Last Nightmare von Sky- (Harvey kehrt zurück) ================================================================================ Prolog: Treffen mit Harvey -------------------------- Beyond hielt es einfach nicht mehr aus. Er rannte die Straße runter, barfuß und nur in Unterhemd und Shorts bekleidet und über die glühend heiße geteerte Straße. Doch es war ihm egal, er wollte einfach nur noch weg. Vom Haus her hörte er immer noch das Geschrei seines Vaters und wie ein Fenster zersprang. Beyond versuchte noch schneller zu laufen und eilte direkt aufs Feld durch das hoch wachsende Maisfeld. Dabei ignorierte er den Schmerz an seinen Füßen, es war ihm vollkommen egal. Er wollte einfach nur weg von Zuhause und nicht gefunden werden. Die Sonne schien heiß auf ihn hinab und als er den grasbewachsenen Hügel erreichte, blieb er kurz stehen und setzte sich hin. Der Schweiß rann ihm von der Stirn hinunter und er war sowieso nie der Sportliche gewesen. Im Sprinten hatte er ständig versagt und besonders wenn es 40°C im Schatten waren, stand es schlecht um seine Kondition. Sein rechter Arm war von blauen Flecken übersät und er konnte einfach nicht aufhören zu weinen. Es war fast jede Woche das gleiche Elend. Immer kam sein Vater sturzbesoffen aus der Kneipe und ging auf seinen eigenen Sohn los, machte ihn verantwortlich, dass er vor sechs Jahren arbeitslos wurde. Erst vergangene Woche wurde Beyond die Treppe hinuntergestoßen und im Anschluss das ganze Wochenende in den Keller eingesperrt. Beyond wäre beinahe verdurstet, hätte er sich nicht mit dem Wasser ausgeholfen, was aus einem Leitungsrohr getropft wäre, dann wäre er wahrscheinlich verdurstet. Geschlafen hatte er auf dem harten Boden und nur über ein kleines Fenster fiel Licht herein. Und vorigen Monat hatte sein Vater ihn sogar mit einer Waffe bedroht. Warum nur tat er ihm das an? Beyond hatte nichts Falsches getan. Er wollte doch nur, dass seine Eltern ihn liebten. Warum nur konnten sie es nicht? Etwa weil er anders war? Seit er denken konnte, beherrschte er die Fähigkeit, Namen und Lebenszeit seiner Mitmenschen zu erkennen, wenn er ihre Gesichter sah. Seine Verwandten mieden ihn deswegen und behandelten ihn wie einen Aussätzigen. Genauso erging es ihm mit seinen Klassenkameraden. Beyond hasste seine Gabe und so oft wünschte er sich, er wäre nicht so anders als die anderen sondern ein ganz normales Kind. Keuchend ging Beyond den Hügel hinauf und blieb keuchend stehen. Weiter weg sah er schon den See, der ruhig da lag und das Blau des Himmels widerspiegelte. In der Nähe des Sees war die alte Hütte, ein grauer Klotz mit zugenagelten Fenstern und Ziegeldach. Seit Ewigkeiten stand sie da und sah aus wie erst vor kurzem gebaut. Wie alt diese Hütte war, wusste Beyond nicht aber es rankten sich viele Gerüchte um sie. Angeblich hatten dort fünf Teenager ihre Halloweennacht verbracht und knapp eine Stunde später waren sie alle dem Wahnsinn verfallen und hatten sich gegenseitig umgebracht. Ein Serienmörder hatte dort die Leichen von Kinder versteckt und eine andere Geschichte besagte, dass eine entflohene Irre sich dort verbarrikadiert hätte und dort gestorben wäre. Wie auch immer, die Geschichten, die sich um die Hütte rankten, waren nicht die Schönsten aber ob sie wahr waren, das war eine andere Sache. Doch in einer Sache waren sich alle Bewohner der Stadt einig: Über dieser Hütte lag etwas Unheimliches, wie eine Art schwerer unsichtbarer Nebel, den man nicht sehen oder riechen aber merklich spüren konnte. Wer sich länger als eine Minute in der Hütte aufhielt, bekam ein beklemmendes schon fast klaustrophobisches Gefühl. Danach verspürte man Angst, die sich immer mehr zu panischer Todesangst steigerte. Wer sich dort länger als zehn Minuten aufhielt, der musste Nerven wie Drahtseile haben. Aber Beyond hatte mal von einem Mädchen gehört, dass in dieser Hütte zwei Tage ausgehalten hatte, eingesperrt in einer kleinen Kiste. Als sie wieder rauskam, hatte sie ihre Eltern und den Nachbarn getötet und war verschwunden. Ganz schön unheimlich. Trotzdem, die Neugier war größer. Da die Tür nicht verschlossen war, öffnete Beyond sie und schaute hinein. In der Hütte befanden sich alte verstaubte Möbel, kaputte Angelruten oder vermoderte Teppiche. Auch eine Kiste befand sich dort und vorsichtig öffnete Beyond sie. Entsetzt ließ er jedoch den Deckel wieder zufallen als er sah, dass an der Innenseite blutige Kratzspuren waren. Diese mussten von dem Mädchen stammen, das zwei Tage eingesperrt war. Offenbar wollte sie sich befreien und hatte sich dabei fünf Fingernägel ausgerissen. Beyond spürte bereits, wie die Angst in ihm hochkroch und eigentlich wollte er die Hütte sofort wieder verlassen, da hörte er aus der Kiste eine leise Stimme und hätte schwören können, dass da jemand „Hallo“ gesagt hatte. Er öffnete sie wieder und hörte sie tatsächlich wieder. „Hallo, ist da jemand?“ Beyond tastete in der Kiste herum und holte einen Stoffhasen heraus. Einen blauen Stoffhasen, der an einem Auge geflickt worden war und ziemlich niedlich aussah. Schnell holte Beyond ihn heraus und verließ mit ihm die Hütte. Im Licht sah er, dass der Hase zwar ein wenig verstaubt war aber sonst in einem guten Zustand war. An seinem Fuß stand sogar ein Name: „Edna Konrad“. „Edna Konrad? Ein komischer Name für einen Hasen.“ „Das liegt wahrscheinlich daran, dass ich eigentlich Harvey heiße!“ Beyond hatte zuerst gedacht gehabt, er hätte sich das eingebildet aber der Hase sprach tatsächlich. Merkwürdig, da war doch nicht einmal eine Schnur zum aufziehen dran. Der Hase legte leicht den Kopf zur Seite und sah Beyond neugierig an. „Und wie heißt du?“ „Beyond Birthday.“ „Ein lustiger Name, ich mag dich. Lass uns Freunde sein!“ Der Hase hatte eine merkwürdige Stimme aber sie klang sehr freundlich. Komisch, wurde Beyond langsam verrückt? Oder sprach der Stoffhase etwa wirklich? „Wie kannst du eigentlich sprechen?“ „Nun, eigentlich bin ich nur die Stimme deines Unterbewusstseins. Offensichtlich bist du ganz schön einsam und hast nicht viele Freunde mit denen du reden kannst, nicht wahr?“ „Nein, gar keine. Nicht mal meine Eltern wollen mit mir reden.“ „Oh, das ist ja traurig. Hey ich hab’s: Du kannst doch mir reden. Wir können lustige Dinge aus Gegenständen basteln oder die Bude auf den Kopf stellen. Zusammen können wir soooo lustige Sachen anstellen. Was ist? Möchtest du mit mir zusammen spielen?“ Soso, die Stimme seines Unterbewusstseins. Beyond hatte zwar keine Ahnung, was das jetzt zu bedeuten hatte aber es gefiel ihm irgendwie, mit jemandem reden zu können, der ihm zuhörte. Das war er gar nicht gewöhnt und er hatte das Gefühl, dass Harvey ganz in Ordnung war. Er lächelte und nahm die Hand des Hasen. „Also gut Harvey, dann nehme ich dich nachher mit nach Hause.“ „Au ja, das wird lustig. Sag mal, dein Vater ist nicht zufällig Psychologe?“ „Nein, er ist ein stets besoffenes Schwein!“ „Aha. Aber du weißt was mit Schweinen passiert oder?“ Beyond sah den Hasen unsicher an und fragte, was er damit andeuten wolle. Harvey pfiff nur vor sich hin und meinte nur „Ach… nichts Bestimmtes.“ Kapitel 1: Hölle namens Zuhause ------------------------------- Beyond zeigte seinem neuen Freund das ganze Haus und Harvey staunte nicht schlecht. „Ein schönes Haus hast du, ich könnte echt neidisch werden.“ „Aber jetzt wohnst du ja auch hier.“ Damit stieg Beyond die Treppen hinauf und führte ihn in sein Zimmer. Es war spartanisch eingerichtet und erinnerte schon fast an eine Gefängniszelle. Das Bett bestand auf einem rostigen Gestell mit einer muffigen Matratze und einem Schrank, neben dem ein Schreibtisch vom Sperrmüll mit altem Stuhl stand. Poster, Fotos oder andere Bilder hingen hier nicht, die Wände waren weiß gestrichen und der Teppichboden fleckig. Harvey wirkte nicht sehr begeistert aber er sagte nichts Negatives dazu. „Warum hast du das Zimmer nicht schön dekoriert? Du könntest doch lustige Bilder malen.“ „Meine Eltern wollen das nicht. Ich könnte die Tapete beschädigen.“ „Ach was, das ist doch Unsinn. Ist es ein Kinderzimmer oder ein Erwachsenenzimmer?“ „Ein Kinderzimmer.“ „Na also. Das heißt auch, dass es dir gehört. Also kannst du auch Bilder aufhängen.“ Was Harvey da sagte, klang eigentlich ganz logisch. Warum sollte er das Zimmer so kahl lassen, wenn es doch sein eigenes Zimmer war? Gemeinsam begannen sie nun Bilder zu malen und diese dann an die Wand zu kleben. Auch Fotos heftete Beyond an die Pinnwand und wenig später war ein bisschen mehr Farbe im Zimmer. Schließlich kam Harvey auf eine weitere Idee und zwar mit dem Sammeln interessanter Gegenstände, die es wert waren aufbewahrt zu werden. „Daraus kann man wirklich lustige Sachen basteln. Manche verdienen einen Haufen Geld damit. Ein Typ hat sogar aus hunderten von Eisstielen eine Lampe gebastelt.“ „Aber ich habe so etwas noch nie gemacht.“ „Das ist kein Problem. Ich helfe dir und außerdem braucht man nur genügend Kreativität.“ „Woher weißt du all diese Sachen? Etwa auch aus meinem Unterbewusstsein?“ Der kleine Hase schwieg eine Weile und sah Beyond nur mit seinen großen Hasenaugen an. Dann aber sagte er schließlich „Du bist nicht der Einzige, der mit mir gesprochen hat. Da gab es noch jemand anderen.“ „Etwa diese Edna Konrad?“ „Ja, aber die hat mich in die Kiste gesperrt und seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen.“ Beyond zuckte nur mit den Achseln. Er verstand sowieso nicht, was das zu bedeuten hatte und so ging er mit Harvey schließlich wieder raus und dieses Mal zur Bushaltestelle. Sie fuhren ein paar Haltestellen und erreichten schließlich die Müllhalde, die nicht gerade gut bewacht war. Dort befanden sich viele Sachen, die eventuell interessant sein könnten. Harvey hielt Beyond in der anderen Hand und legte ihn nur ab, wenn er beide Hände gebrauchte. Sie fanden einen Spiegel und zerschlugen ihn. Die Scherben wurden eingesammelt und in eine Tasche gelegt. Als sie genug Scherben gesammelt hatten, wollte Beyond wieder gehen, da blitzte irgendetwas unter dem Schrotthaufen hervor. Etwas Glänzendes. Es glänzte so hell als wolle es sagen „Hey, heb mich auf!“ Vorsichtig stieg Beyond über einen Haufen kaputter Rohre und Bleche und zog das glänzende Ding heraus. Es war jedoch kein Gold und kein Silber sondern die Klinge einer Machete. „Boah cool!“ rief Harvey begeistert, als er die Waffe sah. „Damit kann man sicher viel kaputt machen. Randale!!!“ Irgendwie war diese Machete Beyond unheimlich und eigentlich hätte er sie sofort wieder weggeworfen. Er wusste, wie gefährlich solche Dinger waren und dass man damit Menschen verletzen konnte. Aber irgendetwas hielt ihn davon ab, die Machete wegzulegen. Etwas an dieser Waffe faszinierte ihn. „Das ist ein ziemlich komisches Schwert…“ „Das ist eine Machete du Dummerchen. Damit kann man im Urwald die ganzen Äste und Blätter abschneiden, die im Wege sind.“ An der Klinge waren dunkle rotbraune Flecken und das war kein Rost. Vorsichtig kratzte Beyond daran und sah, dass die Flecken getrocknet waren und sich ablösen ließen. Irgendwie wurde ihm ein wenig seltsam zumute. „Was sind das denn für Flecken?“ „Aber Beyond, das weißt du doch selbst schon.“ „Du… du meinst das ist…“ Sofort ließ Beyond die Machete fallen, als hätte er sich verbrannt und entsetzt wich er zurück. Innerlich hoffte er, dass es nur Tierblut war und er spürte, wie sich sein Magen zu verkrampfen schien. Mit einem Male fühlte er sich einfach nur noch schmutzig und abstoßend. Er hatte das Gefühl, dass das Blut auch an seinen Händen klebte, an seiner Kleidung, wirklich überall. Aber etwas an dieser Waffe faszinierte ihn dennoch. Was es war, konnte er nicht genau sagen aber Harvey entging es nicht. „Waffen sind doch irgendwie cool, oder?“ „Nein, Waffen verletzen und töten Menschen!“ „Aber Beyond, so etwas kann man auch mit anderen Gegenständen. Man könnte einem mit einem Messer oder einer Gabel das Auge ausstechen. Sogar mit einer Nagelschere. Es kommt ganz darauf an, wie diese Dinge benutzt werden. Eine Machete zum Beispiel wird für Bäume und Sträucher verwendet.“ „Du willst damit also sagen, dass Waffen nicht unbedingt schlimm sind?“ „Genau! Solange man sie richtig einsetzt.“ Wenn Beyond so darüber nachdachte, dann hatte Harvey gar nicht mal so Unrecht. Im Grunde konnte man alles als Waffe benutzen. Aber warum machten dann die Erwachsenen vor den Kindern immer so ein Theater. Genau diese Frage stellte er dem blauen Hasen, der nur mit den Achseln zuckte. Die Erwachsenen sind schon sehr merkwürdig. Die muss man nicht unbedingt verstehen. Aber lass uns besser zurückgehen, bevor du noch Ärger bekommst. Wir haben ja was wir brauchen.“ Beyond nahm die Tasche mit den eingesammelten Spiegelscherben und verließ den Schrottplatz neben der Mülldeponie. Durch ein Loch im Zaun konnten sie durchkriechen und kamen etwas verdreckt an die Bushaltestelle an. Es würde in einer Stunde dunkel werden und seine Eltern würden durchdrehen, wenn er später nach Hause kam als vereinbart und darauf hatte er nun wirklich keine Lust. Als er in den Bus einstieg, erwartete ihn ein hässlicher fetter verschwitzter Mann mit gelben Zähnen, der genauso gut ein Obdachloser hätte sein können. Aus bösen Augen sah er Beyond an, der vor dem Mann Angst bekam und Harvey fester an sich drückte. „Wilsu mitfahrn odä widdä ausstoign?“ Der Mann klang als hätte er ordentlich einen sitzen, genau wie Beyonds Vater. Seine Angst wurde größer und er blieb wie angewurzelt stehen. „Ick hob di wat gefragt du Zwerch. Willsu nu mitfahrn odä net?“ „Keine Angst, der Fettsack kann dir nichts tun!“ redete nun Harvey beruhigend auf ihn ein. Doch Beyonds Angst war größer und fluchtartig verließ er den Bus und rannte so schnell er konnte von dem Bus weg. Die Tasche auf dem Rücken, Harvey in den Armen, rannte er die Straße runter als würde es um sein Leben gehen. Erst als er völlig aus der Puste war, blieb er stehen und sah, wie der Bus losfuhr. Zitternd sank er in die Knie und begann zu weinen. Harvey umarmte ihn mit seinen Stoffärmchen um ihn ein wenig zu trösten. „Es ist alles okay. Du brauchst keine Angst zu haben. Komm, setz dich doch erst einmal irgendwo hin und beruhige dich.“ Jedes Mal, wenn er jemanden sah, der seinem Vater ähnlich sah oder betrunken war, bekam er einfach nur Angst. Er hatte dann Angst, wieder geschlagen zu werden. Am ganzen Körper hatte er blaue Flecke, Verstauchungen oder sogar Knochenbrüche hatte er bereits hinter sich. Ihm helfen tat niemand. Weder dieses so genannte Jugendamt noch irgendwelche anderen Erwachsenen. Zwar tuschelten die heimlich über die Familie Birthday und erzählten sich die schlimmsten Geschichten, aber bis jetzt hatte niemand die Polizei gerufen. In der Stadt herrschte eine gewisse Gleichgültigkeit seinen Mitmenschen gegenüber und selbst wenn es auf Leben und Tod gegangen wäre, hätten die Leute einfach Augen und Ohren verschlossen und wären ihrem Alltag nachgegangen. Beyond hasste diese Stadt, er hasste jeden seiner Bewohner und er hasste sich selbst. Im Grunde wurde er nur so herumgeschupst und verprügelt, weil er nicht wie andere Kinder war. Während Kinder seiner Altersklasse Fußball spielten, auf Spielplätzen herumtobten oder andere Spiele spielten, beschäftigte er sich mit internationaler klassischer Literatur. Angefangen über Goethe bis hin zu Oscar Wilde. Er sah keinen Sinn darin, nur herumzuspielen und er hatte die besten Noten in der Schule. Man stellte bei ihm Hochbegabung fest, die aber nie gefördert wurde und weil er manchmal sogar den Lehrern etwas beibringen konnte, langweilte er sich und verbrachte den größten Teil des Unterrichts damit, zu malen oder zu lesen. Aber das war noch nicht der einzige Grund, warum alle etwas gegen ihn hatten: Es lag daran, dass er sehen konnte, wann Leute sterben würden. Eine Aura des Todes umgab ihn und die Menschen reagierten dementsprechend wie Tiere, die instinktiv eine Gefahr spürten. Sobald er in ihre Nähe kam, reagierten sie abweisend und aggressiv. Hunde drehten durch und zerrten an den Leinen, fletschten die Zähne und knurrten wenn Beyond in ihre Nähe kam und es gab keinen Mensch und kein Tier, der diese unsichtbare Todesaura nicht spürte, die Beyond auszustrahlen schien. Er selbst spürte sie nicht, er selbst schien vollkommen abgestumpft dagegen zu sein wie jemand, der seinen eigenen Gestank nicht mehr wahrnahm. Nur Stoffhase Harvey war der Einzige, der nicht von Beyonds Wesen abgeschreckt war. Beyond setzte sich auf eine Bank, legte die Tasche beiseite und sah Harvey aus von Tränen geröteten Augen an. „Du wirst mich niemals verlassen, oder Harvey?“ „Natürlich nicht. Wir sind doch Freunde. Und Freunde halten zusammen!“ Beyond war froh, dass er Jemanden hatte, mit dem er reden konnte. Wie gut, dass er in die Hütte gegangen war. Einen Freund wie Harvey hatte er echt gebraucht. „Danke Harvey.“ Beyond saß eine ganze Zeit lang auf der Bank und nahm den nächsten Bus, wo eine rotlockige Kaugummi kauende Frau saß, an der sich Beyond doch eher vorbeitraute. Die Fahrt selbst dauerte knapp eine halbe Stunde, bis Beyond endlich die Agonystreet erreichte, wo er wohnte. Um keinen Ärger zu bekommen, kletterte er den Baum hoch und den Ast entlang, bis er sein Zimmerfenster erreichte. Es war nicht verschlossen und so war es ein leichtes für ihn, durchs Fenster zu klettern nachdem er zunächst Harvey hindurchgeworfen hatte. Danach verschloss er das Fenster und legte seine Tasche ab. „Du kannst ja echt gut klettern. Machst du so etwas öfters?“ „Nur wenn ich später als vereinbart nach Hause komme. Mein Vater ist eh wieder in der Kneipe und Mama ist sicher gerade beim Bügeln. Sie kommt gleich rein um die Wäsche zu bringen.“ Vorsichtig holte Beyond die Spiegelscherben heraus und begann sie zu polieren. „Und was genau kann man damit anfangen?“ „Ganz einfach: Du klebst sie an die Wand zu einem bestimmten Muster zusammen. Am besten geht das mit einem richtig guten Kleber.“ „Ich hab Sekundenkleber da.“ „Au ja, das geht super!“ Nachdem Beyond die Scherben alle zurechtgelegt hatte, begann er nun damit, einzelne Stücke mit Kleber zu bestreichen und dann an die kahle Wand zu kleben. Das Motiv sollte ein Sichelmond werden und er brauchte überraschenderweise nicht so lange, wie er zunächst gedacht hatte. Fast zwei Stunden arbeitete er daran und schnitt sich dabei an einigen Stellen in die Finger, weswegen er immer wieder ins Badezimmer gehen musste um Pflaster zu holen. Das Endergebnis an der Wand sah wirklich toll aus, seine Hände eher nicht. An jedem Finger hatte er Pflaster und mit einer Pinzette hatte er auch eine Scherbe aus seiner Handfläche ziehen müssen, aber sonst war er zufrieden. Stolz betrachtete er seinen Sichelmond aus Spiegelscherben, den er an der Wand modelliert hatte. Auch Harvey war begeistert. „Wow, du bist echt ein Künstler Beyond. Jetzt sieht das Zimmer doch viel schöner aus!“ „Da hast du Recht Harvey. Danke für deine Hilfe.“ Der Hase blinzelte ihm lächelnd zu. „Das habe ich doch gerne gemacht.“ Zum ersten Mal seit langem konnte Beyond endlich wieder lachen und er war einfach glücklich, dass er einen Freund an seiner Seite hatte. Plötzlich ging die Tür auf und seine Mutter, Cassandra Birthday kam herein. Sie war eine magere und schwächliche Frau mit kränklicher Blässe und tief eingefallenen schwarzen Augen. Ihre schwarzen Augenränder ließen ihr Gesicht wie einen Totenschädel aussehen und ihr schwarzes langes Haar erinnerten an diese Horrorfiguren aus „The Ring“ und „The Grudge“. Cassandra Birthday, obwohl erst 29 Jahre alt, hatte das Leben schon längst hinter sich. Äußerlich sah sie aus wie es ihrem Alter entsprach und zugleich doppelt und dreifach und hundert Mal so alt, nämlich wie die Mumie eines Mädchens. Das abgeleitete Zitat aus dem Roman „Das Parfüm“ war die perfekte Beschreibung für die Gestalt namens Cassandra Birthday. Sonst war sie eine große Frau von stolzen 188cm Größe aber da sie eigentlich nur noch Haut und Knochen war, sah sie aus wie ein Gerippe aus einem Tim Burton Film. Deswegen umarmte Beyond sie auch nicht mehr, weil es ihn einfach nur erschreckte als auch anekelte, dieses Gerippe zu umarmen. Außerdem hatte er Angst, dass es in der Mitte durchbrechen könnte. Genauso zerbrechlich, wie Cassandra Birthday äußerlich aussah, so war sie auch innerlich. Sie war sehr depressiv und schluckte schon ungesunde Dosen an Antidepressiva. Drei Suizidversuche hatte sie schon hinter sich und alle waren sie fehlgeschlagen. Das erste Mal hatte sie sich im Badezimmer eingeschlossen und sich die Pulsadern aufgeschlitzt. Zumindest hatte sie es versucht, allerdings die Adern verfehlt. Die Schlaftabletten, die sie genommen hatte, versetzten sie lediglich in einen stundenlang anhaltenden Lähmungszustand und sie litt zwei Tage an Halluzinationen und Angstzuständen, aber sonst war sie wohlauf. Auch der Versuch, sich mit Auspuffgasen in der Garage zu vergiften, verlief nicht wie geplant, da ein Fenster eingeschlagen wurde und sie daran hinderte. Sie selbst sah ihr Leben als eine Tortur an und deswegen war es ihr auch gleich, ob sie nach ihrem Tode in die Hölle kam. Ihr Leben war bereits eine, da konnte die echte nicht so schlimm sein. Diese innerlich völlig erschöpfte und tote Person fühlte keine Liebe mehr für ihren Mann, der sie fast täglich zusammenschlug wenn er betrunken war. Man konnte nicht mehr sagen, dass diese Frau noch lebte. Sie vegetierte nur noch dahin. Dementsprechend hatte sie auch kaum noch Liebe für ihr eigenes Kind übrig. Schon damals, als Beyond zur Welt kam, hatte sie sich geweigert ihn zu stillen woraufhin er fast gestorben wäre. Auch konnte er sich nicht erinnern, jemals von ihr geküsst oder in den Arm genommen worden zu sein. „Hier deine Wäsche. Abendessen ist gleich fertig.“ Damit reichte Mrs. Birthday ihm die Hosen und Pullover und sah dabei den blauen Stoffhasen. Sie nahm ihn und sah ihn sich an. „Woher hast du ihn?“ Beyond hielt es für besser zu lügen, weil seine Mutter es überhaupt nicht gut fand, wenn er in die Hütte am See ging. Es war strengstens verboten und wenn sie es erfahren würde, dann gab es wieder nur Streit und Theater. „Ich habe ihn geschenkt bekommen.“ „Von wem?“ Sie sah den Namen am Fuß des Hasen und sah ihren Sohn streng an. Aber Beyond war ein geschickter Lügner und erzählte, dass ein Mädchen aus der Schule den Stoffhasen ihrer Cousine geschenkt bekommen hatte, allerdings nichts mit dem Stofftier anfangen konnte und ihn verschenken wollte. Beyond hatte ihn dann genommen. Da Cassandra auch kein großes Interesse hatte, woher ihr Sohn das Stofftier hatte, fragte sie auch nicht nach. Sie war nur froh, dass sie nichts dafür bezahlen musste. „Bevor du Abendessen bekommst, gehst du duschen! So dreckig lasse ich dich nicht an den Tisch!“ Damit ging das lebende Gerippe auch schon wieder und knallte die Tür hinter sich zu. Beyond lief jedes Mal einen Schauer über den Rücken, wenn seine Mutter wie eine Erscheinung in sein Zimmer hereingegeistert kam. Normalerweise liebten Kinder ihre Eltern aber er fand seine Mutter nur unheimlich. Sie sah aus, als hätte man alles Leben aus ihr herausgesaugt und was von ihr übrig war, waren nur noch ihre sterblichen Überreste. Manche Kinder aus seiner Nachbarschaft nannten sie auch „Mommy Death“, weil sie wie der lebende Tod aussah. Und Beyond ekelte sich, sie anzufassen. Allein schon ihre knochige eiskalte Hand fühlte sich wie die einer Leiche an. „Uäh, die ist ja mal gruselig. Die könnte glatt aus einem Horrorfilm stammen.“ „Hm…“ Beyond sah langsam zu Harvey und seufzte. „Wenn ich ihre Lebenszeit nicht sehen würde dann würde ich glauben, sie könnte jeden Moment das Zeitliche segnen.“ „Echt ey, die braucht mal Urlaub.“ „Nein, das hilft auch nicht. Der hilft nur noch ein Wunder.“ „Oder ein schnelles Ende“ ergänzte Harvey, der Beyonds Gedanken schon zu erraten schien. Beyond sagte dazu nichts sondern räumte erst mal die gebügelte Wäsche ein. Eine der wenigen Dinge, die sie überhaupt noch für ihn machte. Manchmal kam es vor, dass sie gar nichts kochte oder Lebensmittel verschimmeln ließ und nicht einkaufen ging. Meistens ging Beyond dann zu den Abfallcontainern des Supermarktes um dort nach Essbarem zu suchen, wenn sein Taschengeld nicht mehr reichte oder er im Portemonnaie seiner Mutter kein Geld fand. Wenn sie kochte, dann nur wenn ihr Mann noch da war. Beyond war in ihren Augen nur jemand, der im Haus wohnte, mehr nicht. Für den Jungen selbst war es inzwischen egal geworden, er hatte nie etwas anderes gekannt und für die Frau, die er „Mutter“ nannte, hatte er sowieso keine Liebe übrig. „Halt du hier die Stellung Harvey, ich geh ins Bad.“ „Dann bis später!“ Nach einer heißen Dusche ging Beyond die Treppe runter in die Küche, wo der Tisch fürs Abendessen gedeckt war. Doch… ganz so appetitlich war das nicht wirklich. An den Brotscheiben hatte sich bereits erster Schimmel gebildet und die Wurst war trocken und sah nicht mehr so ganz gut aus. Sie roch auch unangenehm. Das Einzige, was noch gut war, war die Erdbeermarmelade. Ein normaler Mensch würde diese ganzen Lebensmittel sofort entsorgen und sie keinem Kinde zumuten, aber im Falle der Birthdays war das nicht so. Hier wurde gegessen, was noch da war bevor etwas Frisches gekauft wurde. Beyond ekelten diese Lebensmittel zwar an, doch sein Hunger war größer und selbst das ganze Marmeladenglas würde ihn nicht satt machen. Also schnitt er die verschimmelten Stellen im Brot weg, strich Butter drauf und legte ein Stück Wurst drauf, die ein wenig wässrig aussah. Es schmeckte nicht sehr gut, war aber noch essbar. Diese Lebensbedingungen, die Beyond ausgesetzt war, hatten ihn sowieso abgestumpft. Er konnte schlechte Lebensmittel essen ohne krank zu werden, konnte den Verzehr von verdorbenem Fleisch wegstecken und auch körperlich wurde er immer resistenter. Hatte ihn sein Vater mit einem Sturz von der Treppe den Arm gebrochen, so hatte er einen Sturz aus dem zweiten Stock relativ gut weggesteckt ohne irgendwelche Knochenbrüche oder andere schwere Verletzungen davonzutragen. Mit fünf hatte er bereits die Windpocken, mit sieben Jahren die Masern und mit neun Jahren eine schwere Lungenentzündung überlebt, obwohl die Ärzte ihn bereits abgeschrieben hatten. Er hatte ein Talent dafür, am Leben zu bleiben, egal wie schwer die Bedingungen auch waren. Als er in den Keller gegangen war um seinem Vater sein Bier zu bringen, war ihm eine schwere Kiste auf den Kopf gefallen und hatte eine tiefe Platzwunde am Hinterkopf verursacht. Obwohl man ihn schnell ins Krankenhaus gebracht hatte, sah es für ihn alles andere als gut aus und auch hier war sein Überleben ungewiss. Beyond schien wirklich gar nichts umbringen zu können. Und doch bekam ihm dieses verdorbene Abendbrot wohl ganz und gar nicht und so erbrach er sein Abendessen wenig später im Badezimmer und bekam hohes Fieber. Kapitel 2: Die Gefühle des allein gelassenen Kindes --------------------------------------------------- Beyond lag mit 40°C Fieber im Bett und klagte über Schmerzen in Armen und Beinen und hatte schweren Schüttelfrost. Schließlich bekam er starke Bauchschmerzen und seine Temperatur stieg schließlich auf 41,4°C. Ein Arzt, ein gewisser Dr. Brooks wurde hergerufen und sah sich den Schwerkranken an. Seine Diagnose: Eine bakterielle Infektion. Neben Antibiotika bekam Beyond noch fiebersenkende Medikamente und musste erst einmal das Bett hüten. Dr. Brooks war ein schmieriger und aalglatter Kerl, der nicht gerade ein vertrauenswürdiger Arzt war. Seine Praxis war heruntergekommen und er verschrieb oft Medikamente, die nicht gerade ein normaler Arzt seinen Patienten verschreiben würde. So einen Arzt würde man mit einem Wort beschreiben: dubios. Beyond lag nun im Bett und hörte klassische Musik auf seinem CD-Spieler. Er hatte kühle Lappen auf Stirn und Augen und Harvey im Arm. Dieser war ein guter Tröster und munterte Beyond auch auf. Vier Tage lag er krank im Bett und nur langsam senkte sich sein Fieber. Am fünften und sechsten Tag war er noch sehr geschwächt und erst am siebten Tag war er wieder überm Berg. Trotzdem war er noch die ganze Woche vom Sportunterricht befreit und das kam ihm gerade Recht denn im Moment stand Schwimmunterricht auf dem Lehrplan und Beyond hatte Angst davor. Nicht dass er nicht schwimmen könnte oder wasserscheu wäre. Aber ein paar Kinder hatten ihn immer wieder unter Wasser gedrückt und er hatte schon mehrmals Angst gehabt zu ertrinken. Also saß er etwas weiter vom Becken entfernt und las Edgar Allan Poes Geschichten. Seine Lieblingsgeschichte war immer noch „Der Untergang des Hauses Usher“. Angefangen von Geisteskranken bis hin zu einer Frau, die dann auch noch lebendig begraben wird. Es waren immer solche Geschichten, die ihn faszinierten. Eben darum war er vielen Kindern unheimlich aber diese Romane und Geschichten gaben ihm auch gewissermaßen Halt. Denn sie hielten ihn vor Augen, dass alles noch viel schlimmer sein könnte. Nach dem Schwimmunterricht klagte Beyond über Schwindelgefühl und Kopfschmerzen und wurde daraufhin nach Hause geschickt. Er ging jedoch nicht nach Hause, er hatte etwas ganz anderes vor. Schwänzen war ja normalerweise nicht seine Art, aber irgendetwas ließ ihm keine Ruhe. Schon als er mit Fieber im Bett lag, konnte er an nichts anderes als die Machete auf der Müllhalde denken. Seitdem konnte er nicht mehr ruhig schlafen. Also hatte er den Plan gefasst, so schnell wie möglich dort zurückzukehren, wo er die Machete gefunden hatte. Schnell eilte er vom Schulgelände und lief bis zur Bushaltestelle. Dort setzte er sich hin, machte seinen Rucksack auf, den er wirklich für alles gebrauchte und holte Harvey hervor. Dieser hatte zuvor gewaltig protestiert, in einen Rucksack gezwängt zu werden aber Beyond hatte Angst, dass seine Mitschüler ihm Harvey wegnehmen und ihn kaputtmachen würden. „Puh, endlich wieder frische Luft. Ich dachte schon, ich müsste hier drin ersticken.