The Final Curtain Fall von ImSherlocked (BBC Sherlock) ================================================================================ Kapitel 2: Mycroft ------------------ John Watson waren von seiner nächtlichen Besucherin Catherine Northawk also tatsächlich drei Tage Zeit gegeben worden, um nachzudenken. Als er früh am Morgen des nächsten Tages aufstand, weil ihm wirre Träume keine Ruhe gelassen hatten, in denen größtenteils Sherlock vorgekommen war, hatte er jedoch absolut keine Lust, nachzudenken. Seine Entscheidung war schon in der Nacht gefallen. Er benötigte die Zeit jedoch dringend, um Informationen über die junge Frau einzuholen. Mrs. Hudson war wie jeden Morgen so nett, ihm eine Kleinigkeit zum Frühstück zu machen. Nicht, weil er selbst keine Lebensmittel hatte oder in der Küche kein Platz war – nein. Mit angelernter militärischer Ordnung hatte er inzwischen die gesamte Wohnung etwas aufgeräumt und Sherlocks gesamten Chemiebaukasten in dessen altem Schlafzimmer verstaut, welches er seitdem nicht mehr betreten hatte, höchstens um zu lüften oder noch einige weitere Sachen aus seinem ständigen Blickfeld zu verbannen. Mrs. Hudson bereitete ihm jeden Morgen etwas Frühstück, um ihm den Alltag zu erleichtern. Eigentlich war es ihm unangenehm, dass sie deshalb Aufwand hatte, doch mit keinem Argument ließ sie sich davon abbringen. Nicht einmal ein kleiner Hungerstreik konnte ihre Überzeugung ins Wanken bringen, er bräuchte diese kleine Aufmerksamkeit. So schnappte er sich seinen Laptop und setzt sich damit an den Küchentisch, auf dem eine Kanne mit Tee und ein Teller mit Toast, gebratenen Würstchen und einem Spiegelei lag. Er schmunzelte. Jeden Morgen hatte sie etwas anderes für ihn. Abwechslung war schön, aber selbst er konnte auf gegrillten und geräucherten grünen Hering zum Frühstück verzichten. Mit einem leisen Gähnen klappte er seinen Laptop auf und gab das Passwort ein, das er seit mehr als einem Jahr nicht mehr hatte ändern müssen und startete Google. Das war immer der erste Punkt, an dem er persönlich startete, etwas über jemanden herauszufinden. Und da sie ihm offensichtlich ihren richten Namen verraten hatte, würde es nicht schwierig werden, etwas herauszufinden. Dachte er. Schnell wurde John jedoch eines Besseren belehrt. Über eine Catherine Northawk war so gut wie nichts zu finden. Kein Facebook-Account, keine Fotos, auf denen sie zu sehen war, keine Firma, bei der sie angestellt war, nicht einmal ihre Telefonnummer oder Adresse war im Register zu finden. Wenn sie ehrlich gewesen war und ihm ihren richtigen Namen verraten hatte, musste sie unter einem anderen in London leben. Nicht einmal eine Hochzeitsanzeige oder dergleichen war in einem der Onlinearchive der unzähligen Zeitungen zu finden. Gar nichts. Und John war sich sicher gewesen, dass eine Persönlichkeit, wie Catherine Northawk sie darstellte, zumindest mit einem Fuß in der Öffentlichkeit stand. Jedoch weit gefehlt. Sie hatte ihm Zeit gegeben. Drei Tage Zeit gegeben. Sie kannte ihn und Sherlock Holmes, wusste, dass er ihr Angebot schon längst angenommen hätte, selbst wenn sie ihn in der Nacht zuvor vor die Wahl gestellt hätte. Sie ging also wahrscheinlich davon aus, dass er sich erkundigte und hatte ihm dafür die Zeit gelassen. „Wo bin ich da nur hineingeraten?