es war eindeutig Blut, das auf seinen Händen klebte und von dem Rot langsam zu Braun wurde, während es trocknete. Sein gesamter Körper erschauerte unter der Erkenntnis. Eine Stimme erklang, die undeutlich und wie aus weiter Ferne seinen Namen rief. Die Stimme war süßlich, versuchte, ihn aus seinem Versteck zu locken, aber er wusste, dass das eine schlechte Idee war. Das Blut auf seinen Händen kam immerhin nicht von ungefähr, die Ursache war der Rufende. Auch wenn es ihm nicht gefiel, aber er musste die Leiche zurücklassen. Er schloss die Augen des Toten, murmelte eine leise Entschuldigung und richtete sich dann auf. Hastig begann er zu rennen, zwischen den Bäumen hindurch, lediglich von dem wenigen Mondlicht, das durch die Blätter fiel, begleitet. Sein Blut rauschte in seinen Ohren, er konnte sein eigenes, stockendes Atmen hören, während er sich seinen Weg durch den Wald bahnte. Während er rannte, jagten sich gleichzeitig seine Gedanken durch seinen Kopf und verhinderten, dass er einen davon weiter verfolgen konnte. Der Tote, das Blut, der Verrat... all das wollte er genauer durchdenken, ohne das auch nur im Mindesten zu schaffen. Eine plötzliche Bewegung vor ihm ließ ihn innehalten. Eine Gestalt war vor ihm aufgetaucht, doch bevor er diese im Mondlicht erkennen konnte, spürte er eine weitere Bewegung mehr als dass er sie sah – und im nächsten Moment spürte er ein heftiges Brennen an seinem Hals. Er wollte schreien, aber nur ein Krächzen erklang, während er gleichzeitig fühlte, wie Blut aus der neu geschaffenen Wunde sickerte. Langsam stürzte er zu Boden, zu kraftlos, um seinem Gegenüber auch nur einen vorwurfsvollen Blick zu widmen. Dieser wandte sich von ihm ab und ging langsam davon. Ehe ein schwarzer Schleier über sein Bewusstsein fiel, konnte er noch einmal die Stimme des anderen hören, die jede Emotion vermissen ließ: „Keiner von ihnen wird überleben, kein einziger.“ Kapitel 2: Inkognito -------------------- Ryu erwachte, als das Läuten der Glocken im Uhrturm durch die geöffnete Balkontür hereindrang. Während er sich aufsetzte, griff er sich unwillkürlich an den Hals, aber wie gewohnt fand er keine Verletzung. Es war nicht das erste Mal, dass er diesen Traum hatte, aber er schaffte es einfach nicht, ihn zu deuten oder möglicherweise irgendwo einzuordnen. Niemals war ihm etwas Derartiges geschehen, noch kannte er irgendjemanden, dem es einmal passiert sein könnte. Oft hatte er sich bereits den Kopf darüber zerbrochen, aber nie war er zu einem Ergebnis gekommen – und in dieser Nacht blieb ihm auch keine Zeit weiter darüber nachzudenken. Eilig erhob er sich von seinem Bett und trat an den Schrank, um sich dort zwischen edlen Roben und aufwändig verzierten Anzügen für besondere Gelegenheiten, Kleidung herauszusuchen, die zumindest ein wenig unauffällig war und ihn nicht sofort als Mitglied der Kaiserfamilie identifizierte. Wenn er normalerweise mit Lionheart den Palast verließ, um dem adeligen Leben zumindest für ein paar Stunden zu entfliehen, war es nicht notwendig, irgendeine gedeckte Kleidung zu tragen, da genügten die Jagd- oder Fechtkostüme, immerhin verließen sie stets die Stadt und dort draußen war es egal, was sie trugen. Aber einzig für derartige Gelegenheiten hatte der Hofschneider, den Ryu schon von kleinauf kannte, ihm einige gewöhnliche Stücke geschenkt. Eine einfache, dunkle Hose, ein hellbraunes Hemd und eine dunkle Jacke, dazu noch die passende Mütze, ähnlich jener, die sie oft von Zeitungsjungen getragen wurden, wie er wusste. Kaum hatte er sich all das angezogen, fühlte er sich auch schon nicht mehr wie ein Kaiser, jedenfalls nicht mehr vollständig. Aber auch wenn er sich nun normal fühlte, der Fakt blieb, dass er zu einer adeligen Familie gehörte und daran würde auch diese Kleidung nichts ändern. In solchen Momenten beneidete er wieder Seline und hoffte gleichzeitig erneut, dass sie bald wieder zurückkommen würde, um ihm mehr Geschichten von draußen zu erzählen. Aber auch diesen Gedanken verwarf er wieder, als er in seiner Verkleidung durch die Gänge des Palastes eilte, um sich mit Lionheart zu treffen. Da es bereits auf Mitternacht zuging, fand er, wie üblich, kaum noch Angestellte, lediglich vereinzelte Wachen waren außer ihm noch unterwegs, aber da er die immergleichen Muster kannte, nach denen sie patrouillierten, konnte er ihnen geschickt ausweichen. So erreichte er schließlich den so gut wie nie bewachten Seitengang, obwohl inzwischen jeder von dem dort versteckten Weg wusste, der direkt in die Stadt führte – aber dort selbstverständlich nicht von jedem geöffnet werden konnte, damit keine unbefugten Personen einfach Zutritt in den Palast bekamen. Verborgen hinter einem Wandteppich, konnte man eine einfache Tür finden, frei von jeder Verzierung, gleich welcher Art und diese führte zu einer Treppe an deren Fuß sich der Gang befand. Er war kaum beleuchtet und es gab auch keinerlei sichtbare Lichtquellen, aber dennoch konnte man einen unwirklichen Schimmer wahrnehmen, der einen durch diesen Bereich führte. Im Schein dieses Lichts entdeckte Ryu seinen Leibwächter, der mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt dastand und nur auf ihn wartete. Seine Kleidung entsprach ohnehin immer dem, was als unauffällig bezeichnet werden konnte, hauptsächlich weil sie einfach dunkel und vollkommen ohne jede Verzierung war – und noch dazu besaß er einen zu allem passenden Reiseumhang, der ihn zusätzlich verschleierte. „Bist du bereit?