“ „Tut mir leid Harvey, aber anders ging es nicht.“ „Ist schon okay, wir sind doch Freunde. Besser als wenn mich diese Kinder auseinander nehmen. Aber sag mal, warum schwänzt du die Schule?“ „Wir gehen noch mal zur Müllhalde.“ „Oh Junge, da können wir sicher lustige Sachen machen! Vielleicht finden wir sogar einen Schatz!“ Beyond verstand sich irgendwie selbst nicht so wirklich. Er hatte noch nie geschwänzt, obwohl er bereits Aufgaben aus der High School lösen konnte. Aber er konnte sich einfach nicht auf den Unterricht oder auf sein Buch konzentrieren. Er musste noch mal diese Machete in die Hand nehmen. Dieses Gefühl, das ihn nicht zur Ruhe kommen ließ, war wie ein Entzug von einer Droge. Alles in seinem Kopf drehte sich nur noch darum, wieder diesen Kick zu haben, diesen Gegenstand in die Hand zu nehmen und… und zuzuschlagen. Ja, er musste die Machete nehmen und mit ihr zuschlagen. All diese überschüssige Energie, die er fest in sich verschlossen hatte, die nun in seinem Körper wütete und danach schrie, freigelassen zu werden, musste er endlich loswerden und dazu brauchte er diese Machete. Die Fahrt mit dem Bus kam ihm wie eine Ewigkeit vor und er rannte so schnell er konnte die letzten paar hundert Meter zum Zaun, kroch durch das Loch und kletterte auf den Müllberg, dort wo er die Machete gefunden hatte. „Oh Mann, was werden wir für lustige Sachen anstellen, wenn wir das Ding gefunden haben. Lass uns die Bude auseinandernehmen, lass uns Sachen kaputt machen! Randale!!!“ Harveys Begeisterung war grenzenlos und seine Augen leuchteten richtig. Auch er schiene es kaum erwarten zu können. Sie brauchten nicht lange zu suchen, da fanden sie auch schon die Machete, die zwischen verrosteten Eisenstäben lag. Vorsichtig hob er sie hoch und sah sich die Klinge an. Trotz des eingetrockneten Blutes, das daran klebte, schien das Mordinstrument zu glänzen. Wie hypnotisiert starrte Beyond sie an und hörte nur wie durch Watte gefiltert Harveys Worte, der immer wieder sagte „Lass uns was kaputtschlagen!!!“ „Kaputtschlagen“ murmelte Beyond ein wenig benommen und nickte. „Kaputtschlagen.“ Etwas weiter weg fand er eine Puppe, die an diese Crashtest Dummies erinnerte. „Hey Beyond, mach doch mal ein paar Probeschläge mit dieser Puppe.“ Aufgeregt sah Harvey, wie der 10-jährige langsam die Machete hob, die Spitze der Klinge direkt auf die Brust der Puppe richtete und mit aller Kraft zustieß. Er durchbohrte die harte Oberfläche und zog mit einem Ruck die Klinge wieder raus. „Los, zerschlag der Puppe die Beine bevor sie noch abhaut!“ Beyond war wie in einem Rausch. Er schlug mit der Machete immer wieder zu, auf die Brust, das Becken, die Arme, die Beine und zu guter Letzt hieb er der Puppe mit einem kräftigen Schlag den Kopf ab. Wie eine Kugel rollte er davon, schlug hier und da mal auf und blieb weiter unten liegen. Stumm sah Beyond den übel zugerichteten Körper der Puppe an, dachte daran, dass dies genauso gut ein Mensch hätte sein können und empfand eine seltsame Gleichgültigkeit. Mit dem Einschlagen auf die Puppe hatte eine kaum spürbare Kälte von ihm Besitz ergriffen und er empfand gar nichts mehr. Keinen Hass, keine Aggression aber auch keine Angst. Es war ihm egal ob es nur eine Puppe war oder eine Leiche. So musste sich seine Mutter fühlen. Sie war innerlich so kalt und abgestorben, dass man es ihr auch so schon ansehen konnte. Eigentlich hätte es ihn schockieren müssen, dass er diesen Gewaltausbruch einfach verharmloste und als nichts Besonderes ansah. Aber im Moment kümmerte er sich nicht darum. „Das war wirklich toll Beyond, du hast es der Puppe gezeigt. Jetzt lass uns noch was finden, das wir kaputtmachen können!“ Das nächste fand sich schnell: Einen vergammelten Plüschbären, dem ein Auge fehlte. „Was soll ich mit dem hier machen Harvey?“ „Oh, das ist schwierig. Wir… wir könnten ihm die Bauchdecke perforieren und ihm die Füllung ins Maul stopfen. Oder wir zünden ihn an. Ja, lass ihn uns anzünden und gut durchrösten!!!“ „… aber ich hab kein Feuerzeug.“ „Och schade. Dann eben ein anderes Mal.“ Beyond schlitzte dem Bären den Bauch auf und riss die Watte raus, dann holte er einen Hammer und schlug wirklich alles kurz und klein, was ihm in die Quere kam bis er vor Erschöpfung nicht mehr konnte. Er stieg vom Müllberg runter, setzte sich auf einen Betonklotz und begann zu lachen. Ja er lachte wie ein Verrückter und kriegte sich gar nicht mehr ein. Und Harvey lachte mit ihm. „Siehst du Beyond? Gewalt kann doch Probleme lösen.“ Mit einem Taschentuch wischte sich Beyond den Schweiß von der Stirn, doch bevor er die Müllhalde verließ, steckte er ein Küchenmesser ein, das er zufällig fand. Mit dem Bus fuhr er zum Park, wo er sich in den Schatten einer Eiche setzte und mit Harvey plauderte. Sie redeten über alles Mögliche und Beyond fühlte sich wirklich glücklich im Moment. Und deswegen ging er auch zur alten Musikschule, die seit einiger Zeit verlassen war und wo noch ein funktionstüchtiges Klavier stand. Man hatte es dort gelassen, weil es sich nicht verkaufen ließ und weil es ziemlich schwer war. Und da die alte Musikschule noch nicht vermietet worden war, hatte man es dort gelassen. Beyond ging manchmal dorthin um dort zu spielen, weil seine Eltern ihm den Unterricht nicht bezahlen wollten und er kein Geld für ein richtiges Klavier hatte. Das Notenlesen hatte er im Musikunterricht in der Schule gelernt, den Rest brachte er sich selbst bei. Inzwischen konnte er schon schwierige Stücke spielen und hatte sogar schon die Schule bei einem Wettbewerb vertreten und gewonnen. Den Pokal hatte dann aber sein Vater zerstört, als er im Suff mal wieder randalierte. Durch eine Tür gelangte er in den Hinterhof und die erste Tür rechts führte ins Haus, wo es Toiletten und andere Unterrichtsräume gab. Ein paar Schritte weiter im Hinterhof gab es links eine kleine Überdachung wo man sein Fahrrad abstellen konnte. Direkt gegenüber einen Raum, der nicht größer als sein Zimmer war, wo früher vier Keyboards standen und ganz rechts der schwarze Flügel. Er war ganz schön mitgenommen und unansehnlich. Ein paar Tasten waren zerkratzt oder gelblich verfärbt. Kein Wunder, dass er sich nicht verkaufen ließ aber der Klang des Flügels war klasse. Beyond setzte sich auf den Hocker, Harvey auf den Flügel und schlug ein paar Noten an. „Au cool, spielst du was auf dem Klavier?“ „Na klar, hast du einen Wunsch?“ „Hm, da fällt mir nichts dazu ein. Spiel mal etwas ganz schwieriges. Was richtig Düsteres.“ Da wusste, was Beyond spielen konnte. Er positionierte seine Finger und schlug die ersten Akkorde an. Mit dem kleinen Finger und den Daumen schlug er ein tiefes G mit zwei unterschiedlichen Oktaven an. Nach vier Sekunden dann ein D# und nach zwei Sekunden dann ein D. Das wiederholte er noch ein Mal, dann begann er „Requiem for a Dream“ zu spielen. Die Anfangsmelodie spielte er ganz leise und zaghaft und steigerte sich langsam. Schließlich wurde das Lied laut und Beyond schloss dabei die Augen. Er brauchte die Klaviertasten nicht zu sehen, er wusste genau wie er spielen musste. Auch die Noten kannte er auswendig. Als er beendet hatte, lauschte er den schwindenden Klängen. Harvey applaudierte begeistert. „Du kannst ja richtig gut spielen. Wow, das ist… das ist… das Tollste was ich jemals gehört habe.“ Zum ersten Mal ein Lob von jemandem. Das war Beyond wirklich nicht gewöhnt und er wurde vor Verlegenheit rot im Gesicht. Schließlich begann er etwas Fröhlicheres zu spielen: „Voyage 1969“. Dieses Lied spielte er am allerliebsten. Es erinnerte ihn an einen unendlich weiten Sternenhimmel und dass er den Sternen so nahe wie sonst niemals war. Immer wenn er dieses Lied spielte hatte er das Gefühl, er könnte ins All fliegen, als wäre er frei wie ein Vogel. Anschließend spielte er noch „Corpse Voyage“ und machte dann eine Pause. Er hatte Hunger. Zum Glück hatte er im Wandschrank ein paar Süßigkeiten und andere Sachen versteckt, die relativ lange haltbar waren. Es kam schon mal vor, dass er von Zuhause weglief und es schlechtes Wetter gab. In die Hütte am See konnte er ja nicht gehen, so etwas tat nur jemand, der völlig den Verstand verloren hatte. Also bot sich die verlassene Musikschule an. Beyond hatte sich sogar eine kleine Sitzecke eingerichtet. „Wow, hier hat man ja alles, was man braucht.“ „Ja schon, aber leider gibt es hier keine funktionierende Heizung und keinen Strom. Über Nacht hierzubleiben ist hart.“ „Da könnte man doch ein Feuer machen. Das wärmt zumindest.“ „Kannst du keine konstruktiven Vorschläge machen?“ „Nö, nur destruktive.“ Harvey war schon etwas merkwürdig, aber er war auch echt lustig. Er hatte manchmal echt verrückte Ideen. Als sie nach drei Stunden Aufenthalt in der Musikschule zum Park gingen und eine Vogeltränke erreichten, kam der Hase doch auf die Idee, Storchenfallen aufzustellen und sie anschließend am Spieß zu braten. Eine praktischere Variante wäre ja ein Gewehr gewesen, aber Harvey erzählte, dass er aufgrund geistiger Unzurechnungsfähigkeit keine Waffe besitzen durfte. „Beyond, ich habe noch eine Idee: Wir könnten doch Nacktschnecken sammeln und sie dann morgen in die Schultaschen deiner Mitschüler schmuggeln. Oder wir sammeln Kieselsteine, malen sie an und geben sie irgendeinem Vollidioten und sagen dann, es sind Smarties!“ „Kannst du auch normale Vorschläge machen?“ „Nun, du könntest ja auch mit Gegenständen reden.“ „Wie jetzt?“ fragte Beyond und sah Harvey ungläubig an. „Was meinst du denn damit?“ „Na dass du mit Gegenständen sprechen kannst, wenn du mich dabeihast. Versuch es doch. Aber nimm dich lieber vor der bösen Waschmaschine in Acht. Die ist echt gruselig!“ Gruselige Waschmaschinen? Sprechende Gegenstände? Das wurde ja immer bescheuerter. Harvey war irgendwie ziemlich durch den Wind. „Na komm schon, versuch es doch mal. Das ist echt cool.“ Zwar glaubte Beyond nicht daran, dass das wirklich etwas brachte bzw. diese vollkommen bescheuerte Idee funktionierte, aber er wollte Harvey zumindest beweisen, dass es nicht funktionierte. Zwar war Beyond noch ein Kind, aber er war auch kein Kleinkind mehr und er war auch nicht gestört. „Hallo Klavier, wie geht es dir.“ „Ganz gut soweit. Ich fühl mich nur ein wenig eingerostet und ich könnte eine Überholung gut gebrauchen.“ Beyond wäre vor Schreck das Herz stehengeblieben als das Klavier tatsächlich antwortete. Entsetzt wich er zurück und wusste nicht, was er davon halten sollte. „Hat das Klavier da gerade wirklich gesprochen?“ „Na klar, du brauchst keine Angst zu haben. Das sind in Wahrheit ebenfalls nur Stimmen aus deinem Unterbewusstsein. So hast du gaaaaaanz viele zum reden.“ „Konnte diese Edna Konrad das auch?“ „Na klar, jeder kann das, wenn er will.“ „Wie war diese Edna denn?“ „Kann mich leider nicht erinnern. Es kommt mir vor, als wäre ich eine Ewigkeit eingesperrt gewesen. Und wenn du keine Erinnerungen an sie hast oder sie nicht kennst, kann ich dir leider nicht helfen.“ Na gut, aber einen Versuch war es wert. Beyond versuchte es schließlich mit den Türen und Fenstern. Das Ergebnis war interessant aber es gab auch Momente, in denen er keine Antwort erhielt. Das war nicht weiter tragisch. Er hatte jetzt alle möglichen Gesprächspartner der Welt und er hätte nie gedacht, dass die Nähmaschinen im Elektrofachhandel einen französischen Akzent hatten. Und die Litfasssäule klang wie ein Deutscher. Wirklich lustig. Diese neue „Fähigkeit“, die er durch Harvey bekommen hatte, war einfach unglaublich und so verbrachte er den ganzen Tag damit, mit Gegenständen zu reden. Erst als es langsam dunkel wurde, machte er sich wieder auf den Rückweg. Heute arbeitete seine Mutter als Putzkraft, da fiel es nicht großartig auf wenn er viel zu spät nach Hause kam. Manchmal war er sogar bis 22 Uhr noch draußen, es viel kaum auf bzw. keiner scherte sich drum. Jetzt war er jedenfalls müde und Hunger hatte er auch. Da er keinen Schlüssel besaß und seine Mutter die Tür immer abschloss, musste er durchs Fenster steigen. Aus dem Gartenschuppen holte er einen Stuhl und ging zum Küchenfenster, welches gekippt und offen war. Es zu öffnen war nicht schwer. Er streckte dazu seine Hand durch den Spalt, versuchte an den Griff des Nebenfensters zu fassen zu bekommen. Als er den Griff hatte, drückte er ihn im 45° Winkel nach rechts und zog den Arm wieder heraus. Dann drückte er gegen das Fenster und schließlich war es offen. Ein kleiner Trick, den er sich angeeignet hatte, als seine Mutter ihn nachts ausgesperrt hatte, nachdem er ins Bett gemacht hatte, da war er sieben Jahre alt gewesen. Irgendwie musste er ja wieder rein und so hatte er lange genug herumexperimentiert, bis er auf dien Trick mit dem gekippten Fenster gekommen war. Seitdem benutzte er ihn fast ständig, weil er keinen eigenen Schlüssel besaß und er von seinem Vater nie reingelassen wurde. „Hey, du bist ja ein richtiger Profi“ lobte Harvey begeistert und klatschte mit seinen Stoffpfoten. „Bist du auch schon mal woanders eingebrochen?“ „Nö, wüsste nicht wieso. Und jetzt sei still, wenn Vater zuhause ist, dann ist es besser, ihm nicht über den Weg zu laufen.“ Er ging zum Kühlschrank und sah nach, ob es etwas Essbares gab. Leider war erst übermorgen Einkaufstag und dementsprechend sah auch das Innere des Kühlschranks aus: Verschimmelter Käse, abgelaufene Joghurts und Milch, stinkende Wurst und es krabbelten sogar kleine Tierchen im Kühlschrank. Im Gemüsefach fand Beyond noch eine halbwegs essbare Gurke, die er mit etwas Frischkäse auf ein Brot legte und dann aß. Anschließend ging er auf sein Zimmer und legte sich müde aufs Bett. Der Tag war echt schon gewesen, aber jetzt war er einfach nur noch erschöpft und froh, auf seinem Bett zu liegen. „Harvey, wirst du für immer bei mir bleiben?“ „Wenn du es willst dann ja. Es liegt ganz allein in deiner Entscheidung.“ „Außer dich hab ich niemanden, mit dem ich reden kann. Keinen, der mich braucht oder der mir sagt, dass ich es wert bin glücklich zu sein.“ Damit nahm Beyond den blauen Stoffhasen fest in den Arm und begann zu weinen. Diese Angst, Harvey eventuell zu verlieren, war noch schlimmer als das Gefühl allein zu sein. Denn wenn man alleine war, konnte man nichts verlieren. Aber jetzt hatte er jemanden und war nicht mehr allein. Umso größer war jetzt die Angst, es wieder zu sein. „Keine Angst Beyond, wir sind doch Freunde. Und ich werde dich niemals alleine lassen!“ „Danke Harvey… du bist echt ein toller Freund.“ Kapitel 3: Die Rache des Außenseiters ------------------------------------- Die Tage und Wochen vergingen und Harveys und Beyonds Bindung wurde immer stärker. Von der Außenwelt kapselte sich der 10-jährige immer mehr ab und redete nur noch mit Harvey oder Alltagsgegenständen. Seine Lehrerin Mrs. Sherwood machte sich ernsthaft Sorgen und versuchte in aller Ruhe mit Beyond zu reden. Dieser blockte alles ab, bestritt, dass er Fantasiefreunde hatte und reagierte auffällig aggressiv. Tommy, einer seiner Mitschüler, der ihn immer wieder drangsalierte, schüttete er Insekten in die Schultasche und den bekannten Schläger Andy stellte er auf der Treppe ein Bein. Die Eltern wurden zum Rektor bestellt, diese kamen allerdings nicht und zeigten sich alles andere als kooperativ. Doch der bisher schlimmste Vorfall ereignete sich Anfang Juli, kurz vor den Sommerferien. Als vier Jungs ihm auflauerten und Harvey kaputtmachen wollten, rastete Beyond aus und schlug seine Angreifer mit einem Holzbrett nieder. Und einem anderen Mitschüler zog er einen Sack über den Kopf, fesselte ihn und sperrte ihn in den Geräteraum der Turnhalle ein, nachdem dieser ihn mit Kakao bespritzt hatte. Harvey war es, der Beyond immer wieder dazu ermunterte, Wände mit wasserfesten Stiften, Ketchup oder Senf zu beschmieren, Unterschriften zu fälschen oder seine Mitschüler anzugreifen. „Sie haben immer nur auf dich herumgehackt. Warum also solltest du es ihnen nicht zurückzahlen und sie spüren lassen wie es ist, immer nur herumgeschubst zu werden?“ Zunächst hatte Beyond gezögert und nur geantwortet „Ich weiß nicht, wie ich das tun soll.“ Er hatte sich zuerst unwohl dabei gefühlt, anderen das Gleiche anzutun wie ihm. Gab es da nicht diese Regel, dass man niemandem das antun sollte, was man selbst nicht erleben wollte? Aber Harvey hatte nicht locker gelassen. „Du zahlst es nur zurück! Also ist das in Ordnung. Jetzt komm schon, willst du immer nur das Opfer sein?“ Harvey hatte immer und immer wieder auf ihn eingeredet, bis Beyond dann während der ersten Pause schließlich in einer Kurzschlussreaktion die Tasche eines Mitschülers aus dem Fenster geworfen hatte, nachdem dieser ihn bespuckt hatte. Beyond war nur noch wütend gewesen und als er sah, dass sich der Inhalt der Tasche im ganzen Hof verteilt hatte, fühlte er wunderbare Genugtuung. Und er wollte nicht damit aufhören. Sie war wie eine Droge, die ihm ein unglaubliches Zufriedenheitsgefühl gab und er wollte immer mehr. War er vorher gleichgültig gewesen und hatte die Schikanen schweigend erduldet, so nahm er jetzt die kleinste Anfeindung zum Anlass, den nächsten Rachefeldzug zu planen. Auch heute hatte er einen Rachefeldzug geplant und zwar gegen Melissa Coleman. Dieses kleine Biest hatte bei ihm die Hausaufgaben abgeschrieben und als ihre ausgegeben. Er stand vor den Lehrern als Lügner und Betrüger da und dafür wollte er sich rächen. So, sie wollte auf Kosten anderer gute Noten haben? Dann konnte sie doch auch genauso gut schlechte Noten haben. Zu diesem Zweck hatte Beyond Schlaftabletten dabei. Es waren jene, die schon seine Mutter für ihren Suizidversuch benutzt hatte. Er hatte genau nachgelesen und wusste, welche Dosis tödlich war oder bei welcher man nach wenigen Minuten tief und fest schlief. Umbringen wollte er Melissa nicht aber zumindest wollte er ihr eine Lektion erteilen indem er sie den ganzen Test verschlafen ließ. In der Pause, der Lehrer schloss nicht ab, schlich er sich ins Klassenzimmer und gab die Tabletten in Melissas Wasserflasche. Zusätzlich noch ein wenig Alkohol, damit es besser wirkte und schüttelte alles kräftig durch. Da in der Flasche statt Wasser Traubensaft drin war, würde Melissa gar nicht merken, dass es anders schmeckte. Für gewöhnlich trank sie erst gegen Ende der Pause. Bis zum Test hin dauerte es noch und bis dahin würde Beyond warten. Als er das Schlafmittel ins Getränk gemischt hatte, eilte er aus dem Klassenzimmer und wartete in einer kleinen Nische, wo man ihn nicht sehen konnte. Er würde warten, bis alle in der Klasse waren und selbst als Letzter kommen und so tun als ob nichts wäre. Harvey hatte er wie immer in seiner Tasche dabei und dieser hatte den Mund gehalten um Beyond freie Bahn zu lassen. Erst als Beyond Stellung bezogen hatte, brach er sein Schweigen. „Oh Mann wird das spannend. Ich kann es kaum erwarten, bis sie das Zeug endlich trinkt! Das wird lustig!!!“ „Ja, das wird es.“ Beyond grinste und begann zu lachen. Es war ein kaltes und grausames Lachen, verbittert und hasserfüllt. Beyond war es leid, immer nur das Opfer zu sein. Mit Harvey war endlich seine eigene Zeit gekommen. Jetzt zahlte er es allen heim. Jede Schuld wurde beglichen. Wenn Beyond schon keine richtigen Freunde finden konnte, dann sollten sie ihn fürchten. Wie sagte Josef Stalin doch mal? „Der größte Genuss ist es, einen Feind aufs Korn zu nehmen, sich an ihm nach sorgfältiger Vorbereitung gründlich zu rächen und sich dann einfach ins Bett zu legen.“ „Ach ja, da fällt mir auch ein Zitat ein“ begann Harvey schließlich: „Dein Nachbar kratzt morgens länger am Auto, wenn du es am Abend vorher mit Wasser begießt. Ein polnisches Sprichwort.“ Beyond musste schmunzeln als er das hörte. Wirklich ein gut gewähltes Sprichwort. Als endlich die Glocke läutete, waren kurz darauf schon die Schreie und das Gelächter der Kinder zu hören. Er wartete noch weitere fünf Minuten bis die Schulglocke das zweite Mal läutete und kam aus seinem Versteck heraus. Harvey verstaute er wieder in der Tasche und ging ganz normal in die Klasse, wobei er das Wiegenlied von „Rosemarys Baby“ vor sich hinsummte. Doch bevor er über die Schwelle kam, fingen ihn auch schon Malcolm und Nelson Banks ab. Die beiden konnte er noch nie leiden und sie hatten die 10. Klasse schon zwei Male wiederholt, außerdem wurden sie ein Jahr später eingestuft, was sie zu den ältesten Kindern an der Schule machte. Keiner wagte es, es sich mit ihnen anzulegen, seit Kevin sich bei einer Prügelei einen gebrochenen Arm und eine Gehirnerschütterung zugezogen hatte. Vorzugsweise gingen sie immer auf die Schwächeren los, also auch auf Beyond. „Hey du Freak, was glotzt du denn so blöde?“ Beyond ignorierte sie lieber und versuchte an ihnen vorbeizugehen, doch da packte Malcolm ihn auch schon am Kragen und Nelson riss ihm die Tasche weg. Er öffnete diese und holte Harvey heraus. „Hey sieh dir mal das an: Das kleine Baby spielt noch mit Stofftieren.“ Als Beyond sah, wie brutal Nelson Harvey an den Löffeln packte und dann auch noch an seinem Stoffarm zerrte, brannten bei ihm die Sicherungen durch. Er biss Malcolm in den Arm, woraufhin dieser ihn schreiend losließ und dann schlug er Nelson direkt auf die Nase und verpasste ihm dann einen kräftigen Tritt zwischen die Beine. Nicht gerade das, was ein Mann tun sollte, denn so etwas galt als absolut unfair und so etwas war eher eine Notwehrreaktion einer Frau. Aber Beyond war es egal. Wer Harvey wehtat, der hatte es nicht besser verdient. Als Nelson zusammenklappte wie ein Gartenstuhl, schnappte sich Beyond den Besen, der in der Ecke stand und schwang ihn wie einen Baseballschläger. Der Holzstiel traf direkt Malcolms Stirn und wie eine Marionette, der man die Fäden durchgeschnitten hatte, sank er zu Boden. Auch ihm trat Beyond ins empfindlichste Zentrum, nahm seine Tasche und verstaute seinen kleinen Stofffreund wieder. Ohne auch nur die Miene zu verziehen, setzte sich Beyond an seinen Platz und holte sein Geschichtsbuch heraus. Als der Lehrer, ein gewisser Mr. Higgins von knapp 50 Jahren hereinkam und die beiden Verletzten vor Schmerz stöhnend auf dem Boden sich winden sah, da entgleisten ihm die Gesichtszüge und er fragte mit lauter Stimme, wer das war. Die Kinder schwiegen jedoch, denn sie hatten nun mehr Angst vor Beyond als jemals zuvor. Sie spürten jetzt nicht mehr nur, dass eine unsichtbare Gefahr von ihm ausging, sie sahen sie jetzt auch. Er war in ihren Augen ein gewalttätiges Monster. Doch dann brachten die beiden Banks-Brüder den Namen ihres Angreifers hervor und Mr. Higgins Gesicht wurde knallrot. Er war ein absoluter Choleriker und wenn jemand seine Hausaufgaben vergaß oder unaufmerksam war, dann wurde er ausfallend und stellte diese Schüler vor der ganzen Klasse bloß. Was er aber mehr hasste als Schulschwänzer, Faulpelze oder Träumer, waren Raufbolde und Schläger. Das Gesicht des ca. 150 Kilo schweren grauhaarigen Mannes mit dem Santa Claus Bart, quoll regelrecht auf wie der einer Wasserleiche und er begann aus voller Kehle zu schreien. Er beschimpfte Beyond als einen widerwärtigen Parasiten, als ein faules Kretin, als den Schandfleck der Klasse und letztendlich sprach er sogar davon, dass er solch verdorbenen Dreck der Gesellschaft nicht einmal seinen Jagdhunden zum Fraß vorwerfen würde. Schließlich fragte er „Was haben Sie zu Ihrer Verteidigung zu sagen Mr. Birthday?“ Er siezte als einziger Lehrer die Schüler an der Grundschule und ihm eilte ein nicht gerade guter Ruf voraus. Lange würde er mit diesen Methoden nicht durchkommen. Unbeeindruckt stand Beyond auf und schenkte seinem Lehrer ein eiskaltes Lächeln. „Jene, die Hunde besitzen, sind doch zu feige dazu, den Leuten selbst ans Bein zu pinkeln. Den Weg zum Rektor finde ich schon alleine. Schönen Tag noch Herr Lehrer.“ „Und auch noch frech ist er. Sie sind widerwärtiger Abschaum! Genauso verdorben wie Ihre Eltern. So etwas wie Sie gehört nicht einmal an eine Schule sondern bestenfalls in eine Anstalt für schwer erziehbare Kinder und Schwerstkriminelle!!!“ „Und ich habe da ein nettes Souvenir für den Rektor.“ Beyond hatte nicht nur einen Rachefeldzug gegen Melissa geplant sondern auch gegen seinen Lehrer Mr. Higgins. Er präsentierte kalt lächelnd ein kleines Diktiergerät, welches er in seiner Schultasche versteckt hatte. Noch zeigte sich der cholerische Lehrer unbeeindruckt aber als Beyond zurückspulte, die Wiedergabetaste drückte und die Stimme des Lehrers die letzten Worte wiederholte, da wurde das hummerrote Gesicht vollkommen leichenblass und der Schrecken stand ihm ins Gesicht geschrieben. Beyond holte die Kassette herauf und steckte sie sicherheitshalber in den Bund seiner Shorts um Mr. Higgins von vornherein die Möglichkeit zu nehmen, ihm das belastende Beweismaterial zu entnehmen. „Also dann, ich wünsche Ihnen noch eine schöne Anhörung bei der Schulbehörde. War nett Sie gekannt zu haben.“ Tatsächlich dauerte es nicht lange, da wurde Mr. Higgins aus dem Lehrdienst entlassen und durfte auch nicht mehr als Lehrer arbeiten. Sein Ruf war hin, er war verhasst als Kinderhasser und Tyrann. Es folgte eine regelrechte Hetzjagd, die Zeitungen brachten einen Artikel groß raus und die Leute zerrissen sich das Maul über ihn. Mr. Higgins Leben war ruiniert, er musste die Stadt verlassen, sonst hätte er kein Bein mehr auf die Erde gekriegt. Er zog schließlich nach Kalifornien, wo er Nachhilfeunterricht gab aber auch hier ging es ihm mit seiner cholerischen Art durch und schließlich wurde er unter anderem wegen Bedrohung Minderjähriger angeklagt, jedoch mit einem Bußgeld laufen gelassen. Dies war der Beginn seines finanziellen als auch existenziellen Zerfalls. Er musste nicht nur das Bußgeld zahlen, sondern auch für Anwalts- und Gerichtskosten aufkommen Er fand in dem Alter nur noch einen Job als Kassierer in einem Supermarkt und konnte kaum die Schulden bezahlen. Seine Frau ließ sich von ihm scheiden, zum Rest der Verwandtschaft hatte er keinen Kontakt mehr. Kinder hatte er selbst nie gehabt. Schließlich konnte er die Miete nicht mehr zahlen und wurde schließlich gekündigt. Er verkaufte immer mehr Sachen im Pfandhaus und als er dann auch noch einen Bandscheibenvorfall erlitt, konnte er nicht einmal mehr arbeiten. Im Alter von 60 Jahren lebte er zunächst in einem Obdachlosenwohnheim, dann landete er schließlich auf der Straße wo er dem Alkohol verfiel. 15 Jahre ging das so, bis ihn schließlich eine Geschwulstkrankheit erwischte, die ihn an der Kehle erwischte und er irgendwann nicht mehr sprechen konnte. Er war nicht mal mehr in der Lage richtig zu schlucken und verreckte elendig wie eine Kanalratte zwischen Müllcontainern, leeren Schnapsflaschen und Dreck. Von diesem Schicksal wusste Beyond Birthday nichts aber selbst wenn er es gewusst hätte, hätte er keinen anderen Weg gewählt. Er hatte seine Rache bekommen und eigentlich sollten ihm die anderen Kinder dankbar sein, dass er sie von diesem Scheusal erlöst hatte. Aber sie taten es nicht. Stattdessen wagte es niemand mehr, ihm auch nur zu nahe zu kommen oder ihn anzusehen. Alle machten einen großen Bogen um ihn herum und tuschelten hinter seinem Rücken. Beyond war es egal. Stattdessen sagte er zu Harvey „Sollen sie mich nur hassen, wenn sie mich nur fürchten.“ Für den Rest des Tages war Beyond vom Unterricht suspendiert und einen Brief an seine Eltern würde es auch geben. Diesen würde sein Vater ignorieren oder wieder auf seine Frau losgehen und diese würde wieder mit Selbstmord drohen oder eine Depressionsnummer abziehen. Das konnte ihm scheißegal sein. Von der Schule aus ging er wieder zur alten Musikschule und spielte dort „Goodbye“ von Jan A.P. Kaczmarek. Doch da es Harvey nicht gefiel, hörte Beyond mittendrin auf und spielte stattdessen „Blood Theme“ von Daniel Licht. „Nichts hasse ich mehr als so romantische Schnulzenlieder, bei denen man heulen muss.“ Eigentlich hätte Beyond lieber „Goodbye“ weitergespielt, denn er fand dieses Lied einfach schön, auch wenn es von den Noten her nicht sehr anspruchsvoll war. Er hatte es zufällig im Internet gefunden, da es der Songtitel für den Film „Hachiko“ war. Beyond hatte sich daraufhin den Film angesehen und obwohl er kein großer Liebhaber von Hunden war, hatte ihn die Geschichte von dem Hund nicht kaltgelassen, der selbst nach dem Tode seines Herrchens zehn Jahre am Bahnhof auf seine Rückkehr gewartet hatte und dann gestorben war. Eine wahre Geschichte, die sich in Japan zugetragen hatte. Auf der einen Seite beneidete Beyond den Besitzer des Hundes, dass er einen so treuen Freund hatte, der immer und immer wieder an der Stelle geduldig auf ihn wartete, wo er sein Herrchen abgeholt hatte. Auf der anderen Seite verstand er nicht, wie man so treu bleiben konnte. Spätestens nach drei Wochen hätte der Hund doch kapieren müssen, dass sein Herrchen nicht mehr wiederkommt. Entweder war der Hund einfach nur dumm… oder er liebte seinen Besitzer so sehr, dass er einfach nicht die Hoffnung aufgeben wollte. Dieses Gefühl, aufrichtig von jemandem geliebt zu werden, hatte er noch nie gekannt aber es musste sicher schön sein. Beyond hatte nun keine Lust mehr, emotionale oder düstere Lieder zu spielen und wollte lieber mal eine Herausforderung haben. Also begann er „Old Yuanxian“ zu spielen. Dabei spielte er zwischendurch derart schnell, dass er schon Schmerzen in den Fingern spürte. Aber er spielte weiter. Selbst als er erste Fehler machte, hörte er nicht auf und schlug immer kräftiger auf die Tasten. Als Harvey ihm etwas sagen wollte und ihm schon laut zurief, hörte er nicht auf. Im Moment wollte er einfach nur abschalten und Harveys Stimme nicht hören. Irgendetwas kam ihm so falsch vor. Er konnte nicht genau sagen was es war. Es war genau das gleiche Gefühl als wenn man eine Seite durchliest oder ein Bild ansieht und genau wusste, dass irgendwo ein Fehler war. Doch egal wie sehr man auch suchte, man fand diesen Fehler nicht. Was war hier nur verkehrt? Die Tatsache, dass er sich gegen die Gemeinheiten der Mitschüler zur Wehr setzte oder dass er schon so laut spielen musste um Harveys Stimme nicht mehr hören zu müssen? Es war nicht so dass er den blauen Stoffhasen hasste, aber es war so, als würde ein Teil seines Unterbewusstseins immer wieder versuchen, ihn zu verdrängen oder loszuwerden. Warum nur? War Harvey etwa doch nicht so freundlich und vertrauenswürdig wie Beyond zunächst gedacht hatte? Als Beyond nicht mehr konnte, stand er auf und ging zur Tür, doch bevor er über die Schwelle treten konnte, hielt ihn Harvey auf. Und dieses Mal hatte seine sonst so freundliche Stimme etwas Unheimliches an sich, das Beyond einen Schauer einjagte. „Aber Beyond, du willst mich doch nicht zurücklassen. Wir sind doch Freunde, oder etwa nicht?