“, murmelte er leise vor sich hin und trank den letzten Schluck seines Tees. Mrs. Hudson hatte seine Lieblingssorte gekocht. John lächelte. Was wäre er nur ohne sie? Wahrscheinlich noch depressiver, als er sowieso schon war, vielleicht wäre er ohne sie und ihre Fürsorge auch schon längst aus der Bakerstreet oder ganz aus London weggezogen. Wie hatte es passieren können, dass der Tod oder der Scheintod, aber auf jeden Fall der Verlust eines Menschen ihn in so ein tiefes Loch hatte fallen lassen? John dachte zurück an die Zeit in Afghanistan, an die Zeit, in der er glaubte, er gäbe nichts, was ihn jemals zu Boden ziehen könnte? Damals war sein bester und ältester Freund gestorben, erschossen, den letzten Atemzug hatte er in den Armen des Militärarztes getan. John hatte Angst gehabt, in der Nacht nicht schlafen zu können, von Albträumen verfolgt zu werden, man hatte ihm Schlafmittel für die Zeit angeboten, Heimaturlaub, eine Psychotherapie… er hatte alle Angebote ausgeschlagen, sich auf sein Feldbett gelegt und in kaum einer Nacht zuvor so gut geschlafen wie in dieser. Letzten Endes war sein bester Freund aus Kindertagen ein Soldat wie jeder andere gewesen, der sein Leben im Namen des Vaterlandes gelassen hatte. Einer von vielen, in einem Sarg aus Presspappe. Zu Hause, mit einer frischen Schussverletzung hatte ihn der Krieg wieder eingeholt – zu Hause im „ruhigen“ London sehnte er sich nach Abenteuer und Adrenalin, durchwachten Nächten, Schusswechseln – Schützengräben… nachts, wenn er schlief, hatte er das alles gesehen, hatte auch die vielen Gesichter der toten Soldaten gesehen, doch sie berührten ihn nicht. Sterben gehörte zum Krieg dazu: er selbst wäre auch fast einer dieser namenlosen Männer geworden, nur bei ihm wäre der Sarg wahrscheinlich aus richtigem Holz gewesen… wieso wurden tote Offiziere nach ihrem Ableben mehr geehrt, als normale gefallene Soldaten? Jeder seiner damaligen Einheit hätte einen teuren Sarg mehr verdient als jeder der anderen Offiziere. Sie alle waren Menschen gewesen. Gleichberechtigte, und wenn schon nicht im Leben, dann wenigstens im Tod. Aber so war es immer. Ein Mensch starb und andere Menschen maßten sich an, über den Verstorbenen urteilen zu können, denn er hatte ja nicht mehr die Chance, sich zu beschweren. So war es in Afghanistan und so war es auch hier in London und überall sonst auf der Welt. Dieser Gedanke, dass Menschenleben der Gesellschaft nichts wert waren, wenn die Menschen nicht berühmt oder bedeutend gewesen waren, und dass er selbst ebenfalls so dachte – das hatte ihn nach seiner Rückkehr viel häufiger beschäftigt, als die Gedanken an Attentate und Tretminen. Mit einem lauten Klappern stellte er die Tasse zurück auf die zugehörige Untertasse und ließ seinen Blick schweifen. Der Wunsch nach dem Schlachtfeld, zu dem her sich immer wieder zurückgesehnt hatte, seit seine Füße englischen Boden betreten hatten, war von Sherlock Holmes erfüllt worden, denn dieser Mann war wie eine Naturgewalt über jegliches Verbrechen, jede Ungerechtigkeit hinweggefegt und hatte sie bekämpft, wohl wissend, niemals auch nur ein winziges Zeichen von Dankbarkeit bekommen zu können. Doch er hatte es nicht gebraucht, sich damit begnügt, seine Langeweile zu vertreiben – und John hatte dieser Naturgewalt und diesem Schlachtfeld nicht widerstehen können. Sherlock Holmes mit dem Krieg in Afghanistan gleichzusetzen war zwar moralisch verwerflich und nicht die richtige Ausdrucksweise, doch für John war es genau so gewesen. Sherlock bedeutete Krieg – meistens kein so offensichtlicher, aber oft genug. Und während im nahen Osten anonyme Menschen