Der Rebell von Niekas ================================================================================ Kapitel 5: Oben --------------- „Da“, sagt Eduard und hält mir ein paar Tabletten hin. „Sie sind ein wenig bitter, aber sie helfen.“ „Lass mich in Frieden“, knurre ich. „Sofort, sobald du deine Medizin genommen hast.“ „Medizin! Erstens bin ich kein Kleinkind, das du bemuttern musst, und zweitens kannst du mich genauso gut in Frieden lassen! Ich sage, ich will sie nicht!“ Eduard sieht mich an und seufzt leise. „Keine Schmerztabletten?“ „Nein.“ „Ich lege sie dir hier hin. Du kannst sie später nehmen, wenn du willst.“ Er steht auf und verlässt den Raum. Die Tür schließt er nicht ab. Ich starre ihm nach und bemerke, dass meine Augen brennen. Verdammte Scheiße. „Und alles deine Schuld, Lutz. Warum hast du mich nur im Stich gelassen?“ Aber er gibt keine Antwort. „Ich hasse dich, Lorinaitis“, sage ich. „Du solltest deine Tabletten nehmen“, sagt er ernst. „Es sind dieselben, die ich auch bekommen habe. Sie helfen gut.“ „Dann gib mir gleich drei. Das ist es doch, was du willst, oder?“ „Sei nicht so kindisch, Gilbert.“ „Kindisch? Du behauptest hier, ich sterbe, obwohl ich nichts davon merke. Wer von uns ist kindisch?“ Er sagt nichts dazu. „Sollte ich dir danken?“, frage ich. „Wofür?“ „Dass du dir diese rührende Geschichte für Braginsky ausgedacht hast, um mich hierher zu bringen.“ „Ich habe mir nichts ausgedacht.“ „Nun tu nicht so! Du weißt so gut wie ich, dass ich nicht wirklich sterben werde!“ Er sieht mich an, und ich hasse ihn für die Vernunft in seinem Blick, für seine Schuldgefühle und sein Mitleid. Ich hasse ihn für all das. „Scheiße. Galante, gib mir diese Tabletten.“ Er sieht mich mit großen Augen an. „Wirklich?“ „Hast du nicht gehört?“ Hastig greift Raivis nach den Tabletten auf dem Nachttisch und hält sie mir hin. „Hier.“ Meine Hand zittert, als ich sie entgegen nehme und mir in den Mund schiebe. Ich halte es nicht mehr aus. Einfach nicht mehr aus. Scheiße, sind diese Dinge bitter. „Willst du etwas trinken? Toris hat sie immer bitter gefunden.“ „Ja“, sage ich und will nach dem Wasserglas greifen, aber meine Hand zittert viel zu stark. Ich lasse sie zurück auf die Decke fallen. Mit großen Augen beobachtet Raivis meine zuckenden Finger. „Ich sagte, ja.“ Er beugt sich näher und gibt mir zu trinken. Vor ihm kann ich es mir erlauben, denke ich. Vor ihm am ehesten. Wer ist er, dass er sich über mich lustig machen könnte, wenn ich ein wenig schwach werde? „Hey“, sage ich mit schwerer Zunge und lächle. „Ich fliege, Galante.“ „Ich mache dir keinen Vorwurf, Westen. Du bist nie wirklich da gewesen, jetzt bist du weg. Eigentlich hat sich überhaupt nichts verändert.“ Er antwortet nicht. „Nicht, dass ich dich brauchen würde oder so. Sowieso, die hier behaupten, ich müsste sterben. Als ob jemand so Tolles wie ich überhaupt sterben könnte! Soll ich dir was verraten, Lutz? Mein Rücken heilt. Er tut nicht mehr so weh wie zu Anfang. Doch, ganz sicher!“ Ich ziehe die Decke über meiner Brust zurecht und bemerke, dass meine Hand zittert. „Dafür tut mir irgendwie alles andere weh. Also, alles gleich viel. Wahrscheinlich nur Einbildung, wahrscheinlich habe ich etwas auf den Kopf bekommen. Aber das kann mich auch nicht umhauen, hörst du, Westen? Ich werde wieder gesund. Ich werde ganz bestimmt nicht sterben. Und mit diesen komischen Tabletten bekomme ich das hin, dann tut gar nichts mehr weh und ich kann schlafen. Es geht mir gut.“ „Was hast du jetzt angestellt, von Bock? Es passiert nichts!“ „Wobei passiert nichts?“, fragt er verwirrt. „Bei deinen blöden Tabletten! Sie funktionieren nicht mehr!“ Mit großen Augen sieht er mich an. „Das kann nicht sein. So schnell kannst du dich an eine so hohe Dosis gar nicht...“ „Es ist aber so, Scheiße!“ Meine Hände zittern unkontrolliert. „Gib mir gefälligst irgendetwas anderes, das besser hilft!“ „Diese Tabletten sind die einzigen, die ich habe. Sie helfen immer.“ „Bei mir nicht!“ Eduard senkt den Blick. „Vielleicht beginnt es“, murmelt er. „Was? Was beginnt?