“ Irgendeine Stimme in Beyond schrie, schnell wegzulaufen, so weit weg wie nur möglich. Weit weg von Zuhause und weit weg von Harvey. Warum auf einmal hatte er dieses Gefühl? Aber besser war doch die Frage, warum er es beim besten Willen nicht schaffte, durch die Tür zu gehen. Als ob sein Körper seinem Willen nicht mehr gehorchte. Angst stieg in ihm hoch und er versuchte den Raum zu verlassen, doch es wollte ihm nicht gelingen. Warum bloß nicht? So sehr er sich auch bemühte, sein Körper war wie festgefroren. Dann aber drehte er sich um und sah zu Harvey, der ihn erwartungsvoll zugrinste. „Komm, lass uns zusammen nach Hause gehen.“ „Nein…“ Dieses Nein sprach Beyond mit größter Mühe aus, als hätte er selbst das Sprechen verlernt. Seine Zunge fühlte sich taub und bleischwer an und er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Nun drohte Beyond in Panik zu geraten, ihm kamen die Tränen und er bekam kaum noch Luft. „Na komm schon Beyond, Freunde machen doch keine Scherze miteinander.“ Nein, das hier war sicherlich kein Scherz. Beyond konnte nicht anders. Er musste zurückgehen und Harvey mitnehmen. Wie ferngesteuert ging Beyond zu Harvey und steckte ihn wieder in die Tasche. „So ist es gut, wir gehören immer zusammen!“ Dieser Stoffhase machte ihm Angst und er spielte schon mit dem Gedanken daran, ihn wieder in die Hütte zu bringen und in der Kiste zu verschließen, wo das kleine Mädchen fast gestorben wäre. Oder ihn im brennenden Ofen des Kamins zu entsorgen, ihn in Stücke zu reißen oder mit Gewichten versehen in den See zu werfen. Er musste dieses… Ding loswerden. Doch kaum hatte Beyond die Musikschule verlassen, da war seine Angst völlig verschwunden und ihm war so, als wäre das gerade eben gar nicht passiert. Als hätte er diese Blockade gerade eben vollständig aus seinem Gedächtnis gestrichen. Nein, so konnte man es auch nicht nennen, denn er erinnerte sich ja daran. Aber auf einmal erschien ihm diese Sache einfach nur nebensächlich und unwichtig. Kapitel 4: Die Flucht des verhassten Kindes ------------------------------------------- Als Beyond nach Hause kam, wollte er in die Küche gehen um sich etwas aus dem Kühlschrank zu holen, doch da trat ihm die schwarze spinnenartige Knochengestalt von Mutter entgegen und sie sah noch verfallener und älter aus, als sie eh schon vorher ausgesehen hatte. Sie hielt ein Küchenmesser in der Hand, offensichtlich hatte sie damit das Essen zubereitet. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie ihn an und knirschte mit ihren spitzen Zähnen. Ihre skelettartige Hand kam ihm näher und Beyond trat einen Schritt zurück. Er hatte keine Angst vor ihr, genauso wie manche Kinder Angst vor einer Spinne hatten. Ein Gemisch aus Furcht und Ekel. „Dein Rektor hat angerufen. Du schlägst deine Mitschüler und beschimpfst deinen Lehrer.“ „Tut mir leid, Mum“, sagte Beyond halbherzig und wollte an ihr vorbei in sein Zimmer gehen aber sie legte schließlich das Messer beiseite, packte ihn am Arm und begann ihn zu ohrfeigen. Mit einem Male regte sich etwas in dieser lebenden Leiche und das Gesicht wurde zu einer hässlichen Fratze des Hasses. Cassandra Birthday, diese seelenarme Person, die nur noch dahinvegetierte und sonst weder Freude noch Trauer verspürte, war nur noch von Abscheu gegen das Wesen erfüllt, welches sie geboren hatte. „Du machst mich krank“ schrie sie und gab ihm noch eine Ohrfeige, dann zerrte sie Beyond hoch und legte ihre Knochenfinger um seinen Hals. „Du bist es, der mich krank macht. Seit du geboren wurdest, geht alles kaputt. Nur wegen dir bin ich krank. Wegen dir kann ich nicht glücklich sein, du saugst mir all meine Energie und meine Lebenskraft aus wie eine widerliche Krankheit. Du bist ein Parasit, eine Krankheit!!!“ Während Cassandra mit schriller Stimme schrie, drückte sie immer fester zu und hatte offensichtlich das Ziel, ihren einzigen Sohn erwürgen. Und mit diesem Satz verstand Beyond endlich. Seine Mutter sah ihn nicht als einen Sohn an geschweige denn als einen kleinen Schmarotzer, den sie durchzufüttern hatte. Sie sah ihn als eine Krankheit an, die sie körperlich wie seelisch immer weiter auszehrte und sie schließlich sogar töten würde. Und er verstand endlich, dass sie ihn nicht nur nicht liebte, sondern verabscheute und hasste, ebenso wie er sich vor ihr ekelte und sie hasste. Doch die Genugtuung seines Todes wollte er ihr nicht lassen, nein er wollte weiterleben. Er würde ihr zuvorkommen. „Beyond, unternimm etwas, sonst stirbst du!!!“ rief Harvey aus der Tasche zu ihm und diese Stimme riss Beyond aus seiner Schockstarre und er biss seiner Mutter in die Hand. Er biss so stark zu, dass es sogar blutete und schreiend ließ sie ihn los. Während sie ihre Hand hielt und vor Schmerz schrie, schnappte er nach Luft, hustete und sah das Messer auf der Kommode liegen. „Nimm es Beyond“ rief Harvey ihm zu. „Nimm das Messer und ramm es ihr in den Körper. Genauso wie du es mit der Puppe gemacht hast! Na los!“ Bevor Cassandra Birthday reagieren konnte, hatte ihr Sohn das Messer geschnappt und hielt es direkt auf sie gerichtet. Doch anstatt Angst vor der Waffe, war nur der pure Hass in ihren kalten Augen zu sehen. Diese widerwärtige Dämonenfratze, von Abscheu gezeichnet, war das Hässlichste, was Beyond jemals gesehen hatte. Mit einem Male war diese kalte und sterile Maskerade abgefallen und das wahre Monster zeigte sich. „Willst du mich umbringen?“ fragte sie mit boshafter Stimme. „Du willst mich umbringen? Du hast mich doch schon getötet. Seit dem Moment deiner Geburt an bin ich schon tot. Mich kannst du nicht mehr töten. Hätte ich dich doch damals abgetrieben, dich habe ich niemals gewollt, du warst nur ein Unfall. Du hast mein Leben ruiniert!!!“ Kaum hatte sie diesen letzten Satz gesprochen, schrie Harvey auch schon „Töte sie!!!“ Doch Beyond stand wie betäubt da und hielt nur das Messer auf seine Mutter gerichtet. Sein Kopf war völlig leer und er zitterte am ganzen Körper. Tränen sammelten sich in seinen Augen. „Nein“ sagte er schließlich und umklammerte das Messer noch fester. „Du hast mein Leben ruiniert und ich nicht deines. Ich hasse dich!!!“ Beyond konnte nicht mehr klar denken, er wollte nur noch dieses hasserfüllte lebende Skelett töten. Doch bevor er überhaupt das Messer heben konnte, trat ihm seine Mutter hart in den Bauch und dann in die Brust. Dabei wurde all seine Luft aus den Lungen gepresst und Beyond glaubte schon zu ersticken. Er rang nach Luft und fiel zu Boden. Cassandra Birthday nahm ihm das Messer aus der Hand und richtete es dann selbst auf ihn. „Ich hätte das schon viel früher tun sollen. Wenn du nicht da wärst, dann hätte ich glücklich werden können!“ Mit der einen Hand drückte sie Beyonds Hals zu und hielt mit der anderen Hand das Messer, welches bedrohlich im Licht der Abendsonne leuchtete. Jetzt ist es aus, jetzt wird sie mich umbringen. Hoffentlich macht sie es kurz und schmerzlos, dachte Beyond und schloss die Augen um sich auf das Unvermeidbare vorzubereiten. Doch der Messerstich kam nicht, denn stattdessen wurde die Haustür geöffnet und herein trat Beyonds Vater, mal wieder sturzbesoffen und laut brüllend. „Hey Cassie, mach mir gefälligst was zu essen! Ich hab Hunger!“ Als hätte dies einen Schalter bei dieser abgemagerten Frau umgelegt, fiel sie wieder in sich zusammen und wieder war da diese leblose Gleichgültigkeit in ihrem Gesicht zu sehen. Die dämonische Fratze war verschwunden. „Ja Schatz, ich komme sofort.“ Damit ließ sie von Beyond ab und ging in die Küche zum Herd um zu kochen. Beyond kauerte zitternd auf dem Boden und begann zu weinen. Zum ersten Mal war er dankbar, dass sein Vater zurückgekommen war. Wäre dieser nicht früher als sonst nach Hause gekommen, wäre Beyond sicher jetzt tot…. Schnell schnappte er sich Harvey und rannte hinaus auf die Straße. Er hatte Angst und wollte am liebsten nie wieder nach Hause zurückkehren. Beyond rannte bis er nicht mehr konnte, aber dieses Mal lief er nicht zum See sondern in Richtung Innenstadt. Nachts war es am See unheimlich und dunkel. Da schlief er doch lieber irgendwo in einer Garageneinfahrt. Die Straßen waren still und verlassen und langsam wurde es dunkel. Zum Glück war es Sommer und damit nachts nicht kälter als 10°C aber trotzdem würde es kühl werden. Also musste sich Beyond irgendwo eine Unterkunft suchen, wo er halbwegs im Warmen war. Zur Auswahl stand unter anderem das verlassene Fabrikgelände, wo er zumindest vor Regen geschützt war, eine unverschlossene Garage oder er hielt es in einem 24-Stundenbetrieb aus. Das verlassene Fabrikgelände wählte er lieber als allerletzte Alternative, denn dort war es echt unheimlich. Manchmal trieben sich dort heimatlose Tiere herum und machten Lärm. Hunde, Katzen… und manchmal trieben sich dort Junkies rum oder Obdachlose. Und denen wollte Beyond lieber aus dem Weg gehen. Schließlich fand Beyond zu seinem Glück doch noch eine Unterkunft, wo er schlafen konnte: Die Gartenlaube eines Einfamilienhauses, die offensichtlich nicht zur Geräteverstauung benutzt wurde sondern eine Art Rückzugsort war. Es gab eine Sitzecke mit vielen Kissen, eine Decke, etwas weiter weg ein Terrarium mit kleinen Mäusen. Hier gab es auch eine Lampe und einen Kühlschrank. Leider waren da drin nur Getränke aber allein schon die Tatsache, dass er einen Ort zum Schlafen gefunden hatte, reichte Beyond auch schon. Er ging zur Sitzecke, legte sich die Kissen einigermaßen zurecht und deckte sich mit der Decke zu. So verbrachte er eine unruhige und recht kurze Nacht. Noch bevor die Sonne aufging, verließ er sein Nachtquartier und ging in Richtung Supermarkt. In den Abfallcontainern fand man oft noch Lebensmittel, die noch einigermaßen essbar waren. Nach Hause wollte Beyond nicht gehen. Nein, er wollte am liebsten nie wieder nach Hause. Überall war es besser! „Möchtest du auch was essen, Harvey?“ „Nein danke, ich fühl mich als hätte ich den ganzen Bauch voll Watte.“ Beyond war zu müde um darüber lachen zu können. Am liebsten wollte er diese gottverdammte Stadt verlassen und weit weg gehen. Vielleicht hatte er ja Glück und er wurde von einer netten Familie adoptiert. Oder man entführte und tötete ihn. Im Moment war ihm alles recht. Aus dem Müll fischte er etwas Obst und kaufte sich vom Rest seines Taschengeldes etwas Brot. Danach entschied er sich dazu, das Beste aus seinem Tag zu machen. Wenn er schon nicht nach Hause konnte, dann sollte er es doch nutzen. In der Nachbarstadt lief zurzeit eine Kunstausstellung, die wollte er schon längst besuchen und für Kinder unter 12 Jahren war der Eintritt kostenlos. „Hey Harvey, hast du Lust zur Kunstausstellung zu gehen?“ „Och Mann, das ist doch langweilig. Lass uns lieber ein paar Sachen anzünden oder wieder eine lebensgroße Puppe klein hacken.“ „Nee, mir ist nicht danach. Aber wir können es später noch machen.“ „Zur Not können wir die Kunstgegenstände mit Ketchup und Senf beschmieren!“ Per Bus fuhr Beyond in die Nachbarstadt und stieg am Bahnhof aus um sich den Stadtplan anzusehen. Er hatte keine Ahnung, wo diese Ausstellung war und wie er dorthin gelangen konnte. Da war es nur ratsam, sich den Stadtplan anzusehen. Allerdings war da nicht wirklich markiert, wo sich die Galerie befand und so musste er an der Touristeninfo nachfragen. Dort wurde ihm Auskunft gegeben und so machte er sich auf den Weg um die richtige Buslinie zu finden. Es dauerte knapp zehn Minuten bis der Bus kam und Beyond setzte sich ans Fenster und starrte hinaus. Am Bus vorbei fuhren die Autos auf der linken Seite, der Fußgängerweg mit den Geschäften war auf der rechten Seite. Diese Stadt hier war nicht viel anders als Beyonds Heimatstadt und er hasste sie jetzt schon, allein weil sich beide so ähnlich waren. Aber zumindest hatte diese Stadt hier ein Geschichtsmuseum, eine größere Bibliothek und eine Galerie. Ein bisschen mehr Kultur…. Die Galerie war nicht sehr groß aber trotzdem gut besucht und die Bilder waren wirklich sehr schön. Angefangen von Landschaftsmalereien bis hin zu abstrakten Bildern. Überall standen die Leute und redeten über irgendwelche Metaphern, Botschaften und Emotionen, die durch diese Bilder vermittelt würden und über anderes verrücktes Zeugs, das Beyond nicht verstand. Als Beyond sich ein Gemälde mit einem blauen Pferd auf einem kunterbunten Hintergrund ansah, hörte er wieder irgendwelche Kritiker über „Expressionismus“ reden. Er selbst kapierte nicht, warum die Leute so etwas redeten. „Hast du vielleicht ne Ahnung, warum die irgendwelche bescheuerten Sachen in die Bilder reininterpretieren anstatt die Bilder einfach nur schön oder hässlich zu finden?“ „Naja, wie lautete dieser Spruch noch mal: „Nirgendwo wird mehr Müll geredet als in einem Kunstmuseum“. Erwachsene sind total idiotisch!“ Dem pflichtete Beyond bei und sah sich nun die abstrakte Kunst an. Manche erinnerten ihn an Picasso, auch wenn sie markante Unterschiede aufwiesen und es gab farbenfrohe als auch monochrome Bilder auf denen alle möglichen Motive zu sehen waren. Eine Stunde bestaunte er den Westflügel der Galerie und ging dann in Richtung Ostflügel, wo es sich hauptsächlich um Paradoxe und bizarre Darstellungen drehte. Auf einer riesigen Leinwand war ein betender Engel zu sehen, der an einem Galgen aufgeknüpft war und über einem riesigen Loch baumelte, aus denen Flammen nach ihm schlugen. Oder ein Puppenkörper war an die Wand genagelt worden, die Hände ausgebreitet wie bei Jesus. Auf den Hals hatte man einen Totenschädel gesetzt und soweit Beyond die dazugehörige Informationskarte las, wurde diese Puppe aus Knochenporzellan gefertigt. Inspiriert wurde der Künstler durch die rumänische Legende des Puppenmachers aus Bukarest. Angeblich hatte ein Verrückter dutzende Kinder getötet und aus ihren Knochen Puppen gefertigt und ihr Fleisch den Hunden zum Fraß vorgeworfen. Echt gruselig, besonders weil es angeblich wirklich passiert war, vor ungefähr 200 Jahren. Je weiter Beyond ging, desto bizarrer wurden die Darstellungen und manche von ihnen wirkten sehr anstößig und grotesk. Ein Bild aber faszinierte Beyond. Es stellte ein rotes Herz auf einem dunklen Hintergrund dar und in der Mitte des Herzens ein einfach gemaltes Auge, welches Beyond direkt anzustarren schien. Sehr detailliert war dieses Bild nicht aber dieses Symbol… es war unbeschreiblich. Es zog Beyond regelrecht in seinen Bann und prägte sich fest in sein Gedächtnis. Der Titel des Bildes lautete „Hypnotic Trance“. Soweit er richtig informiert war, hatte so eine Hypnose mit dem Unterbewusstsein zu tun. Schon wieder Tiefenpsychologie, ob das ein Zufall war? Harvey wurde ein wenig nervös. „Lass uns besser gehen…“ Doch Beyond ging weiter und kam zu einem ziemlich großen Gemälde, das fast die ganze Wand ausfüllte. Es zeigte eine nackte Frau auf einem dunkelgrünen fast schwarzen Hintergrund, die die Augen weit aufgerissen hatte. Eines war nach oben verdreht und sie selbst lachte wie eine Wahnsinnige. Die Finger hatte sie in den schwarzen Haaren verkrallt, aus denen Spinnen krabbelten aber das war noch nicht das wirklich Bizarre: Ihr Körper war von Schnüren oder so ähnliches umwickelt, die wohl die Adern darstellen sollten, die aus den Handgelenken, usw. herausgerissen worden waren. An den Oberschenkeln und an den Unterarmen hatte die Frau tiefe Schnittwunden, aus denen schwarzes Blut herausquoll. Aus ihrem Rücken wuchsen Flügelknochen, die blutverschmiert waren und aussahen wie spitze lange Klingen. Und um diese Frau herum waren wieder diese roten Herzen mit diesen Augen. Das Bild jagte Beyond einen Schauer über den Rücken und er sah sich den Titel des Bildes an „The Subconscious Terror“. Der Unterbewusstseinsterror. Dieses Mal hörte er den beiden Kritikern zu, die sich über das Bild unterhielten. Sie sahen die Augenherzen als Symbol für Paranoia, Selbstbeobachtung und auch als Symbol des eigenen Unterbewusstseins. Die Spinnen standen für die unterbewussten Ängste, die sich ohne bestimmte Einflüsse bei Menschen entwickelten und auch für Traumata oder krankhafte Phobien stehen. Und die Adern, die nach außen traten, erinnerten an das Gemälde „Die zwei Fridas“ und sollten wohl Wahnvorstellungen darstellen. Und die Schnittwunden zeigten Selbstverstümmelung und psychische Krankheiten. Alles in allem war die Frau durch ihr eigenes Unterbewusstsein in den Wahnsinn getrieben worden. Beyond ging zum Kritiker hin und fragte ihn ob er wüsste, wer dieses Bild gemalt hatte. Dieser sah ihn erstaunt an und stellte erst mal die Gegenfrage, wo seine Eltern denn seien. „Ich bin mit meiner Tante hier aber die ist zur Toilette gegangen. Ich warte nur, bis sie wiederkommt. Wissen Sie also wer das Bild gemalt hat?“ „Hm, schwierig…. Myers, wissen Sie wer der Künstler war?“ „Nun, soweit ich richtig informiert bin eine gewisse Emma Kowalski. Soll aus Deutschland kommen.“ „Ja in Europa gibt es wirklich hervorragende Künstler.“ Emma Kowalski, Ein wirklich merkwürdiger Name. Klang eher polnisch als deutsch. Beyond sah sich das nächste Bild der Künstlerin an, welches nicht weniger bizarr als das andere war. Es stellte einen in ein weißes Gewand gehüllten Menschen dar, der die Arme nach vorne gestreckt hatte und dabei den Kopf in den Nacken legte, den Mund geöffnet und die Augen verdreht hatte. Der Hintergrund wirkte vollkommen verzerrt und surreal auf der rechten Seite wobei man aber zum Teil Straßen und Häuser sehen konnte. In der rechten Hälfte war es noch halbwegs natürlich aber die linke Seite war genauso dunkel wie auf dem anderen Bild mit der wahnsinnigen Frau. Und auch hier waren auf der dunklen Seite wieder diese Augenherzen. Offenbar eine Art Signatur der Künstlerin. Der Titel dieses Bildes lautete „Borderline Walking“ wobei aber sicherlich nicht eine Anspielung auf dass Borderline Syndrom gemeint war. Wahrscheinlich sollte das hier die Grenze zwischen Bewusstsein und Unterbewusstsein darstellen und dass dieser Mensch sich in irgendeiner hypnotischen Trance befand und zwischen diesen Grenzen wandelte. Irgendwie hatte Beyond das Gefühl, diese Bilder könnten wichtig sein und dass sie ihm eine bestimmte Botschaft vermitteln sollten. Vielleicht in Bezug auf Harvey? Emma Kowalski, wer war diese Frau bloß? Beyond schnappte sich eine Infobroschüre zu der Ausstellung und suchte nach Informationen über Emma Kowalski. Zu seiner Überraschung las er, dass die Künstlerin heute Abend zur Ausstellung kommen und etwas über ihre Bilder erzählen würde. Das war doch mal ein glücklicher Zufall. Da sollte Beyond doch besser heute Abend noch mal vorbeischauen und diese Emma mal näher zu den Bildern befragen. Vom ständigen Stehen und Laufen taten Beyond irgendwann die Füße weh und so verließ er erst einmal die Ausstellung und suchte sich einen geeigneten Ort, um sich auszuruhen. Er wählte einen kleinen Park, wo er sich auf einer Bank hinlegte und seinen Kopf auf Harvey bettete. Etwas weiter weg saß eine Frau mit langen schwarzen Haaren vor einer Staffelei und malte auf einer Leinwand. Wieder musste er an Emma Kowalski denken. Vielleicht sollte er sie aufsuchen und sie fragen, wie das mit dem Unterbewusstsein funktionierte. Vielleicht hatte sie ja auch eine Antwort darauf, wie er verhindern konnte, dass… ja was verhindern? Beyond überlegte scharf aber er konnte sich nicht erklären, was er eigentlich wollte. Ständig waren da zwei Stimmen, die sich miteinander stritten und auf ihn einredeten. Harvey auf der einen Seite, der seiner Zerstörungswut freien Lauf lassen wollte und auf der anderen Seite seine innere Stimme, die ihn vor Harvey warnte. „Du musst ihn loswerden, bevor etwas Schlimmes passiert!“ Aber Beyond konnte sich nicht erklären, warum diese innere Stimme so darauf beharrte, Harvey loszuwerden. Harvey war doch sein Freund und er würde doch ganz sicher nichts tun um ihm zu schaden. Oder etwa doch? Irgendwie wusste Beyond selbst nicht, was er machen sollte. Er war einfach nur durcheinander und verwirrt. Aber dann kam ihm eine Idee. Vielleicht half ihm ja Harveys Besitzerin weiter. Wenn sie das gleiche Problem gehabt hatte, konnte sie Beyond ja helfen. Sie ist Harvey losgeworden. Ja genau, er würde sich auf die Suche nach Edna Konrad machen. Kapitel 5: Zuflucht bei Edna Konrad ----------------------------------- Am späten Nachmittag wachte Beyond auf, nachdem er auf der Bank eingeschlafen war und machte sich zusammen mit Harvey auf den Weg zur Galerie. Er hatte Kopfschmerzen und ihm war schlecht vor Hunger, außerdem fror er. Um sich freier bewegen zu können, hatte er Harvey wie immer in der Tasche verstaut und schaffte es, bei einer alten Frau etwas Geld zu erbetteln um sich etwas zu Essen zu kaufen. Von dem Geld kaufte er sich ein Glas Marmelade, einen Apfel, ein belegtes Sandwich und eine Flasche Mineralwasser. Vom Rest des Geldes holte er sich Aspirin. Nachdem er sich gestärkt hatte, betrat er die Galerie und sah auf die Uhr an der Wand. Noch knapp eine halbe Stunde hatte er Zeit. Sehr gut, dachte er und ging in den Ostflügel zu den bizarren Gemälden. In der Zwischenzeit hatte man ein weiteres Bild angebracht auf dem ein Kind im weißen Kleid zu sehen war, das sich am Ast eines Baumes festklammerte und dem das Entsetzen ins Gesicht geschrieben stand. Unter den Füßen des Mädchens war der freie Himmel und um das Mädchen herum stürzten Autos und Menschen in die Tiefe. Und wie immer waren hier versteckte Augenherzen zu sehen. „Reverse World“, eine verkehrte Welt also. Die Fantasie eines Kindes, das sich auf den Kopf stellte und damit die eigene Welt mit ihr. Alles wurde ins Gegenteil gedreht, eine Kopfüber-Welt, die absolut tödlich war. Denn würde es so eine Welt geben, dann würde alles hinabstürzen und in der Sonne verglühen. Es kam Beyond so vor, als wäre das Motiv ein Alptraum gewesen, den Emma Kowalski auf der Leinwand verewigt hatte. Aber seine eigentliche Aufmerksamkeit hatte das Bild „Hypnotic Trance“ inne, das er wie gebannt anstarrte. Irgendwie war da ein kleiner leuchtender roter Punkt in der Pupille des Auges, zumindest glaubte er das. Er konnte nicht anders, er sah dieses kleine kaum bemerkbare rote Licht an, welches leicht blinkte. Wie erstarrt stand Beyond da und all seine Gedanken, all seine äußerlichen Empfindungen konzentrierten sich allein auf dieses kleine Licht. Die Stimmen im Hintergrund rückten unmerklich in weite Ferne, er bemerkte nicht einmal, wie es draußen dunkel wurde oder dass ein Fenster geöffnet wurde. Sein Kopf oder besser das, was darin war, fühlte sich bleischwer und gleichzeitig benebelt an und er begann ein klein wenig zu wanken. Zwar hörte und spürte er noch etwas aber dieses rote Licht in der Pupille des Augenherzens ließ ihn irgendwie benommen werden. Beyond fühlte wie seine Augen schwer wurden und alles um ihn herum begann sich zu drehen. Wie durch Watte gefiltert hörte er wie jemand ihm etwas sagte, spürte wie man ihm eine Hand auf die Schulter legte aber er war unfähig, darauf zu reagieren, so als wäre er selbst in weite Ferne gerückt. Nun gaben seine Knie nach, doch die Person, die ihn angesprochen hatte, hielt ihn fest, nahm ihn auf den Arm und trug ihn zu einer Bank. Nur langsam kam er wieder zu sich und bemerkte erst jetzt, dass eine Frau um die 28 Jahre mit langem schwarzem Haar neben ihn kniete und eine Hand auf seine Stirn legte. „Hey Kleiner, alles in Ordnung mit dir?“ „Ja…“ murmelte Beyond und sein Bewusstsein wurde wieder klarer. Die Frau, die neben ihm kniete, erinnerte ihn ein wenig an seine Mutter. Jedoch war sie nicht so abgemagert und blass und kränklich sondern wirkte viel gesünder. Und der Name dieser Frau lautete Edna Konrad. Ein Mann im Anzug kam schließlich hinzu. „Miss Kowalski, sollen wir den Krankenwagen rufen?“ „Nicht nötig, dem Jungen fehlt nichts. Wahrscheinlich nur ein kleiner Schwächeanfall oder vielleicht ist er einfach nur etwas müde. Aber seien Sie mal so nett und versuchen Sie die Eltern des Jungen zu finden.“ „Nein…“ murmelte Beyond benommen und versuchte wieder aufzustehen. „Nicht… meine Eltern sind nicht hier.“ Die Frau, die sich offenbar als Emma Kowalski ausgab, bat den Anzugmann, die Veranstaltung zu verschieben, damit sie sich um Beyond kümmern konnte. Sie wartete, bis der Kerl verschwunden war und sah sich um. Die meisten Leute hatten sich entfernt um sich im Westflügel zu versammeln, wo es Sekt und Wein gab. Als sie sich vergewissert hatte, dass sonst niemand da war, wandte sie sich Beyond zu und beugte sich ein wenig vor. „Bist du von zuhause weggelaufen?“ Beyond antwortete nicht. „Du brauchst keine Angst zu haben. Ich werde dich zu nichts zwingen oder dich gegen deinen Willen irgendwo hinbringen. Du wirst sicher einen Grund gehabt haben, wegzulaufen nicht wahr?“ Beyond hatte das Gefühl, ihr vertrauen zu können und so nickte er. „Meine Eltern hassen mich. Meine Mutter hat gestern versucht mich umzubringen, da bin ich weggelaufen.“ In den Augen der Frau spiegelte sich Fassungslosigkeit wieder. Sie schien ihm sofort zu glauben und dachte nach. „Also gut, ich mach dir einen Vorschlag: Du bleibst hier bis die Veranstaltung vorbei ist, dann sehen wir weiter. Ich kann dich schlecht auf die Straße schicken…. Ist das in Ordnung?“ Wieder nickte Beyond und so brachte Edna Konrad ihn in ein Büro, wo er es sich auf einem Ledersessel bequem machen konnte. Es dauerte knapp zwei Stunden, bis Edna hereinkam und sich nach ihm erkundigte. Mit einer Tasse Kaffee bewaffnet setzte sie sich ihm gegenüber und schwieg erst mal, wahrscheinlich um die richtigen Worte zu finden. Dann aber fragte sie schließlich „Warum sollte deine Mum versuchen, dich zu töten?“ Sie sprach dabei mit einem deutlich hörbaren deutschen Akzent und manche Worte betonte sie auch falsch aber sonst sprach sie fließend. „Ich habe ein paar Sachen in der Schule angestellt und der Rektor hat bei meinen Eltern angerufen. Als ich nach Hause kam, ist Mutter wütend geworden und hat gesagt, dass ich ihr Leben ruiniere. Und… zuerst hat sie mich gewürgt aber dann wollte sie mich mit dem Messer töten. Dann kam mein Vater herein.“ „Und was hat er gemacht?“ „Er wollte was zu Essen haben und dann ist Mutter in der Küche verschwunden. Ich bin sofort weggelaufen und hab in einer Gartenlaube übernachtet.“ „Du musst doch Hunger haben.“ „In der Mülltonne hinterm Supermarkt findet man manchmal was Essbares. Sonst hab ich von meinem Taschengeld was geholt und von einer alten Frau etwas Geld bekommen.“ Edna nickte bedächtig und versuchte ernst zu bleiben, doch ihr fassungsloses Entsetzen war schwer zu übersehen. Dass Beyond die Wahrheit sagte, stand für sie außer Frage. „Bist du das erste mal weggelaufen?“ „Nein, schon öfter aber die Polizei hat mich immer wieder zurückgebracht.“ „Obwohl du gesagt hast, wie schlimm deine Eltern sind?“ „Kindern glaubt man eben nicht….“ Edna schien wirklich sehr besorgt zu sein und kratzte sich nachdenklich am Kopf. Beyond einfach nach Hause zu schicken, das konnte sie nicht tun. Wenn er wirklich so schlimme Eltern hatte, dann wäre so etwas unverantwortlich und im schlimmsten Falle könnte sie dann seinen Tod mitverschulden. Und für das Unglück eines Kindes oder sogar für seinen Tod mitverantwortlich zu sein, war fast genauso schlimm, als würde sie ganz verantwortlich dafür sein. Dann aber schien Edna eine Idee zu haben. „Ich habe ein kleines Häuschen im Garten, dort könntest du gerne eine Weile wohnen. Natürlich nur wenn du auch wirklich möchtest.“ Beyond hatte die Wahl. Entweder auf der Straße oder bei einer Fremden. Beides war total riskant aber um Welten besser als zuhause. Also entschied sich Beyond für Option 2. Die Frau war erleichtert und reichte ihm die Hand. „Ich möchte mich erst einmal vorstellen. Mein Name ist Emma Kowalski.“ Dass sie eigentlich Edna Konrad hieß, wollte Beyond ihr lieber nicht sofort sagen. Er war schon froh genug, dass er nicht irgendwo einbrechen musste um einen geeigneten Schlafplatz zu haben. Sicher hatte diese Edna einen bestimmten Grund, warum sie ihren Namen geändert hatte und er wollte sich nicht alles kaputtmachen. Er seinerseits stellte sich als Beyond Birthday vor und folgte ihr schließlich zu ihrem Wagen, einen nagelneuen VW Passat, der aber hinten ein kaputtes Rücklicht hatte. Edna öffnete die Beifahrertür, damit Beyond einsteigen konnte und setzte sich dann selbst hinters Steuer. Die Autofahrt dauerte fast eine Viertelstunde und als sie das Haus erreichten, welches Edna Konrad alias Emma Kowalski bewohnte, glaubte Beyond seinen Augen nicht zu trauen. „In der Gartenhütte dieses Hauses habe ich gestern übernachtet!“ „Aha, dann hast du also schon mein Gartenhäuschen gesehen. Und auch die Mäuse nicht wahr?“ „Deine Haustiere?“ „Nö, ich halte sie lediglich als Futter für meine Schlangen. Ich hab zwei ausgewachsene Kornnattern, komm mit. Ich zeig sie dir.