“ Im Laufe der Jahre hatte sich Lionheart angewöhnt, ihn zu duzen und keine Rücksicht mehr auf den Standesunterschied zu nehmen, sofern sie unter sich waren. Ryu störte sich nicht daran, sondern empfand es als angenehme Abwechslung, deswegen widersprach er nicht. Er nickte zustimmend auf die Frage seines Leibwächters und setzte sich sofort in Bewegung. „Wir können gehen.“ Der Geheimgang war praktisch, aber auch lang – und durch die darin herrschende Ödnis auch alles andere als geeignet, um Kurzweil entstehen zu lassen, dadurch wirkte der Weg doppelt so lang und durch Lionhearts andauerndes Schweigen sogar fast dreimal so sehr. Normalerweise verspürte Ryu eine besondere Form von kindlicher Aufregung, wann immer er durch diesen Gang lief, weswegen ihn die Länge nicht so sehr störte. Aber an diesem Tag war es eher ein nervöses Zwicken in seinem Inneren, das die Zeit weitaus langsamer vergehen ließ als sie eigentlich sollte und irgendwann fühlte es sich sogar so an als wäre er bereits seit Tagen unterwegs. Am Liebsten wäre er wieder umgedreht. „Du musst dir keine Sorgen machen“, sagte Lionheart plötzlich. „Es wird alles gut ausgehen – und sicherlich ist an den Gerüchten nichts dran.“ „Ich wünschte, ich könnte das glauben“, erwiderte Ryu. Normalerweise hielt er nicht sonderlich viel davon, wenn jemand sagte, dass er etwas einfach wusste, aber in diesem Fall betraf es ihn, sehr zu seinem Ärger, selbst. Er wusste einfach, dass mehr hinter diesen Gerüchten steckte. Nicht nur, weil Argus es vermutet hatte, es war ein Gefühl tief in seinem Inneren, das an ihm nagte und ihm riet, schnellstmöglich etwas zu unternehmen und sich etwas einfallen zu lassen. Aber dafür musste er zuerst mehr über das erfahren, was sich alle auf den Straßen erzählten. Warum konnte Sir Pail mir nicht einfach sagen, woraus genau die Gerüchte bestanden? Oder hat er das vielleicht, während ich nicht zugehört habe? Joy war eindeutig im Recht gewesen, als sie angemerkt hatte, dass er es noch bereuen würde, seinem Berater nicht zugehört zu haben. Andererseits war dies auch ein willkommener Ausflug in die Stadt. Er war hin und her gerissen, ob er bereuen oder sich selbst beglückwünschen sollte. Seine Überlegungen endeten erst, als sie an einer Treppe ankamen an deren obersten Absatz eine Tür war, die sie in ein bestimmtes Gebäude der Stadt entlassen würde. Lionheart zog einen Messingschlüssel hervor und öffnete damit das Schloss, so dass sie durch die Tür treten konnten. Kaum standen sie im Kellerraum jenseits des Ganges, war es, als ob ein Zauber von ihnen abfallen würde. Gedämpfte Musik drang aus einem der oberen Stockwerke, begleitet von dem Lachen der Tavernen-Besucher. Bei seinem ersten Ausflug in die Stadt, hatte Ryu sich gewundert, wieso der Geheimgang ausgerechnet in einer Taverne endete. Lionheart war, mit einem Schmunzeln im Gesicht, schnell dabei gewesen, ihm zu erklären, dass Albus, der bei der Planung des Palasts und der Stadt involviert gewesen war, diese Verbindung extra geschaffen hatte, damit er sich alle paar Tage hinausschleichen und etwas trinken gehen könnte. Ryu wusste nicht, was er davon halten sollte, deswegen versuchte er lieber, sich keine zu großen Gedanken um die Vergangenheit seines Vaters zu machen. „Sonderlich besorgt klingen die nicht gerade“, bemerkte Lionheart, als er das Lachen hörte. Ryu schloss die Tür wieder, worauf das Schloss automatisch zuschnappte und sich wieder verriegelte. Als zusätzliche Sicherheitsmaßnahme, wurde die Tür noch dazu von einem Zauber verschleiert, der es nur ihm und Lionheart erlaubte, sie zu sehen. Für alle anderen war dort nur eine vollkommen normale Wand. „Der Eindruck kann täuschen“, erwiderte Ryu schließlich. „Aber im Schankraum erfahren wir sicherlich mehr.“ Lionheart nickte ihm zu und verließ dann gemeinsam mit ihm den Kellerraum, um die dahinter liegende Treppe hinaufzusteigen und den Schankraum zu betreten. Dort herrschte bereits lebhaftes Treiben, allerlei Personen drängten sich um die kleinen, runden Tische oder saßen gemeinsam an der Theke und unterhielten sich lachend, die Hand immer fest um die Bierkrüge gelegt, als müsste man sich an ihnen festhalten, da nur sie Sicherheit boten. In einer Ecke stand ein Klavier, auf dem irgendjemand eine fröhliche Melodie spielte. Der gesamte Raum wurde von einem warmen gelben Licht erhellt, dies war das einzige, was Ryu an diesem Ort mochte. Der stechende Geruch von Alkohol, der sich mit den Reinigungsmitteln für die Gläser biss, kitzelte dagegen unangenehm in seiner Nase und der Lärm der anwesenden Masse ließ seine Ohren schmerzen. Normalerweise verließen er und Lionheart diesen Ort immer wieder rasch, aber im Moment war ihm das nicht möglich, da es immerhin um Gerüchte ging und dies war der beste Ort dafür. „Verhalte dich unauffällig, wie immer“, wies Lionheart ihn flüsternd an und begab sich dann mit entschlossenen Schritten an die Theke. Mit ein wenig Ellenbogeneinsatz verschaffte er sich genug Platz, um sich gegen den Tresen zu lehnen, keiner der bereits dort Anwesenden störte sich daran. Ryu blieb allerdings in einigen Schritten Entfernung stehen und beobachtete das vor sich Gehende. Der Wirt, ein noch immer jung wirkender Drachenmensch mit kantigem Gesicht und moosgrünem Haar, wandte sich Lionheart zu. „Was darf es sein?