Highway to hell von Karma (Simon x ...) ================================================================================ Kapitel 2: Krankenbesuch ------------------------ Am Samstag werde ich schon um halb elf nach viel zu wenig Schlaf durch hektisches Klingeln aus meinen wirren Träumen gerissen. Schlaftrunken setze ich mich auf, streiche mir die Haare aus dem Gesicht und rappele mich dann seufzend aus dem Bett. Ich kann mir nur zu gut denken, wer da gerade meine Klingel malträtiert. Und auch wenn ich mehr als unausgeschlafen bin, werde ich meinen kleinen Bruder ganz sicher nicht da draußen in der Januarkälte stehen lassen, nur weil ich in der letzten Nacht zu lange feiern war. Mir mühsam ein Gähnen verkneifend schlurfe ich also zur Tür, dicht gefolgt von Murray, der eine Chance auf Fressen wittert. Ich bin wach, also steht für ihn natürlich fest, dass es jetzt Zeit dafür ist. Bei ihm ist es eigentlich immer Zeit zum Fressen, wenn man es genau betrachtet. Ich ignoriere das energisch-bettelnde Miauen jedoch vorerst und betätige erst mal den Türöffner, um dem Dauerklingeln ein Ende zu bereiten. Und während mein Bruder die Treppen nach oben poltert, tapere ich in die Küche, um mir einen Kaffee zu kochen und meine kleine Fressmaschine zu versorgen. Sonst werde ich zu Tode genervt und dafür bin ich heute Morgen eindeutig noch viel zu müde. Während ich mich der Verköstigung der wilden Bestie widme, stürmt Ruben in die Wohnung und reißt mich fast um bei dem Versuch, mich zur Begrüßung zu umarmen, ohne dabei über den natürlich mitten im Weg herumtänzelnden Murray zu stolpern. "Hi, Simon!", werde ich enthusiastisch begrüßt und ringe mir ein Lächeln ab, während ich mich gleichzeitig insgeheim frage, wie man so früh morgens schon so gut gelaunt sein kann. Man könnte beinahe glauben, bei der Vaterschaft gab es eine Verwechslung und Jürgen ist nicht mein, sondern Rubens Vater. Die beiden haben wesentlich mehr gemeinsam als Jürgen und ich. Oder bilde ich mir das bloß ein? Unwillig schüttele ich diese Gedanken ab und verbanne sie in die hinterste Ecke meines Gehirns. "Dir auch einen guten Morgen, Ruben", grüße ich stattdessen zurück und werfe über den wuscheligen Schopf meines kleinen Bruders hinweg einen Blick in Richtung der Küchentür. "Dir auch, Chris", schiebe ich noch hinterher und Chris nickt mir mit einem zaghaften Lächeln zu. "Haben wir dich geweckt?", erkundigt er sich besorgt, aber ich winke ab. "Nicht schlimm. Murray hätte mich sowieso spätestens um elf aus dem Bett geworfen." Das tut er an meinen freien Tagen schließlich immer. Ausschlafen ist nicht mehr drin, seit er bei mir lebt. Aber es gibt wesentlich Schlimmeres als das. "Dann ist ja gut." Ruben strahlt mich von unten herauf an, ohne mich loszulassen. Ich drücke ihn noch ein bisschen fester an mich und er kuschelt sich auch noch etwas mehr an, zieht dann jedoch einen Flunsch. "Ich hatte eigentlich gehofft, dass du gestern auch feiern kommst", nuschelt er und ich seufze leise. "War ich auch", gebe ich zu. "Aber ich war im ›Heaven's Door‹. Flo kaut mir schon seit Monaten deswegen ein Ohr ab und gestern Abend bin ich dann einfach mal hingefahren, um mir den Club anzusehen." Warum ich das getan habe, behalte ich für mich. Das ist eine Sache, über die ich mit Ruben einfach nicht reden möchte. "Schade. Ich hab dich nämlich echt vermisst." Diese Worte verschaffen mir ein warmes Gefühl und ein schlechtes Gewissen zugleich – eine Mischung, die ich nur zu gut kenne. Egal, wie viel Zeit ich mit meinem Bruder verbringe, ich habe irgendwie immer das Gefühl, es ist einfach nicht genug. Die drei Jahre, in denen wir uns nur heimlich sehen konnten, fehlen mir immer noch. Gerade deswegen bin ich froh, dass wir uns jetzt treffen können, wann immer wir wollen, weil es niemanden mehr gibt, der uns das verbietet. Ich bin unglaublich stolz auf Ruben, weil er sich so durchgesetzt hat. Auf der anderen Seite gibt es allerdings auch einen Teil von mir, der wünschte, dass er das nicht getan hätte. Ruben hat eine glückliche, intakte Familie verdient. Aber wenn ich bedenke, dass er