gestorben waren, war hier in London der Mensch gestorben, der für John all das bedeutet hatte, was Afghanistan gewesen war. Krieg, Gewalt, Abenteuer, Nervenkitzel. Dieser Mann hatte ihn fasziniert, in seinen Bann gezogen, vollkommen gefesselt und auf objektiver Ebene mehr als einmal abgestoßen und angewidert. Das machte Sherlock Holmes für John zu so einem bewundernswerten Menschen und Abenteuer, und kein Mensch, nicht einmal sein ehemals bester Freund Dan nahm diesen Stellenwert ein. Nach dem Krieg war da etwas, jemand gewesen, der ihn aufgefangen, ihn gebraucht hatte. Nach Sherlocks Tod hatte John versucht, in seiner Arbeit dieses vor dem Fall schützende Netz zu finden, doch das Netz wies große Löcher vor, durch die er zu fallen drohte und die Seile des Netzes waren dünn und würden ihn nicht ewig tragen. Häufig hatte er von Sherlock geträumt, viel häufiger von ihm, als von Afghanistan und er war mit einem Lächeln aufgewacht. Jedes Mal. Bis ihm schlagartig wieder bewusst wurde, dass auch Sherlock vergangen war. Wirklich glauben wollen, hatte er es selbstverständlich niemals, doch es war Teil seines Alltags geworden, allein zu sein und von den Menschen wegen seiner anfänglich offenen „pro-Sherlock“-Stellung belächelt zu werden. Nach außen hin hatte er schnell aufgegeben, doch er war noch lange kein komplett gebrochener Mann. Einen Soldaten warf so schnell nichts aus der Bahn. Sherlock würde schon zurückkommen. Und dann war da der Besuch am vergangenen Abend gewesen. Für den Pessimisten in ihm war es tatsächlich schwer zu glauben gewesen, doch der Optimist freute sich schon ein Loch in den Bauch und John war gewillt, nach einem Jahr endlich einmal wieder auf den Optimisten zu hören. Er würde herausfinden, ob Sherlock tatsächlich noch lebte, wie Catherine Northawk behauptete, doch dafür musste er etwas über sie herausfinden. Das Internet half nicht weiter und Sherlock war nicht da, um zu deduzieren. John selbst hatte zwar die Grundzüge dessen verstanden, worauf er zu achten hatte, aber die Dame schien durchaus intelligent und vorbereitet gewesen. Grübeln half John also auch nicht weiter und in die Offensive konnte er ihr gegenüber nicht gehen, weil er keinen Schimmer hatte, wie er sie kontaktieren sollte. Übrig blieb nur eine Möglichkeit: Er würde nach mehr als einem Jahr Mycroft Holmes wieder begegnen. Er würde auf den Mann treffen, der Sherlock ans Messer geliefert hatte, der Moriarty mit allen nötigen und unnötigen Informationen gefüttert hatte, um diesen in die Knie zu zwingen. John machte nicht nur Moriarty für Sherlocks Selbstmord verantwortlich, sondern auch Mycroft. Und die Öffentlichkeit, dass sie sich wirklich von einem einzigen Zeitungsartikel blenden ließ und nicht erkannte… erkennen konnte. Doch da schoss ihm ein Wort durch den Kopf, das Sherlock häufig für Menschen solcher Art verwendet hatte. Idioten. Es waren alles Idioten und die Masse war noch dümmer, als das Individuum, weil sie sensationsgeil, hysterisch und leichtgläubig war. John fuhr sich durchs Gesicht und schüttelte den Kopf. Der Gang zu Mycroft würde ein schwieriger werden und es war nicht ausgeschlossen, dass er ihm Worte an Kopf werfen würde, die nicht förderlich für seine Suche nach Catherine Northawk waren… aber die Angelegenheit war für ihn von größter Wichtigkeit, ließ sich kaum aufschieben („drei Tage, John, du hast nur drei Tage“). Und im Übrigen war er sich ziemlich sicher, dass Mycroft durch seine ganzen