“ Er wischte sich die Hände an der schwarzen Schürze ab, weiße, mehlige Spuren blieben zurück. Lionheart kümmerte sich nicht darum. „Informationen, wie wäre es damit?“ Zur Unterstützung seiner Bitte holte er eine goldene Münze aus seiner Tasche hervor und hielt diese demonstrativ zwischen Zeige- und Mittelfinger. „Informationen worüber?“, fragte der Wirt ohne Interesse. „Gerüchte wären ein guter Anfang. Was spricht man aktuell auf den Straßen über Ektorn?“ Der Wirt nahm ihm die Münze nur allzugern ab, ehe er sich zu einer Antwort berufen fühlte: „Man munkelt, dass die Menschen eine Methode gefunden haben, um alle Einwohner von Drakani auf einen Schlag loszuwerden.“ Ryu konnte sich nicht vorstellen, womit das möglich sein sollte, aber möglicherweise mangelte es ihm auch einfach an der entsprechenden Fantasie, was auch erklären dürfte, weswegen es ihm so schwerfiel, Lösungen für Probleme zu finden. Selbst im Moment fehlte ihm eine passende Lösung, falls das Gerücht stimmen mochte. „Um welche Methode mag es sich dabei handeln?“, hakte Lionheart an Ryus Stelle nach. „Das solltest du lieber Rubens fragen – sofern du dich traust.“ Mit einem amüsierten Schmunzeln ging der Wirt wieder davon, während Lionhearts Schultern sich bereits versteiften. Als er herumfuhr, um wieder zu Ryu zurückzukehren, merkte dieser, dass sein Leibwächter plötzlich angespannt wirkte, was er bislang noch nie zuvor bei ihm gesehen hatte. Er lachte ein wenig nervös. „Oh, ich denke, wir sollten die Sache vergessen und wieder nach Hause gehen.“ „Weswegen? Wir müssten doch nur diesen Rubens fragen, oder?“ Das schien ihm keine allzu großartige Sache zu sein, deswegen war er ratlos, warum sein Leibwächter sich daran stören könnte. Aber dieser wirkte einfach nur nervös, wann immer der Name erwähnt wurde, so schien es. „Nein, das sollten wir nicht tun, finde ich. Das ist eine ganz und gar schreckliche Idee.“ Ryu wollte Einzelheiten, aber gleichzeitig wusste er, dass er diese wohl kaum bekommen würde, zumindest nicht an diesem Ort. Deswegen stimmte er zu und drehte sich um – nur um direkt in eine Person hineinzulaufen, die hinter ihm hatte vorbeigehen wollen. Er bat hastig um Verzeihung und bemerkte dabei, dass alle anderen Anwesenden schlagartig verstummt waren und sie nun anzusehen schienen. Sein wesentlich größerer Gegenüber musterte ihn finster von oben herab, aber sein Blick, der offenbar einschüchternd wirken sollte, funktionierte nicht bei Ryu, wohl nicht zuletzt, weil er sich absolut sicher fühlte. „Was willst du denn?“, fragte der Mann mit brummiger Stimme. Seine Fingerknöchel knackten, obwohl er sie kaum bewegte und nun wurde es Ryu doch ein wenig mulmig, da es eindeutig wurde, dass er gerade bedroht wurde. Wie ihm allerdings stets geraten worden war, bewahrte er seine Haltung und ließ sich nichts weiter anmerken. „Um genau zu sein, möchte ich nur vorbei. Ich entschuldige mich für mein respektloses Verhalten.“ In seinen Kreisen war dies die angemessene Form, sich zu entschuldigen – in jenen, in denen dieser Mann verkehrte aber offenbar nicht. Seine Mundwinkel sackten weiter nach unten, obwohl ihm das kaum möglich erschien. „Machst du dich lustig über mich, Kleiner?“ Bevor Ryu antworten konnte, packte Lionheart ihn plötzlich am Oberarm und zog ihn ein wenig von dem Mann fort, um sich zwischen die beiden zu stellen. „Sei nicht so streng mit ihm, Rubens, der Kleine ist noch neu hier, der kennt dich nicht.“ Wenn dieser Mann Rubens war, verstand Ryu ein wenig besser, weswegen Lionheart sich vor ihm fürchtete, zumindest was die körperlichen Unterschiede anging. Aber dass es da noch mehr gab, bestätigte der massige Mann ihm sofort, als er seine Aufmerksamkeit lieber dem Leibwächter zuwandte. „Dracon, ich dachte nicht, dass du dich hier nochmal blicken lässt.“ „Ach, ich hatte bislang einfach nur keine Zeit“, entschuldigte Lionheart sich nicht sonderlich reumütig. „Du weißt ja, die ganze Arbeit und so.“ „Fühlst dich wohl als was Besseres, da du im Palast arbeitest, was?“ „Aber nicht doch.“ Lionheart hob beschwichtigend eine Hand. „Ihr seid hier ganz großartige Menschen, gibt keinen Grund, euch gegen irgendwen eintauschen zu wollen. Aber irgendwas muss man doch tun für seinen Lebensunterhalt, oder?“ Obwohl Ryu überzeugt war, dass er das nur sagte, um keine weiteren Probleme zu bekommen, schmerzte es doch. Lionheart war die einzige Person, die sein Leben im Palast ein wenig erträglich machte. Wenn er daran dachte, dass dieser vielleicht wirklich einzig und allein aufgrund des Geldes blieb, entstand ein sehr beklemmendes Gefühl in seiner Brust. „Wo wir gerade davon sprechen“, begann Rubens, „du schuldest mir immer noch Geld.