“ Nachdem sie das Haus betreten hatten, führte Edna Beyond erst einmal herum. Das Haus war wirklich schick eingerichtet, ordentlich und sauber. Ganz anders als bei ihm zuhause. Dort waren Möbel vom Sperrmüll oder von irgendwo anders her aufgesammelt, in den Ecken sammelten sich Staub und Dreck und überall lagen Müll und Bierflaschen herum und in der Küche stapelte sich das dreckige Geschirr und in den Töpfen schimmelten die Überreste vor sich hin. Im großen Wohnzimmer gab es einen Kamin und ein Terrarium wo sich zwei Kornnattern eingerollt hatten. Eine war schneeweiß, die andere besaß ein schwarzrotweißes Muster. „Die Weiße heißt Oscar Wilde und die andere John Keats. Vorher hatte ich noch zwei weitere aber Goethe ist ausgebüxt und nie wieder aufgetaucht und Dan Brown ist krank geworden und verstorben. Bald hole ich mir eine neue. Ich denke da an den Namen William Wordsworth.“ „Alles Schriftsteller, nicht wahr?“ „Und nicht nur irgendwelche sondern Berühmtheiten. Willst du sie mal anfassen?“ „Geht das?“ Beyond war ein wenig zögerlich denn er wusste nicht, ob diese Nattern giftig waren. Aber Edna beruhigte ihn. „Kornnattern sind nicht giftig, es sind Würgeschlangen und die beiden hier sind eigentlich ganz sanfte Schlangen.“ Edna öffnete das Terrarium und hob ganz vorsichtig die bunte Schlange namens John Keats heraus. Die Schlange an sich war weder sehr klein noch monströs groß wie eine Python oder eine Boa Constrictor. Edna legte die Schlange um Beyonds Schultern und wies ihn an, ein wenig den Arm auszustrecken und so hob er den Kopf der Schlange ein wenig an. Zum ersten Mal hatte er eine Schlange auf seinen Schultern und es fühlte sich doch nicht so glitschig an wie er immer gedacht hatte. Nein, sie war ganz glatt und weder kalt noch sonderlich warm. Da sie ja ein wechselwarmes Tier war, entsprach ihre Körpertemperatur der des Raumes. Langsam hob Keats den Kopf, ließ hin, züngelte hin und wieder und streckte sich immer weiter von Beyond weg. „Warum hast du Schlangen als Haustiere?“ „Weil Kaninchen, Hunde, Katzen und Vögel so gewöhnlich sind und so ganz große Spinnen mag ich nicht. Schon als kleines Kind wollte ich eine Schlange haben, am liebsten eine Kobra oder eine Boa oder eine Python. Ich hab mich aber doch noch mit einer Kornnatter zufrieden gegeben. Eine Eidechse hätte es auch getan, aber ich finde es eklig, sie mit Insekten füttern zu müssen. Kornnattern ernähren sich hautsächlich von Mäusen oder Vögeln.“ Vom Inneren der Tasche her hörte Beyond Harveys Stimme. „Lass uns von hier verschwinden! Ich kann Schlangen auf den Tod nicht ausstehen.“ Doch Beyond ignorierte ihn und hoffte nur, dass Edna ihn nicht gehört hatte. Diese nahm John Keats wieder von Beyonds Schultern und legte sie wieder zurück ins Terrarium wo Oscar Wilde gerade versucht hatte, zu flüchten. Fest verschloss sie den Glaskasten wieder und führte Beyond in die Küche. Dort schüttete sie ihm ein Glas Orangensaft ein. „Ich lasse dir gleich mal ein Bad ein. Danach fühlst du dich gleich viel besser. Leider hab ich keine Klamotten in deiner Größe. Aber vielleicht kann mir die Nachbarin was leihen. Ihr Sohn müsste eigentlich die gleiche Größe haben. Fühl dich übrigens ganz wie zuhause… ähm… ich meine…“ „Ich weiß was du meinst. Danke übrigens!“ Edna lächelte erleichtert, tätschelte ihm den Kopf und ging schließlich. Beyond sah sich ein wenig um und sah zum ersten Mal eine aufgeräumte und saubere Küche. Der Kühlschrank war voll, es gab keine Tierchen oder Anzeichen von Schimmel, es stank nirgendwo und dieses Haus kam ihm vor wie das einer reichen Familie aus der Oberschicht. Irgendwie fühlte sich der 10-jährige vollkommen deplatziert. Zum ersten wegen seiner Herkunft und weil er nichts Besseres als ein heruntergekommenes und verdrecktes Haus kannte und weil er selbst schmutzig war. Wenig später kam Edna zurück und schickte ihn ins Badezimmer. Selbst das war in einem so supersauberen Zustand. Das Waschbecken war heil und der Wasserhahn glänzte regelrecht als wäre er neu und die Dusche neben der Badewanne hatte matte Glastüren und einen teuren Duschkopf, der sogar eine Art „Regenfall“-Einstellung hatte. So sah es also in einem normalen Haushalt aus…. Am liebsten würde Beyond für immer hierbleiben. Das heiße Bad war wirklich wunderbar, so etwas hatte er schon lange nicht mehr gehabt. Zuhause hatten sie nur eine Dusche und in die ging er nie ohne Badeschlappen rein weil sich in den Ecken schwarze Flecken gebildet hatten. Fast eine halbe Stunde blieb er im Bad bis Edna schließlich anklopfte und ihm einen von den Nachbarn geliehenen Pyjama hinlegte und wieder ging. Der Pyjama war Beyond ein wenig kurz aber sonst passte er gut. Da es draußen angefangen hatte zu gewittern, hatte Edna von ihrem ursprünglichen Vorhaben, Beyond im Gartenhaus einzuquartieren, lieber abgelassen sondern ließ ihn lieber auf der Couch im Wohnzimmer schlafen. Dort richtete sie ihm ein gemütliches Nachtlager ein „Wenn irgendetwas ist, kannst du ruhig zu mir kommen.“ Beyond bedankte sich und machte es sich auf der Couch gemütlich. Obwohl es nur eine Couch war, fühlte sie sich so weich wie ein Bett an und es dauerte auch nicht lange, da schlief er auch schon ein. Und es war ein so tiefer Schlaf, wie er ihn schon seit langem nicht mehr hatte, trotz des starken Regens und dem heftigen Unwetter draußen. Am nächsten Morgen wurde er von Edna geweckt, die das Frühstück bereits gemacht hatte. Es gab gebratenen Speck mit Spiegelei, Brötchen, grüne Trauben, Cornflakes und noch mehr. „Ich hoffe du hast Hunger.“ So ein Frühstück hatte Beyond noch nie gehabt. Zuhause gab es, wenn überhaupt nur halb verschimmeltes Brot, alte Wurst und gammligen Käse. Meist war nur noch die Marmelade gut aber hier wurde ja ein richtiges Buffet aufgetischt. Mit einem Leuchten in den Augen setzte er sich zu Edna an den Tisch und wusste gar nicht, wo er überhaupt anfangen sollte. Er nahm sich einfach von allem etwas. Edna selbst begnügte sich mit einem Brötchen mit Marmelade, Spiegelei und Speck. Während Beyond aß, sah sie ihn nachdenklich an. „Eigentlich sollte man das nicht beim Essen besprechen, aber ich mache mir ehrlich gesagt Sorgen um dich. Die Sache ist nämlich die: Wenn ich dich einfach hier behalte, könnte ich ernsthaft Schwierigkeiten mit den Behörden bekommen und dazu habe ich keine Lust. Aber ich könnte es mir im Leben nicht verzeihen, dich wieder nach Hause zu schicken.“ Beyond sah erschrocken auf und hatte Angst. Er hatte Angst, wieder nach Hause geschickt zu werden oder wieder auf der Straße zu leben. Er wollte hierbleiben bei Edna! „Und was hast du vor?“ „Ich werde das Jugendamt verständigen und die werden sich bei dir zuhause umsehen und auch mit dir reden. Ich schildere ihnen die Situation und werde dafür sorgen, dass du nie wieder nach Hause gehen musst.“ „Du glaubst mir also?“ „Natürlich, das habe ich dir sofort angesehen, dass du die Wahrheit sagst. Außerdem…“ Edna zögerte ein wenig doch dann sagte sie „Man sieht an deinem Hals, dass man dich gewürgt hat. Da sind nämlich blaue Flecken.“ Sofort sprang Beyond auf und eilte zum Spiegel, der im Flur an der Wand hängte. Und tatsächlich hatte er am Hals Würgemale. „So etwas kommt natürlich erst ein oder zwei Tage später zum Vorschein“ rief Edna von der Küche her zu. „Aber keine Sorge, ich werde mich schon um alles kümmern.“ „Darf ich solange hierbleiben?“ „Natürlich, so lange, bis sich alles geklärt hat.“ Kapitel 6: Die Wahrheit über Harvey ----------------------------------- Der Skandal um das Ehepaar Birthday schlug hohe Wellen als der Fall an die Öffentlichkeit gelangte. „Mutter versucht ihren 10.jährigen Sohn zu töten“, „Kleiner Junge jahrelang vernachlässigt- Haben die Behörden nichts davon gewusst?“ Cassandra und William Birthday wurde sofort das Sorgerecht entzogen und Beyond wurde von Ärzten und Psychologen betreut. Nach ein paar Telefonaten konnte Edna es arrangieren, dass er als Pflegekind zu ihr kam, da dieser auch fest darauf bestand, bei ihr zu bleiben. Alles wurde sachgemäß geprüft und schließlich wurde es vom Jugendamt offiziell genehmigt. Edna räumte eines der Zimmer, die sie zuvor als Abstellraum genutzt hatte, vollkommen aus und richtete es für Beyond ein. Sie kaufte neue Möbel und sorgte für einen schönen Anstrich. Beyond bekam ein kuscheliges Bett und neue Kleidung. Noch nie in seinem Leben war er so glücklich wie jetzt. Endlich hatte er ein richtiges Zuhause und er hatte jemanden gefunden, der ihn nicht hasste oder Angst vor ihm hatte. Und nicht nur das, er kam sogar auf eine Schule für hochbegabte Kinder. Es war zu schön um wahr zu sein und als Beyond erst realisiert hatte, dass dieser jahrelange Alptraum endlich vorbei war, musste er weinen. Er konnte gar nicht mehr aufhören zu weinen und tröstend nahm Edna ihn in den Arm. Zum ersten Mal war er auch nicht mehr alleine. Zusammen mit Edna machten sie Ausflüge ins Grüne, fuhren in den Sommerferien ans Meer oder saßen im Dunkeln draußen am Feuer und erzählten Geschichten. Beyond brachte Edna Schachspielen bei und sie ihm Poker, Schwarzer Peter und Skat. Der kleine verwahrloste und verschüchterte Junge blühte nun mehr und mehr auf und schließlich kaufte Edna sogar den alten Flügel aus der verlassenen Musikschule. Für einen Spottpreis übrigens, da er ziemlich mitgenommen war. Beyond lebte sich sehr schnell ein und konnte sich ein anderes Leben schon gar nicht mehr vorstellen. Er ging gerne zur Schule, er lachte wieder und er fütterte gerne die Schlangen. Dabei dachte er kaum noch an Harvey und er hatte schon gedacht, es würde für immer alles wunderbar bleiben. Doch das sollte sich sehr schnell ändern, als er von der Schule kam und anstatt Edna seine Mutter auf ihn wartete. Sie sah immer noch kränklich und abgemagert aus. An ihrem rechten Handgelenk trug sie ein Verband, wahrscheinlich weil sie sich wieder geritzt hatte und sie sah ziemlich verheult aus. Beyond blieb stehen und befürchtete nichts Gutes. Zum Glück hatte er Harvey dabei, der würde sicherlich wissen, was zu tun war. „Was willst du hier?“ „Es tut mir so leid. Ich war eine furchtbare Mutter. Mir tut alles so schrecklich leid, bitte verzeih mir.“ Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen und schluchzte. „Ich war so überfordert mit allem und habe dabei alles vernachlässigt. Mein Leben, unser Haus und auch dich.“ Damit hätte Beyond jetzt nicht gerechnet, dass sich seine Mutter bei ihm entschuldigte. Aber soweit er wusste, war sie in psychotherapeutischer Behandlung gewesen, nachdem herauskam wie sehr sie ihr Kind vernachlässigt hatte. Konnte es vielleicht sein, dass sie sich geändert hatte? Dass sie doch noch Liebe für ihren Sohn empfinden konnte anstatt nur Hass und Selbstmitleid? Beyond sah sie ratlos an, wusste nicht was er machen sollte. Sollte er seine Mutter einfach stehen lassen und gehen? Sie hatte immerhin versucht ihn umzubringen, sie hatte ihm schlimme Dinge gesagt und sich nie um ihn gekümmert. Aber andererseits war sie seine Mutter und er wollte schon immer eine richtige Familie haben. Schön und gut, er hatte ja Edna aber sie war nicht mit ihm verwandt. Allein schon, dass Cassandra Birthday seine Mutter war, da war er es ihr doch schuldig, einen Schritt auf sie zuzugehen. Er wollte sie ja auch nicht bis an sein Lebensende als verachtenswerte Rabenmutter in Erinnerung behalten. „Hast du mich denn lieb?“ „Ja, ich hab dich schrecklich lieb.“ Mit Tränen in den Augen ging Cassandra auf ihn zu und schloss ihn in die Arme. Es konnte die schlechte Erfahrung oder ein tief sitzendes Trauma sein, aber es ekelte ihn nach wie vor noch an, sie zu berühren. Sein Magen verkrampfte sich und er wollte nur noch auf körperliche Distanz gehen. „Sollen wir etwas zusammen machen? Wir können in den Zoo gehen….“ „Aber ich muss Emma noch vorher…“ „Ich habe mit ihr gesprochen und sie ist einverstanden.“ Oh, sie hatte also schon mit Edna darüber geredet? Beyond war ein wenig erstaunt, denn eigentlich hatte Edna nicht viel von seiner Mutter gehalten. Ob sie ihre Meinung geändert hatte? Na gut, er wollte der Sache eine Chance geben und ging mit seiner Mutter mit. Da sie kein Auto mehr hatte, mussten sie zum Bahnhof gehen, zwei Stationen fahren und danach mit der Metro noch ein paar Stationen fahren. In den Zoo würde er gerne gehen, da war er nur ein Mal mit der alten Klasse und das war ein absoluter Reinfall gewesen. Die Schüler wurden in Gruppen aufgeteilt und seine hatte sich klammheimlich aus dem Staub gemacht und er war 2 Stunden ziellos umher geirrt und hatte einen Anschiss vom Lehrer bekommen, weil seine Gruppe behauptete, er sei abgehauen. Vom Zoo selbst hatte er nicht viel mitbekommen. Er wollte unbedingt die Tiger und Löwen sehen und die Reptilien. Neben seiner Mutter ging er her und vermied es ihre Hand zu nehmen. Noch immer grauste es ihm vor dieser eiskalten Knochenhand mit Hautüberzug. Sie stiegen die Stufen hoch und hörten die Ansage, dass es zu einer fünfminütigen Verspätung kam und gleich ein Schnellzug vorbeifahren würde. Der Bahnhof war klein und hatte nur zwei Gleise, beide waren wie ausgestorben und es gab hier nicht mal Überwachungskameras. Geduldig warteten sie am Bahnsteig und schwiegen. Beyond öffnete seine Tasche und sah zu Harvey hinein. Dieser schien alles andere als begeistert zu sein. „Was machst du denn da? Diese Frau ist böse, du darfst ihr nicht trauen!!!“ „Warum?“ „Sie ist verrückt, du müsstest es doch selbst wissen.“ Beyond sah zu seiner Mutter, die lächelnd vor sich hinsummte und ins Leere zu starren schien. Hatte Harvey Recht und war seine Mutter nicht gekommen um etwas bei ihm wieder gutzumachen sondern um ihm wieder etwas anzutun? „Mum….“ „Wir machen einen schönen kleinen Ausflug, nur wir beide“ murmelte sie und lächelte ihn fröhlich an. „Nur du und ich, wir fahren mit dem Zug ganz weit weg.“ „Sie will mit dir vorm Zug springen!“ rief Harvey alarmierend und sah Beyond mit seinen großen Augen an. „Schnell, du musst etwas tun, bevor sie dich noch umbringen kann.“ „Warum bist du dir so sicher?“ „Sie hat schon mal versucht, dich umzubringen und sie wird es wieder tun.“ Abwechselnd sah Beyond zu Harvey und zu seiner Mutter. Einen Ausflug… einen Ausflug in den Tod…. War es das, was sie wirklich vorhatte? Hatte sie ihn angelogen oder steigerte sich Harvey irgendwo rein? Was sollte er bloß tun? Wem sollte er vertrauen? Von weiter weg hörte er das Herannahen des Schnellzuges, der angekündigt worden war. Nun ergriff Cassandra seine Hand. „Da kommt unser Zug mein Schatz. Da kommt unser Zug! Freust du dich schon?“ Die nächsten Sekunden schienen für Beyond wie in Zeitlupe zu vergehen. Während der Schnellzug immer näher kam, riss er sich von seiner Mutter los, ließ seine Tasche fallen und stieß sie mit aller Kraft vom Bahnsteig. Cassandra geriet ins Wanken, strauchelte und fiel schließlich vornüber. Sie sah nach rechte, sah den Zug direkt vor sich noch bevor sie überhaupt die Gleise berührte. Noch bevor sie realisierte, was eigentlich gerade geschehen war und dass sie von ihrem Sohn gestoßen wurde, erfasste sie der Schnellzug mit einer Geschwindigkeit von mindestens 200km/h. Beim Aufprall zerschmetterte es ihr die Rippen und die Knochen. Ihr gesamter Brustraum wurde zusammengedrückt und ihre Organe zerquetscht. Ein Teil der Rippen bohrte sich wie Zähne aus dem zerschmetterten Körper. Der linke Arm wurde durch die Räder gequetscht und schließlich abgerissen. Die Wirbelsäule verdrehte sich und brach an einigen Stellen durch und als das Genick durch den Aufprall gebrochen wurde, bohrte sich ein Teil der Wirbelsäule durch den Nacken. Der Arm, der noch nicht abgerissen wurde, verdrehte sich dabei dermaßen, dass von den Knochen nur noch Splitter übrig blieben und sich durch die Haut bohrten und somit freilagen. Der Schädel wurde durch die unvorstellbare Kraft zerquetscht wie eine Frucht und als der Zug vorbeigefahren war, lag nur noch ein Klumpen bestehend auf Fleischfetzen, Blut und Knochen. Die zertrümmerte Schädeldecke gab den Blick auf das blutige und zerquetschte Gehirn frei, das sich inzwischen auch schon auf dem Gleis verteilt hatte. Eines der Augen hing nur noch an einer Faser aus den Höhlen, das andere war noch intakt. Der Unterkiefer war abgerissen und lag ebenfalls irgendwo und ein Teil der Zähne war auch herausgeschlagen, die man allerdings unter den Knochensplittern nicht erkennen konnte. Lediglich die Bauchdecke war teilweise unversehrt, sodass wenigstens die weiteren Organe sich noch nicht auf dem Boden verteilt hatten. Und rot, überall rot. Alles war in ein blutiges Rot getaucht und wie erstarrt stand Beyond da und zitterte am ganzen Körper. Bis jetzt hätte er nicht gedacht, dass ein Mensch so viel bluten konnte. Und doch… all das rote Blut ließ den zertrümmerten und auseinandergerissenen Körper seiner Mutter irgendwie lebendiger aussehen als sie es vorher war. Verrückt, das war ihm klar aber diese blasse Person, die fast schneeweiß gewesen war und nur schwarz getragen hatte, sodass sie wie eine Spinne ausgesehen hatte, hatte jetzt eine schöne rote Farbe bekommen…. Beyond brauchte allerdings ein paar Augenblicke um zu verstehen, was eigentlich geschehen war. Er sah, wie der Zug in der Ferne verschwand. Durch die hohe Geschwindigkeit brauchte er eine lange Strecke um zum Stillstand zu kommen. Dann stieg er die Gleise runter und ging auf das Etwas aus Fleisch, Organfetzen und Knochensplittern zu und starrte es ausdruckslos an. Eigentlich war es kaum noch als Mensch erkennbar geschweige denn als Cassandra Birthday. Direkt vor seinen Füßen lag der abgerissene Arm, der sogar noch ein wenig zuckte. Er sah, wie sich ein oder zwei Finger bewegten, doch es erschreckte ihn nicht geschweige denn bewegte etwas in dem kleinen Jungen. Er hörte nicht, wie sich die ersten Leute auf dem Bahnsteig näherten, wie einige schrieen als sie diesen grausigen Anblick sahen und ein Mann immer wieder rief „Hol doch einer den Notarzt! Die Polizei!!!“ Beyond sah sich nicht einmal um. Sein Blick war nur auf die Leiche seiner Mutter gerichtet. Er kniete sich hin, hob ihren Kopf hoch und sah ihr ins Gesicht. Das Auge, das aus dem Augenhöhlen baumelte, schaukelte dabei ein wenig hin und her, das andere Auge war durch einen Stein oder Kiesel zerstört worden. Die Vorderzähne am Oberkiefer waren zersplittert, das Zahnfleisch war blutig. Es war ein seltsames Gefühl, den Kopf in Händen zu halten und Beyond, der durch den Schock gar nicht registrierte, was er da in Händen hielt, sagte und empfand nichts. Keine Trauer um den Tod seiner Mutter, keine Freude, keine Reue geschweige denn Genugtuung. Er war einfach leer und diese Geste, wie er den Kopf aufgehoben hatte und seiner Mutter in die zerstörten Augen sah, war wie eine stumme Botschaft. Und diese Botschaft lautete nicht anders als „Ich weiß jetzt wie du dich fühlst.“ Dabei war diese Botschaft nicht mitfühlend und tröstend oder bösartig gemeint. Beyond wollte einfach nur, dass sie jetzt wusste, wie es im Moment in ihn drin aussah: Genauso tot, wie sie jetzt hier verstreut auf dem Gleis lag. Als er dann endlich begriff was er da tat und was er da in Händen hielt, schrie er laut auf und ließ das blutverschmierte Ding fallen. Er schrie so laut, als würde er jeden Moment explodieren. Seine Hände und ein Teil seines T-Shirts waren blutverschmiert und er wollte einfach nur aus diesem Alptraum erwachen. Schließlich kam ein Mann vom Bahnhofspersonal herbeigeeilt, sprang auf die Gleise und trug den immer noch wie am Spieß schreienden Beyond Birthday weg. Als Beyond sich fast heiser geschrieen hatte, verstummte er plötzlich, wurde leichenblass und zitterte am ganzen Leib. Selbst als die Polizei schließlich eintraf und sich das Etwas auf den Gleisen ansah, das nicht mehr als Mensch zu bezeichnen war, stand er noch unter Schock und war nicht fähig zu erzählen, was sich zugetragen hatte. Apathisch starrte er nur ins Leere, schwieg und zitterte, die Hände immer noch völlig blutverschmiert. Da er den Behörden bekannt war, wusste man, wo man ihn hinbringen musste und so stand er wenig später in Begleitung zweier Polizisten vor Edna Konrads Haustür und hatte Harvey zitternd umklammert. Als sie die Tür öffnete, war der Schreck groß. „Oh mein Gott Beyond, was hast du? Was ist denn passiert?“ „Sind Sie Emma Kowalski?“ „Ja die bin ich, was ist denn mit dem Jungen passiert?“ „Er war mit seiner Mutter am Bahnhof und sie ist schließlich vor den Schnellzug gesprungen.“ Entsetzt schlug sich Edna die Hand vorm Mund und wich einen Schritt zurück. „Wie furchtbar. Wollte diese Verrückte auch Beyond in den Tod reißen?“ „Leider stand der Junge unter Schock und konnte keine Angaben dazu machen. Wir gehen aber davon aus, dass er sich losreißen konnte, als sie springen wollte.“ Edna versprach sich sofort auf dem Revier zu melden, wenn Beyond sich von seinem Schock erholt hatte und eine Aussage machen konnte. Sie brachte ihn erst einmal ins Wohnzimmer und gab ihm einen Tee mit Baldrianwurzelextrakt zu trinken, damit er sich ein wenig beruhigen konnte. Sanft strich Edna ihn durchs Haar und umarmte ihn. „Zum Glück ist dir nichts passiert…“ „Ha… ha… ve…“ begann Beyond unter Tränen zu stammeln und klammerte sich immer fester am Stoffhasen. „Harvey sagte… sagte dass…“ Ein Schauer durchfuhr die 28-jährige als sie diesen Namen hörte, wie eine längst vergessene Angst. „Was hast du gesagt?“ „Harvey…“ Ihr Blick wanderte zum Stoffhasen in Beyonds Arm und ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen. Sie sprang auf und wich von Beyond zurück. „Woher hast du den Stoffhasen?“ „Aus der Hütte am See…“ Sofort riss Edna Beyond Harvey aus den Händen und warf ihn in die Wäschetruhe und starrte ihn so hasserfüllt an, als wollte sie ihn jeden Moment in Stücke reißen. „Du Scheißkerl hast mein ganzes Leben ruiniert und meine beste Freundin in den Tod getrieben. Ich lasse nicht zu, dass du jetzt auch noch dem Jungen das Leben kaputtmachst…. Nein, wir hatten keine schöne Zeit, du bist für Alfreds Tod verantwortlich und dafür, dass Mattis zum Tode verurteilt wurde. Nein, mit uns ist es endgültig vorbei! Du bist noch nicht mal real!“ Edna knallte die Wäschetruhe zu und stellte noch etwas Schweres drauf, als wolle sie sichergehen, dass sie auch wirklich verschlossen blieb. Dann kam sie zu Beyond zurück und entschuldigte sich für den Wutausbruch. Sie kniete sich vor ihm hin und sah ihm tief in die Augen. „Beyond, du musst mir ein paar Fragen beantworten. Es ist ganz wichtig, okay?“ Er nickte. „Wie lange hast du Harvey schon?“ „Zwei Monate.“ „Hast du auf sein Drängen hin Menschen verletzt oder Streiche gespielt?“ Wieder nickte Beyond und wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. „Und hast du deine Mutter gestoßen, weil er es so wollte?“ Auf diese Frage gab er keine Antwort. Er hatte Angst davor wie Edna reagieren würde, wenn er darauf antwortete. Doch dann fasste er sich ein Herz und sagte „Ja.“ „Das hatte ich befürchtet“ murmelte Edna besorgt und strich Beyond tröstend über die Wange. „Du musst mir versprechen, dich von Harvey fernzuhalten. Er ist sehr gefährlich und böse.“ „Warum?“ „Ich glaube, ich muss dir die Wahrheit erzählen….“ Edna nahm neben Beyond Platz und atmete tief durch. „Mein wahrer Name ist Edna Konrad und Harvey war seit über 10 Jahren mein Stofftier und Fantasiefreund. Zusammen haben wir jeden erdenklichen Unfug gemacht und Alfred Marcel, dem Sohn eines Psychiaters der mit meinem Vater befreundet war, das Leben schwer gemacht. Er war eine totale Streberflasche und einfach nur nervig. Aber dann eines Tages eskalierte das alles. Alfred hat damit gedroht, Harvey kaputtzumachen und daraufhin hat mir Harvey zugerufen, Alfred die Treppen hinunterzustoßen. Dabei hat er sich das Genick gebrochen und ist gestorben. Mein Vater Mattis nahm die Schuld auf sich und bekam das Todesurteil. Alfreds Vater, Dr. Marcel, steckte mich in eine Irrenanstalt und hat mein Gedächtnis gelöscht um mich einer Charakterkorrektur zu unterziehen. Mit Harveys Hilfe gelang es mir jedoch, mich wieder zu erinnern und aus der Irrenanstalt auszubrechen. Ich wollte die Unschuld meines Vaters beweisen und bin zu unserem alten Haus gegangen. Da habe ich mich schließlich wieder erinnert, dass ich Alfred umgebracht habe. Und dann stand Dr. Marcel vor mir, der mich dazu überreden wollte, diese Charakterkorrektur zu machen. Die einzige Bedingung war, dass ich Harvey zerstöre.“ „Und das konntest du nicht?“ „Nein, Harvey hat mich davon abgehalten und mich dazu gebracht, Dr. Marcel genau wie seinen Sohn damals die Treppen hinunterzustoßen. Der Doktor sitzt seitdem im Rollstuhl und ist noch verbitterter als vorher. Eine Weile habe ich mich in einer Klosterschule versteckt, bis da Dr. Marcel aufgetaucht ist und mit Harvey meine beste Freundin Lilli einer Hypnose unterzogen hat. Ihr gelang es aber ihre Blockaden zu brechen und hat versucht mich zu finden, weil ich abhauen musste. Dr. Marcels Schergen haben mich entführt und in die Anstalt zurückgebracht. Lilli hat Dr. Marcel schließlich mit einem Messer getötet, auch auf Harveys Befehl. Sie hat dann Selbstmord begangen und ich bin unter falschen Namen in die USA ausgewandert.“ „Und wie kam Harvey hierher?“ „Er hat mich dazu gebracht, ihn mitzunehmen und ich konnte mich nicht gegen ihn zur Wehr setzen. Schließlich habe ich es dann doch noch geschafft ihn loszuwerden. Ich wollte ihn an einen Ort verstecken, wo ihn keiner finden würde. Ich wollte endlich, dass dieser verdammte Alptraum ein Ende hat. Harvey ist viel zu gefährlich…. Er hat Alfred, Dr. Marcel, meine beste Freundin und indirekt auch meinen Vater auf dem Gewissen.“ So war das also. Deshalb hatte Edna ihren Namen geändert. Sie wollte sich vor Harvey verstecken. Dass er so gefährlich war, hätte er niemals gedacht. Harvey hatte doch gesagt, sie seien Freunde und dass er Beyond niemals etwas antun würde. Aber inwieweit hatte dieser Stoffhase mit all diesen Todesfällen zu tun? War er nicht nur eine Stimme aus seiner Fantasie? Oder war Harvey etwa wirklich echt? „Was an Harvey ist denn so gefährlich?“ Edna begann sich die richtigen Worte zu überlegen. Sie wusste, wie Harvey „funktionierte“ aber wie sollte sie das einem 10-jährigen Kind verständlich erklären? Schließlich holte sie Stift und Papier und zeichnete drei Kreise, die wie ein umgekehrtes Dreieck ausgerichtet waren. An der unteren Spitze schrieb sie „Ich“, links oben „Über-Ich“ und daneben „Es“. „Erst mal muss man verstehen wie Tiefenpsychologie funktioniert. An Freuds Modell ist es am besten verständlich: Also das „Ich“ ist unser Bewusstsein. Alles, was wir bewusst tun. Zum Beispiel etwas zu lesen oder Fernsehen. All das, was unsere ganze Aufmerksamkeit benötigt. Unser Bewusstsein steht im Kontakt zur Außenwelt und wird beeinflusst durch das „Über-Ich“ und das „Es“. Das „Über-Ich“ ist sozusagen unser Gewissen. Es sagt uns, was richtig und was falsch ist. Alle Regeln und Moralvorstellungen kommen vom rechtschaffenen „Über-Ich“. Dieses steht im Konflikt zum „Es“. Das „Es“ verkörpert die Triebe und reinen Instinkte des Menschen. Es ist unkontrollierbar, rein destruktiv, egoistisch und nicht imstande, ein normales Leben zu führen. Deswegen versucht das „Über-Ich“ das „Es“ zu unterdrücken und das „Ich“ muss beides in Einklang bringen und zwischen den beiden Streithähnen vermitteln und eine Lösung finden, die beide zufrieden stellt. Nicht immer einfach und nicht immer gelingt es. Das „Über-Ich“ und das „Es“ sind also Teile des Unterbewusstseins.“ „Und was ist das Unterbewusstsein?“ „Tja“ murmelte Edna nachdenklich „schwer zu erklären. Eigentlich gibt es keine wissenschaftlichen Beweise für seine Existenz aber man geht davon aus, dass es ein Unterbewusstsein gibt. Man muss dabei von Unterbewusstsein von Unbewusstsein unterscheiden. Auf das Unbewusste haben wir zum Beispiel keinen Zugriff. Es ist alles, das wir unwillentlich machen. Zum Beispiel, wenn wir etwas sagen, was wir eigentlich nicht sagen wollten. Oder unsere Körperfunktionen, die laufen auch ganz automatisch ab. Das Unterbewusstsein hingegen ist die Summe aller Vorstellungen, Erinnerungen, Eindrücke, Einstellungen, Motive und Handlungsbereitschaften, die in uns sind aber nicht aktiv sind. Was in uns aktiv ist, das ist bewusst. Das Laufen zum Beispiel läuft unbewusst ab oder das Fahrradfahren, weil wir das so oft gemacht haben und es auch so gut können, dass es automatisch abläuft. Das Unterbewusstsein entlastet also das Bewusstsein, damit wir uns gleichzeitig auf andere Dinge konzentrieren können. Das Unterbewusstsein nicht auch alle Dinge wahr, die unser Bewusstsein nicht schafft. All diese Farben, Töne, Geräusche, Formen und Bilder und Stimmen oder Reize wie Berührungen, Wärme, Kälte oder Schmerzen und Gerüche… all das kann das Bewusstsein gar nicht aufnehmen, nur einen kleinen Bruchteil weil sonst unser Gehirn völlig überlastet wäre.“ „Dann hat das Unterbewusstsein also einen ganz schön großen Einfluss, oder?“ Edna nickte und fuhr fort. „Harvey ist ein Stofftier, das ist Tatsache. Für dieses „Es“ in uns ist er wie eine Art Medium, um einen stärkeren Einfluss auf uns ausüben zu können. Dabei besitzt er einen so großen Einfluss auf unser Handeln, dass wir erst gar keinen Verdacht schöpfen. Er kann unser Unterbewusstsein manipulieren und damit auch uns. Eben weil er uns denken lässt, dass alles ganz normal sei und Harvey vollkommen harmlos ist, macht ihn das gefährlich.“ „Wie hast du es geschafft, Harvey dann loszuwerden?“ „Indem ich mich jenseits von Bewusstsein und Unterbewusstsein bewegt habe: Durch eine Selbsthypnose, durch die ich mich in Trance versetzt habe.“ „Und das geht?