Kameras immer noch ein Auge auf die 221B Bakerstreet hatte. Dementsprechend hatte er sich der Wahrscheinlichkeit nach auch schon Informationen über seinen Besuch eingeholt, an die John niemals gekommen wäre, ohne dafür inhaftiert zu werden. Verziehen hatte er Mycroft noch lange nicht und selbst wenn Sherlock nicht tot war, würde er das nie, aber er hatte etwas gegen ihn in der Hand, und da Mycroft durchaus ein Gewissen besaß, würde er alles bekommen, was er verlangte, wenn er nur schlimm und heruntergewirtschaftet genug aussah. Ein Blick in den Spiegel am Morgen hatte John verraten, dass er mit seinem mitleiderregenden Gesamtzustand auf jeden Fall an Mycrofts Gewissen kratzen konnte. Die Bartstoppeln hatte der sonst so reinliche Soldat stehen lassen, an den Augenringen konnte er eh nichts ändern, selbst wenn er gewollt hätte. Würde das Genie Mycroft Johns Masche durchschauen? Wahrscheinlich – aber den Versuch war es wert. John musste nicht mehr länger überlegen, sondern stand auf, griff zielstrebig nach seiner Jacke, die immer noch dort lag, wo er sie vor weniger als acht Stunden abgelegt hatte, zog sie sich über und schaute sich nur noch nach seinem Stock um, den er für gewöhnlich immer mit sich nahm, wenn er die Wohnung verließ. Das Humpeln ohne schmerzendes Bein zu simulieren würde schwierig sein, doch er hatte schließlich Erfahrung. Und da es psychosomatisch bedingt war, konnte man so etwas schließlich ab und zu schlicht vergessen. Da die Gehhilfe nicht in der Wohnung zu finden war, musste sie noch immer unten um Flur an der Wand lehnen und tatsächlich. Mrs. Hudson hatte sie ihm noch nicht hinterher geräumt, sondern unberührt an ihrem Platz gelassen, damit John sie schneller wiederfinden konnte. Mit schnellen Schritten war er im unteren Flur angelangt, nahm seinen Stock zur Hand und „humpelte“ hinaus auf die Straße. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es kurz nach zehn Uhr war – für Mycroft gewöhnlich die Zeit, sich im Diogenesclub aufzuhalten. Mit U-Bahn und Bus ziemlich schwierig zu erreichen… Das erste Mal nach mehr als einem Jahr stellte John sich an den Straßenrand und rief sich ein Taxi, das ihn hoffentlich auf dem schnellsten Weg dahin brachte, wo er unbedingt hin wollte – hin musste. Einige Stunden hatte er bis zu seinem Schichtbeginn noch und die sollten nicht ungenutzt bleiben. Das erste Taxi, das vorbeifuhr, war besetzt, doch schon das zweite hielt direkt vor ihm und er stieg mehr oder weniger elegant ein. Der Fahrer beachtete ihn nicht weiter, sondern nahm das Ziel entgegen und setzte das Fahrzeug in Bewegung. Der Verkehr war dicht, und dennoch stieg John eine viertel Stunde später am anderen Ende der Innenstadt schon wieder aus dem Fahrzeug aus und bezahlte den Fahrer. Noch ein Grund, aus dem er mit seinem Oyster-Ticket lieber Bus oder U-Bahn fuhr – es war als Einzelperson sehr viel billiger, auch wenn es mit mehr Laufen verbunden war. John legte den Kopf in den Nacken und schaute an dem großen weißen Gebäude aus der Vorkriegszeit empor. Sein Atem ging regelmäßig, sein Bein schmerzte nicht. Er war also aufgeregt, es hielt sich jedoch in Grenzen. Ohne zu zögern stieg er humpelnd die wenigen Stufen zur ebenfalls weißen Eingangstür empor und betrat sofort den großen Saal. Einige ältere Herren mit weißen Schopf und weißem Bart waren anwesend, jedoch stach kein weitaus jüngerer Mann aus der Masse hervor, Mycroft hatte sich also wahrscheinlich in sein „Privatzimmer“ zurückgezogen. John konnte abermals nur spekulieren, wie wichtig Mycroft Holmes für die britische Regierung tatsächlich war, wenn nicht einmal alt eingesessene Minister über solch ein privates Arbeitszimmer in einem öffentlichen Club verfügten. Misstrauisch beäugten ihn einige der älteren Herren und John machte sich schleunigst auf den Weg, den er relativ gut kannte. Nach rechts unter dem Durchgang hindurch, erneut nach rechts, die Treppe hoch und bis ans Ende des Ganges. Dann stand man vor Mycrofts „Leseraum“. Nicht unbedingt sachte klopfte er an und wartete die Antwort gar nicht ab, sondern öffnete die Tür schwungvoll. Am Schreibtisch saß Mycroft Holmes und war gerade im Begriff, einige Bücher ordentlich zu stapeln. Was Ordnungssinn anging, hätten die Brüder unterschiedlicher nicht sein können, wobei John davon ausging, dass beide die gleiche Ordnung im Kopf hatten, sie aber unterschiedlich nach außen trugen. „John!“, kam es von dem anderen Mann. „Ich hätte Sie etwas später erwartet. Es freut mich, Sie zu sehen. Ihrem Bein geht es ausgezeichnet, wie ich sehe!“ Natürlich! Natürlich hatte er es durchschaut. Wofür hatte John diese umständliche Krücke überhaupt mitgenommen? Außerdem wurde er bereits erwartet, was hieß, dass Mycroft Bescheid wusste. So weit, so offensichtlich. „Setzen Sie sich doch. Etwas Tee?“, fragte Mycroft höflich lächelnd und deutete auf einen Teewagen nahe der Tür, der, wie John sich ziemlich sicher war, eben noch nicht dort gestanden hatte. Aber es wunderte ihn rein gar nichts mehr, abgesehen von Mycrofts übertriebener Gute-Laune-Fassade, die er immer dann aufsetzte, wenn etwas im Gange war, das von großer Bedeutung, aber geheim war, oder wenn ihn etwas bedrückte. Waren das vielleicht die ersten Anzeichen? Ganz offensichtlich wusste Mycroft also tatsächlich mehr- Was dieses „mehr“ war, galt es nun herauszufinden. Darin war John nie besonders gut gewesen, er war eher der direkte, impulsive Typ, aber sein Bauchgefühl sagte ihm, dass es wenig Sinn machen würde, Mycroft nun erneut eine Moralpredigt halten zu wollen und ihn möglicherweise noch zu verärgern. Um ihn vorerst in Sicherheit zu wiegen, warf er einen schnellen Blick zum Teewagen. „Ja, bitte, danke“. John lehnte seine Krücke an den schweren Schreibtisch und setzte sich auf den Stuhl davor. Abermals kam er sich vor, als wäre er wie ein unartiger Schüler beim Rektor gelandet und hatte eine ernste Unterhaltung vor sich. Mycroft kehrte ihm den Rücken und kam kurze Zeit später mit zwei Tassen Tee zurück, stellte diese auf den Schreibtisch und ließ sich dahinter nieder. John nickte dankend und nahm die Tasse zur Hand. „Weshalb haben Sie mich erwartet?“, fragte er dann ohne Vorwarnung. Mycroft schmunzelte nur, ging nicht weiter auf die Frage ein. „Ich muss es heute kurz machen, John. Mit steht nachher noch ein offizieller Staatsempfang bevor.“, er lächelte und starrte auf den Grund seiner Teetasse. „Gestern war eine junge Frau bei Ihnen, mit deren Erscheinung Sie nichts anfangen können. Sie heißt offiziell Catherine Northawk, ist mit diesem Namen aber ein unbeschriebenes Blatt. Einige ihrer Künstlernamen geben da mehr Auskunft…“, er zog ein Blatt Papier unter seiner braunen Schreibtischunterlage hervor und strich sorgsam darüber. „Sie lassen die Wohnung immer noch beschatten“, stellte John resigniert fest. Er hatte doch irgendwie gehofft, dass das wenigstens ein Ende gefunden hatte, aber wie hatte er nur so töricht sein können? Mycroft lachte nur leise. „Genau wegen solcher Vorfalle wie gestern Abend beobachte ich Sie ständig.