“ Das ist also der Grund, durchfuhr es Ryu. Darum wollte er nicht mit ihm sprechen. Lionheart hob seine freie Hand, genauer gesagt den Zeigefinger eben dieser. „Gut, dass du es ansprichst. Es ist nämlich so, ich-“ Abrupt zerrte er Ryu plötzlich quer durch den Schankraum, stürzte dabei Tische und Stühle beiseite und scheuchte damit andere Gäste auf, die empört aufsprangen. Ryu strauchelte überrascht, fing sich rasch wieder und bemühte sich dann, Schritt zu halten. Daran sie aufzuhalten dachte offenbar keiner. Die anderen wichen ihnen scheinbar instinktiv aus, obwohl die bereits Passierten ihnen stets zuriefen, die Fliehenden aufzuhalten, wohl hauptsächlich deswegen, um sich nicht Rubens Zorn zuzuziehen. Lionheart warf die Tür auf und erst als Ryu die kühle Nachtluft auf der Haut spürte, bemerkte er, dass sie nach draußen gelaufen waren, statt zurück in den Kellerraum. Doch Lionheart hielt immer noch nicht inne, sondern zog Ryu immer weiter. Als er einen Blick hinter sich warf, stellte er fest, dass niemand sie verfolgte. Entweder waren alle so verdutzt über diese Flucht oder man hielt es ohnehin für überflüssig, da man genau wusste, dass er wiederkommen würde. Viele Querstraßen weiter erst, hielt Lionheart wieder inne und ließ auch endlich Ryus Arm los, nachdem er sichergestellt hatte, dass der Kaiser sich auf eine Bank gesetzt hatte, um sich auszuruhen, was er auch dringend brauchen konnte. Seine Lungen brannten bereits von der ungewohnten Anstrengung. Aber dennoch musste er es einfach fragen: „Was sollte das?“ „Oh.“ Lionheart vollführte eine Handbewegung, als würde er etwas über seine Schulter werfen. „Das war nur Rubens. Mit dem kommt es öfter zu Problemen.“ „Er sagte, du schuldest ihm Geld.“ Ryu wusste nicht, wie viel Lionheart verdiente, aber es musste zweifelsohne mehr als genug sein, um seinen Lebensunterhalt damit zu decken – schon allein, weil er im Palast lebte und auch dort seine Mahlzeiten einnahm – weswegen er nicht glauben konnte, dass sein Leibwächter wirklich Schwierigkeiten haben könnte, damit auszukommen. „Ja“, antwortete Lionheart gedehnt. „Spielschulden.“ Ryu seufzte schwer. „Wieso haben so viele meiner Untertanen Spielschulden?“ Er war fast schon geneigt, an einen Fluch oder an eine gewisse Anfälligkeit seiner Spezies für derartige Laster zu glauben, aber zufrieden war er damit nicht. „Weil Rubens betrügt!“, sprach Lionheart voller Überzeugung. „Erst betrügt er und dann erpresst er einen und man wird seine Schulden nie wieder los, egal wie viel man ihm zahlt.“ In seinem Blick las Ryu, dass sein Gegenüber hoffte, von ihm Absolution zu erhalten, aber so einfach wollte er ihn nicht davonkommen lassen. „Wenn ihr das alle wisst, warum spielt ihr dann überhaupt mit ihm?“ In einer verlegenen Geste legte Lionheart die Fingerspitzen all seiner Finger aneinander und blickte darauf hinab. „Na ja, es ist ein wenig Abwechslung. Man hat hier ja nicht viel davon.“ Ryu ging nicht weiter darauf ein, obwohl er ihm gern eine wütende Erwiderung gegeben hätte, stattdessen ließ er den Blick schweifen, um ein anderes Problem. „Wie kommen wir jetzt wieder in den Palast zurück? Wir können nicht einfach zur Torwache marschieren und ihnen sagen, dass wir uns ausgesperrt haben.“ Lionheart schmunzelte ein wenig. „Das ist korrekt. Aber zum Glück hat Albus auch für einen solchen Fall vorgesorgt und einen weiteren Geheimgang anlegen lassen.“ Bereits nach diesen Worten wollte Ryu gar nicht mehr wissen, welche Eskapaden sein Vater mitgemacht hatte und die ihm nun verwehrt wurden, es hätte nur seinen Neid weiter angefacht. „Wo befindet sich dieser Geheimgang?“ „Ich werde mich erst umsehen müssen“, sagte Lionheart. „Warte hier solange.“ Er wartete nicht einmal die Antwort ab, sondern lief sofort los, kaum dass er den Mund geschlossen hatte. So schnell wie er ging, kam es Ryu vor als versuchte er, vor einer unangenehmen Situation zu fliehen. Noch als er bereits in einer der Straßen verschwunden war, hörte er die viel zu eiligen Schritte seines Leibwächters, der hoffentlich nicht in weitere Probleme geraten würde. Ryu selbst blieb allein zurück, auf einem kleinen Platz, der tagsüber sicherlich voller Leben und nun vollkommen leer war. Neben seiner Bank standen zwei weitere, leicht einander zugeneigt, so dass sie einen idealen Ort für kleinere Treffen darstellten. Der weiße Sand auf dem Boden schien im Mondlicht silbern zu glühen und war damit die einzige, karge Beleuchtung an diesem Ort. Grünpflanzen gab es keine, aber Ryu wusste, dass man die Anpflanzung dieser auf den Hauptplatz und den kleinen Park begrenzt hatte. Das vereinfachte die Pflege, so lautete zumindest die offizielle Begründung und er war durchaus gewillt, sie zu glauben. Sich ihm nähernde Schritte holten ihn wieder aus seiner Gedankenwelt heraus und lenkte seinen Blick in die entsprechende Richtung, in der Erwartung, dass es sich um Lionheart handelte. Doch die Person blieb in den Schatten einer kleinen Gasse stehen, so dass er sie nicht erkennen konnte. Auch nicht die Stimme, als die Gestalt eine Frage stellte: „Kaiser Ryudo?