Das wahre Spiel von Night_Baroness (Die Tribute von Panem) ================================================================================ Kapitel 2: Distrikt 3 --------------------- Zug rast mit einer Geschwindigkeit, die ein Laie zweifellos mit Lichtgeschwindigkeit verwechseln würde, durch die Landschaft. Meine Mutter und ich sitzen in einem der teuren Einzelabteile, die in bisschen wie kleine Wohnräume mit Sofas, Tischen im Kolonialstil, Schnörkeln und Ornamenten, sowie Gebäck, Obst und einigen Getränken, aussehen. Meine Mutter findet es schick, ich kitschig und übertrieben, aber als sie fragt, wie es mir geht, antworte ich mit „gut, danke“. Nicht nur, weil man das immer tut, wenn man derartig belanglose Fragen gestellt bekommt, die mehr als Lückenfüller dienen, als zur Informationsgewinnung, sondern weil ich mich wirklich gut fühle. Das liegt daran, dass wir seit langem endlich mal wieder aus dem Kapitol rauskommen und einen Ausflug machen. Meine Mutter, die sich neben Pflanzen auch sehr für Technik im Allgemeinen interessiert, will eine Technikmesse in Distrikt 3 besuchen. Da mein Vater – wie immer – beschäftigt ist, habe ich nun die Ehre, sie zu begleiten. „Distrikt 3 wird dir sicher gefallen. Er ist zwar keiner der ganz reichen Distrikte, aber er ist stark im Kommen, Technik wird ja immer gebraucht.“ Sie lächelt aufmunternd. „Außerdem sind Neuerungen immer interessant, Veränderungen bringen Spannung mit sich.“ Ich lächle zurück. „Ja, das tun sie.“ Der Bahnhof in Distrikt 3 ist nicht halb so prunkvoll wie der im Kapitol, aber immer noch recht ansehnlich. Passend zu den Aufgaben des Distrikts, wirk er hochmodern und schlicht, nicht überladen, wie der unsrige. Das gesamte Gebäude ist eine Stahlkonstruktion mit vereinzeltem Sichtbeton, an den meisten Wänden befinden sich riesige Hologramme, die das Wetter, die Abfahrtszeiten oder einfach nur Werbung für die Geschäfte neben den Gleisen anzeigen, die Lebensmittel, technische Geräte oder Zeitschriften anbieten. Durch die Technikmesse herrscht ein reger Betrieb, der sich sonst vermutlich nicht finden lässt. Auch zahlreiche Kapitolbewohner, gut erkennbar an ihrem schrillen Aussehen, den bunten Haaren und der dicken Schminke, tummeln sich hier. Wie immer bin ich erleichtert, dass meine Mutter und ich den Trends des Kapitol bisher nicht gefolgt sind, vielleicht, weil sie durch ihre Arbeit mit den Pflanzen die Natürlichkeit liebt und in ihr die wahre Vollkommenheit sieht. Jedenfalls hat das gleiche lange, rotblonde Haar wie ich und die gleichen hellbraunen Augen, die auch ohne Schminke von dichten, schwarzen Wimpern umrahmt sind. Wir waren beide schon immer glücklich so gewesen, auch wenn mein Vater sich des Öfteren aufgeregt hatte, warum wir krampfhaft versuchten anders auszusehen. „Wie der Pöbel“, hatte er gesagt, worauf meine Mutter über eine Woche zu einer Freundin gezogen war. Das Verhältnis der beiden ist schon lange angespannt – oder kaputt, flüstert es in mir. Unser Hotel ist ganz in der Nähe des Bahnhofs und auch des Messegeländes, sodass wir nicht weit laufen müssen. Es ist vom Design her schlicht und funktional, aber nicht hässlich. Im ersten Moment sitze ich auf dem Bett, schließe die Augen und genieße diese schmucklose Architektur, die einen so großen Gegensatz zum Kapitol darstellt, wie man es sich kaum vorstellen kann. Meine Mutter, die sich inzwischen umgezogen hat, kommt zu mir ins Zimmer. „Wollen wir los, mein Schatz? Ich bin schon ganz aufgeregt.“ Sie lacht wie ein kleines Kind. Ich muss einfach einstimmen, so sehr freue ich mich, dass sie zur Abwechslung einmal glücklich ist. Ich habe ihr Lachen vermisst. Als wir das Hotel verlassen und durch die Straßen gehen, gefällt mir Distrikt 3 immer mehr. Ich war schon in anderen Distrikten gewesen, unter anderem Distrikt 1 und 2, von deren pompösen Schein mir fast schlecht geworden war. Ich hatte das Gefühl, die schlossartigen Bauten, all der Prunk, wollte mich verspotten, wollte sagen „Sieh mich an, ich bin genau wie die Rosen im Garten, pass auf, dass meine Dornen dich nicht stechen, wenn du wegsiehst.“ So ist es doch auch. Selbst der Rosengarten kann den Gestank der Spiele nicht tilgen, selbst eine perfekte Illusion ist immer noch eine Lüge und die reichen Distrikte genauso Sklaven, wie die ärmeren, die nicht einmal die Kraft haben, den Schein zu wahren und die absurde Lüge aufrechtzuerhalten. „Da wären wir.