“ „Natürlich. Es kommt sogar oft vor, dass Menschen sich in einer Trance befinden und es nicht bemerken. Bei der Ausstellung warst du auch in Trance, als du das Bild angestarrt hast, in welchem ich ein kleines blinkendes LED Licht eingebaut habe. Blinkende Lichter reichen auch schon vollkommen aus. Im Falle meiner besten Freundin hat Dr. Marcel diese Eigenschaft ausgenutzt, um in ihrem Unterbewusstsein Blockaden aufzubauen um ihr Verbote aufzuzwingen. Allerdings ist das nicht ganz ungefährlich. Die Trance kann unberechenbar sein und manchmal wie eine Art Traumwelt wirken, die aus dem Unterbewusstsein projiziert wird. Das heißt: Dir kommt alles vor wie auf einem Drogentrip. Vieles um dich herum wirkt verzerrt und vollkommen anders. Trotzdem war es meine einzige Chance, Harvey zu entkommen. Zerstören konnte ich ihn allerdings nicht, dazu war ich nicht stark genug.“ Es war ein deutlicher Selbstvorwurf in ihrer Stimme zu hören, denn sie schien offensichtlich ein schlechtes Gewissen zu haben, dass Beyond nun in solchen Schwierigkeiten steckte. Nur weil sie nicht stark genug gewesen war, hatte Harvey Beyond dazu gebracht, seine Mutter vor den Zug zu stoßen und seine Klassenkameraden zu verletzen. Dann aber nahm Edna Beyond in den Arm. „Hab keine Angst, ich werde dir helfen.“ Kapitel 7: Die Wahrheit über Harvey (zensiert) ---------------------------------------------- Der Skandal um das Ehepaar Birthday schlug hohe Wellen als der Fall an die Öffentlichkeit gelangte. „Mutter versucht ihren 10.jährigen Sohn zu töten“, „Kleiner Junge jahrelang vernachlässigt- Haben die Behörden nichts davon gewusst?“ Cassandra und William Birthday wurde sofort das Sorgerecht entzogen und Beyond wurde von Ärzten und Psychologen betreut. Nach ein paar Telefonaten konnte Edna es arrangieren, dass er als Pflegekind zu ihr kam, da dieser auch fest darauf bestand, bei ihr zu bleiben. Alles wurde sachgemäß geprüft und schließlich wurde es vom Jugendamt offiziell genehmigt. Edna räumte eines der Zimmer, die sie zuvor als Abstellraum genutzt hatte, vollkommen aus und richtete es für Beyond ein. Sie kaufte neue Möbel und sorgte für einen schönen Anstrich. Beyond bekam ein kuscheliges Bett und neue Kleidung. Noch nie in seinem Leben war er so glücklich wie jetzt. Endlich hatte er ein richtiges Zuhause und er hatte jemanden gefunden, der ihn nicht hasste oder Angst vor ihm hatte. Und nicht nur das, er kam sogar auf eine Schule für hochbegabte Kinder. Es war zu schön um wahr zu sein und als Beyond erst realisiert hatte, dass dieser jahrelange Alptraum endlich vorbei war, musste er weinen. Er konnte gar nicht mehr aufhören zu weinen und tröstend nahm Edna ihn in den Arm. Zum ersten Mal war er auch nicht mehr alleine. Zusammen mit Edna machten sie Ausflüge ins Grüne, fuhren in den Sommerferien ans Meer oder saßen im Dunkeln draußen am Feuer und erzählten Geschichten. Beyond brachte Edna Schachspielen bei und sie ihm Poker, Schwarzer Peter und Skat. Der kleine verwahrloste und verschüchterte Junge blühte nun mehr und mehr auf und schließlich kaufte Edna sogar den alten Flügel aus der verlassenen Musikschule. Für einen Spottpreis übrigens, da er ziemlich mitgenommen war. Beyond lebte sich sehr schnell ein und konnte sich ein anderes Leben schon gar nicht mehr vorstellen. Er ging gerne zur Schule, er lachte wieder und er fütterte gerne die Schlangen. Dabei dachte er kaum noch an Harvey und er hatte schon gedacht, es würde für immer alles wunderbar bleiben. Doch das sollte sich sehr schnell ändern, als er von der Schule kam und anstatt Edna seine Mutter auf ihn wartete. Sie sah immer noch kränklich und abgemagert aus. An ihrem rechten Handgelenk trug sie ein Verband, wahrscheinlich weil sie sich wieder geritzt hatte und sie sah ziemlich verheult aus. Beyond blieb stehen und befürchtete nichts Gutes. Zum Glück hatte er Harvey dabei, der würde sicherlich wissen, was zu tun war. „Was willst du hier?“ „Es tut mir so leid. Ich war eine furchtbare Mutter. Mir tut alles so schrecklich leid, bitte verzeih mir.“ Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen und schluchzte. „Ich war so überfordert mit allem und habe dabei alles vernachlässigt. Mein Leben, unser Haus und auch dich.“ Damit hätte Beyond jetzt nicht gerechnet, dass sich seine Mutter bei ihm entschuldigte. Aber soweit er wusste, war sie in psychotherapeutischer Behandlung gewesen, nachdem herauskam wie sehr sie ihr Kind vernachlässigt hatte. Konnte es vielleicht sein, dass sie sich geändert hatte? Dass sie doch noch Liebe für ihren Sohn empfinden konnte anstatt nur Hass und Selbstmitleid? Beyond sah sie ratlos an, wusste nicht was er machen sollte. Sollte er seine Mutter einfach stehen lassen und gehen? Sie hatte immerhin versucht ihn umzubringen, sie hatte ihm schlimme Dinge gesagt und sich nie um ihn gekümmert. Aber andererseits war sie seine Mutter und er wollte schon immer eine richtige Familie haben. Schön und gut, er hatte ja Edna aber sie war nicht mit ihm verwandt. Allein schon, dass Cassandra Birthday seine Mutter war, da war er es ihr doch schuldig, einen Schritt auf sie zuzugehen. Er wollte sie ja auch nicht bis an sein Lebensende als verachtenswerte Rabenmutter in Erinnerung behalten. „Hast du mich denn lieb?“ „Ja, ich hab dich schrecklich lieb.“ Mit Tränen in den Augen ging Cassandra auf ihn zu und schloss ihn in die Arme. Es konnte die schlechte Erfahrung oder ein tief sitzendes Trauma sein, aber es ekelte ihn nach wie vor noch an, sie zu berühren. Sein Magen verkrampfte sich und er wollte nur noch auf körperliche Distanz gehen. „Sollen wir etwas zusammen machen? Wir können in den Zoo gehen….“ „Aber ich muss Emma noch vorher…“ „Ich habe mit ihr gesprochen und sie ist einverstanden.“ Oh, sie hatte also schon mit Edna darüber geredet? Beyond war ein wenig erstaunt, denn eigentlich hatte Edna nicht viel von seiner Mutter gehalten. Ob sie ihre Meinung geändert hatte? Na gut, er wollte der Sache eine Chance geben und ging mit seiner Mutter mit. Da sie kein Auto mehr hatte, mussten sie zum Bahnhof gehen, zwei Stationen fahren und danach mit der Metro noch ein paar Stationen fahren. In den Zoo würde er gerne gehen, da war er nur ein Mal mit der alten Klasse und das war ein absoluter Reinfall gewesen. Die Schüler wurden in Gruppen aufgeteilt und seine hatte sich klammheimlich aus dem Staub gemacht und er war 2 Stunden ziellos umher geirrt und hatte einen Anschiss vom Lehrer bekommen, weil seine Gruppe behauptete, er sei abgehauen. Vom Zoo selbst hatte er nicht viel mitbekommen. Er wollte unbedingt die Tiger und Löwen sehen und die Reptilien. Neben seiner Mutter ging er her und vermied es ihre Hand zu nehmen. Noch immer grauste es ihm vor dieser eiskalten Knochenhand mit Hautüberzug. Sie stiegen die Stufen hoch und hörten die Ansage, dass es zu einer fünfminütigen Verspätung kam und gleich ein Schnellzug vorbeifahren würde. Der Bahnhof war klein und hatte nur zwei Gleise, beide waren wie ausgestorben und es gab hier nicht mal Überwachungskameras. Geduldig warteten sie am Bahnsteig und schwiegen. Beyond öffnete seine Tasche und sah zu Harvey hinein. Dieser schien alles andere als begeistert zu sein. „Was machst du denn da? Diese Frau ist böse, du darfst ihr nicht trauen!!!“ „Warum?“ „Sie ist verrückt, du müsstest es doch selbst wissen.“ Beyond sah zu seiner Mutter, die lächelnd vor sich hinsummte und ins Leere zu starren schien. Hatte Harvey Recht und war seine Mutter nicht gekommen um etwas bei ihm wieder gutzumachen sondern um ihm wieder etwas anzutun? „Mum….“ „Wir machen einen schönen kleinen Ausflug, nur wir beide“ murmelte sie und lächelte ihn fröhlich an. „Nur du und ich, wir fahren mit dem Zug ganz weit weg.“ „Sie will mit dir vorm Zug springen!“ rief Harvey alarmierend und sah Beyond mit seinen großen Augen an. „Schnell, du musst etwas tun, bevor sie dich noch umbringen kann.“ „Warum bist du dir so sicher?“ „Sie hat schon mal versucht, dich umzubringen und sie wird es wieder tun.“ Abwechselnd sah Beyond zu Harvey und zu seiner Mutter. Einen Ausflug… einen Ausflug in den Tod…. War es das, was sie wirklich vorhatte? Hatte sie ihn angelogen oder steigerte sich Harvey irgendwo rein? Was sollte er bloß tun? Wem sollte er vertrauen? Von weiter weg hörte er das Herannahen des Schnellzuges, der angekündigt worden war. Nun ergriff Cassandra seine Hand. „Da kommt unser Zug mein Schatz. Da kommt unser Zug! Freust du dich schon?“ Die nächsten Sekunden schienen für Beyond wie in Zeitlupe zu vergehen. Während der Schnellzug immer näher kam, riss er sich von seiner Mutter los, ließ seine Tasche fallen und stieß sie mit aller Kraft vom Bahnsteig. Cassandra geriet ins Wanken, strauchelte und fiel schließlich vornüber. Sie sah nach rechts, sah den Zug direkt vor sich noch bevor sie überhaupt die Gleise berührte. Noch bevor sie realisierte, was eigentlich gerade geschehen war und dass sie von ihrem Sohn gestoßen wurde, erfasste sie der Schnellzug mit einer Geschwindigkeit von mindestens 200km/h. Beyond stand wie angewurzelt da und hörte nur das Quietschen der Bremsen des Zuges, der noch lange weiterrollte und in der Ferne verschwand. Wie betäubt starrte er auf die Gleise, wo die zerschmetterte Leiche seiner Mutter lag. Selbst als er auf die Gleise stieg und langsam zu ihr hinging, war er noch nicht Herr seiner Sinne. Er realisierte gar nicht, was passiert war, dass er mit seinen Schuhen in einer Blutpfütze stand und ein furchtbarer unbeschreiblicher Anblick sich ihm bot. Nun stand er direkt neben ihr und sah ihr in die Augen. Es war, als wolle er ihr sagen „Ich weiß wie du dich gefühlt hast.“ Denn innerlich fühlte er sich im Moment genauso tot, wie sie es jetzt war. Nun kniete er sich hin und berührte kurz ihren Kopf, der leblos zur Seite rollte und erst als er das Blut an seinen Händen sah, regte sich etwas in ihm. Er begann aus voller Kehle zu schreien und wich von der zerschmetterten Leiche zurück. Er schrie so laut, als würde er jeden Moment explodieren. Seine Hände und ein Teil seines T-Shirts waren blutverschmiert und er wollte einfach nur aus diesem Alptraum erwachen. Schließlich kam ein Mann vom Bahnhofspersonal herbeigeeilt, sprang auf die Gleise und trug den immer noch wie am Spieß schreienden Beyond Birthday weg. Als Beyond sich fast heiser geschrieen hatte, verstummte er plötzlich, wurde leichenblass und zitterte am ganzen Leib. Selbst als die Polizei schließlich eintraf und sich das Etwas auf den Gleisen ansah, das nicht mehr als Mensch zu bezeichnen war, stand er noch unter Schock und war nicht fähig zu erzählen, was sich zugetragen hatte. Apathisch starrte er nur ins Leere, schwieg und zitterte, die Hände immer noch völlig blutverschmiert. Da er den Behörden bekannt war, wusste man, wo man ihn hinbringen musste und so stand er wenig später in Begleitung zweier Polizisten vor Edna Konrads Haustür und hatte Harvey zitternd umklammert. Als sie die Tür öffnete, war der Schreck groß. „Oh mein Gott Beyond, was hast du? Was ist denn passiert?“ „Sind Sie Emma Kowalski?“ „Ja die bin ich, was ist denn mit dem Jungen passiert?“ „Er war mit seiner Mutter am Bahnhof und sie ist schließlich vor den Schnellzug gesprungen.“ Entsetzt schlug sich Edna die Hand vorm Mund und wich einen Schritt zurück. „Wie furchtbar. Wollte diese Verrückte auch Beyond in den Tod reißen?“ „Leider stand der Junge unter Schock und konnte keine Angaben dazu machen. Wir gehen aber davon aus, dass er sich losreißen konnte, als sie springen wollte.“ Edna versprach sich sofort auf dem Revier zu melden, wenn Beyond sich von seinem Schock erholt hatte und eine Aussage machen konnte. Sie brachte ihn erst einmal ins Wohnzimmer und gab ihm einen Tee mit Baldrianwurzelextrakt zu trinken, damit er sich ein wenig beruhigen konnte. Sanft strich Edna ihn durchs Haar und umarmte ihn. „Zum Glück ist dir nichts passiert…“ „Ha… ha… ve…“ begann Beyond unter Tränen zu stammeln und klammerte sich immer fester am Stoffhasen. „Harvey sagte… sagte dass…“ Ein Schauer durchfuhr die 28-jährige als sie diesen Namen hörte, wie eine längst vergessene Angst. „Was hast du gesagt?“ „Harvey…“ Ihr Blick wanderte zum Stoffhasen in Beyonds Arm und ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen. Sie sprang auf und wich von Beyond zurück. „Woher hast du den Stoffhasen?“ „Aus der Hütte am See…“ Sofort riss Edna Beyond Harvey aus den Händen und warf ihn in die Wäschetruhe und starrte ihn so hasserfüllt an, als wollte sie ihn jeden Moment in Stücke reißen. „Du Scheißkerl hast mein ganzes Leben ruiniert und meine beste Freundin in den Tod getrieben. Ich lasse nicht zu, dass du jetzt auch noch dem Jungen das Leben kaputtmachst…. Nein, wir hatten keine schöne Zeit, du bist für Alfreds Tod verantwortlich und dafür, dass Mattis zum Tode verurteilt wurde. Nein, mit uns ist es endgültig vorbei! Du bist noch nicht mal real!“ Edna knallte die Wäschetruhe zu und stellte noch etwas Schweres drauf, als wolle sie sichergehen, dass sie auch wirklich verschlossen blieb. Dann kam sie zu Beyond zurück und entschuldigte sich für den Wutausbruch. Sie kniete sich vor ihm hin und sah ihm tief in die Augen. „Beyond, du musst mir ein paar Fragen beantworten. Es ist ganz wichtig, okay?“ Er nickte. „Wie lange hast du Harvey schon?“ „Zwei Monate.“ „Hast du auf sein Drängen hin Menschen verletzt oder Streiche gespielt?“ Wieder nickte Beyond und wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. „Und hast du deine Mutter gestoßen, weil er es so wollte?“ Auf diese Frage gab er keine Antwort. Er hatte Angst davor wie Edna reagieren würde, wenn er darauf antwortete. Doch dann fasste er sich ein Herz und sagte „Ja.“ „Das hatte ich befürchtet“ murmelte Edna besorgt und strich Beyond tröstend über die Wange. „Du musst mir versprechen, dich von Harvey fernzuhalten. Er ist sehr gefährlich und böse.“ „Warum?“ „Ich glaube, ich muss dir die Wahrheit erzählen….“ Edna nahm neben Beyond Platz und atmete tief durch. „Mein wahrer Name ist Edna Konrad und Harvey war seit über 10 Jahren mein Stofftier und Fantasiefreund. Zusammen haben wir jeden erdenklichen Unfug gemacht und Alfred Marcel, dem Sohn eines Psychiaters der mit meinem Vater befreundet war, das Leben schwer gemacht. Er war eine totale Streberflasche und einfach nur nervig. Aber dann eines Tages eskalierte das alles. Alfred hat damit gedroht, Harvey kaputtzumachen und daraufhin hat mir Harvey zugerufen, Alfred die Treppen hinunterzustoßen. Dabei hat er sich das Genick gebrochen und ist gestorben. Mein Vater Mattis nahm die Schuld auf sich und bekam das Todesurteil. Alfreds Vater, Dr. Marcel, steckte mich in eine Irrenanstalt und hat mein Gedächtnis gelöscht um mich einer Charakterkorrektur zu unterziehen. Mit Harveys Hilfe gelang es mir jedoch, mich wieder zu erinnern und aus der Irrenanstalt auszubrechen. Ich wollte die Unschuld meines Vaters beweisen und bin zu unserem alten Haus gegangen. Da habe ich mich schließlich wieder erinnert, dass ich Alfred umgebracht habe. Und dann stand Dr. Marcel vor mir, der mich dazu überreden wollte, diese Charakterkorrektur zu machen. Die einzige Bedingung war, dass ich Harvey zerstöre.“ „Und das konntest du nicht?“ „Nein, Harvey hat mich davon abgehalten und mich dazu gebracht, Dr. Marcel genau wie seinen Sohn damals die Treppen hinunterzustoßen. Der Doktor sitzt seitdem im Rollstuhl und ist noch verbitterter als vorher. Eine Weile habe ich mich in einer Klosterschule versteckt, bis da Dr. Marcel aufgetaucht ist und mit Harvey meine beste Freundin Lilli einer Hypnose unterzogen hat. Ihr gelang es aber ihre Blockaden zu brechen und hat versucht mich zu finden, weil ich abhauen musste. Dr. Marcels Schergen haben mich entführt und in die Anstalt zurückgebracht. Lilli hat Dr. Marcel schließlich mit einem Messer getötet, auch auf Harveys Befehl. Sie hat dann Selbstmord begangen und ich bin unter falschen Namen in die USA ausgewandert.“ „Und wie kam Harvey hierher?“ „Er hat mich dazu gebracht, ihn mitzunehmen und ich konnte mich nicht gegen ihn zur Wehr setzen. Schließlich habe ich es dann doch noch geschafft ihn loszuwerden. Ich wollte ihn an einen Ort verstecken, wo ihn keiner finden würde. Ich wollte endlich, dass dieser verdammte Alptraum ein Ende hat. Harvey ist viel zu gefährlich…. Er hat Alfred, Dr. Marcel, meine beste Freundin und indirekt auch meinen Vater auf dem Gewissen.“ So war das also. Deshalb hatte Edna ihren Namen geändert. Sie wollte sich vor Harvey verstecken. Dass er so gefährlich war, hätte er niemals gedacht. Harvey hatte doch gesagt, sie seien Freunde und dass er Beyond niemals etwas antun würde. Aber inwieweit hatte dieser Stoffhase mit all diesen Todesfällen zu tun? War er nicht nur eine Stimme aus seiner Fantasie? Oder war Harvey etwa wirklich echt? „Was an Harvey ist denn so gefährlich?“ Edna begann sich die richtigen Worte zu überlegen. Sie wusste, wie Harvey „funktionierte“ aber wie sollte sie das einem 10-jährigen Kind verständlich erklären? Schließlich holte sie Stift und Papier und zeichnete drei Kreise, die wie ein umgekehrtes Dreieck ausgerichtet waren. An der unteren Spitze schrieb sie „Ich“, links oben „Über-Ich“ und daneben „Es“. „Erst mal muss man verstehen wie Tiefenpsychologie funktioniert. An Freuds Modell ist es am besten verständlich: Also das „Ich“ ist unser Bewusstsein. Alles, was wir bewusst tun. Zum Beispiel etwas zu lesen oder Fernsehen. All das, was unsere ganze Aufmerksamkeit benötigt. Unser Bewusstsein steht im Kontakt zur Außenwelt und wird beeinflusst durch das „Über-Ich“ und das „Es“. Das „Über-Ich“ ist sozusagen unser Gewissen. Es sagt uns, was richtig und was falsch ist. Alle Regeln und Moralvorstellungen kommen vom rechtschaffenen „Über-Ich“. Dieses steht im Konflikt zum „Es“. Das „Es“ verkörpert die Triebe und reinen Instinkte des Menschen. Es ist unkontrollierbar, rein destruktiv, egoistisch und nicht imstande, ein normales Leben zu führen. Deswegen versucht das „Über-Ich“ das „Es“ zu unterdrücken und das „Ich“ muss beides in Einklang bringen und zwischen den beiden Streithähnen vermitteln und eine Lösung finden, die beide zufrieden stellt. Nicht immer einfach und nicht immer gelingt es. Das „Über-Ich“ und das „Es“ sind also Teile des Unterbewusstseins.“ „Und was ist das Unterbewusstsein?“ „Tja“ murmelte Edna nachdenklich „schwer zu erklären. Eigentlich gibt es keine wissenschaftlichen Beweise für seine Existenz aber man geht davon aus, dass es ein Unterbewusstsein gibt. Man muss dabei von Unterbewusstsein von Unbewusstsein unterscheiden. Auf das Unbewusste haben wir zum Beispiel keinen Zugriff. Es ist alles, das wir unwillentlich machen. Zum Beispiel, wenn wir etwas sagen, was wir eigentlich nicht sagen wollten. Oder unsere Körperfunktionen, die laufen auch ganz automatisch ab. Das Unterbewusstsein hingegen ist die Summe aller Vorstellungen, Erinnerungen, Eindrücke, Einstellungen, Motive und Handlungsbereitschaften, die in uns sind aber nicht aktiv sind. Was in uns aktiv ist, das ist bewusst. Das Laufen zum Beispiel läuft unbewusst ab oder das Fahrradfahren, weil wir das so oft gemacht haben und es auch so gut können, dass es automatisch abläuft. Das Unterbewusstsein entlastet also das Bewusstsein, damit wir uns gleichzeitig auf andere Dinge konzentrieren können. Das Unterbewusstsein nicht auch alle Dinge wahr, die unser Bewusstsein nicht schafft. All diese Farben, Töne, Geräusche, Formen und Bilder und Stimmen oder Reize wie Berührungen, Wärme, Kälte oder Schmerzen und Gerüche… all das kann das Bewusstsein gar nicht aufnehmen, nur einen kleinen Bruchteil weil sonst unser Gehirn völlig überlastet wäre.“ „Dann hat das Unterbewusstsein also einen ganz schön großen Einfluss, oder?“ Edna nickte und fuhr fort. „Harvey ist ein Stofftier, das ist Tatsache. Für dieses „Es“ in uns ist er wie eine Art Medium, um einen stärkeren Einfluss auf uns ausüben zu können. Dabei besitzt er einen so großen Einfluss auf unser Handeln, dass wir erst gar keinen Verdacht schöpfen. Er kann unser Unterbewusstsein manipulieren und damit auch uns. Eben weil er uns denken lässt, dass alles ganz normal sei und Harvey vollkommen harmlos ist, macht ihn das gefährlich.“ „Wie hast du es geschafft, Harvey dann loszuwerden?“ „Indem ich mich jenseits von Bewusstsein und Unterbewusstsein bewegt habe: Durch eine Selbsthypnose, durch die ich mich in Trance versetzt habe.“ „Und das geht?“ „Natürlich. Es kommt sogar oft vor, dass Menschen sich in einer Trance befinden und es nicht bemerken. Bei der Ausstellung warst du auch in Trance, als du das Bild angestarrt hast, in welchem ich ein kleines blinkendes LED Licht eingebaut habe. Blinkende Lichter reichen auch schon vollkommen aus. Im Falle meiner besten Freundin hat Dr. Marcel diese Eigenschaft ausgenutzt, um in ihrem Unterbewusstsein Blockaden aufzubauen um ihr Verbote aufzuzwingen. Allerdings ist das nicht ganz ungefährlich. Die Trance kann unberechenbar sein und manchmal wie eine Art Traumwelt wirken, die aus dem Unterbewusstsein projiziert wird. Das heißt: Dir kommt alles vor wie auf einem Drogentrip. Vieles um dich herum wirkt verzerrt und vollkommen anders. Trotzdem war es meine einzige Chance, Harvey zu entkommen. Zerstören konnte ich ihn allerdings nicht, dazu war ich nicht stark genug.“ Es war ein deutlicher Selbstvorwurf in ihrer Stimme zu hören, denn sie schien offensichtlich ein schlechtes Gewissen zu haben, dass Beyond nun in solchen Schwierigkeiten steckte. Nur weil sie nicht stark genug gewesen war, hatte Harvey Beyond dazu gebracht, seine Mutter vor den Zug zu stoßen und seine Klassenkameraden zu verletzen. Dann aber nahm Edna Beyond in den Arm. „Hab keine Angst, ich werde dir helfen.“ Kapitel 8: Ein Fest für Beyond ------------------------------ Der Sommer neigte sich dem Ende zu und es wurde schließlich Winter. Da Edna mit ihrer Arbeit beschäftigt war, stellte sie eine Haushälterin ein, die Beyond auch bei den Hausaufgaben betreute. Ein Mal die Woche wurde Beyond zum Psychologen Dr. Braunstein gebracht, der sich Beyonds Sorgen und Nöte anhörte, sich aber auch von seinen Erfolgen erzählen ließ. Die Haushälterin, eine ältere Dame die sich von allen gerne „Granny Stone“ nennen ließ, war ein herzensguter Mensch und konnte sowohl Deutsch, als auch Englisch und Russisch sprechen. Eigentlich hieß sie Mary-Maude Jenkins Stone, aber sie konnte ihren Vornamen noch nie leiden und außerdem war der Name insgesamt ziemlich lang für eine alte Dame. Darum wurde er kurz und schmerzlos auf Granny Stone gekürzt. Er passte auch besser zu ihr als Mary-Maude Jenkins Stone und außerdem konnte sie die besten Pfannkuchen und Braten machen wie sonst kein anderer. Das hieß aber nicht, dass Edna ihren Pflichten als Pflegemutter nicht nachkommen würde. Wann immer es sich einrichten ließ, unternahm sie etwas mit Beyond und passte auch darauf auf, dass er Harvey zuhause ließ und sie ermahnte auch Granny Stone, die Finger von dem Gefahrengut zu lassen. Sicher war sicher. Heute gingen Edna und Beyond zusammen auf den Weihnachtsmarkt in Glade, einer beeindruckenden Großstadt, wo es einen fünfmal so großen Weihnachtsmarkt gab wie in seiner Heimatstadt. Man konnte dort sogar Schlittschuhlaufen gehen. Leider stellten weder er noch Edna sich sonderlich geschickt an. Insbesondere Edna konnte sich kaum auf den Beinen halten und fiel immer wieder hin. Schließlich gaben sie es auf und gingen zu einer deutschen Imbissbude, wo es Bratwürste mit Brötchen gab und dazu noch ein Getränk. Nun ja, eigentlich blieb es nicht bei der einen Imbissbude. Bei kaltem Wetter auf einem Weihnachtsmarkt wo alle Gerüche sich vermischten, verfiel Edna einem regelrechten Fresswahn und machte quasi an jeder Fressbude halt. Angefangen von Würstchenständen über Crepe- und Pfannkuchenständen bis hin zu den Süßigkeitenverkäufern. Dort kaufte sie unter anderem Salbei- und Anisbonbons aber auch Bonbons mit Honig- und Ingwergeschmack, Waldmeister und Karamell. Schließlich kaufte sie gebrannte Mandeln und teilte hinterher mit Beyond ihre Naschereien. Als sie die Fressbuden alle abgeklappert hatten, sahen sie sich an den Ständen um, an denen Basteleien verkauft wurden. Angefangen von Papierlichtern über gestrickte Sachen bis hin zu Holzfiguren. Für sich selbst kaufte Edna Ohrenschützer und Handschuhe, für Beyond einen kuscheligen Schal und eine Mütze. Als sie den halben Weihnachtsmarkt besichtigt hatten, war Beyond erschöpft und die Füße taten ihm weh. Sie setzten sich schließlich auf eine Bank und Edna band ihm den Schal um. „Ist dir kalt?“ „Ein bisschen, aber es ist schon okay.“ Seine alte Winterjacke war nur eine Regenjacke gewesen, unter die er zwei Pullover getragen hatte. Jetzt hatte er eine richtige Winterjacke und feste Stiefel, da es in der letzten Zeit viel Glatteis gab. „Du Edna, warum hast du mich aufgenommen?“ fragte er schließlich und Edna verstand nicht wirklich, warum er diese Frage überhaupt stellte. Sie erklärte es damit, dass er in seinem Leben bis jetzt nur Ablehnung erfahren hatte und deshalb keinerlei Selbstbewusstsein besaß. Sie lächelte und küsste ihm auf die Stirn. „Na weil ich dich richtig gerne habe. Ich weiß selbst wie es ist, Außenseiter zu sein, von den Eltern bzw. vom Vater nicht verstanden zu werden und immer wie jemand behandelt zu werden, der unerwünscht ist. Ich weiß wie es ist, einsam zu sein und aus diesem Grund habe ich dich auch aufgenommen. Nicht allein aus Mitleid sondern auch, weil wir uns beide so ähnlich sind und deswegen gut zusammenpassen. Außerdem bist du echt niedlich!“ Und damit umarmte Edna Beyond und drückte ihn fest an sich, wobei sie grinsend Quietschgeräusche von sich gab. Das machte sie öfter, wenn sie supersüße Dinge in die Finger bekam. Inzwischen hatte sich Beyond daran gewöhnt, obwohl es ihm immer noch schleierhaft blieb, warum sie glaubte er sei niedlich. Niedlich waren kleine Mädchen in hübschen Kleidchen oder Katzenbabys. Kleine Kätzchen: Niedlich. Er: Nicht niedlich! Da Beyonds Füße immer noch vom vielen Laufen und Stehen wehtaten, nahm Edna ihn auf den Rücken und trug ihn bis zum Parkhaus, wo sie das Auto geparkt hatten. Dabei sang sie Weihnachtslieder in ihrer Heimatsprache, die Beyond zwar nicht verstand, von der Melodie her aber trotzdem sehr schön fand. „Was wir auf jeden Fall nächstes Jahr machen müssen, ist das chinesische Neujahrsfest besuchen. Die wissen wirklich, wie man feiert.“ „Warum feiern die Chinesischen eigentlich Neujahr im Februar?“ „Ich glaube weil die einen anderen Kalender hatten als wir. Ab dem 16. Jahrhundert gab es den Gregorianischen Kalender, der heute weltweit angewandt wird. Die Chinesen hatten aber bis 1949 ihren eigenen Kalender, den Lunisolarkalender.“ „Und was ist so toll am chinesischen Neujahr?“ „Es gibt viele interessante Traditionen. Zum Beispiel dass man am ersten Tag des neuen Jahres nicht fegen darf, da man das Glück auskehrt. Außerdem darf man keine neuen Bücher oder Schuhe kaufen, weil das sonst Unglück bringt. Hängt mit chinesischen Kurzzeichen zusammen. Das Fest dauert ungefähr 15 Tage und ist gleichzeitig ein Familienfest. Okay, das mit der Familie ist für uns beide blöd aber ich kenne eine nette Familie, die mich immer zum chinesischen Neujahr einlädt. Es macht ehrlich gesagt auch viel mehr Spaß als unser Neujahr, was wir feiern. Da wird mehr auf Freundschaft und Familie geachtet als nur aufs bloße Abfeiern. Außerdem liebe ich die chinesische Küche!“ „Du denkst auch nur ans Essen.“ Edna kicherte und setzte sich hinters Steuer und wartete, bis Beyond sich angeschnallt hatte. Sie fuhr los und beide waren in Feierlaune. Das änderte sich aber schlagartig als sie zuhause ankamen und sahen, dass eines der Fenster eingeschlagen war. Edna hatte einen schlimmen Verdacht. „Beyond, du bleibst im Wagen, ich geh mir das näher ansehen.“ Edna holte den Elektroschocker aus dem Handschuhfach und wählte schon mal die Nummer von der Polizei. „Wenn ich in spätestens fünf Minuten nicht zurück bin, dann ruf sofort die Polizei und sag ihnen, wir haben einen Einbrecher.“ Beyond nickte, aber er hätte Edna lieber davon abgehalten denn ungefährlich war so etwas ja nicht. Hoffentlich ging alles gut. Edna eilte zur Haustüre und holte statt des Elektroschockers ihre geladene Pistole heraus. Nie im Leben war sie so dumm und bewahrte die Knarre im Handschuhfach auf, außerdem wollte sie Beyond keine Angst einjagen. Allerdings war es nicht das erste Mal, dass bei ihr eingebrochen wurde und sie wurde auch schon mal überfallen. Daraufhin hatte sie sich eine Waffe besorgt, selbstverständlich auf legalem Wege und auch, nachdem sie einen Kurs besucht und gelernt hatte, wie man mit so einer Waffe umzugehen hatte. Aber sie kannte auch die amerikanischen Gesetze. Man durfte schießen, wenn man bedroht wurde oder wenn jemand anderes in ernsthafter Gefahr war. Außerdem konnte sie richtig gut schießen ohne jemanden ernsthaft zu verletzen. Lautlos öffnete sie die Tür und lauschte angestrengt. Zu ihrer Überraschung hörte sie im Obergeschoss, wo Beyond und sie ihre Zimmer hatten, lautes Gepolter. Also wenn das mal nicht der lauteste Einbrecher des Jahrhunderts war, dann würde sie nicht Edna Konrad heißen. Sie hörte den Einbrecher sogar reden und irgendwie kam ihr diese Stimme bekannt vor. Als sie schließlich das Ende der Treppe erreichte, sah sie in Beyonds Zimmer einen Schatten und als sie das Licht einschaltete, kam tatsächlich William Birthday, Beyonds arbeitsloser Vater zum Vorschein. „Was haben Sie hier zu suchen?“ „Isch will mia nur dat hol’n, wat mir zusteht“ brummte der 36-Jährige Alkoholiker und sah Edna gereizt an. „Ein Sohn gehört zu seinem Vater!“ er sprach „Sohn“ wie „Schon“ und „Vater“ wie „Vadder“ aus. „Du blöde Hexe, has’ uns alles kaputt g’macht. Zuerst nimmste mein’n Schon wech un dann springt Cassie auch noch vorm Zuch.“ „Sie verlassen jetzt SOFORT mein Haus, sonst steht die Polizei hier noch vor der Tür. Außerdem bin ich bewaffnet. Zwingen Sie mich nicht zu schießen.“ „Hal’ de Schnauze du verdammte Hexe. Isch hol mia mein’n Schon, isch bin immer noch der Vadder.“ „Sie haben kein Sorgerecht mehr für ihren Sohn und jetzt verschwinden Sie sofort. Beyond muss nicht auch noch mitbekommen wie Sie kriminell werden.