“ Anstelle einer Antwort dreht er sich langsam um und geht. „Es fängt an.“ Sie haben Raivis geschickt, um es mir zu sagen. Er sitzt auf der Bettkante und streicht über meine Hand, während er spricht. Sein Blick ist starr auf den Boden gerichtet. „Es geht bald zu Ende. Wir wissen nicht, wie lange es dauern wird, weil so etwas nicht oft passiert, aber... es fängt jetzt an. Also, es fängt an, aufzuhören. Sozusagen.“ „Könntest du dich etwas weniger widersprüchlich ausdrücken, Galante?“, frage ich heiser. „Was passiert hier?“ Er streichelt meine Hand, wie um Verzeihung bittend. „Dein Land gibt es nicht mehr“, murmelt er. „Es hat eine Weile gedauert, aber langsam löst es sich auf. Das könnte wehtun, aber... wir bleiben da.“ „Ihr bleibt da? Du meinst, ihr bleibt ganz ruhig sitzen, während ich hier krepiere?“ „Wir können nichts tun. Wirklich nicht.“ „Ihr tut so, als würde ich sterben!“, schreie ich ihn an. „Was fällt euch eigentlich ein! Als ob ich sterben könnte! Ich!“ Ich will noch so viel sagen, aber ich beginne zu husten. Raivis wirft mir einen hastigen Blick zu und ich sehe, dass Tränen in seinen Augen stehen. „Ist ja gut. Es wird bestimmt alles...“ Dann bricht er ab und schlägt die Hände vor sein Gesicht. Anscheinend wollte er Alles wird gut sagen. „Geh weg“, bringe ich hervor, bevor ich wieder husten muss. „Aber...“ „Ich habe gesagt, hau ab! Lass mich in Ruhe! Lasst mich alle in Ruhe mit euren wahnsinnigen Ideen! Ich und sterben! Was fällt euch eigentlich ein?“ Ich schreie weiter, obwohl Raivis schon nach ein paar Worten die Flucht ergriffen hat. Er lässt die Tür hinter sich ins Schloss fallen, ohne sich noch einmal umzusehen. Ich vergrabe das Gesicht in den Händen und versuche, zu Atem zu kommen. „Verdammte Schweine. Versuchen, mir einzureden, ich müsste...“ Die Schmerzen sind da, drückend und nicht genau zu lokalisieren, irgendwie überall in meinem Körper. Ich werde nicht sterben, denke ich. Ich doch nicht. „Deswegen warst du da“, sage ich. „Nicht wahr?“ Ich hatte erwartet, dass Toris fragen würde, wovon ich rede, aber das tut er nicht. „Ja“, antwortet er und wendet den Blick ab. „Ich hatte den Verdacht schon, seitdem du hier bist, um ehrlich zu sein. Ich dachte mir gleich, dass es eine Frage der Zeit sein würde, bis es... zu Ende geht. Zuerst schien es dir ja recht gut zu gehen, aber ich denke, Ivans Behandlung hat dir den Rest gegeben. Ich bin zu dir gekommen, weil ich sehen wollte, ob du es nicht doch verkraftet hast, aber offenbar...“ „Sprich gefälligst nicht von mir, als wäre ich schon tot“, knurre ich. „Vielleicht stimmt es ja gar nicht. Vielleicht ist es nur eine... eine dumme Grippe oder so, und in zwei Wochen bin ich wieder quietschfidel. Was sagst du dann?“ Er sieht mich aus den Augenwinkeln an, und ich weiß, dass er mir nicht glaubt. Diese Tatsache wäre wesentlich leichter zu ertragen, wenn ich wüsste, ob ich mir selbst glauben darf. „Verdammt, Westen. Wo bist du?“ Ich strecke die Hand aus, aber natürlich ist er nicht da, um danach zu greifen. Er ist nicht hier. „Es tut weh, West. Einfach Scheiße weh. Nicht die Wunden, sondern alles. Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll. Ich weiß es wirklich nicht.“ „Wie sieht es aus?“ Ich tue, als würde ich schlafen, weil ich keine Lust habe, mit Ivan zu reden. Wenn ich ihn ansehe, durchzuckt mich diese Angst, und das hasse ich. Als ob ich einen Grund hätte, Angst vor ihm zu haben. Ich. „Er hat starke Schmerzen, aber den größten Teil der Zeit ist er noch ansprechbar.“ „Isst er?“ „Kaum. Sollen wir ihn... ihn davon überzeugen, es doch zu tun?“ Ivan seufzt tief. Der Boden knarrt leise, als er näher tritt. „Ich glaube kaum, dass ihn das noch retten kann, wenn es hart auf hart kommt. Letztendlich wird er nicht davon sterben, dass er verhungert. Aber sieh ihn dir an... nur noch Haut und Knochen.“ „Vielleicht würde er wieder zu Kräften kommen, wenn wir...“ „Du weißt genau, dass alles nichts nützen wird, Eduard. Er wird nicht wieder zu Kräften kommen, wenn nicht ein Wunder passiert.