“ Gedankenlos antwortete er mit „Ja“ und hätte sich dafür noch im selben Moment am Liebsten auf die Zunge gebissen. Da es nun aber bereits draußen war, konnte er nicht viel mehr tun als sich auf die Reaktion des anderen vorzubereiten. Ein leises, spöttisches Lachen hatte er allerdings nicht erwartet. „Gut zu wissen. Schön, Euch zu treffen, Eure Majestät.“ Ryu wollte nachhaken, um wen es sich bei dem anderen handelte und was er um diese Zeit und gerade an diesem Ort von ihm wollte, doch noch ehe er dazu kam, spürte er eine Bewegung hinter sich – und im nächsten Moment bekam er bereits einen heftigen Schlag gegen den Hinterkopf, der ihn kraftlos zu Boden sinken ließ, er spürte nicht einmal den Aufschlag seiner Knie. Alles begann vor seinen Augen, sich zu drehen, die Farben begannen zu zerfließen und ineinander überzugehen, so dass er den Mann nicht einmal erkennen konnte, als dieser schließlich doch ins Mondlicht trat und sich sogar zu ihm hinabbeugte. „Jemand hätte Euch beibringen sollen, dass es nicht gut ist, nachts durch die Gegend zu wandern“, sagte die Stimme noch amüsiert, ehe Ryu seinen Oberkörper kraftlos in den Sand fallen ließ. Zuletzt hörte er noch das Gelächter zweier Männer, ehe sich die Dunkelheit restlos über ihn senkte und ihn vorerst von der quälenden Frage, was nun geschehen würde, erlöste. Kapitel 3: Die Geburt eines Plans --------------------------------- Mit dem Bewusstsein, kehrte auch gleich der Schmerz zu Ryu zurück. Instinktiv wollte er eine Hand auf seinen pochenden Hinterkopf legen, aber seine Arme ließen sich nicht bewegen. Etwas Festes umgab seinen Oberkörper und verhinderte, dass er sich bewegen konnte. Der Geruch, den er wahrnahm, konnte er nicht einordnen. Er hatte so etwas noch nie zuvor gerochen, aber es brannte geradewegs in seiner Nase und weckte den Wunsch, endlich verschwinden zu können, irgendwohin, wo es wesentlich angenehmer roch. Also öffnete er zuerst seine Augen, um überhaupt herauszufinden, wo er sich gerade befand. Lichter flimmerten in seinem Blickfeld und schränkten dieses damit empfindlich ein, aber er merkte auch so, dass er sich ohnehin im Dunkeln befand und kaum Platz hatte, um sich zu bewegen. Vorsichtig versuchte er, seine angewinkelten Beine auszustrecken, stieß aber bald auf Widerstand. Als er sich mittels diesem versuchte, fortzuschieben, traf er auch mit seinem Rücken auf ein Hindernis. Es dauerte nur einen kurzen Atemzug – der in der stickigen Luft nicht sonderlich angenehm war –, bevor er befand, dass er in einer Kiste lag und er dringend etwas tun müsste, um das zu ändern. Nachdem seine Augen nicht mehr flimmerten und sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, blickte er an sich herab und entdeckte, dass sein Oberkörper mit Seilen gefesselt war. Die Personen, die ihn entführt hatten, wollten ihn also wirklich unbedingt behalten. „Ich habe keine Zeit dafür“, murmelte er und überlegte dann, was er tun könnte, um sich zu befreien. Eine Waffe trug er nicht mit sich und er wäre nicht einmal an diese herangekommen, also fiel diese Möglichkeit bereits aus. Um Hilfe zu rufen war sicher auch aussichtslos. Wo auch immer er sich gerade befinden mochte, er glaubte nicht, dass es in der näheren Umgebung jemanden gab, der gewillt war, ihm helfen zu wollen. Also blieb ihm kaum etwas anderes übrig, als das einzusetzen, auch wenn er es hasste, da es stets mit Schmerzen verbunden war. Er atmete tief durch und konzentrierte sich dann auf das Ziel, das er erreichen wollte. Sein Körper reagierte darauf, indem seine Zähne zu blitzenden, scharfen Spitzen anwuchsen. Seine Kopfschmerzen intensivierten sich dabei noch einmal und riefen wieder die weißen Flecken vor seinen Augen hervor. Ein leises Knurren entkam seiner Kehle, aber er schaffte es, zu seiner Erleichterung, klar im Kopf zu bleiben. Dann beugte er sich so weit vor, wie er konnte und begann damit, an seinen Fesseln zu nagen. Dabei überlegte er bereits, um weiterhin klar zu bleiben, wie er danach weiter vorgehen sollte. Wenn er sich erst einmal befreit hatte, müsste er immerhin auch aus dieser Kiste entkommen, dann von diesem Ort fliehen und anschließend herausfinden, wo er überhaupt war, um wieder nach Hause zu kommen. Das klang alles nicht sonderlich einfach, vor allem, da er normalerweise nicht in solchen Situationen war und wenn, dann war auch Lionheart da, um ihm zu helfen – aber auf diesen konnte er im Moment nicht hoffen. Er musste also alles selbst hinbekommen. Irgendwie. Als das Seil schließlich durchtrennt war, zogen sich seine Zähne wieder zurück in ihren Ursprungszustand. Probehalber bewegte er seine eingeschlafenen Arme ein wenig, um die Blutzirkulation wieder in Gang zu setzen, dann versuchte er, sich aufzurichten. Natürlich stieß er mit dem Kopf gegen den Deckel der Kiste, aber das störte ihn nicht weiter, im Augenblick half ihm das sogar. Er hob die Hände, um diese gegen den Deckel zu stemmen und setzte dann