“ „Von Ihnen lass isch mia gar nischts sajen.“ Die Fahne roch Edna mehr als deutlich obwohl sie noch im Flur stand. Im betrunkenen Zustand war mit dem Kerl echt nicht zu reden. Trotzdem wollte sie um jeden Preis verhindern, dass Beyond nach dem Tode seiner Mutter jetzt auch noch die Verhaftung seines Vaters mitbekommen musste. Der Junge hatte weiß Gott genug durchgemacht. „Ich appelliere das allerletzte Mal an Ihre Vernunft. Gehen Sie und ich sehe von einer Anzeige ab. Tun Sie das für Ihren Sohn!“ „Isch gehe hier nischt wech ohne mein’n Schon. Und du Hexe fährs’ direkt ssur Hölle!!!“ Damit holte der Betrunkene eine geladene Beretta hervor und zielte damit direkt auf Edna. Diese eilte fluchtartig die Treppe runter und eilte in Richtung Terrassentür. Doch kaum, dass sie diese erreicht war, fiel der erste Schuss und schlug direkt in die Glasscheibe ein. Sofort sprang Edna beiseite und nahm hinter dem Flügel Deckung. „Hören Sie auf Mr. Birthday, machen Sie keinen Fehler!“ „Es war ei Fehla, dia mein’n Schon zu übalassn“ brüllte der arbeitslose Säufer und schoss erneut. Edna blieb keine andere Wahl. Wenn sie nicht schoss, dann würde dieser Kerl sie mit Sicherheit umbringen. Sie kaum kurz aus ihrem Versteck hervor, dann feuerte sie zwei Schüsse ab. Der erste verfehlte sein Ziel, der zweite war ein glatter Bauchschutz. William Birthday fiel zu Boden und Edna eilte auf ihn zu und nahm ihm die Waffe weg. Sie eilte sofort zum Telefon und rief den Notarzt und die Polizei. William Birthday verstarb jedoch auf dem Weg ins Krankenhaus und Edna wurde verhaftet. Beyond kam in der Zwischenzeit bei Granny Stone unter und bekam zum Glück nicht viel mit. Edna wurde schon am nächsten Tag wieder entlassen, da schnell bewiesen wurde, dass sie aus reiner Notwehr gehandelt hatte. Beyond sagte sie jedoch nicht, dass sein Vater der Einbrecher gewesen war. Sie glaubte, es sei besser für ihn, nur die halbe Wahrheit zu erfahren. Da Beyond Birthday jetzt Vollwaise war, hätte dies im Normalfall bedeutet, dass das Pflegeverhältnis beendet war und man nun eine Adoptivfamilie für ihn suchen sollte. Doch bevor Edna so eine wichtige Entscheidung traf, setzte sie sich zwei Wochen später mit Beyond zusammen ins Wohnzimmer. Sie erklärte ihm, dass sein Vater ihn zur Adoption freigegeben habe in der Überzeugung, dass dies die beste Erklärung wäre ohne ihm sagen zu müssen, dass sein Vater in Wahrheit tot war. Da Beyond sowieso keine Beziehung zu seinen Eltern gehabt hatte, war es für ihn auch nicht weiter schlimm. „Jedenfalls besteht jetzt das Problem“, erklärte Edna während sie Beyond Orangensaft einschüttete „dass du nicht mehr als mein Pflegekind bleiben kannst. Es besteht aber die Möglichkeit einer Adoption. Das heißt, ich werde als deine Adoptivmutter eingetragen und bin dann fast genau wie eine richtige Mutter. Die Entscheidung liegt aber ganz allein an dir. Beyond, möchtest du bei mir bleiben?“ „Ich will immer bei dir bleiben!“ antwortete Beyond wie aus der Pistole geschossen und sprang auf. „Bitte schick mich nicht weg! Bitte, ich möchte so gerne bei dir bleiben.“ „Beruhige dich doch, du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich werde dich doch nicht wegschicken. Im Ernst, ich freue mich sogar, dass du hierbleiben möchtest. Ohne dich wäre es schon ziemlich einsam hier.“ Damit drückte Edna ihm einen Kuss auf die Stirn und Beyond umarmte sie freudestrahlend. Knapp zwei Tage vor Weihnachten war die Adoption schließlich genehmigt und damit waren Beyond Birthday und Edna Konrad eine richtige Familie. Diese Nachricht war noch schöner als Weihnachten, wo Beyond sein erstes Haustier geschenkt bekam: Eine Kornnatter mit einem wunderschönen rot-gelben Muster, als wäre ihre Haut ein Muster aus winzigen Mosaiksteinchen. Ein Weibchen, das er „Agatha Christie“ nannte. Sie war so klein, dass sie eingerollt auf Ednas Handfläche passte. „Beim Füttern und Saubermachen helfe ich dir gerne aber du musst aufpassen, dass sie nicht abhauen kann. Wenn Kornnattern etwas können, dann ist das auszubrechen.“ Und Beyond schenkte Edna ein neues Pinselset zum Malen. Den Rest des Tages verbrachten sie mit Plätzchenbacken, singen und Klavierspielen und am Abend saßen sie schließlich auf der Couch und sahen sich „Kevin allein zuhause“ und „Nightmare before Christmas“ an, wobei Edna bemerkte dass ihr die deutsche Fassung wesentlich besser gefallen würde. Als es dann spät war, brachte Edna Beyond zu Bett und las ihm noch eine Geschichte vor. Das chinesische Neujahrsfest, von dem Edna erzählt hatte, war wirklich ganz außergewöhnlich. Im Vorfeld hatten sie Hausschuhe besorgt und trugen statt weiß oder schwarz schöne Farben. Edna kannte sich in den Dingen, die Glück oder Unheil brachten, genauso gut aus wie ein gebürtiger Chinese. „Hausschuhe, die man im alten Jahr kauft und im neuen Jahr trägt, sollen Glück bringen weil man alles Negative abstreift. Weiß und Schwarz darf man nicht tragen weil Schwarz die Farbe der Trauer und des Unglücks ist und Weiß trägt man zur Beerdigung.“ Sie fuhren in ein chinesisches Viertel in Glade zu einem kleinen Haus, wo zu Beyonds Überraschung alle Fenster offen waren. Edna erklärte, dass dies ein Brauch sei um das Glück ins Haus zu lassen. „Es wird übrigens süß gegessen um das neue Jahr zu versüßen. Was uns am ersten Neujahrstag passiert, soll im kommenden Jahr reflektiert werden. Da du jetzt mein Adoptivsohn bist, bist du ebenso ein Teil der Familie Chan. Nach der Begrüßung werden wir den Ahnen der Chans jeweils ein Räucherstäbchen anzünden, als Respekterweisung. Ich zeige dir, wie das geht.“ Beyond war ein klein wenig nervös und hatte auch ein klein wenig Angst, aber als die Haustür geöffnet wurde und ein grauhaariger alter Mann mit Bart sie aufs Allerherzlichste begrüßte, als wären sie seine eigenen Kinder, war sofort alle Sorgen und Anfangsängste verflogen. Der Mann, ein gewisser Liu Chan, war das Familienoberhaupt und umarmte Edna herzlich. Von dieser respektvollen und leicht distanzierten Art, wie man das von den Asiaten zu kennen glaubte, war hier nicht die geringste Spur zu erkennen. Er führte sie ins Haus wo eine Familie von ungefähr acht Leuten munter miteinander plauderte und es wurden sogar noch drei Leute mehr. Alles Kinder und Enkel von Liu Chan und seiner Frau Bao. Es waren aber auch Ehepartner dabei und später kamen auch andere Freunde hinzu. Jeder wurde wie ein Familienmitglied behandelt und während die eine Hälfte bei Snacks und alkoholischen bzw. alkoholfreien Getränken zusammensaß und zum Teil in chinesischer Sprache miteinander redete, ging die andere in das Ahnenzimmer, wo jeder auf seine Weise den Verstorbenen gedachte. Edna erklärte Beyond was er zu tun hatte und auch wenn er einen kleinen Fehler machte, Liu Chan freute sich über diese Aufmerksamkeit. Es wurde viel gelacht und man erzählte sich alles Mögliche. Beyond verbrachte die meiste Zeit mit den Kindern. Besonders mit Kim, Nhat, Su und Minh verstand er sich gut und spielte mit ihnen unter anderem auch chinesische Spiele. Schließlich wurden rote Umschläge an einige der Gäste übergeben, auch an Beyond. „Alle unverheirateten Gäste bekommen zum ersten Neujahrstag einen“ erklärte die 8-jährige Su, die ihren öffnete und etwas Geld herausholte. Auch für Beyond gab es welches. Schließlich gab es sogar eine chinesische Parade und es wurden Knaller und Raketen gezündet. Es war ein schillerndes buntes Treiben, eine Art Mischung aus Fasching und Silvester. In der Tat war es viel schöner als das Neujahr, das man sonst verbrachte. Normalerweise wurde Silvester groß gefeiert und Neujahr der Rausch von gestern ausgeschlafen. Die Feierlichkeiten dauerten 15 Tage, an denen Edna und Beyond nicht allen beiwohnten. Sie kamen allerdings zum letzten Tag, wo es Tangyuan zu essen gab bis Beyond schlecht wurde und an dem überall Lichter angezündet wurden, sogar draußen. „Die Lichter leuchten das Glück den Weg in die Häuser und schrecken böse Geister ab.“ Jeder der Besucher im Hause Chan bekam eine kleine Laterne und machte eine Art Laternenzug auf der Straße. Das erinnerte Edna an den St. Martinszug in ihrer Heimat, wo Kinder auch mit gebastelten Laternen unterwegs waren. Allerdings hatte es eine ganz andere Bedeutung. Das Neujahrsfest war so üppig und prunkvoll gewesen, als wäre es eine Mischung aus allen bekannten Feiertagen, die den Christen relevant waren. Deswegen fand Beyond es irgendwie schade, dass das Fest mit dem Laternenzug vorbei war. So etwas würde er gerne wieder machen. Aber er hatte das Gefühl, dass diese uralte chinesische Tradition tatsächlich etwas auf seine neue Familie abgefärbt hatte. Vielleicht hatte er dieses Jahr wirklich Glück. Ach was, er hatte auch so schon unglaublich viel Glück. Er hatte endlich ein richtiges Zuhause und eine neue „Mutter“, die ihn so liebte wie er war und dabei war es ihm egal ob sie verwandt waren oder nicht. Endlich wurde seine Hochbegabung gefördert und er war nicht mehr alleine. Eigentlich war alles perfekt. Wäre da nicht dieser eine Tag gewesen, an dem er sich heftig mit Edna gestritten hatte. Grund war eine Todesanzeige gewesen, die er zufällig entdeckt hatte. Es war die Todesanzeige seines Vaters gewesen. Daraufhin hatte er sich seine Tasche geschnappt und war heimlich ausgebüxt. Dabei hatte er jedoch nicht gemerkt, dass er ausgerechnet die Tasche mitgenommen hatte, in der sich Harvey befand. Kapitel 9: Ein dunkles Omen --------------------------- Beyond verbrachte die nächsten Tage bei seiner Klassenkameradin Molly Stone. Sie war ein eigenartiges Mädchen, weil sie niemals ohne ihr silbernes Diadem und Prinzessinnenkleid rausging. Sie ging zuerst auf eine Privatschule, da sie aber einen zu hohen IQ hatte und ihre Leistungen gelitten hatten, kam sie auf eine spezielle Schule für hochbegabte Kinder. Viele Kinder reagierten abweisend oder zögerlich auf Molly, weil man sie nicht genau einzuordnen wusste. Vom Charakter her war die kleine blondhaarige Molly sehr aufgeschlossen und freundlich. Sie war nicht so abgehoben nur weil sie reich war und sie wusste genau, wen sie zum Freund haben wollte und wer es nur auf ihr Geld abgesehen hatte. Manchmal tat sie ein wenig schüchtern, doch das war nur eine Höflichkeitsgeste, denn eigentlich war sie sehr selbstbewusst. Da sie mit ihren Eltern bald nach Deutschland auswandern würde, sprach sie bereits fließend deutsch und französisch. „Und warum genau hast du dich mit deiner Adoptivmutter gestritten?“ erkundigte sie sich vorsichtig als sie sich mit Beyond auf die schwarze Ledercouch setzten und vom Butler dankend die Limonade entgegennahmen. Eigentlich wollte Beyond gar nicht darüber sprechen aber Molly und ihre Eltern waren so nett ihn erst mal hier übernachten zu lassen, da war er ihr die Antwort irgendwie schuldig. „Sie hat mir verschwiegen, dass mein Vater tot ist. Sie hat ihn erschossen als er in ihr Haus eingebrochen ist.“ „Naja, sie hat es sicher nicht aus böser Absicht getan.“ „Das weiß ich auch aber trotzdem ist es gemein, dass sie mich angelogen hat.“ Mollys Eltern hatten mit Edna telefoniert und abgesprochen, dass Beyond erst mal zur Ruhe kommt und es dann zu einem klärenden Gespräch kam. Für Beyond war diese nette Geste nicht selbstverständlich. Eigentlich hatte er sich darauf eingestellt gehabt, wieder auf der Straße zu leben und hatte es nur nebenbei erwähnt, da war Molly sofort zu ihren Eltern gerannt. Die Stones waren wirklich anders, als die anderen Leute aus der Oberschicht. Sie hatten keine Vorurteile gegenüber Leuten aus der unteren Schicht und waren auch nicht hochnäsig. Auch als sie erfahren hatten, dass Beyond aus miserablen Verhältnissen kam und Edna nur seine Adoptivmutter war, hatten sie nur mit den Achseln gezuckt und gesagt „Es ist so.“ Kayleigh Stone war berühmte Designerin für Kindermoden und Ballkleider. Mollys Kleider waren allesamt von ihr geschneidert worden und damit war ihre Tochter sozusagen ein kleines Model. Ihr Mann Martin besaß einen Konzern, der überall auf der Welt Tochterfirmen hatte. Sie und ein paar andere Reiche wurden auch „Hoods“ genannt. Sie hatten nichts mit Robin Hood direkt zu tun und bestahlen auch niemanden, aber sie kümmerten sich aus rein sozialen Motiven nicht nur um die Armen in der dritten Welt sondern behandelten die Leute aus der Arbeiterklasse wie gute Freunde. Ein weiteres Mitglied der „Hoods“ war Rachel Heaven, die wohl reichste Frau der Welt mit einem unglaublichen politischen Einfluss. Beyond hatte oft von ihr in Zeitschriften gelesen. Rachel Heavens gesamte Familie kam bei einer Gasexplosion ums Leben und nur sie hatte durch Zufall überlebt, weil sie zum Zeitpunkt des Unglücks nicht vor Ort war. Im Alter von nur 13 Jahren hatte sie den gesamten Heaven Konzern übernommen und bewies damals trotz ihres jungen Alters einen unglaublichen Geschäftssinn als auch strategisches Können, Intelligenz und auch Hinterhältigkeit. Nicht selten trieb sie ihre Konkurrenten in den Ruin und kaufte Firmen zum Spottpreis auf. Die entlassenen Angestellten, soweit sie nicht bereits vorher einen neuen Job gefunden hatten, stellte sie wieder ein und da sie einen eigenen Privatzoo für Reptilien jeder Art (besonders giftige) besaß, nannte man sie auch die „Kobra“. Soweit Beyond richtig informiert war, besaßen die „Hoods“ ein unglaublich hohes gesellschaftliches Ansehen und waren schon beinahe Aristokraten unter den Reichen nur mit dem Abstand, dass sie sich selbst als vollkommen normale Menschen sahen. Und nun wollten die Stones auch Molly als zukünftige „Hood“ erziehen und dazu zählte auch der Umgang mit Kindern aus der Mittelschicht. Beyond war gerne bei Molly, auch wenn er manchmal das Gefühl hatte, dass etwas im Haus nicht stimmte. Zum Beispiel als er sie das erste Mal besuchen ging und zur Toilette gehen wollte, hatte er gesehen, dass das Dienstmädchen Kathleen Samuels oder einfach „Kitty“ an den Knien und an den Händen Verletzungen hatte. Und als er sie fragen wollte, woher sie stammten, suchte Kitty nur kurze Ausflüchte und dann stand plötzlich Molly hinter ihr und sagte mit süßester Unschuldsmiene „Kitty ist manchmal so ungeschickt, dass sie sich wirklich überall verletzt. Mal schneidet sie sich an den Scherben, wenn sie etwas zerbrochen hat oder sie stürzt die Treppen runter wenn sie zu abgelenkt ist. Nicht wahr Kitty?“ Das Dienstmädchen hatte dann irgendetwas vor sich hin gestammelt und Beyond hatte die nackte Todesangst in ihren Augen gesehen. Manchmal hatte er sich gefragt, ob Molly nicht vielleicht selber für die Unfälle des Dienstmädchens verantwortlich war. Aber das war doch vollkommener Blödsinn. Molly war anständig und hätte nicht einmal einer Fliege etwas zuleide getan. Sie war zu jedem nett und jeder mochte sie. Das war ja schon fast langweilig. Während sie sich beide unterhielten, kam Frauke das Kindermädchen herein. Frauke Henning herein, eine Deutsche, die Molly in ihrer Heimatsprache unterrichtete um sie vorzubereiten. Neben dem Dienstmädchen Kitty gab es noch einen Koch. Einen Fünfsternekoch namens Alois Petrow, ein stets schlecht gelaunter Russe, der vom Gesicht her als Doppelgänger von Jean Reno durchgehen konnte. Und dann war noch der Butler Thomas Budderbrück, den sie aber alle Thomas Buddenbrook nannten wie die Figur aus dem Roman „Buddenbrooks“. Der Butler war zur Hälfte deutsch und zur Hälfte Engländer und erfüllte das Klischee eines englischen Gentlemans bis ins letzte Detail. Der letzte Angestellte war zugleich derjenige, der am längsten im Dienst war: Der Mexikaner Juan Ortega. Jeder der Angestellten hatte eine bewegte Vergangenheit und hatte bei Familie Stone eine Chance bekommen. Kitty war im Alter von 14 Jahren von zuhause weggelaufen und lebte auf der Straße. Sie wurde schließlich aufgenommen und arbeitete nun als Dienstmädchen, bis sie auf eigenen Beinen stehen konnte. Thomas war mal Firmenbesitzer gewesen, bis man ihn eiskalt betrogen hatte und er alles verlor, was er einst hatte. Firma, Freunde, Haus und die Frau seines Lebens. Alois hatte man abserviert, weil er zum alten Eisen gehörte und die neumodischen Trends nicht kannte und Juan Ortega kam als illegaler Einwanderer nach Amerika. Er hatte seine ganze Familie während eines heftigen Aufstandes verloren und arbeitete lange als Friedhofsgärtner. Er brachte sich selbst Englisch und das Lesen und Schreiben bei und war ein wirklich herzensguter Mensch, mit dem man über alles reden konnte. Da es noch viel zu kalt war, kümmerte sich Juan um die Blumen im privaten Gewächshaus. Gerade wollte Molly den Fernseher einschalten, da nahm Frauke ihr die Fernbedienung weg. „Ich habe dir schon gestern gesagt, dass du tagsüber nicht vorm Fernseher sitzen sollst! Stattdessen könntest du mehr lernen, du hast schon wieder nur eine befriedigende Note in Mathematik!“ Diese Frau war echt nervig und Beyond konnte froh sein, dass er Granny Stone hatte. Frauke verbot alles Mögliche, sogar das Spielen außer Haus wenn es schneite. Molly könnte sich ja erkälten. Auch Molly wurde es langsam zu bunt und stand auf. Mit einem wie immer zuckersüßen Lächeln ging sie zu Frauke und verschränkte die Arme hinter dem Rücken. „Weißt du Frauke“ begann sie und sah sie mit saphirblauen Augen an „ich hatte schon einige Kindermädchen und sie alle haben nicht sehr lange durchgehalten. Die erste starb durch einen Stromschlag als sie das Badewasser kontrollieren wollte. Nummer zwei kündigte ohne Angaben von Gründen und die Dritte hat mir den Arm gebrochen und mich geschlagen. Und das vierte Kindermädchen ist spurlos verschwunden und ist nie wieder aufgetaucht. Es wäre doch wirklich traurig, wenn dir auch noch ein Unfall passiert oder du auch spurlos verschwinden würdest.“ All das sagte Molly mit dieser ebenso honigsüßen unschuldigen Stimme und kicherte als Fraukes Augen sich vor Schreck weiteten. „Du machst ja ganz große Augen. Wie ein Fisch! Hihi….“ Beyond lief ein kalter Schauer über den Rücken. So süß und brav Molly auch erscheinen mochte, sie war echt unheimlich. Und dabei war sie sogar ein wenig jünger als er, ironischerweise hatte sie ihren Geburtstag an Halloween. Frauke verließ das Wohnzimmer und schien völlig überrumpelt. Ungerührt nahm Molly die Fernbedienung, die das Kindermädchen hatte fallen lassen und schaltete den Fernseher ein. Nun wurde sie Beyond wirklich unheimlich. „Warum… warum machst du das?“ „Du stellst komische Fragen“ bemerkte Molly mit einer etwas kühleren Stimme, die nun gar nichts süßes mehr an sich hatte. „Du müsstest doch eigentlich wissen, dass Kinder wie wir unser wahres Ich nicht zeigen dürfen. Sollen diese dummen Erwachsenen doch glauben was sie wollen, es ist doch viel besser sie zu täuschen und ihre Gutgläubigkeit auszunutzen. Du hast immerhin deine Mutter umgebracht und deine Mitschüler gequält.“ „Das war nicht ich. Harvey hat mich dazu gezwungen!“ „Dein Stoffhase?“ fragte Molly ungläubig und holte den blauen Hasen aus der Tasche und hielt ihn an den Ohren fest. „Ganz schön feige, dass du alles aus ihn abwälzt. Oder willst du einfach nicht wahrhaben, dass es nun mal Kinder gibt, die einfach nur böse sind? Warum müssen sie immer psychische Probleme haben oder vom Teufel besessen sein oder noch besser: Der Teufel selbst sein? Das ist doch lächerlich. Du brauchst den ollen Hasen doch gar nicht um das zu tun, was du eigentlich machen willst. Hattest du nie den Wunsch verspürt gehabt, einem Menschen wehzutun oder ihm schlimme Sachen zu sagen? Oder hattest du sogar schon einmal bildlich vor Augen gehabt, einen Menschen zu töten?“ Beyond antwortete nicht, doch Molly hatte recht. Er hatte oft daran gedacht, seine Mutter und seinen Vater zu töten. Manchmal hatte er sich ausgemahlt wie es wohl ist, wenn er sein Haus niederbrennt und sie bei lebendigem Leibe verbrannten. Oder dass er einem seiner Peiniger eine Schere ins Auge rammt. Immer wieder hatte er diese Gedanken verworfen und versucht, nicht mehr daran zu denken. Als er Molly wieder ansah, war auch ihr niedliches Lächeln verschwunden. Ihr Blick war genauso eiskalt und gehässig wie ihre Stimme. „Jeder von uns hat eine dunkle Seite, aber manche von uns müssen sich entscheiden. Entweder wir passen uns den anderen an und verleugnen uns selbst oder wir pfeifen auf das, was andere uns sagen. Die Kinder an deiner alten Schule haben dich sicher gemieden, dich Freak genannt und dich herumgeschubst, oder?“ „Und wenn das so wäre, was spielt das für eine Rolle?“ „Es ist nicht schlimm, anders zu sein. Im Gegenteil: Wir sollten zu dem stehen, was wir sind! Es muss ja niemand erfahren, dass wir böse sind. Und wenn es jemand erfährt, sollte man wenigstens dafür sorgen, dass niemand ihm glaubt. Und was glaubst du wohl wem meine Eltern mehr glauben werden: Einem Kindermädchen, das gerade erst vier Tage angestellt ist oder ihrer süßen kleinen braven und wohl erzogenen Tochter?“ Molly war ganz schön clever. Aber irgendwie war es Beyond nicht ganz geheuer. Er hatte doch gar keinen Grund, so grausam und gemein zu sein. „Warum sollte ich so etwas tun?“ „Weil du genauso wie ich bist. Weil wir beide geborene Tyrannen sind. Uns hat die Welt verstoßen bevor wir eine Chance bekamen uns ihr anzupassen. Also warum sollten wir uns an irgendeine Hoffnung klammern und darauf warten, dass alles besser wird? Glaub mir Beyond, das Glück, das wir erfahren, dauert sowieso nicht lange an. Eines Tages wirst du alles verlieren und dann bist du ganz alleine. Und was wirst du dann tun? Wieder alles ertragen in der Hoffnung, dass irgendwann wieder etwas Gutes passiert? Das glaubst du doch wohl selbst nicht.“ „Warum soll ich denn alles verlieren?“ „Kinder wie wir ohne ein langes Glück zur Welt gekommen sind. Im Grunde sind wir niemals von Dauer wirklich glücklich.“ „Aber du hast alles was sich ein Kind nur vorstellen kann. Du hast liebevolle Eltern, alle mögen dich und du bekommst alles was du dir wünschst.“ „Meine Eltern und die anderen lieben nicht mich sondern nur die Molly, die sie haben wollen. Mich selbst würden sie verstoßen, wenn sie wüssten wie ich wirklich bin. Und mit Geld kann man sich zwar Spielsachen oder hübsche Kleider kaufen, aber leider nicht das Gefühl des Glücklichseins. Irgendwann habe ich gelernt, hinter der Maske der braven und süßen Molly die Leute zu benutzen und zu bekommen was ich will. Überleg es dir gut Beyond, auch du kannst das. Dazu brauchst du keinen Stoffhasen.“ Beyond war schlecht. Er hatte das Gefühl, ein Stein lag ihm im Magen und ihm war nur noch hundeelend zumute. Ohne etwas zu sagen schnappte er sich seine Tasche und ging raus. Es war bereits Anfang März und trotzdem war es noch richtig kalt. Genau das richtige um wieder klare Gedanken fassen zu können. Beyond war fast zwei Stunden ununterbrochen unterwegs gewesen und ziellos umhergelaufen. Irgendwann taten ihm die Füße weh und er setzte sich auf die Stufen einer langen Treppe, die hinunter zu einem großen Platz führte, wo auch ein Springbrunnen war. Er holte Harvey heraus und sah ihn traurig an. „Was soll ich machen Harvey?“ „Das musst du selbst herausfinden“ murmelte der kleine Stoffhase und schien selber keine Antwort zu haben. „Fest steht jedenfalls, dass Molly nicht ganz Unrecht hat.“ „Lass uns nach Hause gehen, okay? Ich bin einfach nur müde….“ Beyond hatte genug von allem. Genug von seinem Streit mit Edna und genug davon, sich von allen einreden zu lassen, was er machen sollte. Sein Kopf fühlte sich bleischwer an und ihm kam es so vor, als wäre ihm alle Kraft ausgegangen. Er sollte besser nach Hause gehen und mit Edna reden. Nachdem er sich an einer Imbissbude einen Hot Dog gekauft hatte um sich zu stärken, machte er sich auf den Weg nach Hause. Da er zu müde zum Laufen war, fuhr er mit dem Bus. Die Fahrt dauerte gut eine Viertelstunde und beinahe hätte Beyond die richtige Haltestelle verpasst. Von dort aus brauchte er zu Fuß gerade mal fünf Minuten und er hoffte einfach nur noch, eine kurze und schmerzlose Aussprache mit Edna haben zu können um sich dann einfach nur noch hinzulegen und an nichts mehr zu denken. Er war im Moment einfach nur ausgebrannt. Als er endlich das Haus erreichte, dachte er sich nichts dabei als die Tür sperrangelweit offen stand. Manchmal war Edna ein wenig schluderig und wenn sie mal den Müll rausbrachte, nahm sie nie einen Schlüssel mit sondern ließ einfach die Haustür offen. „Edna, ich bin wieder da!“ rief Beyond und ging im Garten nachsehen und im Keller. Aber da war Edna nicht. Seltsam, wo war sie denn? „Edna! Wo bist du denn?“ Doch es kam keine Antwort. Naja, wenn sie nicht da war und nur so vergessen hatte, die Tür zuzumachen, dann hatte sie sicher eine Nachricht in der Küche hinterlassen. „Harvey, hast du vielleicht eine Ahnung wo Edna ist?“ „Tja, wenn sie nicht im Haus ist, dann wahrscheinlich in der Garage oder einkaufen. Aber irgendwie habe ich ein ungutes Gefühl bei der Sache. Irgendetwas stimmt hier nicht.“ Dem musste Beyond zustimmen. Auch er hatte da so ein mulmiges Gefühl, eine Art böse Vorahnung. Diese bestätigte sich auch, als er die Küche erreichte und ein heilloses Chaos vorfand. Zerbrochenes Geschirr lag auf dem Boden und der Tisch als auch Stühle waren umgeworfen worden. Auch ein Messer lag auf dem Boden und an dem klebte Blut. Entsetzt ging Beyond ein paar Schritte zurück und tausend Fragen und Horrorszenarien gingen ihm durch den Kopf. Was war hier bloß passiert? War jemand ins Haus eingebrochen und hatte Edna entführt oder war sie vielleicht noch irgendwo? „Edna! Wo bist du?“ Beyond rannte durchs ganze Haus und suchte alles nach Edna ab, leider vergebens. Sie war nirgendwo aufzufinden. Also war sie doch entführt worden. Beyond ging zurück in den Flur im Erdgeschoss und wählte die Nummer von der Polizei. Kapitel 10: Die Reise ins Unterbewusstsein ------------------------------------------ Die Polizei ließ das ganze Haus von der Spurensicherung untersuchen und befragte Beyond ausführlich. Dieser gab Auskunft und erzählte alles über Edna, was er wusste. Angefangen von ihrem wahren Namen bis hin zu diesem seltsamen Dr. Marcel, der sie in die Irrenanstalt gesperrt hatte und dass er angeblich getötet worden sei. Die Nachbarschaft wurde befragt und man forderte die Akten zu Edna aus Deutschland an. Beyond wurde in der Zwischenzeit von Granny Stone aufgenommen und war völlig aus dem Häuschen als sie von Ednas Verschwinden erfuhr. Ein Einbruchdiebstahl konnte jedenfalls ausgeschlossen werden, denn wer auch immer ins Haus eingedrungen war, er hatte es nicht auf die Gemälde und die anderen Wertgegenstände abgesehen. Aber wer hatte denn einen Grund, Edna zu entführen, wenn er es nicht auf Geld abgesehen hatte? War es etwa dieser Irrenarzt Dr. Marcel? Aber hatte Edna nicht gesagt gehabt, ihre beste Freundin hätte ihn umgebracht? Oder hatte er vielleicht doch überlebt? Dieser Doktor war jedenfalls der einzige Anhaltspunkt bis jetzt und Edna hatte echt beunruhigende Geschichten über ihn erzählt. Angeblich hatte er eine Art elektrischen Stuhl in seiner Anstalt gehabt und die Patienten einer Gehirnwäsche unterzogen. Als ein Patient versuchen wollte zu fliehen, hatte Dr. Marcel ihm die Beine brechen und in seiner Zelle elendig verhungern lassen. Und außerdem soll er Experimente an manchen Patienten durchgeführt haben, dass einem das Blut in den Adern gefror. Und er hatte noch neben Alfred einen zweiten Sohn namens Ruben oder so gehabt haben, der allerdings „missraten“ war weil die Charakterkorrektur bei ihm nicht wirkte und daraufhin musste der arme Kerl in der Kanalisation leben. Nicht auszudenken, wenn der Doktor noch lebte und was er Edna alles antun würde, wenn er sie in die Finger bekam. Beyond, der an nichts anderes mehr denken konnte, schnappte sich Harvey. „Hast du vielleicht eine Idee wo Dr. Marcel sein könnte?“ „Leider nein, da ich nur ein Produkt deiner Fantasie bin, kann ich mich nicht an etwas erinnern, was du auch nicht weißt.“ „Aber du warst auch Ednas imaginärer Freund. Kannst du dich an irgendwelche Sachen erinnern?“ „So funktioniert das leider nicht. Ich kann dich schlecht in irgendwelche Erinnerungserlebnisse tempomorphen, wenn sie nicht von dir stammen. Ich habe lediglich Zugang zu deinen Erinnerungen.“ „Kann man nichts tun? Überhaupt nichts?“ „Wofür hältst du mich eigentlich? Für Superhase oder was? Ich bin nur ein Stoffhase, weiter nichts.“ „Erzähl mir mal was Neues“ schrie Beyond wütend und warf Harvey gegen die Wand. Dieser fiel dann zu Boden und setzte sich auf. Beyond senkte den Blick und weinte. „Tut mir leid Harvey, aber ich habe einfach nur Angst, dass Edna was passieren könnte. Ich will sie nicht verlieren.“ „Das will ich doch auch nicht“ versuchte Harvey ihn zu trösten. „Aber leider bin ich auch nicht allmächtig. Meine Möglichkeiten sind begrenzt.“ „Wäre auch zu schön gewesen um wahr zu sein wenn man unser Bewusstsein irgendwie miteinander verbinden könnte oder so.“ „Hm“ murmelte Harvey und dachte angestrengt nach, dann kam ihm eine Idee. „Es gibt tatsächlich so etwas wie spirituelle Verbindungen. Zum Beispiel bei Zwillingen. Und da du einen Shinigami in dir trägst, hast du eine spirituelle Verbindung zur anderen Seite. Es wäre eventuell möglich, dich über eine Zahl von Umwegen mit Ednas Erinnerungen zu verbinden. Allerdings ist das ziemlich riskant und ob das auch wirklich funktioniert, kann ich auch nicht sagen.“ „Was muss ich dafür tun?“ „Erinnerst du dich an das, was Edna übers Unterbewusstsein erzählt hat? Wenn du dich selbst hypnotisierst, dann kannst du theoretisch eine Reise in dein Unterbewusstsein machen und dank meiner Führung zu Edna gelangen.“ „Und wie hypnotisiere ich mich selbst?“ „Na durch einen Hypnotiseur oder aber durch etwas anderes. Edna hat ja erzählt, dass Dr. Marcel mir mal leuchtende rote Augen eingesetzt hat, mit der er ihre beste Freundin hypnotisierte. Das heißt, du kannst es auch mit dem Bild in der Kunstausstellung machen.