“ Meine Mutter lächelt einem Wachmann zu, der uns sofort durchlässt – Kapitolbewohner müssen keinen Eintritt zahlen – und die Halle für uns öffnet. Sie ist ein riesiger skelettartiger Stahlbau mit einem gläsernen Atrium unter dem sich einige Stände und größere Maschinen, so wie zahlreiche Gäste und Repräsentanten des Distrikts finden lassen. Neugierig gehen wir von Stand zu Stand und lassen uns alles Mögliche erklären, das wohl bald im Kapitol erhältlich sein wird. Während meine Mutter, bei einem Stand stehen bleibt, der anscheinend speziellen Dünger verkauft, der die Farbe der Blumen je nach Stimmung des Besitzers ändern kann, und sofort ein Gespräch beginnt, schlendere ich weiter. Mein Blick bleibt an einem kleinen, verlassenen Stand ganz am Ende der Halle hängen, wo ein Junge, ungefähr in meinem Alter entspannt an einem PC sitzt und nicht einmal versucht die Menge anzuziehen. Er dreht ihr den Rücken zu als wäre sie nicht wichtig, als wäre sie ihm scheißegal, was mich irgendwie beeindruckt und neugierig macht. Als ich zu ihm komme, blickt er widerwillig auf. Sein Haar ist dunkelbraun und wuschelig, seine Augen sind leuchtend grün. Er lächelt amüsiert, als er meinen Blick bemerkt, worauf ich hastig etwas verlegen wegblicke. „Was bietest du denn an?“ Er lächelt. „Eine weitere Lüge“ Seine Aussage irritiert mich noch mehr. Obwohl es nicht offen war, kann man es als Kritik am Kapitol verstehen – was verboten ist. Eigentlich hätte ich zu einem Friedenswächter gehen müssen und ihn melden, stattdessen erwidere ich aber sein Lächeln und setze mich zu ihm. „Von was für einer Lüge sprichst du?“ Er deutet auf den etwas sonderbar aussehenden PC vor ihm. „Das ist ein spezielles Programm, wenn du diese Elektroden hier, an deinen Kopf anschließt, ist es dir damit möglich, schöne Erinnerungen noch einmal zu erleben, als würden sie ein zweites Mal passieren.“ Er reicht mir eine futuristisch anmutende Brille. „Die musst du noch aufsetzen, ebenso wie ein paar Kopfhörer, damit du alle Sinneseindrücke bekommst, du benötigst, damit sich die Erinnerung echt anfühlt.“ Ich setze zögerlich die Brille auf und stecke die Kopfhörer in meine Ohren. Zunächst wird alles Dunkel. „Werden schlechter Erinnerungen durch dieses Gerät auch zum Leben erweckt?“ Meine Stimme klingt ein wenig ängstlich, was mich ärgert. „Nein, keine Sorge, ich stimuliere nur bestimmte Bereiche des Gehirns, es sollten also nur gute Erinnerungen vor deinem inneren Auge auftauchen. Sonst ließe es sich wohl nicht verkaufen, oder?“ Das klingt wieder leicht spöttisch. Ich nicke und warte darauf, dass das Spektakel losgeht. Der Himmel ist von einem reinen, wolkenlosen Blau. Meine Mutter, mein Vater und ich sitzen auf einer weißen Decke, die sich schön vom grünen Gras abhebt, inmitten ebenso schneeweißer Rosen. Meine Mutter lacht und boxt meinen Vater in die Seite. Damals waren wir also noch glücklich? Violette kommt mit Tee und Gebäck zu uns, der kleine Phil läuft lachend neben ihr her und wirft mich fast um, als er auf meinen Schoß hüpft. Wir trinken, essen, amüsieren uns. Alles wirkt so real, dass ich fast danach greifen kann. Dann auf einmal tritt jemand anderes auf die Gedankenbühne, Snow, gekleidet in einen schwarzen Anzug, in dessen Revers eine Rose steckt. Alt und bärtig, wie eh und je, aber die Augen wachsam – und tödlich. Er setzt sich auf eine hölzerne Bank neben uns und spricht mit meinem Vater. Er klopft im auf die Schulter. „Herzlichen Glückwunsch, du bist nun der neue technische Leiter der Spiele.“ Meine Mutter und Violette applaudieren und auch ich umarme ihn. Doch das Bild verschwimmt, auf einmal sehe ich nur noch den blutüberströmten Jungen, der lacht und lacht und einfach nicht aufhören will. Blut läuft aus seinem Mund und färbt den Rosengarten, auf einmal ist alles rot, alles tot und abgestorben. Während das Fleisch von unseren Leibern brennt und nur verwesende Kadaver zurückbleiben, stimmt Snow in das gruslige Lachen ein. Lang lebe Panem! Ich schreie wie am Spieß. „Alles okay?“ Der Junge sieht mich besorgt an. Er hat mir scheinbar die Brille und die Kopfhörer abgenommen. Erst jetzt realisiere ich, dass ich auf dem Boden liege und er sich über mich beugt. Ich muss wohl ohnmächtig geworden sein. Mühsam richte ich mich auf und stelle erleichter fest, dass mein Schrei kein großes Aufsehen erregt hat. Alle sind zu beschäftigt, dass niemand Notiz von dem dummen Mädchen genommen hat, die nicht aussieht, als käme sie aus dem Kapitol. Der Junge nimmt meine Hand und hilft mir auf. „Tut mir leid, anscheinend gab es einen Fehler im Programm.“ Er mustert mich besorgt. „Ich hoffe, du hast nichts allzu Schlimmes gesehen?“ Ich schüttele den Kopf und lächle grimmig. Was hatte ich schon groß gesehen? Vielleicht die Wahrheit, die ich damals nicht sehen wollte? „Es war nicht so schlimm, ich hab mich nur erschreckt.“ Er lächelt erleichtert und streicht mein Kleid zurecht, dass durch meinen Sturz etwas ungünstig verrutscht ist. Dann greift er hinter seinen Stand und holt eine Kanne hervor, die anscheinend Kaffee enthält. „Darf ich dich als Entschuldigung auf eine kleine Tasse grottenschlechten Filterkaffee einladen?“ Ich muss unweigerlich grinsen, was er sofort erwidert. „Ich heiße übrigens Luca“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)