seine ganze Kraft ein, in der Hoffnung diesen hochheben zu können. So funktionierte das zwar nicht, aber einen kurzen Schmerz, der durch seinen Körper fuhr, später, gab das Holz endlich nach und er konnte den Deckel einfach beiseite schaffen. Mit einem lauten Knall fiel dieser zu Boden, aber sonst war kein Laut zu hören. Ryu kniff die Augen zusammen, als er plötzlich wieder von Licht umgeben war und blinzelte mehrmals. Zumindest war noch keinerlei Wache zu sehen oder auch nur zu hören, also gab es wohl auch vorerst nichts zu befürchten. Die Schuppen, die seine Arme übersät hatten, wandelten sich wieder zu normaler Haut, die nicht vermuten ließ, welche Kraft sich wohl dahinter verbergen mochte. Als seine Augen sich an das Licht gewöhnt hatten, stützte er sich auf den Rand der Kiste und ließ den Blick schweifen, um sich genauer umzusehen. Er befand sich anscheinend in einer Lagerhalle, die von einigen elektrischen Lampen beleuchtet wurde, was ihm nicht im Mindesten gefiel. Wo Elektrizität war, befanden sich nicht selten auch Menschen und diese galten immerhin als seine Feinde, wenn er den Berichten glauben durfte. Außer der Kiste, in der er saß, standen noch einige andere hier, allesamt in derselben Größe – er hoffte allerdings, dass niemand in diesen gefangen war. Sich selbst zählte er nicht mehr als Gefangenen, immerhin saß er nur noch freiwillig darin. Nun kletterte er allerdings doch aus der Kiste heraus, da immerhin die Möglichkeit bestand, dass er wieder gefangengenommen werden könnte, wenn er zu lange hier verweilte. Außerdem gab es da eine Sache, die ihn interessierte. Er lief zu der Kiste, die direkt neben seiner stand und blickte auf das Versandetikett. Darauf stand keinerlei Information bezüglich des Absenders, aber viel wichtiger war für ihn der Empfänger: das Königshaus von Ektorn. Ryu verschränkte die Arme vor der Brust und fragte sich, wer ein Interesse daran haben könnte, mit den Menschen zu kooperieren und was sie wohl verschickten. Aber die Kisten waren sorgfältig zugenagelt worden und ihm stand nicht der Sinn danach, noch einmal diese Kraft einzusetzen, nur um herauszufinden, was sich darin befand. Auf der Suche nach einem Ausgang lief er weiter, warf dabei immer wieder einen Blick auf die Versandetiketten, nur um festzustellen, dass es sich bei jeder dieser Kisten um eine Sendung für das Königshaus handelte. Dabei fragte er sich weiter, was ein Drachenmensch diesen wohl schicken könnten. Er verstand, dass man ihn, den Drachenkaiser, verschicken würde, wenn man dem Königshaus von Ektorn ergeben war, aber sonst? Schließlich fand er aber eine Gelegenheit, seine Neugier zu befriedigen. Eine der Kisten war noch nicht vernagelt worden, der Deckel lag nur lose obenauf, so dass er ihn ein wenig beiseite schieben konnte, um den Inhalt zu betrachten. Es waren Waffen, hauptsächlich Rapier, die fein säuberlich aufgestapelt waren. Aber das warf ihm nur wieder die Frage auf, weswegen man Ektorn Waffen liefern sollte. Vor allem solche, die Menschen als vorsintflutlich einstuften. Sie kämpften immerhin mit modernen Schusswaffen, die so manchem Drachenmenschen allein schon durch die verursachten Geräusche Respekt einflößten und deren Verletzungen sich dadurch verschlimmerten, dass oft Kugeln im Körper verblieben, die dann zu schmerzhaften Entzündungen oder sogar zum Tod führten. Alles in allem waren die Waffen der Menschen jenen aus Drakani überlegen, deswegen verstand Ryu es einfach nicht. Aber er machte sich den Umstand zunutze und nahm einen Rapier an sich, um nicht mehr vollkommen schutzlos zu sein. Im Inneren dankte er dem Umstand, dass Seline einst unbedingt hatte kämpfen lernen wollen, so dass Albus auch für ihn Unterricht organisiert hatte. Mit dem Rapier in der Hand, setzte er seinen Weg fort und gelangte bald an eine Tür, die sich kaum von dem Grau der Wand abhob, so dass er sie fast übersehen hätte. Er öffnete die Stahltür einen Spalt und lauschte in den Gang dahinter. Irgendwo, weit entfernt, hörte er ein leises Geräusch, das in rhythmischen Abständen erklang, weswegen er davon ausging, dass es nicht von Menschen verursacht wurde. Als er sicher war, dass niemand sich auf dem Gang befand, trat er auf diesen hinaus. Die kahlen Wände waren rau, das weiße Licht der Lampen ließ alles noch kälter wirken – aber vor allem sah alles absolut gleich aus. Egal an wie viele Abzweigungen er kam, jeder Gang sah aus wie der vorherige, so dass es gut möglich war, dass er nur im Kreis lief, statt irgendwohin zu gelangen. Doch schließlich, als er schon überlegte, einfach stehenzubleiben und zu warten, dass doch noch jemand vorbeikam, selbst falls es ein Feind sein sollte, gelangte er endlich an das Ende des Ganges. Über der Tür hier hing eine rote Lampe, die alles in ein unheilvolles Licht tauchte. Doch er beschloss, dieses schlechte Vorzeichen zu ignorieren und öffnete die Tür. Er fand sich in einer Empfangshalle wieder, die schon wesentlich mehr Hinweise auf die Urheber bot. Hinter der Rezeption saß niemand, aber auf der Wand war ein Emblem angebracht, das aus mehreren Blitzen in verschiedenen