“ Ja genau, er erinnerte sich. Da war er ja unbewusst in eine Trance geraten. Wenn er es schaffte, sich mit diesem kaum sichtbaren rot blinkenden Licht selbst zu hypnotisieren, wie es Ednas Freundin gemacht hatte, dann konnte er Verbindung zu Edna aufnehmen. Einen Versuch war es alle Male wert. Da er nicht alleine weggehen konnte und Granny Stone eh schon völlig durch den Wind war, rief er Molly an, die ihn zur Ausstellung bringen sollte. Diese erklärte sich gerne bereit dazu und holte ihn zehn Minuten später mittels des Butlers ab, der auch als Chauffeur tätig war. Mit der Limousine fuhren sie in den Nachbarort und gingen zur Kunstausstellung, die allerdings heute geschlossen war. Mollys Geschick hatten sie es zu verdanken, dass sie doch noch hineingelangen konnten, wenn auch nicht auf ganz legale Art und Weise. „Und du glaubst wirklich, dass das funktionieren wird?“ „Nein, aber ich will nichts unversucht lassen um Edna zu retten. Sie hat mich auch vor meinen Eltern gerettet.“ „Na gut, ich glaube zwar nicht daran, dass es was bringt aber man lernt ja immer dazu. Soll ich irgendetwas tun?“ „Nur aufpassen, dass wir nicht erwischt werden. Ich muss mich konzentrieren.“ Sie gingen in den Seitentrakt des Gebäudes wo die Bilder der Tiefenpsychologie hingen und dann blieb Beyond vor dem Bild mit dem Augenherz stehen. Molly blieb im Flur und passte auf, dass niemand hereinkam und setzte sich auf die Stufen der Treppe. Das konnte sicher noch recht lange dauern. Beyond atmete tief durch und legte die Tasche ab, in der er Harvey verstaut hatte. Wie hatte er das noch mal gemacht? Zuerst hatte er das Bild als Ganzes betrachtet und da er das Licht nicht bewusst gesehen hatte, hatte sein Unterbewusstsein irgendwie reagiert. Vielleicht funktionierte es wieder und vielleicht konnte er sich dann nicht nur in Trance versetzen sondern richtig hypnotisieren. Erst mal musste er aufhören an Edna zu denken. All seine Konzentration musste sich auf dieses Bild richten. Knapp fünf Minuten sah er das Bild an, ohne dass sich etwas tat. Es fiel ihm einfach viel zu schwer, sich zu konzentrieren aber auch dafür hatte er vorgesorgt und Beruhigungstabletten mitgenommen, die rein pflanzliche Präparate waren. Hauptsächlich was mit Baldrian. Er schluckte zwei davon und wartete noch mal zehn Minuten. Er versuchte es erneut und tatsächlich gelang es ihm, seine wenigen Gedanken nur noch auf das Bild zu richten. Er starrte wie gebannt auf die pechschwarze Pupille des Auges und sah dieses kleine kaum erkennbare rote Licht, das unaufhörlich blinkte. Zwar hörte er Molly vom Flur her, wie sie sich erkundigte ob es endlich funktionierte aber es klang für ihn wie aus weiter Ferne. Sein Körper fühlte sich ungewohnt schwer und träge an und er begann ein wenig zu wanken. Seine Lieder wurden schwer, der Kopf war wie benebelt und nun nahm er gar nichts mehr wahr außer dieses Leuchten im Auge. Schließlich begann sich alles um ihn herum zu verzerren und zu verdrehen und dann wurde es dunkel um ihn herum. Als Beyond die Augen öffnete, befand er sich in seinem alten Zimmer im Haus seiner Eltern. Von Harvey war keine Spur zu sehen aber er hörte seine Stimme von irgendwo her. „Beyond, alles okay bei dir?“ „Warum bin ich in unserem alten Haus?“ „Weil dieser Ort hier dich am meisten geprägt hat und du diese Ereignisse noch nicht verarbeiten konntest. Das hier sind Erinnerungen in deinem Unterbewusstsein und da dieses ohne Logik funktioniert, können hier wirklich die bizarrsten Gestalten auftauchen. Ich kann dich zwar ein wenig führen aber nicht vor allem schützen. Du bist zum größten Teil auf dich allein gestellt. Halte dir einfach vor Augen, dass die Dinge, die du siehst, nicht real sind.“ Na toll, das konnte ja noch echt heiter werden. Kaum auszudenken wenn er auch noch in Ednas Unterbewusstsein eindrang. Wer weiß, was da vor sich ging. „Was du bräuchtest wäre eine Waffe, mit der du dich zur Wehr setzen kannst. Irgendwo in deinem Zimmer ist eine.“ Na super, hoffentlich eine effektive Waffe. Mit einer Keule war ihm jedenfalls nicht viel geholfen. Er begann sein ganzes Zimmer abzusuchen. Unter dem Bett, hinter den Bildern und auch unter der Matratze und auch den Schreibtisch nahm er unter die Lupe. Schließlich fand er eine Art Messer im Schrank. Allerdings war die Klinge ganz schön lang und ein wenig gekrümmt. „Was ist das, Harvey?“ „Eine Machete, mit der man im Urwald die ganzen Äste und Sträucher zerschneidet. Ein Maschinengewehr wäre zu schwer für dich gewesen und ich kann dir keine Munition herzaubern. Zur Auswahl steht aber noch ein Golfschläger und ein Stromkabel.“ „Nein danke, ich bleib bei der Machete hier. Wünsch mir Glück.“ Beyond ging zur Zimmertüre und wollte sie öffnen, doch da glotzten ihm acht schwarze Augen entgegen und eine riesige Spinne baute sich vor ihm auf. Entsetzt schrie Beyond aus und schlug die Tür wieder zu. Das Vieh war gigantisch groß. Es war mehr als zwei Meter groß und berührte schon die Decke. Beyond zitterte am ganzen Körper und hatte einfach nur Angst. „Beyond, du brauchst keine Angst zu haben. Die Spinne ist nicht real.“ „Das weiß ich aber das Vieh ist so riesig, ich habe Angst vor Spinnen.“ „Du musst dir überlegen, wie du an ihr vorbeikommen kannst.“ „Nein, das kann ich nicht….“ „Doch, das kannst du und das weißt du ganz genau!“ Beyond hatte aber zu große Angst vor der Monsterspinne und überlegte, ob es nicht einen anderen Weg gäbe, aus dem Haus rauszukommen. Ja na klar: Das Fenster. Von dort aus konnte er doch auf den Ast des Baumes springen und dann herunterklettern. Schnell eilte Beyond zum Fenster und öffnete es. Der Baum sah noch halbwegs normal aus. Jedenfalls war ihm das Risiko um einiges lieber, als wieder dieser gigantischen Spinne gegenüberzutreten. Vorsichtig kletterte er auf den Fenstersims und wollte sich gerade zum Sprung bereit machen, da bewegte sich der Baum und wie Ranken schossen seine Äste auf Beyond zu und griffen sein Bein. Im Stamm des Baumes war ein schrumpeliges hässliches Gesicht mit rasiermesserscharfen Zähnen zu sehen. Die Äste umklammerten sein Bein und zerrten ihn aus dem Fenster. Nur mit Mühe konnte sich Beyond festhalten und schrie um Hilfe. Doch die Äste packten immer fester zu als wollten sie ihn zerquetschen und unerbittlich zogen sie ihn zu sich. „Du musst dich mit der Machete befreien. Es ist nur ein Baum.“ Da er keine andere Möglichkeit sah, ließ Beyond los um sich mit der Machete zur Wehr zu setzen. Er schlug auf die Äste ein und schaffte es nur mit Mühe sie abzutrennen. Der Baum schrie wütend auf und ließ von ihm ab, woraufhin Beyond hinunterstürzte. Dabei landete er in einem riesigen Spinnennetz, das das ganze Haus mitsamt dem Garten umsponnen hatte. Und überall waren Spinnen. Kleine wie große. Der Himmel war dunkelrot und die Bäume pechschwarze Skelette, deren Äste wie Krallen nach oben ragten. In den Boden hatte man Speere gesteckt auf denen blanke Schädel steckten. Was für eine unheimliche und furchtbare Welt. „Das ist mein Unterbewusstsein?“ „Leider ja“ antwortete Harveys Stimme. „Die Finsternis und Kälte bei dir zuhause hat tiefe Spuren in deiner Psyche hinterlassen. Du musst versuchen, irgendwie zu Ednas Haus zu gelangen. Dort kann ich dich mit ihrem Unterbewusstsein verbinden.“ Na toll, bis dahin würden wer weiß was noch für Monster auftauchen und ihn attackieren. Naja, es blieb ihm keine andere Wahl. Wenn er Edna mithilfe ihrer Erinnerungen finden wollte, dann musste er es tun. Edna hatte so viel für ihn getan und jetzt musste er sie retten. Mit der Machete versuchte Beyond sich einen Weg durch die riesigen Netze zu schlagen doch immer wieder fielen Spinnen herunter und krabbelten durch sein Haar. Es war einfach nur widerlich und es schauderte ihn. Er schrie und versuchte sie von seinem Körper zu entfernen, da hörte er eine Stimme von hinten. „Nicht so laut, du weckst deinen Vater noch auf….“ Seine Mutter. Beyond drehte sich um und sah etwas, das seiner Mutter zumindest ähnlich sah. Eine leichenblasse abgemagerte Gestalt mit rasiermesserscharfen Fingernägeln und sechs insektenartigen Beinen. Die Augen waren komplett schwarz und sie sah ein wenig aus wie dieser Spinnendämon aus dem Film „Coraline“. Sie war ein wenig mehr als zwei Meter groß und wirkte noch unheimlicher als sie es zu Lebzeiten schon war. „Und du kommst jetzt mit. Ich habe Essen gekocht.“ „Nein, ich will nicht mit dir mitgehen. Ich muss Edna suchen!“ „Aber ich liebe dich doch, mein Schatz“ sagte sie mit einer unheilvollen Stimme, die bei Beyond eine Gänsehaut auslösten. „und du bist doch mein Sohn.“ „Das ist mir egal. Ich will das nicht. Ich hasse dich!“ Endlich hatte er es gesagt. Endlich hatte er ihr gesagt, wie er wirklich fühlte und endlich konnte er seiner Mutter die Stirn bieten. Die Sorge um Edna, dass ihr in der Zwischenzeit etwas zustoßen konnte, ließ ihn mit einem Male seine Angst vergessen und er richtete die Machete auf seine Mutter. „Du warst niemals meine Mutter. Ich hätte dich schon viel früher vor dem Zug stoßen sollen.“ „Du schuldest mir gehorsam du kleines Biest“ schrie die Spinnen-Cassandra und wollte Beyond mit ihren Krallen an der Kehle packen, da schlug dieser mit der Machete zu und ihre Hände fielen zu Boden. Eine dickflüssige schwarze Masse quoll aus den Stümpfen und das Monster schrie vor Schmerz laut auf. „Los Beyond, töte sie! Mach schon!!!“ Wieder holte Beyond aus, dann rammte er ihr die Klinge in den Bauch und zog sie wieder heraus. Ein Schwall schwarzer dickflüssiger Masse schoss aus ihrem Körper und unter lautem Geschrei löste sich Cassandra Birthday mit einem zischenden Geräusch und unter beißendem Gestank auf. Und in dem Moment, wo sie sich endgültig aufgelöst hatte, erstarrte alles um ihn herum und das Haus mitsamt der Spinnennetze fiel in sich zusammen, verschwand in einem tiefen Abgrund. Noch rechtzeitig konnte Beyond sich noch retten, bevor er ebenfalls in den Abgrund gerissen wurde und blieb erst mal keuchend auf der Straße sitzen. Mit einem Male fühlte er sich wirklich erleichtert, dass er das getan hatte. Endlich hatte er sich gegen seine Mutter zur Wehr gesetzt und ihr gezeigt, wie sehr er sie hasste und wie sie ihn anwiderte. Nachdem er den ersten Schreck überwunden hatte, ging er weiter und erreichte langsam die Innenstadt. Dort war es wie ausgestorben und es war neblig und eiskalt. Und die kleinen Schneeflocken, die lautlos vom grauverhangenen Himmel fielen, waren in Wahrheit weiße Asche. Na toll. Jetzt war er aus dem Coraline-Verschnitt in Silent Hill gelandet. Hätte er nicht so viele Horrorfilme geguckt. Fehlte nur noch, dass er danach in einer postapokalyptischen Welt landet oder noch von Freddy Krueger, Jason Voorhees oder dem Alien angegriffen wird. Warum hatte er nicht wie andere Kinder jugendfreie Disneyfilme gesehen? Dann wäre sein Unterbewusstsein nicht so verkorkst wie jetzt. Die Stadt war so gut wie ausgestorben und wenn er welchen Leuten begegnete, waren sie nicht weniger bizarr als seine Mutter. Gesichtslose Wesen ohne Arme, Menschen mit verdrehten Gliedmaßen oder entstellte Brandopfer. Sogar Kinder, die wie Zombies aussahen, schlurften durch die Straßen und jagten ihn durch die Gegend. In den meisten Fällen ergriff Beyond die Flucht und versteckte sich schließlich unter einer Brücke. Inzwischen hatte er völlig die Orientierung verloren und wusste gar nicht mehr wohin er noch gehen sollte. Zitternd kauerte er sich zusammen und begann zu weinen. Er fühlte sich vollkommen alleine und hilflos. Egal wohin er auch ging, er wurde von allem und jeden angegriffen und sie alle wollten ihn umbringen. Lange würde er das nicht mehr durchstehen. Dieser Ort hier war einfach nur schlimm. Kein Platz für ein 11-jähriges Kind. „Beyond du musst weitergehen. Edna zählt doch auf dich.“ „Ich kann aber nicht mehr Harvey. Ich bin jetzt schon Stunden unterwegs und hinter jeder Straßenecke werde ich von irgendwelchen Monstern angegriffen. Warum gibt es hier niemanden, der mir helfen will?“ „Du darfst die Hoffnung nicht aufgeben. Du hast es doch bald geschafft.“ Doch Beyond war bereits dabei die Hoffnung aufzugeben. Er brauchte einfach jemanden, der mit ihm zusammen weiterging und ihm half diese Monster zu besiegen. „Bitte Harvey, ich schaffe das einfach nicht mehr.“ „Keine Sorge, ich werde sehen ob ich nicht irgendwo irgendjemanden finden kann, der dir helfen kann. Warte hier bitte okay?“ Auch so wollte Beyond nicht alleine weitergehen. Er war einfach nur am Ende und hatte Angst, wieder von irgendwelchen Monstern angegriffen zu werden. Auch wenn er es geschafft hatte, seiner Mutter die Stirn zu bieten, ihn hatte jeglicher Mut verlassen. Als es dann auch noch anfing zu regnen, machte er sich noch kleiner. Sicher würde Harvey niemanden finden, der ihm helfen wollte. Warum denn auch? Bis er Edna kennen gelernt hatte, war er stets einsam gewesen. Es gab niemanden…. Aus dem Geräusch des Regens war nach einer Weile eine Melodie zu hören. Es klang als würde jemand auf einer Bambusflöte spielen. Die Melodie klang sehr schön und zugleich emotional und beruhigend. Sie war so warmherzig, dass sie Beyonds Herz berührte. Ein Junge kam schließlich zum Vorschein. Er war höchstens 13 Jahre alt und trug ein erdgrünfarbenes T-Shirt und dazu weiße Shorts und Sandalen. Sein Haar war brünett und ein klein wenig länger und es verdeckte sein rechtes Auge. Er lächelte so freundlich, dass Beyond das Gefühl hatte, einen alten Freund vor sich zu haben, obwohl er ihn noch nie zuvor gesehen hatte. „Hallo, du bist also Beyond nicht wahr?“ „Und wer bist du? Ich… ich kenne dich gar nicht.“ „Wir kennen uns sehr wohl, du kannst dich nur nicht erinnern. Ich war bei deiner Geburt dabei und habe dich in deiner Kindheit begleitet. Und nun bin ich hier, weil ich dich ein Stück weit auf deinem Weg begleiten will.“ „Aber… wer genau bist du?“ „Das wirst du erfahren, wenn die Zeit irgendwann mal gekommen ist. Allerdings werde ich dich nicht bis zum Ende deines Weges begleiten. Ich kann dich nur zur Türe bringen, hindurchgehen musst du jedoch selbst.“ Beyond stand auf und sah den Jungen fragend an. Dieser lächelte und reichte ihm die Hand. „Komm schon, ich bringe dich jetzt zu Ednas Haus.“ Sie gingen gemeinsam los und während sie die kalten Straßen durchwanderten, den unheimlichen Wald und die unendlich tiefe Schlucht überquerten, spielte der Junge auf seiner Bambusflöte. Und während er spielte, kam es Beyond so vor als würde ein unsichtbares Licht aus seinem Innersten ausstrahlen, das die Monster in ihre dunklen Ecken verjagte. Hoffentlich schaffte Beyond es noch rechtzeitig…. Edna versuchte sich mit aller Kraft gegen die Gurte zu stemmen, mit denen sie an einen OP-Tisch gefesselt war, doch so sehr sie sich auch zu befreien versuchte, schaffte sie es nicht. Sie konnte sich nicht bewegen und der Raum, in dem sie sich befand, würde sie niemand hören. Die schwere Stahltür ging auf und ein alter Mann mit einer Augenklappe und einer Pfeife im Mund wurde hereingeschoben. Er hatte weißes Haar und sah alles andere als freundlich aus. Da er offensichtlich in einer sehr schlechten gesundheitlichen Verfassung war, war er an eine Sauerstoffzufuhr angeschlossen. Der alte Mann war niemand anderes als Dr. Horatio Marcel. „So sehen wir uns also wieder Edna. Zu lange ist es jetzt her, dass du aus der Anstalt ausgebrochen bist, mehrere schwer kranke Patienten befreit hast und mich dann auch noch die Treppe hinuntergestoßen hast!“ „Ist auch mir eine Freude Sie wiederzusehen Dr. Marcel.“ „Immer noch so frech wie damals. Hast du etwa geglaubt, du könntest dich so einfach vor mir verstecken, nachdem du meinen Sohn auf dem Gewissen hast und ich deinetwegen im Rollstuhl sitze?“ „Das mit Alfred tut mir leid, es geschah alles im Affekt. Dafür habe ich meinen Vater verloren. Aber das alles gab Ihnen noch lange nicht das Recht, mich in die Gummizelle einer Anstalt zu sperren, mein Gedächtnis zu löschen und mich dann einer Gehirnwäsche zu unterziehen!“ Der Mann, der Dr. Marcel vor sich herschob war niemand anderes als Hulgor, einer seiner Handlanger. Trotz des allmählich fortgeschrittenen Alters war er nach wie vor ein wandelnder Schrank, der Edna locker die Knochen brechen konnte. Edna hatte ihn damals mit einem Poloschläger hinterrücks niedergeschlagen, nachdem sie in Dr. Marcels Büro eingebrochen war. Aber was hatte Dr. Marcel mit ihr vor? „Haben Sie Ihre Pläne immer noch nicht aufgegeben, mich einer Charakterkorrektur zu unterziehen, indem Sie wieder eine Ihrer manipulierten Harveypuppen benutzen? Ach apropos: Wie haben Sie damals überhaupt überlebt?“ „Reines Glück“ erklärte Dr. Marcel. „Der Messerstich hat mein Herz knapp verfehlt und ich hatte gute Ärzte. Aber was die Charakterkorrektur angeht, ist bei dir nicht mehr viel zu retten. Im Kindsalter hätte man noch etwas machen können aber für den rein psychologischen Weg ist es zu spät. Nein, ich werde etwas vollkommen anderes bei dir versuchen.“ „Hey, ich bin nicht Ihr Versuchskarnickel, suchen Sie sich doch einen anderen Volldepp. Nehmen Sie doch lieber diese dumme Gans Petra oder König Adrian.“ Sie sprach von anderen Patienten der Anstalt, die als unheilbar galten und die Edna bei ihrem Ausbruch in der Klinik kennen gelernt hatte. Damals hatte sie ein paar zur Flucht verholfen. Unter anderem den gefährlichen Schlüsselmeister, der einen Pfarrer umgebracht hatte, die vermeintlichen Zwillinge Hoti und Moti und dem Alumann, der übrigens kurz danach vom Blitz getroffen wurde und danach endgültig seinen Verstand verlor. Den Schlüsselmeister hatte Edna in der Kirche kurz nach dem Mord am Pfarrer aus Versehen umgebracht, als er durch zu lautem Krach vom Geländer in die Tiefe stürzte. „Was haben Sie dann mit mir vor?“ „Ich habe einen Kollegen zu Rate gezogen um eine Behandlung durchzuführen, die schon längst überfällig ist. Bei einer so sturen und untherapierbaren Person wie dir muss eben zu drastischeren Maßnahmen gegriffen werden. Nämlich mittels einer Operation.“ „Eine Operation?“ „Wir werden eine neuentwickelte Form der Lobotomie entwickeln um dir die Flausen aus den Kopf zu operieren.“ Eine Lobotomie? Davon hatte Edna schon mal gehört. Wurde da nicht ein Loch in den Schädel gebohrt und anschließend am Gehirn herumgeschnibbelt? „Das können Sie nicht tun! Dazu haben Sie nicht das Recht!!!“ „Und warum nicht? Niemand wird dir auch nur eine Träne nachweinen oder dein Verschwinden bemerken. Du bist eine entlaufene Irre, mehr nicht und du wirst dich niemals in eine normale Gesellschaft integrieren können.“ „Ich bin nicht alleine. Ich habe einen Sohn und auch wenn es nicht mein leibliches Kind ist, bin ich stolz auf ihn und auf das, was ich mir nach meinem Ausbruch aufgebaut habe. Und daran können auch Sie mit Ihrer beschissenen Operation nichts ändern. Außerdem sucht bereits die Polizei nach mir.“ „Pah! Wo soll sie schon suchen? Wir befinden uns an einem Ort, wo sie garantiert nicht suchen werden.“ „Und wo bitteschön?“ „Na wo denn schon? In der verlassenen Harroway Psychiatrie. Und jetzt lasst uns mit der Operation beginnen.“ Kapitel 11: Der alte Mann und die Mörderin seines Sohnes -------------------------------------------------------- Beyond hatte mit der Hilfe des Jungen mit der Bambusflöte Ednas Haus erreicht und trennten sich ihre Wege. „Du betrittst nun ihre Erinnerungen deiner Adoptivmutter an ihre Entführung. Danach wirst du wieder in die Realität zurückgebracht und dann musst du entscheiden, was du tun wirst. Aber pass auf: Es wird dir vielleicht nicht gefallen, was du sehen wirst und was auf dich zukommen wird.“ Danke für die herzliche Aufmunterung, dachte Beyond und machte sich bereit für das, was jetzt folgen würde. Der Junge verabschiedete sich von ihm, wünschte ihm viel Glück und ging davon wobei er wieder auf der Bambusflöte spielte. Nun war Beyond wieder auf sich alleine gestellt aber dank der Unterstützung des Jungen hatte der das Schwierigste bereits geschafft. Nun öffnete er die Tür und betrat das Haus. Er fand aber nicht das Hausinnere vor wie er es kannte sondern eine Art Keller mit dunklen Fliesen an den Wänden. Der Raum hatte kein Fenster und es roch streng nach Desinfektionsmitteln, wie sie auch im Krankenhaus verwendet wurden. Er sah Edna, die man mit Gurten an eine Art OP-Tisch gefesselt hatte und die im Gesicht ein wenig mitgenommen aussah, als hätte man sie geschlagen. Beyond eilte auf sie zu und versuchte sie anzusprechen oder sie zu befreien, aber sie sah und hörte ihn nicht, auch gingen seine Hände durch sie hindurch. „Vergiss nicht Beyond, das ist lediglich eine Erinnerung. Eine Art Videodatei auf einem Computer, die im Unterbewusstsein abgespeichert und gelagert wird. Du kannst nichts tun.“ Neben Edna saß ein alter Mann mit Augenklappe und Sauerstoffzufuhr im Rollstuhl, der offenbar dieser Irrenarzt Dr. Marcel war. Der Kerl, von dem Edna erzählt und vor dem sie sich versteckt hatte. Sie beide unterhielten sich und sprachen über Dr. Marcels verstorbenen Sohn Alfred und über Dr. Marcels illegale Therapien an Patienten. Schließlich kamen sie endlich auf den Aufenthaltsort von Edna zu sprechen und Beyond hörte ganz genau hin um wirklich ganz sicher zu sein. „Und daran können auch Sie mit Ihrer beschissenen Operation nichts ändern. Außerdem sucht bereits die Polizei nach mir.“ „Pah! Wo soll sie schon suchen? Wir befinden uns an einem Ort, wo sie garantiert nicht suchen werden.“ „Und wo bitteschön?“ „Na wo denn schon? In der verlassenen Harroway Psychiatrie. Und jetzt lasst uns mit der Operation beginnen.“ Die Harroway Psychiatrie? Von der hatte Beyond schon mal gehört. Dort wurden angeblich lebensgefährliche Therapien und psychochirurgische Eingriffe an unheilbaren Patienten durchgeführt. Der Chefarzt hatte insgesamt hatte über 60 Patienten durch seine grausamen Experimente und Versuche auf dem Gewissen, was ihm den Namen Dr. Tod einbrachte. Die Psychiatrie wurde daraufhin geschlossen und stand seitdem leer. Sie war ungefähr 30 km entfernt. „Harvey, hol mich bitte wieder zurück!“ „Wird gemacht. Schließ besser die Augen.“ Zurück in der wirklichen Welt eilte Beyond sofort aus der Galerie zu Molly und erzählte ihr von den Ergebnissen. „Könntest du mich bitte zur Harroway Psychiatrie bringen?“ „Na klar, aber willst du nicht die Polizei rufen?“ „Was soll ich denen denn sagen? Dass ich in mein Unterbewusstsein gereist bin und über eine Art astrale Verbindung Ednas Erinnerungen gesehen habe und dort von Dr. Marcel erfahren habe, wo er sie gefangen hält? Die würden mir niemals glauben, schon gar nicht einem Kind.“ „Auch wieder wahr. Komm, Thomas wird uns schon hinbringen.“ Sie eilten zur Limousine und wiesen den Butler an, sie auf dem schnellsten Wege zur Harroway Psychiatrie zu fahren. Die Fahrt dorthin kam Beyond wie eine Ewigkeit vor. Er wusste, wenn er nicht schnell genug war, dann würden sie Edna der Operation unterziehen und ihr nicht nur einen Teil des Gehirns entfernen sondern auch gleichzeitig einen Teil ihrer Persönlichkeit nehmen. Alles konnte passieren. Edna konnte die Operation gut überstehen aber sie könnte in einen völlig apathischen und teilnahmslosen Zustand verfallen, aggressiv werden oder sogar durch den schweren Eingriff sterben. Bitte, lass es noch nicht zu spät sein. Bitte lass uns rechtzeitig da sein, flehte Beyond innerlich und griff zu der Tasche, in der sich nicht nur Harvey befand sondern auch Ednas Pistole, die er gefunden und geladen hatte. Zwar widerstrebte es ihm, sie zu benutzen aber wenn ihm keine andere Wahl blieb, dann würde er von dieser Waffe Gebrauch machen. Selbst wenn er dann ins Gefängnis kam. Er würde alles tun um Edna zu retten. Als sie den Hügel erreichten, auf dem irgendwo die Harroway Psychiatrie war, wurde ihre Fahrt jäh unterbrochen als irgendetwas die Reifen des Wagens aufstach und somit den Wagen an der Weiterfahrt hinderte. Auf Deutsch fluchend stieg der Fahrer aus und sah sich den Schaden an. Irgendjemand hatte auf der Straße diese Dinger ausgelegt, die man verwendete um Autofahrer im Parkhaus daran zu hindern, einfach auf illegalem Wege ohne zu bezahlen zur falschen Seite rausfahren. So genannte Spikes. Manchmal nutzten sie Polizisten auch bei Straßensperrungen um flüchtige Fahrzeuge aufzuhalten. Allem Anschein nach hatte Dr. Marcel diese Falle ausgelegt um ungestört zu bleiben. „Wie lange braucht man zu Fuß?“ „Mindestens zwanzig Minuten“ vermutete Molly und begann zu überlegen. „So kommen wir jedenfalls nicht weiter und Thomas wird uns schlecht alleine weggehen lassen solange er noch auf den Abschleppwagen wartet. Ich werde ihn ablenken und du machst, dass du fortkommst. Hier, nimm mein Handy mit.“ Sie reichte ihm ein ziemlich teures Nokia Handy, das sie während einer Deutschlandreise gekauft hatte. „Es besitzt einen Ortungschip. Falls also etwas passieren sollte, werden wir dich finden können.“ Beyond steckte das Handy in die Tasche zu Harvey und der Pistole. Letztere holte er raus und überprüfte noch mal, ob sie auch wirklich gesichert war. Molly betrachtete diese aus den Augenwinkeln und murmelte kaum hörbar „Pass auf wenn es einen Rückstoß gibt. Du musst in Schrittstellung gehen, sonst reißt dich der Druck nach hinten.“ Warum Molly sich so gut mit Schusswaffen auskannte, wollte Beyond lieber nicht wissen aber er bedankte sich für den Ratschlag. Sie blieben eine Weile am Auto bis sich Molly dann dem Ablenkungsmanöver widmete, indem sie mit Thomas sprach und alle Aufmerksamkeit auf sich zog (was ihr sicherlich nicht wirklich schwer fiel). Beyond eilte zu einem nächstgelegenen Baum und ging dort in Deckung. Von dort aus lief er geduckt weiter und als er den Wagen weit genug hinter sich gelassen hatte, rannte und rannte er. Er rannte bis ihm die Luft ausging und selbst dann lief er noch weiter. Er machte nicht eine einzige Pause, erst als er von weitem die geschlossene Psychiatrie sah, die wie ein hässlicher grauer Klotz da stand, umgeben von einer großen Mauer wie ein Gefängnis. Auf der Mauer war Stacheldraht und das schwere Eisentor war fest verschlossen. Es gelang ihm allerdings, durch ein kleines Loch zu schlüpfen und somit auf die andere Seite zu kommen. Mitten auf dem Platz stand eine Limousine, die sicher Dr. Marcel gehörte. Schon von weitem sah Beyond, dass sich zwei Wachen am Eingang aufhielten und miteinander redeten. Ein fetter Kerl und ein dürrer Lulatsch. So ein teurer Wagen hatte mit Sicherheit eine Alarmanlage. Wenn er sich unerkannt hinter dem Busch verstecken konnte, der sich an der Mauer befand, dann konnte er einen Stein auf den Wagen werfen und die Alarmanlage würde anspringen. Die beiden Wachen würden hingehen um zu sehen, was passiert ist und er konnte dann zum Eingang. Okay, es war ziemlich riskant aber im Moment blieben ihm nur wenige Optionen. Er musste es einfach darauf ankommen lassen. Geduckt und lautlos schlich er zu dem Busch und schnappte sich einen kleinen Brocken Beton. Mit aller Kraft warf er den Klumpen, verfehlte aber. Zum Glück bemerkten die beiden Schwachköpfe nichts, also startete er einen neuen Versuch. Er nahm dieses Mal einen kleineren, der sich einfacher werfen ließ. Der Stein, der ungefähr so groß wie ein halber Golfball war, knallte gegen die Kühlerhaube des Wagens und ein lautes Sirenengeheul ertönte. Während die beiden Wächter nachsehen gingen, rannte Beyond zum Eingang und schaffte es noch rechtzeitig, bevor sie ihn noch bemerkten. Aber jetzt stand er vor einem neuen Problem: Es gab links zwei Gänge, rechts zwei Gänge und dann auch noch eine Treppe nach oben. Wo sollte er jetzt hin? „Harv, hilf mir mal.“ „Du musst da vorne den linken Gang nehmen und dann die Treppe runter bis du zu einer Stahltür kommst.“ „Danke Harvey. Und jetzt lass uns gehen. Vielleicht ist es ja noch nicht zu spät für Edna.“ Er stieg langsam und vorsichtig die Treppe runter, die an einigen Stellen stark abgenutzt war und wo man ziemlich schnell stürzen konnte. Da Harvey auf seine Erinnerungen zugreifen konnte, wusste er genau, wohin es ging und Beyond vertraute ihm. Zwar hatte Edna ihn ausdrücklich davor gewarnt, auf Harvey zu hören weil er die destruktive Seite seines Unterbewusstseins verkörperte und Beyond für seine Zwecke manipulieren konnte, aber jetzt im Moment war Beyond auf seine Hilfe angewiesen. Ohne ihn hätte er es nicht so weit geschafft. Nachdem er das Ende der Treppe erreicht hatte, ging er den Gang entlang, bog um die Ecke und ging durch zwei Türen. Einzig die flackernden Neonröhren gaben spärliches Licht und von der Decke tropfte stinkendes Wasser. Es war furchtbar kalt und zudem unheimlich. „Jetzt musst du die nächste Treppe wieder rauf, dann erreichst du den OP-Raum.“ Gerade wollte Beyond um die Ecke gehen um dort nach oben zu gehen, da sah er einen wahren Riesen da stehen, der offenbar Wache schob. „Hey“ rief der muskulöse Homer Simpson Verschnitt und eilte die Treppen runter. „Stehen bleiben du Zwerg!“ Schnell eilte Beyond weg und wollte sich irgendwo vor dem Kerl verstecken aber da er sowieso schon völlig erschöpft und müde war, hatte er gegen den zwei Meter großen Kerl keine Chance. „Los Beyond, erschieß ihn! Töte ihn bevor er dich tötet!