“ „Ein Wunder?“, wiederholt Eduard. „Denken Sie da an ein... bestimmtes Wunder?“ „Um ehrlich zu sein, ja.“ Er lacht leise. „Ich hoffe nur, ich kann es noch rechtzeitig in die Wege leiten. Man darf nichts überstürzen. Es muss genau zur richtigen Zeit passieren.“ Am liebsten würde ich sagen, Braginsky, wenn du einen Weg kennst, mich zu retten, dann tu es, verdammt nochmal. Aber dazu müsste ich zugeben, das ich gelauscht habe, und dazu habe ich wenig Lust. Außerdem wird Sprechen von Tag zu Tag mühsamer. „Lass mich nicht allein“, flüstere ich. „Tue ich nicht“, verspricht Raivis leise. „Ich bleibe hier.“ Ich könnte nicht sagen, was mir wehtut, aber es tut weh. Alles brennt seltsam von innen heraus. Es kommt in Wellen, in immer stärkeren Wellen in immer kürzeren Abständen. Raivis sitzt neben dem Bett und wischt mit einem nassen Handtuch den Schweiß von meiner Stirn. „Ich bleibe hier“, sagt er noch einmal. „Ganz bestimmt.“ „Bis zum Ende?“, frage ich. Er schweigt. „West hat mich verlassen“, bringe ich hervor und bemerke, dass Tränen in meinen Augen stehen. Weil es so erbärmlich ist, dass ich, ausgerechnet ich nicht mehr weiß, was ich tun soll, in einem fremden Haus voller Fremder, mit diesen Schmerzen und ohne Ludwig. „Er ist einfach weg. Nicht mehr da. Er hat mich im Stich gelassen. Ausgerechnet jetzt, da... ausgerechnet jetzt!“ „Ich bleibe da“, sagt Raivis verunsichert und wischt die Tränen ab, die mir aus den Augenwinkeln laufen. „Vielleicht wird ja doch alles wieder gut, was glaubst du? Es kann ja immer noch ein Wunder geschehen.“ „Selig sind die Armen im Geiste“, flüstere ich. „Noch ist Polen nicht verloren“, antwortet er ernst. Wäre die Situation nicht so jämmerlich, wie wir an meinem womöglichen Sterbebett sitzen und Binsenweisheiten zitieren, müsste ich lachen. „Gilbert. Kannst du mich hören? Gilbert!“ Irgendjemand rüttelt unsanft an meiner Schulter. Ich kann nichts sehen. Warum ist es so dunkel? Ich habe doch die Augen geöffnet. Oder nicht? „Lass ihn. Das nützt auch nichts.“ „Muss... muss Gilbert jetzt sterben?“ „Still, Raivis.“ „Aber... ich will... ich d-dachte immer...“ „Es ist doch besser so, als wenn er weiter leidet. Glaubst du nicht auch?“ „Aber ich will... will nicht, dass er...“ „Ist ja gut. Ich weiß. Ich weiß doch.“ Ein ersticktes Schluchzen und ein Rascheln von Stoff, als würde jemand in den Arm genommen. Das Geräusch der Tür, die sich öffnet. „Ist er tot?“ Raivis schluchzt laut auf. „Nein... sehen Sie selbst.“ Schritte treten näher. Einige Sekunden lang herrscht Stille bis auf Raivis' Schniefen. „Er sieht nicht gut aus.“ „Kann er uns hören?“ „Ich weiß es nicht. Jedenfalls reagiert er nicht mehr.“ Zwei große Finger legen sich seitlich an meinen Hals. Meine Haut ist so kalt. „Sein Herz schlägt jedenfalls noch.“ „Das heißt, er lebt noch, oder? Das heißt es doch?“ „Du solltest schlafen gehen, Raivis.“ „Aber ich will doch...!“ „Es ist schon mitten in der Nacht. Du solltest längst im Bett sein.“ „Ich bleibe hier! Ich hab es ihm versprochen!“ Jemand greift hastig nach meiner Hand, aber die Hand ist taub, als wäre es gar nicht meine. Die Finger an meinem Hals sind noch immer da. „Was... tun wir jetzt?“ „Wir warten.“ Plötzlich fällt mir auf, dass die Schmerzen weg sind. Wie lange sind sie schon nicht mehr da? „Seit wann ist er bewusstlos?“ „Seit heute Mittag.“ „Ich wollte ihm sein Mittagessen bringen, obwohl er ja sowieso nie etwas gegessen hat... aber diesmal hat er nicht einmal die Augen aufgemacht. Er wacht auch nicht auf, wenn man ihn schüttelt. Er wacht überhaupt nicht mehr auf.“ „Eines Tages geht alles zu Ende. Die Welt funktioniert so, Raivis, selbst für jemanden wie uns. Wenn...“ „Still!“ „W-was denn?“ „Was ist los?“ „Seid einen Moment lang ruhig, damit ich...“ In der Stille ein Rascheln von Stoff, ein Blinzeln, ein angespanntes Luftholen. Warten. „Sein Herz schlägt nicht mehr.“ Die Finger verschwinden von meinem Hals und Raivis bricht in Tränen aus. Hosted by Animexx e.V. 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