“, er schob John die Liste über den Schreibtisch und legte sie so, dass dieser sie lesen konnte. Einige Namen von den neun Stück insgesamt waren ihm und der Presse durchaus bekannt. „Eine Nicole Godehard spielt nächste Woche am National Theater… Sie ist Schauspielerin?“, fragte er verdutzt und zugleich tief bestürzt. Was, wenn das gestern Abend alles nur gespielt war? Dann machte sie sich offensichtlich doch einen Scherz daraus, ihn damit zu quälen. „Exakt John, sie ist Schauspielerin. Eine sehr überzeugende Schauspielerin, die sich an namhaften Theatern in den USA einen beziehungsweise einige Namen gemacht hat. Nun ist sie zurück in England und scheinbar ein großer Sherlock-Holmes-Fanatiker. Wie sie unter einem dieser neun Namen vor gut zwei Wochen bei einem kleinen Interview für die SUN verlauten ließ, glaubt sie an das Weiter- und Überleben meines Bruders, was wie ich zu meinem Bedauern sagen muss, von mir persönlich mehrmals überprüft wurde. Sein Ableben ist bewiesen, DNS kann nicht lügen, aber es scheint, Sherlock hat sich so sehr in die Köpfe mancher Menschen gebrannt, dass sie einfach nicht aufgeben können. Auch Catherine Northawk hängt ganz offensichtlich dieser Illusion nach…“, er trank einen Schluck und stellte die Tasse zurück auf den Schreibtisch. John gab währenddessen keinen Laut von sich. Nicht nur Catherine Northawk glaubte an Sherlocks Überleben, auch er selbst glaubte weiterhin fest daran. „Und was wollen Sie mir damit jetzt sagen?“, fragte John und versuchte, eine feste Stimme vorzutäuschen, doch es misslang ihm. Mycroft beobachtete ihn eine Weile, bevor er fortfuhr. „John, Sherlock ist tot. Ich weiß, dass Sie sehr an ihm gehangen haben und er auch an Ihnen, aber nun müssen Sie endlich nach vorn blicken. Suchen Sie sich eine neue Wohnung und eine Freundin und leben Sie ihr Leben endlich normaler weiter.“ Nur war „normal“ für John noch nie ein Begriff gewesen. Welcher promovierte und herausragende Arzt verpflichtete sich schon und verschwand über eine Zeit von mehreren Jahren nach Afghanistan und konnte erst durch eine bleibende Störung davon abgehalten werden, dorthin zurückzugehen? Hätte man ihn nicht inzwischen mit viel Ehre und Pomp entlassen, wäre er nach Sherlocks Tod wahrscheinlich wieder in den nächsten Flieger gestiegen. „Und was diese ominöse Frau angeht… sie hat einen ausgewachsenen Spieltrieb, was bedeutet, dass sie gerne mit anderen Menschen spielt. Das macht sie nicht, weil ein böser Wille dahintersteckt, sie macht es einfach aus Neugierde und Naivität. Sherlock war schon immer ihr Gegenstück und mit diesem Verlust kann sie nicht umgehen. Also sucht sie sich jemanden, der auf ihrer Seite ist, um sich besser zu fühlen. Sie hat Sie gefunden und Sie sind sofort darauf eingegangen, John.“ Mit ihm wurde also tatsächlich nur gespielt. Alles war Theater gewesen. Fassungslos starrte er Mycroft an. Dieser blickte eher teilnahmslos und erhob sich. „Ich kann Ihnen nur raten, sich von ihr fernzuhalten. Und jetzt sollten Sie auch gehen, Ihre Schicht beginnt schon bald und ich glaube, Sie wollten noch einiges einkaufen?