“ Schnell zog Beyond die Waffe, drehte sich um und schoss drei Male. Der erste ging daneben, der zweite traf Hulgor ins Bein und der dritte in seine Brust. Die Wucht des Rückschlages war für ein Kind enorm und Beyond stürzte nach hinten. Hulgor war durch den Schuss in die Brust sofort tot und fiel wie ein Sack zu Boden. Schnell rappelte Beyond sich auf und ging wieder zurück zur Tür. Sich um Hulgor zu kümmern kam jetzt nicht infrage. Er musste Edna vor diesem durchgeknallten Psychodoktor retten, bevor er noch an ihrem Gehirn herumfummelte. Keuchend eilte er die Treppen hoch und rieb sich dabei sein schmerzendes Handgelenk. Es fühlte sich an, als hätte ihm jemand mit voller Wucht in die Handfläche geschlagen während er seinen Arm ausgestreckt hatte. Außerdem hatte er durch den ohrenbetäubenden Knall ein leichtes Sausen in den Ohren. Wer hätte gedacht, dass eine Pistole so eine Wucht entwickeln konnte. Beim nächsten Mal würde er Mollys Ratschlag besser beherzigen, damit das nicht noch mal passierte. Am Ende der Treppe verschnaufte er noch mal kurz und bereitete sich innerlich darauf vor, am anderen Ende der Tür wahrscheinlich das Grauen zu Gesicht zu bekommen. Vielleicht war Edna bereits tot oder so geistig eingeschränkt, dass sie gar nicht mehr wiederzuerkennen war. Vielleicht aber ging es ihr noch gut und sie hatten den Eingriff noch nicht vorgenommen. Beyond legte bereits seine Hand auf die Klinke, doch er zögerte. Harvey sah ihn fragend an. „Beyond, was ist los? Warum gehst du nicht rein?“ „Weil ich angst habe. Ich habe Angst vor dem, was mich erwartet.“ „Die brauchst du nicht zu haben. Ich bin ja bei dir.“ „Das ist nicht das Gleiche, Harvey. Edna ist meine Mutter, meine richtige Mutter obwohl wir nicht verwandt sind. Sie war für mich da, wenn ich alleine oder traurig war und sie hat mich getröstet. Sie war der erste Mensch, der mich lieben konnte.“ „Das verstehe ich aber wenn du jetzt nicht stark bist, wann dann? Edna braucht dich jetzt oder willst du sie noch länger diesem Irrenarzt aussetzen?“ Harvey hatte Recht. Er musste sich endlich zusammenreißen und tun, was er tun musste. Mit neuer Entschlossenheit drückte er die Klinke runter und öffnete die Tür. Und obwohl er sich innerlich darauf vorbereitet hatte, das Schlimmste zu Gesicht zu bekommen, schockierte ihn der Anblick, der sich ihm bot. Edna lag regungslos auf dem OP-Tisch, ihr Kopf als auch ihr linkes Auge waren bandagiert und sie war so blass wie eine Leiche. Und überall war Blut. Etwas weiter weg saß ein alter Mann im Rollstuhl, wahrscheinlich Dr. Marcel. Aber ihm schenkte Beyond keine Aufmerksamkeit. Stattdessen eilte er zu Edna und rief sie völlig aufgelöst mit „Mama“ an. Er dachte nicht nach, fragte sich selbst auch nicht warum er sie „Mama“ nannte. In seinen Augen war sie ihm mehr eine Mutter als irgendjemand anderes auf der Welt und er liebte sie wie eine Mutter. „Mama, du musst durchhalten. Ich bin hier um dich rauszuholen. Es wird alles gut werden!“ „Deine… Mutter?“ In Dr. Marcels verbitterten und finsteren Gesicht schien sich auf einmal etwas zu regen. War es Schuld oder erinnerte ihn diese Szene an etwas? „Das… das kann nicht sein….“ Beyond gelang es, die Gurte zu lösen und versuchte Edna zu Bewusstsein zu bekommen. Dank seiner Shinigami-Augen sah er, dass sie nicht tot war aber ihr Zustand war mehr als schlecht. Nur langsam bewegte Edna den Kopf und sah Beyond müde an. „Du… bist hier?“ murmelte sie und hob die Hand um seine Wange zu streicheln. „Du bist hier…. Es tut mir leid…. Verzeih… dass ich dir… solch eine Angst… gemacht… hab….“ „Geht es dir gut? Fehlt dir irgendetwas?“ „Nein… nein. Lass uns… nach Hause gehen.“ Edna setzte sich auf und versuchte trotz ihrer völligen Benommenheit aufzustehen. Doch sie konnte sich kaum auf den Beinen halten und wankte bedrohlich. Sie musste dringend in ein Krankenhaus, so viel stand fest. Beyond versuchte sie so gut zu stützen wie er nur konnte und ganz langsam gingen sie in Richtung Tür. Dr. Marcel beobachtete das und konnte das nicht verstehen. Edna stand noch unter der Nachwirkung der Narkose. Eigentlich war sie nach so einer schweren Operation nicht einmal in der Lage, sich richtig zu bewegen. Woher kam dann diese unglaubliche Willenskraft. War es ihre widerborstige Art ihm gegenüber, die sie schon immer besessen hatte? Oder war es die Liebe zu diesem Jungen, der sie „Mama“ nannte? Und als Dr. Marcel realisierte, dass sie genau das hatte, was sie ihm vor Jahren genommen wurde, nämlich einen kleinen Sohn, da entbrannte der tief sitzende Hass in ihm. Diese Edna hatte ihm Alfred genommen, sie hatte ihn umgebracht und jahrelang war er alleine gewesen. Und jetzt hatte sie eine Familie und führte ein geregeltes Leben? Nein, das konnte und wollte er nicht akzeptieren. Das würde er verhindern. Obwohl er nicht mehr der Jüngste geschweige denn der Kräftigste mehr war, packte er die Räder des Rollstuhls und versperrte den beiden den Weg, entschlossen, Edna nicht mehr davonkommen zu lassen. „Glaubst du etwa ich lasse dich davonkommen Edna, nachdem du mir Alfred genommen und mich zehn Jahre später dieselbe Treppe heruntergestoßen hast? Du wirst endlich dafür bezahlen, was du uns angetan hast. Du wirst dafür büßen!!!“ Doch Beyond zog die Pistole und richtete sie ohne zu zögern auf die Stirn des Psychiaters. „Halten Sie endlich die Klappe und gehen Sie aus dem Weg, bevor ich davon Gebrauch mache.“ Doch Dr. Marcel rührte sich keinen Millimeter und schien Beyonds Waffe völlig zu ignorieren. Sein Hass auf die Mörderin seines Sohnes war einfach größer und sein Verlangen nach Rache hatte ihn zum Kriminellen gemacht. Sein Blick war voller Zorn und als er Edna zu fassen bekam, entlud sich all sein Hass. „Du hast mein Leben zerstört. Nur deinetwegen ist mein geliebter Sohn tot und nur deinetwegen bin ich jetzt ein Krüppel. Du hättest damals die Todesstrafe kriegen sollen und nicht dein Vater! Wärst du doch gestorben anstatt Alfred!“ Dr. Marcel riss, während er die völlig benommene Edna anbrüllte, immer heftiger an ihren Arm und Edna, die sich nicht mal alleine auf den Beinen halten konnte, war völlig außer Stande, sich zu wehren oder zu befreien. Beyond selbst stand wie angewurzelt da, sagte und tat nichts. Das alles kam ihm wie eine Art Deja-vu vor. Diese Anschuldigungen und Vorwürfe von Dr. Marcel erinnerten ihn an jemanden…. Ja genau, es war doch diese Hexe, die ihn zur Welt gebracht hatte und die ihn umbringen wollte. Dieses hasserfüllte Spinnenwesen, dass er zwei Male umgebracht hatte, in der Realität und seiner eigenen Welt. Und jetzt war es wieder da. Alles schien sich zu wiederholen, allerdings in der Gestalt von Edna und Dr. Marcel. Als Dr. Marcel sie zu sich heranzog, damit er sie schlagen oder sonst was machen konnte, verlor sie endgültig den Boden unter den Füßen und stürzte. Sie versuchte noch sich am Geländer festzuhalten, doch sie schaffte es nicht und stürzte die ganzen Treppen hinunter. Das Gepolter hallte in den nackten Betonwänden nieder und verstummte schließlich, als Edna hart auf dem Boden aufschlug und dort liegen blieb. Doch dann geschah das, womit Dr. Marcel nie im Leben gerechnet hatte und auch nicht fassen konnte: Edna bewegte sich noch. Zwar hatte der Sturz ihr noch mehr zugesetzt als die Operation sowieso schon, doch sie war fest entschlossen, wieder aufzustehen. Sie packte mit der einen Hand das Treppengeländer und zog sich daran hoch. Ihr Gesicht verzog sich dabei vor Schmerz, doch sie gab nicht auf. Langsam und behutsam mit zusammengebissenen Zähnen kam sie wieder auf die Beine und schnappte dabei nach Luft. „Lass uns nach Hause gehen….“ Langsam machte sie einen Schritt in Richtung Treppe und sah zu Beyond hinauf. Dieser stand den Tränen nah und konnte sich kaum rühren. Dann aber holte Dr. Marcel einen Elektroschocker heraus und verpasste Beyond einen Schlag. Edna schrie auf und wollte zu ihm heraufeilen, doch ihre Beine gaben bereits nach den ersten beiden Stufen nach. „Lassen Sie Ihre dreckigen Finger von ihm!“ „Was willst du denn noch tun? Du kannst dich ja kaum noch bewegen. Du wirst diese Anstalt nicht mehr lebend verlassen und wenn ich den Jungen einer Charakterkorrektur unterzogen habe, wird er dir schon keiner Träne mehr nachweinen. Er wird sich nicht einmal daran erinnern, dass es eine Edna Konrad überhaupt jemals gegeben hat.“ Beyond zitterte am ganzen Körper und konnte kaum einen Muskel bewegen. Der elektrische Schlag schmerzte stark und er hatte das Gefühl, als sei er vom Blitz getroffen worden. Seine Arme zitterten und seine Beine wollten ihm nicht gehorchen. Aber wenn er jetzt nichts tat, dann würde dieser Irrenarzt nie Ruhe geben. Der Kerl war nicht nur verbittert, der war vollkommen durchgeknallt!!! „Komm schon Beyond, du darfst jetzt nicht schlappmachen. Du musst Dr. Marcel töten!“ Beyond umklammerte die Waffe und wusste, dass er nicht mehr so schnell eine Chance haben würde, wenn er jetzt schwächelte. Doch seine Hand zitterte so sehr, dass er nicht schießen konnte. Stattdessen schlug er den Elektroschocker aus Dr. Marcels Hand und lief zu Edna, die ihn in die Arme schloss. „Komm, wir müssen von hier verschwinden.“ Da Beyonds Körper sich noch nicht von dem elektrischen Schlag erholt hatte, nahm die verletzte Edna ihn auf den Arm und rannte durch den Gang ohne auch nur ein Mal stehen zu bleiben oder zu wanken. Ihr unbändiger Wille, Beyond zu beschützen, ließ sie alle Schmerzen vergessen. Und sie hatte Schmerzen. Nicht nur, dass ihr Kopf sich anfühlte, als sei er überrollt worden, ihr bandagiertes Auge fühlte sich an, als hätte jemand ein Messer hineingestoßen. Das rechte Bein sowie auch ihr rechter Arm schmerzten seit dem Treppensturz und jeder einzelne Schritt verursachte ungeheure Schmerzen, die jeden Menschen in die Knie gezwungen hätte. Doch sie war nicht bereit, aufzugeben. Sie wollte um jeden Preis verhindern, dass Dr. Marcel Beyond in die Hände bekam, sein Gedächtnis löschte und ihn über Jahre hinweg in eine Gummizelle sperrte. Das würde sie um jeden Preis verhindern, selbst wenn dieser Preis ihr Leben sein sollte. Eine Mutter sollte bereit sein, so ein Opfer für ihr Kind zu bringen. Wen hatte Beyond denn schon außer ihr? Er war sonst ganz alleine und das war allein schon Grund genug für sie, das alles auf sich zu nehmen um für ihn da zu sein. „Mach dir keine Sorgen, wir schaffen das schon!“ Es war ein unmenschlicher Kraftakt, den die schmächtige Edna leistete und erst als sie die Eingangshalle erreichten, da blieb sie stehen und setzte Beyond ab. Sie schnappte nach Luft, hustete krampfhaft und erbrach dann einen Schwall von Blut. Entsetzt wich Beyond vor ihr zurück als er das sah. Nicht weil er angewidert war sondern weil er insgeheim zu ahnen beginn, dass Dr. Marcel recht hatte. Nämlich dass Edna die Psychiatrie nicht lebend verlassen würde. Immer mehr Blut begann sie hervorzuwürgen und rang verzweifelt nach Luft, als drohe sie zu ersticken. Doch dann nahm sie Beyonds Hand und eilte mit ihm auf den Platz wo Dr. Marcels Limousine stand, zusammen mit den beiden Wächtern. Von hinten hörten sie den Irrenarzt etwas rufen, da zog einer der Wachen eine Pistole heraus und schoss. Der Schuss ging daneben, doch Edna stieß Beyond instinktiv in eine schützende Ecke und stellte sich schützend vor ihm. Der nächste Schuss traf sie in den Oberschenkel und Edna schrie auf. Blut floss ihr Bein hinunter und sie versuchte trotzdem nicht hinzufallen. Sie drehte sich um und stellte sich direkt vor Beyond. „Seid Ihr übergeschnappt? Wollt ihr auf ein Kind schießen? Hört sofort mit diesem Scheiß auf!!!“ Der dürre Wachmann zögerte und senkte seine Waffe. Doch dann tauchte plötzlich Dr. Marcel auf, der wohl auf Umwege den Keller verlassen hatte. „Was wartet ihr noch? Schießt doch endlich!“ „Aber sie hat ein Kind bei sich.“ „Was macht das für einen Unterschied? Diese Frau muss sterben.“ „Aber wir können doch nicht riskieren, auf einen kleinen Jungen zu schießen und ihn zu verletzen Herr Doktor.“ Wütend fuhr Dr. Marcel mit dem Rollstuhl zum dünnen Kerl hin und riss ihm die Waffe aus der Hand. Dann erschoss er die beiden und wandte sich zu Edna. „Ich werde dir zeigen wie es ist, einen geliebten Menschen zu verlieren. Du wirst das Gleiche durchmachen wie ich!!!“ Und er richtete damit die Pistole nicht auf Edna sondern auf Beyond, der sich immer noch hinter seine schwer verletzte Adoptivmutter kauerte. Und als ihm bewusst wurde, was der völlig wahnsinnig gewordene alte Mann vorhatte, rappelte er sich auf und wollte weglaufen. „Nein Beyond!!!“ schrie Edna und schaffte es noch ihn am Kragen zu erwischen und ihn zurückzuhalten. Sie zog ihn fest zu sich heran und hielt ihn fest. Ein lauter Knall, dann folgten drei, vier oder fünf weitere. Beyond kniff die Augen zusammen und weinte, während Edna ihn fest umklammert hielt und bei jedem weiteren Knall zusammenzuckte. Und während Dr. Marcel einen Schuss nach dem anderen abfeuerte, redete Edna den völlig verängstigten Beyond gut zu und versuchte ihn zu beruhigen. „Es wird alles gut werden. Es wird alles gut! Du brauchst keine Angst zu haben. Ich werde dich beschützen.“ Nachdem der neunte oder zehnte Schuss gefallen war, trat Stille ein. Es war, als hätte jemand die Zeit angehalten, als würden sich alle im Auge des Sturms befinden mit dem Wissen, dass er gleich wieder beginnen würde. Oder aber der Sturm war vorbei und diese Ruhe nach dem Sturm war nichts weiter als das entsetzte und fassungslose Anhalten des Atems wenn das Ausmaß der Katastrophe offenbart wurde. Noch immer stand Edna da und drückte Beyond schützend an ihren Körper und versuchte ihre eigenen Tränen zurückzuhalten. Hätte es ihr Körper noch zugelassen, dann hätte sie ihn nie wieder losgelassen in der Gefahr, dass jemand ihm Schaden zufügen konnte. Doch die unzähligen Kugeln hatten ihren Körper zu schwer verletzt und während sie blutüberströmt langsam in die Knie sank, sah sie Beyond mit vor Tränen geröteten Augen an und drückte ihm einen letzten Kuss auf die Stirn. „Ich hab dich lieb… mehr als alles andere auf der Welt.“ Langsam erschlafften Ednas Arme, sie fiel erst auf die Knie, dann fiel sie zu Boden und blieb dort liegen. Um sie herum breitete sich eine Blutlache aus, die nach und nach ins Erdreich versickerte. Beyond sah, wie zuerst ihre Lebenszeit schwand, danach ihr Name. Edna Konrad war tot. Kapitel 12: Der Junge mit der Aura des Todes -------------------------------------------- Beyond stand regungslos da und starrte auf die blutüberströmte Leiche seiner Adoptivmutter, dann kniete er sich neben ihr nieder und versuchte sie wieder zu Bewusstsein zu bekommen indem er ihr immer wieder etwas zurief und sie an der Schulter rüttelte. Er schrie und weinte zugleich und wollte einfach nicht glauben, dass sie tot war. Irgendwie hatte er noch Hoffnung, dass sich sein Shinigami-Augenlicht irrte und Edna noch lebte. Sie musste leben. Sie hatte doch versprochen, immer für ihn da zu sein und ihn zu beschützen. Sie waren doch eine Familie. Aber diese Hoffnung schwand immer schneller als er das viele Blut sah. Nein, Edna konnte unmöglich am Leben sein. Diese Verletzungen… diese Verletzungen konnte man unmöglich überleben. Und so sehr er sich auch dagegen wehrte, es würde die grausame Realität nicht ändern. Je mehr sich Beyond dieser Tatsache bewusst wurde, desto mehr wich die Trauer über den Tod seiner geliebten Adoptivmutter dem Zorn. Zorn über diese Ungerechtigkeit, die ihm und Edna widerfahren war, Zorn über Dr. Marcel, der ihm den einzigen Menschen genommen hatte, den er so geliebt hatte und Zorn über die ganze verdammte Welt. Warum nur gab es auf dieser Welt keinen für ihn vorbestimmten Platz? Warum wurde er immer wieder verstoßen? Er hatte nichts Falsches gemacht. Nein, es waren die anderen, die grausam und gemein waren. Sie allein trugen Schuld daran, sie waren diejenigen, die etwas Falsches getan hatten. Seine Wut und sein Hass wurden mit jedem weiteren Gedanken immer größer und brannten in seinem Körper wie ein Höllenfeuer. Jetzt hatte er endgültig genug ertragen. Er würde nicht mehr still da sitzen und herumjammern und auf bessere Zeiten warten. Diese ungerechten und egoistischen Menschen würden allesamt für das Unrecht büßen, das ihm widerfahren ist. Nun war die Zeit der Abrechnung gekommen. Molly hatte Recht gehabt. Für sie gab es keine andere Möglichkeit, als den Weg des Tyrannen zu wählen. Sie beide mussten ihr eigenes Ich akzeptieren und sich wenn nötig mit Gewalt einen Platz in der Welt schaffen. Und wenn es ihm schon nicht vergönnt war, glücklich zu sein, warum sollte er es dann überhaupt jemand anderes gönnen? „Beyond, tu das nicht“ rief Harvey als er merkte was Beyond vorhatte. Die ganze Finsternis in dir freizulassen ist gefährlich! Du könntest dich selbst verlieren.“ Doch Beyond war es egal. Er wollte auf niemandem mehr Rücksicht nehmen. Die anderen taten das doch auch nicht. Wenn sie ein Monster haben wollten, dann sollten sie ihr Monster haben. Wortlos holte Beyond Harvey aus der Tasche und hielt ihn am Hals fest, als wolle er ihn mit einer Hand erwürgen. Dieser wusste nicht wie ihm geschah. „Beyond, was soll das? Ich dachte, wir wären Freunde. Du brauchst mich doch. Ohne mich bist du doch gar nichts!!“ „Ich brauche dich nicht mehr. Ich brauche niemanden!“ Und damit riss Beyond seinen Stoffbauch auf, griff hinein und nahm die Wattefüllung heraus und warf sie wie Müll weg. Harvey schrie laut auf, doch er konnte sich nicht wehren. Er war ja nichts weiter als ein Stoffhase. Dann riss Beyond seinen Stoffkopf ab und warf seinen Körper weg. Als er so den abgerissenen Hasenkopf sah, begann er zu lachen. Er lachte und lachte, wie ein Wahnsinniger und konnte sich gar nicht mehr einkriegen. Dr. Marcel, der das alles mit ansah, vergaß all seine psychologischen Analysen und fühlte diese tief verborgene Angst vor diesem Kind, das etwas Nichtmenschliches an sich hatte. Der kleine Junge, der vor einem Moment noch um Ednas Tod geweint hatte, wirkte jetzt gar nicht mehr wie ein Kind. Irgendetwas in ihm hatte sich völlig verändert, so als wäre er eine ganz andere Person. Dieser verängstigte Blick war gewichen und auf einmal vollkommen eiskalt. Und als dieser Junge ihn, Dr. Marcel, ansah, bekam dieser zum ersten Mal seit Jahren eine furchtbare Angst. Diese rot glühenden Augen schienen ihn nicht nur anzusehen, sondern sich durch seinen Körper zu bohren, durch Fleisch und Knochen bis in die tiefsten Abgründe seiner sowieso schon schwarzen Seele. Ein dämonisches Höllenfeuer war in diesen kleinen Kinderaugen entfacht und dieses Feuer schien seine Seele in Brand zu setzen. Wirklich Todesangst bekam der alte Mann im Rollstuhl aber, als er glaubte einen schwarzen Schatten hinter den Jungen zu sehen. Ein dunkles Wesen mit genauso rot glühenden Höllenaugen. Ein Wesen aus schwarzem Nebel, der den kleinen Jungen umgab. Langsam kam der kleine Junge näher, das Wesen hinter ihm bewegte sich mit ihm vollkommen synchron. Eigentlich war dieses unbekannte Wesen gar nicht vorhanden. Im Grunde konnte man es nicht einmal wirklich sehen. Es war eher eine dunkle Aura des Todes, die dieses Kind umgab. Und sie war unglaublich finster und abgrundtief bösartig. Der Junge kam immer näher und blieb knapp drei Meter von ihm entfernt stehen und sah ihn mit einem hämischen Grinsen an. „Wollen Sie ein kleines Spiel spielen?“ Damit hob der Junge die Waffe von Edna auf und nahm aus dem Revolver mehrere Kugeln raus, bis nur noch eine übrig war. Dann drehte er die Trommel und richtete die Waffe auf Dr. Marcel. „Wie wäre es mit einer Runde russisches Roulette? Allerdings ändern wir ein bisschen die Regeln. Was glauben Sie wohl wie viele Versuche es braucht, bis die Kugel Sie trifft?“ Dr. Marcel war wie erstarrt und sagte nichts. Zu sehr entsetzte ihn der Anblick dieser unheimlichen Aura des Todes, die ihn zutiefst erschüttert hatte. Es war ihm, als stünde der Tod in Gestalt dieses Kindes direkt vor ihm und spiele mit seinem Leben, wie es ihm beliebte. Beyond drückte das erste Mal ab, ein Fehlschlag. „Ich wette, es braucht noch drei Male bis ich treffe. Was denken Sie?“ Als ob es sich um ein einfaches kindisches Spiel handelte, drückte Beyond noch drei Mal ab und zählte dabei laut. Als dann das dritte Mal ein Fehlschlag war, wirkte er ein wenig enttäuscht. „Tja, man kann ja nicht immer ins Schwarze treffen. Dann eben noch mal.“ Wieder zielte er und schoss bis endlich der Schuss ertönte und die Kugel sich in Dr. Marcels Schulter bohrte. „Keine Sorge, ich schieß dir schon nicht in den Kopf. Nein, so einfach mache ich es dir nicht, Opa.“ Stattdessen ging Beyond zu einem der Wächter hin, die Dr. Marcel wegen ihres Ungehorsams erschossen hatte und griff einem in die Tasche, wo er ein Springmesser hatte, mit dem er vorhin einen Apfel geschält hatte. „Zu dumm, dass du deine Kugeln bereits verballert hast. Die hättest du jetzt wirklich gut gebrauchen können“ sagte Beyond mit einer unheimlichen Schadenfreude und begann mit dem Messer zu spielen. Mit einem wahnsinnigen Grinsen kam er näher und blieb dicht vor Dr. Marcel stehen, dann hielt er ihm die Klinge an die Kehle. Der Doktor wagte es kaum zu atmen. „Was… was willst du von mir?“ „Was ich will? Was ich will? Ahahahaha!“ Wieder dieses wahnsinnige Lachen und es schien so als stünde da kein kleiner Junge sondern ein Erwachsener. Umso mehr hatte der pensionierte Irrenarzt Angst vor ihm. Nun rammte Beyond mit Wucht und Genugtuung das Messer in die Handfläche des Arztes und drehte die Klinge dabei. Blut spritzte und der alte Mann schrie auf. „Was ich will willst du wissen? Ich will gar nichts mehr. Oder kannst du mir meine Adoptivmutter wiedergeben, die du getötet hast? Ich denke wohl nicht.“ „Du verstehst das nicht. Sie hat meinen Sohn getötet….“ „Und was du tust, ist das etwa in Ordnung? Dann sag ich dir mal was: Alle haben mich wie ein Monster behandelt, wie einen Fremdkörper. Meine Mutter hat zwei Male versucht mich umzubringen, bis ich sie vor einem Zug gestoßen habe. Und mein Vater hat mich ständig geschlagen und die Treppen hinuntergestoßen oder tagelang in den Keller gesperrt. Edna war die Einzige, die jemanden wie mich lieben konnte. Sie hat mich aus der Dunkelheit gerettet und mir eine Familie gegeben. Kannst du mir all das wiedergeben? Kannst du mir meine Familie, mein Glück und mein geborgenes Zuhause wiedergeben?“ Bevor Dr. Marcel etwas erwidern konnte, riss Beyond ihn aus den Rollstuhl raus woraufhin der querschnittsgelähmte Irrenarzt zu Boden fiel. Beyond setzte einen Fuß auf den Kopf des alten Mannes und verzog angewidert das Gesicht. „Normalerweise geht es mir gegen den Strich, Krüppel zu schlagen oder zu verletzen aber bei dir mach ich ne Ausnahme.“ Damit Begann Beyond auf Dr. Marcels Arme einzustechen und dieser schrie vor Schmerz auf, flehte um Gnade aber Beyond hörte ihm nicht zu. „Jetzt weißt du wie Edna gelitten hat.“ Als Dr. Marcel ihn mit diesem gequälten Blick ansah, da brannten bei Beyond die Sicherungen durch. Er hasste diesen wehleidigen Blick. Dieser Mensch hatte es doch nicht besser verdient. Er hatte es nicht verdient vor Schmerz zu heulen oder um Gnade zu flehen. Dazu hatte er einfach nicht das Recht. Weil er diesen jammervollen Blick von Dr. Marcel nicht mehr sehen konnte, setzte er sich auf seinen Brustkorb und schob die Augenlider seines unversehrten Auges weg, sodass der alte Mann nicht mehr blinzeln konnte. Langsam führte er das Messer näher und kicherte. „Erst mal sorge ich dafür, dass dieser dämliche Blick aus deinem Gesicht verschwindet.“ Auch wenn Beyond nicht sehr geschickt mit dem Messer war, so war er doch stolz, als er das Auge des Doktors schön säuberlich herausgeschnitten hatte. Das blutige Auge hielt er stolz in der Hand und hätte es am liebsten als Souvenir oder Trophäe mitgenommen, auf der anderen Seite jedoch war dieser erbärmliche alte Sack doch nicht würdig, als Trophäe für sein erstes offizielles Mordopfer zu enden. Eigentlich war ja seine Mutter sein erstes Opfer gewesen aber da hatte er aus Notwehr gehandelt. Beyond war wie im Blutrausch. Die Schreie des Doktors nahm er schon gar nicht mehr wahr und stach mit dem Messer auf ihn ein als wäre er eine Puppe. Genauso wie diese Puppe auf der Mülldeponie, die er mit der Machete bearbeitet hatte. Immer und immer wieder stach Beyond auf Dr. Marcel ein, bis sein Arm langsam schmerzte und er selbst überall mit Blut bespritzt war. Der alte Mann war jetzt tot und er würde nie wieder jemandem etwas tun können. So viel stand schon mal fest. Beyond steckte das Messer ein wandte sich von Dr. Marcel ab und ging zu Ednas Leiche. Er erwies ihr die letzte Ehre, küsste sie auf ihre inzwischen kalte Wange und strich ihr durchs Haar. „Es tut mir leid… aber ich kann jetzt mehr zurück… nie wieder.“ Und da hatte Beyond recht. Diese Kraft, dieser Zorn, den er entfesselt hatte, hatte er jahrelang aufgestaut und tief in seinem Herzen versiegelt. Und dort hatte sich dieser Zorn zu einem Monster entwickelt, dessen Macht er zuerst nur durch Harvey kontrolliert nutzen konnte. Jetzt, wo er diese Bestie freigelassen hatte, gab es kein Zurück mehr. Er hatte einen Menschen brutal ermordet und es war ihm gleich. Bald schon würde er vergessen haben, dass er mal ein Mensch war. Aber hätte er es nicht getan, so wäre er mit Edna hier gestorben. Beyond hatte lange genug gekämpft und hatte letztendlich den Kampf aufgegeben. Sein Glaube an diese Welt war dahin, genauso wie der Glaube an die Menschen. Und er schwor sich mit dem heutigen Tage, dass er nie wieder ein erlittenes Unrecht wortlos hinnehmen würde. Nein, er würde es zehn Mal so groß zurückzahlen damit sich die Menschen zwei Male überlegten, ob sie ihn herumschubsten und verachteten. Jetzt war endlich die Zeit der Abrechnung gekommen. Und wie er abrechnen würde. Als die Polizei eintraf, fehlte von Beyond jede Spur. Man fand nur die Leichen von Dr. Marcel, seinen drei Handlangern und Edna Konrad. Ihr Leichnam wurde der Autopsie übergeben um sich den chirurgischen Eingriff anzusehen. Das, was sie sahen, war erschreckend. Nicht nur, dass man wichtige Teile des Gehirns irreparabel geschädigt hatte, es waren mehrere Adern geplatzt wodurch sich ein großes Blutrinnsal gebildet hatte. Am verbundenen Auge wurden Sehnerven verletzt und am Körper hatte sie neben den Schussverletzungen innere Blutungen. Eigentlich hätte sie nach der verpfuschten Operation keine drei Tage überlebt, so viel stand fest. Edna wurde zwei Tage später auf dem Friedhof beerdigt. Die Beisetzungszeremonie war traurigerweise so gut wie kaum besucht. Nur ein paar Kollegen und eine Nachbarin, sonst niemand. Wenig später ereignete sich ein Brand. Ein Unbekannter hatte ein Feuer im Hause der Birthdays gelegt und es bis auf die Grundmauern abbrennen lassen. Wirklich nichts war übrig geblieben. Später jedoch, der Frühling war bereits da, fand Molly Stone eine Nachricht, in der sie um ein heimliches Treffen gebeten wurde. Sie folgte dieser Aufforderung und kam schließlich zum See, wo auch die unheilvolle Hütte gestanden hatte, in der alles seinen Anfang genommen hatte. Hinter dieser tauchte ein Junge auf, gekleidet in einem blutigen weißen Pullover und mit dämonisch funkelnden Augen. Er war von einer dunklen (wenn auch unsichtbaren) Aura des Todes umgeben und kam auf sie zu. Es war Beyond Birthday. Molly runzelte die Stirn, als sie ihn sah. „Wenn dich jemand so sieht, dann könntest du Probleme kriegen.“ „Ich weiß, aber das ist mir egal. Ich wollte dir nur sagen, dass ich mich entschieden habe.“ „Du hast den Weg des Tyrannen gewählt?“ „Ja, ich habe Dr. Marcel getötet und ich weiß auch, dass ich nie wieder zurück kann. Inzwischen ist es mir auch egal. Aber… etwas macht mir Angst….“ „Und was?“ „Dass ich irgendwann vergessen werde, wer ich einmal war. Was kann ich tun, Molly? Wie kann ich mich vor mir selbst schützen?“ Nachdenklich sah das Mädchen im Prinzessinnenkostüm Beyond Birthday an und verschränkte die Arme, wobei sie ein tiefes „Hm“ ausstieß. „Das Einzige, was du tun kannst, ist dir eine Fassade aufzubauen. Diese Fassade ist das, was die Menschen sehen wollen. Unsere normale Seite. Diese Fassade ist unser Alltag, sie ist ein Teil unseres Lebens. Auch du brauchst eine, wenn du unerkannt bleiben willst.“ „Gut, Dann werde ich deinen Ratschlag mal besser befolgen. Ich möchte mich übrigens verabschieden, ich werde Amerika verlassen.“ „Und wo geht’s hin?“ „Nach Winchester, in ein Waisenhaus für hochbegabte Kinder. So ein Opa hat mich angequatscht und er meint, ich wäre ein guter Kandidat. Wer weiß, vielleicht sehen wir uns beide wieder.“ „Kann schon sein. Ich könnte es mir jedenfalls gut vorstellen. So groß ist die Welt ja auch wieder nicht.“ „Wenn du mal in der Nähe sein solltest, dann findest du mich unter dem Namen Rue Ryuzaki.“ „Bescheuerter Name.“ Beide mussten lachen und verabschiedeten sich mit einer kurzen und freundschaftlichen Umarmung. Dann machte sich Beyond auf den Weg. Er musste sich auf seine Reise nach England vorbereiten. Doch bevor er nach Hause ging um seine Sachen zu packen, ging er zum Friedhof und legte an Ednas Grab einen Strauß weißer Lilien. Und an ihrem Grab versprach er ihr, dass er sie niemals vergessen würde und dass er nie wieder jemanden so lieben würde wie sie. „Egal was die Leute über uns sagen und egal ob wir blutsverwandt sind. Du wirst für immer meine wahre Mutter sein.“ Und während er dieses Versprechen gab, vergoss er wieder Tränen unendlicher Trauer. Nun war er wieder alleine, ganz genauso alleine wie am Anfang. Er hatte erfahren was Glück ist aber dann wurde es ihm wieder genommen. Er hatte erfahren, wie liebevoll die Menschen sein konnten und gleichzeitig hatte er ihre Grausamkeiten zu spüren bekommen. Die Schicksalsräder haben sich gedreht und weder Gebete, Liebe und Rache konnten dieses schreckliche Ende vermeiden. Jeder noch so kleine Hoffnungsschimmer ist in der unendlichen Dunkelheit erloschen, die sein Herz befallen hat und jeder weitere kleine Lichtfunke des Glücks war so vergänglich geworden wie eine Melodie, deren letzter Ton verklungen ist. Er verdeutlicht nur, wie tief der Abgrund war, in den Beyond gefallen war. All die Demütigungen und Anfeindungen haben in ihn ein Hassfeuer entfacht, das sich in seinem Körper wie ein Geschwür ausgebreitet hat. Und wenn es erst einmal das Herz befallen hatte, dann gab es keinerlei Rettung mehr. Lediglich die Erinnerungen bewahrte Beyond davor, sein letztes bisschen Menschlichkeit zu verlieren. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)