Orangetönen bestand. Zwar erkannte er dieses Zeichen nicht, aber er beschloss, es sich besser zu merken und im Palast Nachforschungen anzustellen. Vor der metallenen Theke der Rezeption standen zwei Sofas um einen niedrigen Tisch, auf dem sich wiederum eine Zeitung befand, die das heutige Datum trug – zumindest soweit er davon ausgehen konnte, dass er lediglich eine Nacht in dieser Kiste verbracht hatte. Auf der Titelseite stand noch nichts von seinem Verschwinden, was er als gute Zeichen nahm. Je mehr Aufruhr sein Verschwinden in der Öffentlichkeit nach sich zog, desto mehr Probleme bekam er mit seinem Berater und desto schwieriger wurde es, die Bevölkerung davon zu überzeugen, dass kein Krieg drohte, was verhinderte, dass er in eine bestimmte Position gedrängt wurde. Also musste er hier entkommen, bevor noch eine Nacht verging. Doch noch während er die aktuelle Schlagzeile betrachtete, die lediglich von einem kurz zuvor stattgefundenen Fest berichtete, hörte er plötzlich Stimmen von jenseits der Tür. Hastig begab er sich hinter die Rezeption und bückte sich dahinter, um sich zu verstecken. Während er auf dem Boden kniete, hörte er, wie die Tür geöffnet wurde und im nächsten Augenblick waren die Schritte und die Stimmen im Eingangsbereich zu hören. „Ich weiß immer noch nicht, ob das eine gute Idee war“, sagte eine Person, die, allein aufgrund der dunklen Stimme eindeutig ein Mann sein musste. „Wir könnten damit allerlei Leute gegen uns aufbringen.“ Das spöttische Lachen, das als Antwort darauf kam, erkannte Ryu sofort. Es war dasselbe, wie in der Nacht zuvor, als er niedergeschlagen worden war. Wut wallte in seinem Inneren auf, als er wieder daran dachte, wie leicht er sich hatte übertölpeln lassen, aber im Moment war dafür keine Zeit, wie er wusste. „Der König sagte, er wird uns reich belohnen, wenn wir ihm dieses Geschenk machen“, antwortete die zweite Stimme, zu der auch eindeutig das Lachen gehörte und der er allein anhand dessen kein Geschlecht zuordnen konnte. „Also stell dich nicht so an. Wir müssen nur die Kiste zunageln und sie dann nach Ektorn begleiten. Morgen um diese Zeit sind wir schon gemachte Leute.“ „Wir hätten sie sofort vernageln sollen“, brummte die erste Stimme. Ausgehend von den Schritten nahm Ryu an, dass es wirklich nur zwei Personen waren. Wenn er schnell genug war, könnte er sie überrumpeln und sie dafür bezahlen lassen, dass sie ihn an den Feind verkaufen wollten. Aber dann dachte er sich, dass er besser nichts riskieren und lieber abwarten sollte, bis die beiden fort waren, ehe er dieses Gebäude verließ und nach Hause ging. Wenn ich es überhaupt bis dahin schaffe, fuhr es ihm durch den Kopf. Wenn sie sehen, dass ich nicht mehr da bin, werden sie wissen, was Sache ist. Sie werden mich suchen – und ich habe immerhin keine Ahnung, wo ich gerade bin. Es bestand durchaus die Möglichkeit, dass der Weg in den Palast viel zu weit wäre, um ihn zu schaffen, bevor die beiden ihn einholen könnten. Um Hilfe bitten konnte er hier auch niemanden, immerhin bestand die Möglichkeit, dass noch mehr zu ihnen gehörten und er direkt in die nächste Falle lief. Aber das würde sich auch nicht ändern, wenn er nichts tat. Er verfluchte seine Unentschlossenheit, wünschte sich Lionheart an seine Seite – und war im nächsten Moment der Überzeugung, dass er nun auch noch an Halluzinationen litt. Die Eingangstür flog mit einem lauten Krachen auf und dann erklang die Stimme einer ihm nur allzu gut bekannten Person: „Das ging jetzt lange genug!“ Erst als die anderen Schritte verstummte, glaubte Ryu auch, dass Lionheart wirklich da war, was es ihm erlaubte, endlich erleichtert aufatmen zu können. „Was willst du denn?“, fragte die zweite Person spöttisch. „Hast du was verloren?“ Ein schleifendes Geräusch verriet Ryu, dass jemand sein Schwert zog und er glaubte, dass es Lionheart war, der sicher gerade die Geduld verlor, wie auch aus seiner Stimme zu schließen war: „Ich bin hier, um den Kaiser zurückzuholen! Also gebt ihn lieber direkt heraus!“ Natürlich war es sein Beruf, aber Ryu hoffte dennoch, dass es wesentlich mehr Gründe für ihn gab, als nur das Geld und die sichere Anstellung, die er verlieren würde. Zumindest in Lionhearts Stimme glaubte er, noch wesentlich mehr heraushören zu können, aber er war im Moment zu nervös, um sich darauf zu konzentrieren. Da nach wie vor nichts geschah, verlor Lionheart offenbar auch den letzten Rest Geduld und stürmte direkt auf die beiden Gegner zu, soweit Ryu das, ohne es zu sehen, beurteilen konnte. Er konnte das Aufeinanderklirren von Waffen hören, leises Keuchen und eilige Schritte, um einander, sowie dem nächsten Angriff, auszuweichen. Eigentlich glaubte Ryu nicht, sich Sorgen machen zu müssen, aber nach einem kurzen Schlagabtausch hörte er einen dumpfen Aufprall, gepaart mit einem Keuchen Lionhearts. „Wie auch immer du Leibwächter werden konntest“, sagte die zweite Stimme, „das wird wohl immer ein Rätsel für alle bleiben. Aber wir erlösen dich jetzt von deiner Unwissenheit.