“ Mycroft schritt zur Tür. John starrte noch immer auf dessen nun leeren Stuhl. Das alles hier ging viel zu schnell. Und so langsam kam das altbekannte Gefühl auf, dass alle Menschen um ihn herum mehr wussten, als er selbst, zum Teil auch über sein eigenes Leben. Dass er noch hatte einkaufen wollen, war ihm vollkommen entfallen. Stumm erhob er sich, griff nach seinem Stock und schritt zur Tür. Vor Mycroft blieb er ein letztes Mal stehen, wollte etwas sagen, schüttelte aber nur den Kopf. Er war immer noch überrascht und fassungslos. Der Boden unter seinen Füßen fühlte sich noch unsicherer an, als sonst. „Wenn Sie ihre Stimme wiedergefunden haben, John, können Sie mich gern in den nächsten Tagen anrufen, ich werde nur noch telefonisch erreichbar sein.“ John runzelte leicht wütend die Stirn. „Wieso sollte ich Sie anrufen wollen?“ „Danke der Nachfrage, ich fahre eine Weile nach Südengland, es wird sicherlich kein entspannter Urlaub, aber es wird Urlaub.“ Große Fragezeichen waberten vor Johns innerem Auge herum, doch Mycroft fuhr fort. „Catherine wird nicht einfach aufgeben. Ich möchte, dass Sie mich auf dem Laufenden halten.“ „Ich Sie… was? Wieso sollte ich?“ Mycroft lachte leise. „Das werden Sie sicherlich bald erfahren, Dr. Watson. Guten Tag.“ Als John endlich wieder unten vor dem Haus stand, fühlte er sich nicht besser oder schlauer, als zuvor. Im Gegenteil. Was um alles in der Welt war das alles? Diese komische Frau, die offensichtlich nur ihre Spielchen spielte, Mycrofts komisches Verhalten und dessen „Urlaub“ in Südengland. John schüttelte den Kopf, ging zu einer etwas befahreneren Straße und rief sich dort ein Taxi. Seine Uhr verriet ihm, dass er gerade noch genügend Zeit hatte, einkaufen zu gehen, bevor seine Abendschicht begann. Als er spät nachts beladen mit zwei Tesco-Einkaufstüten zurück in die Bakerstreet kam, brannten keine Lichter in den Fenstern und auch Mrs. Hudson war schon zu Bett gegangen, denn die Vorgänge waren zugezogen. Leise schloss er die Tür auf und ging die Treppe hinauf, trat dabei wie üblich nicht auf die knarrende Stufe und räumte oben angekommen zuerst die Lebensmittel in den Kühlschrank, der auch nach einem Jahr den leichten Leichengeruch noch nicht wieder verloren hatte. Danach betrat er noch einmal das Wohnzimmer, um nach dem Rechten zu sehen, doch er stockte, als er das dortige Chaos entdeckte. Alle Papiere und Gegenstände, die auf dem Tisch gelegen hatten, waren zu Boden gefegt worden und auf dem Tisch steckte aufrecht ein spitzes Messer im Holz, durchbohrte dabei einen zusammengefalteten Zettel. Als John einige Schritte näher trat, erkannte er das Spitzmesser vom Kaminsims. Nichts war gesucht oder entwendet worden, nur diese Nachricht war so drapiert worden, dass er sie nicht übersehen konnte. Es brauchte nicht viel Kraft, um das Messer aus dem Holz zu ziehen. Als John den Zettel entfaltete, waberte ihm ein undeutlicher Duft von Rosenblüten entgegen, ähnlich des Parfums, das Catherine Northawk getragen hatte, wenn nicht sogar das gleiche. In feiner schräger Handschrift stand auf dem Zettel eine kurze Botschaft geschrieben. “Unter gegebenen Umständen ist es nicht möglich, Sie noch einmal aufzusuchen. Dennoch kann ich Ihnen versichern, dass Mycroft Holmes lügt, was Sherlock betrifft. Glauben Sie ihm kein Wort! Anbei liegt eine Zugfahrkarte ab Paddington, nach Brighton. Der Zug fährt morgen um 11:23h, ich werde Sie am Zielbahnhof erwarte. Ihr Arbeitgeber gewährt ihnen unbefristeten Urlaub. Und ich kann Ihnen versichern, dass Sie Sherlock innerhalb kürzester Zeit wiedersehen werden. Vertrauen Sie mir, Dr. Watson? Es könnte gefährlich werden. Catherine Northawk“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)