“ Ryu zögerte nicht länger. Hastig richtete er sich auf, damit er über die Rezeption sehen konnte. Tatsächlich lag Lionheart dort, wo zuvor der Tisch gewesen war, der allerdings unter seinem Körpergewicht nachgegeben hatte, mit schmerzverzerrtem Gesicht versuchte er gerade, sich wieder aufzurichten. Einer ihrer Feinde, ein androgyn aussehender Mann, der sein braunes Haar in einem geflochtenen Zopf trug, hielt zwei Dolche in seinen Händen und ging damit auf Lionheart zu. „Nein!“, rief Ryu aus, was die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf ihn lenkte. Der androgyne Mann wandte sich seinem Kollegen zu, einem eher grobschlächtigen Kerl, der ihn um mindestens zwei Köpfe überragte und dessen massiver Körperbau durchaus zu genügen schien, um eine einzelne Person zu tragen – zumindest erklärte Ryu sich damit, wie er hierher gekommen war. „Kümmere dich um ihn!“ Der Grobschlächtige trat vor die Rezeption und griff einfach nach Ryu, doch dieser wich bis an die Wand zurück und huschte dann zu dem Durchgang hinüber. Dabei bemerkte er, dass Lionheart es inzwischen geschafft hatte, aufzustehen und sich gegen den Androgynen zur Wehr zu setzen. Neue Kraft schien in ihm erwacht zu sein, kaum hatte er gesehen, dass Ryu wieder Hilfe brauchte. Mit nur wenigen Schwertstreichen hatte der Leibwächter seinen Feind entwaffnet und stürmte dann hinüber, um seinen Schützling zu unterstützen. Doch der Androgyne war schneller und war wesentlich realistischer, was ihre Gewinnchancen anging: „Balzac, wir verschwinden!“ Der Grobschlächtig zögerte zwar noch einen kurzen Moment, aber dann fuhr er tatsächlich herum und rannte gemeinsam mit seinem Kollegen davon. Lionheart machte keine Anstalten, sie aufzuhalten – er schien sogar eher glücklich darüber, die beiden erst einmal los zu sein – und widmete sich stattdessen lieber Ryu, der endlich wieder hinter der Rezeption hervorkommen konnte. „Ist alles in Ordnung mit dir? Ich war besorgt, als du einfach fort warst.“ „Wie hast du mich gefunden?“, fragte er, statt zu antworten. In aller Kürze erzählte sein Leibwächter ihm von einer nächtlichen Odyssee quer durch die ganze Hauptstadt, in der er all seine Kontakte und Quellen genutzt hatte, um herauszufinden, wer ein Interesse daran besitzen könnte, den allseits beliebten Kaiser zu entführen. So war er schließlich bis zum Hafen gekommen, wo er eben diese Lagerhalle gefunden hatte. Immerhin wusste Ryu nun, wo er sich befand, auch wenn das jetzt nicht mehr notwendig war. Lionheart könnte ihm immerhin helfen, nach Hause zu kommen, zumindest nachdem er etwas anderes erledigt hatte. „Können wir gehen?“, fragte sein Leibwächter schließlich. „Sir Pail wird dein Verschwinden bestimmt schon bemerkt haben.“ „Noch nicht“, erwiderte Ryu. „Es gibt etwas, das ich mir selbst ansehen muss.“ „Und was wäre das?“ Er war in dieser Nacht aufgebrochen, um Informationen darüber zu sammeln, was in Drakani über Ektorn gesprochen wurde, aber mehr als ein Gerücht über eine Methode, alle Drachenmenschen auszulöschen, war aufgrund der Ereignisse nicht herausgekommen. Das einzige, was er sonst noch in Erfahrung gebracht hatte, war die Tatsache, dass der König von Ektorn den Drachenkaiser haben wollte, weswegen auch immer. Immerhin würde es ihm nichts bringen, außer einen Krieg zu provozieren – und selbst wenn er Ryu hinrichten ließ, könnte Drakani sich einfach einen neuen Herrscher erwählen. Es machte also keinen Sinn – und deswegen gab es nur eine Sache, die er tun konnte. „Wir müssen nach Ektorn. Ich muss herausfinden, was die Menschen vorhaben.“ Lionheart hob schockiert die Augenbrauen. „Nein! Das können wir nicht machen! Also, ich kann allein den Informanten für dich spielen, aber du kannst unmöglich dort hingehen! Es ist viel zu gefährlich! Dein Volk wird-“ „Mein Volk ist mir im Moment egal“, unterbrach Ryu ihn vollkommen ruhig. „Es geht hier um etwas Persönliches. Das solltest du doch verstehen.“ Tatsächlich konnte Lionheart darauf keinen Konter geben. Stattdessen schloss er den bereits geöffneten Mund wieder und runzelte dann die Stirn. „Gut, wenn du darauf bestehst. Aber das wird kein Spaziergang, das kann ich dir gleich sagen! Es wird anstrengend, das garantiere ich dir.“ „Ich bin darauf gefasst“, sagte Ryu. Außerdem wäre das eine angenehme Abwechslung zu dem, was er im Palast alles mitmachte – und vielleicht könnte er jenes Leben dann ein wenig mehr genießen und immerhin hätte er dann einmal etwas Nützliches getan. „Gut“, sagte Lionheart mit einem Seufzen. „Wir werden dann eines der Frachtschiffe nehmen. Soweit ich weiß, fährt es nach Ektorn ... illegal natürlich.“ Damit verließ er das Gebäude als erstes und winkte Ryu einfach mit sich, in der sicheren Erwartung, dass er ihm direkt folgen würde. Dieser blieb allerdings noch einen Moment stehen und atmete tief durch. Endlich würde etwas geschehen – und er zweifelte keine Sekunde daran, dass ihm nichts zustieß, solange Lionheart an seiner Seite war. Damit das auch so blieb, folgte er seinem Leibwächter mit beschwingten Schritten hinaus und fühlte sich dabei, als würde er einem richtigen Abenteuer entgegengehen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)