jetzt bei Andi, Babsi und Chris lebt, dann hat er diese Familie ja eigentlich. Auch wenn die Drei nicht seine leibliche Familie sind, für ihn sind sie genauso wichtig wie es für mich Tante Gloria ist – oder Flo und seine Familie, bei denen ich schon früher immer unterkriechen konnte und immer noch kann. Ich bin froh, dass Ruben Chris und seine Eltern hat. "Ich hab dich auch vermisst", gestehe ich meinem Bruder ehrlich und wieder beginnt Ruben zu strahlen. Das hält jedoch nicht lange vor. Stattdessen lässt er ganz plötzlich von mir ab, schnappt sich Murray und schleppt ihn kommentarlos ins Wohnzimmer, was mein Kater einigermaßen irritiert über sich ergehen lässt. So etwas ist er von Ruben nicht gewöhnt, aber die Aussicht auf mögliche Streicheleinheiten in seinem Lieblingssessel lassen ihn sein würdeloses Gebaumel in Rubens Armen verzeihen. Murray ist ein Opportunist – und viel zu faul, um wirklich wegen irgendetwas längerfristig eingeschnappt oder gar nachtragend zu sein. Ich blicke meinem Bruder verwirrt hinterher, aber ehe ich ihm folgen und ihn fragen kann, was mit ihm los ist – so ist er sonst nämlich eigentlich nie –, zieht Chris meine Aufmerksamkeit durch leises Räuspern auf sich. "Uli hat heute morgen schon ziemlich früh bei uns angerufen", erzählt er mir, ohne mich dabei direkt anzusehen. Es ist ihm sichtlich unangenehm, diesen Namen in meiner Gegenwart zu erwähnen, aber er räuspert sich erneut und fährt fort, ehe ich etwas dazu sagen kann. "Er hat mit Papa gesprochen und der hat uns nachher gesagt, um was es ging." Chris schluckt hart und sieht mich dann doch endlich an. "Eure Mutter hatte einen Unfall. Sie wurde von einem Auto angefahren, als sie mit dem Rad unterwegs war. Es ist nichts allzu Schlimmes passiert, aber sie liegt im Krankenhaus und... Uli sagte, sie würde sich sehr über Rubens Besuch freuen." Chris' Blick huscht unruhig durch meine Küche, als würde er nicht wagen, mich jetzt weiterhin anzusehen. Beinahe schafft es das bittere Lächeln, das ich fast schon spüren kann, sich auf meine Lippen zu legen, aber ich unterdrücke es und setze stattdessen einen möglichst neutralen Gesichtsausdruck auf. Auch wenn ich selbst derjenige war, der jeglichen Kontakt zu ihr abgebrochen hat, es tut trotzdem weh, dass meine eigene Mutter nicht einmal in einer solchen Situation auch nur nach mir fragt. Aber das wäre wohl auch zu viel verlangt. Mit einem innerlichen Kopfschütteln verscheuche ich diese Gedankengänge in den hintersten Winkel meines Hirns. Dingen, die man nicht ändern kann, sollte man auch nicht nachtrauern. Das führt ohnehin zu nichts außer schlechter Laune und Kopfschmerzen. Und davon habe ich in letzter Zeit ohnehin viel zu viel. Ehe ich mich doch noch von dieser ganzen Sache herunterziehen lassen kann, räuspert Chris sich ein weiteres Mal. Ich beobachte ihn und kann erkennen, wie er sich fast schon gewaltsam einen Ruck gibt, weiterzureden. "Ruben würde sie gerne sehen, aber er will das nicht zugeben. Wir haben uns deswegen gestritten", das einzugestehen fällt ihm unübersehbar schwer, "weil ich finde, er sollte über seinen Schatten springen und zu ihr fahren. Sie ist immerhin seine Mutter. Er will zwar zu ihr, aber er will dir nicht wehtun und dich nicht enttäuschen – nicht nach allem, was gewesen ist – und deshalb hat er sich entschlossen, sie nicht zu besuchen. Kannst du bitte mit ihm reden und ihm sagen, dass es okay ist, wenn er sie besucht? Auf mich hört er einfach nicht." Ich brauche einen Moment, um das Gehörte zu verarbeiten. Dann jedoch verabschiede ich mich mit einem innerlichen Seufzen von dem Plan, erst mal gemütlich einen Kaffee zu trinken, zu frühstücken und dabei etwas Zeit mit meinem kleinen Bruder und seinem Freund zu verbringen, ehe ich richtig in den Tag starte. "Ich ziehe mich nur eben an, dann können wir los", lasse ich Chris wissen und er lächelt erleichtert. "Danke, Simon", sagt er leise und umarmt mich kurz, aber voller Dankbarkeit, ehe ich die Küche verlassen kann. Ich werfe im Vorbeigehen einen Blick ins Wohnzimmer, wo Ruben eher energisch als so enthusiastisch wie sonst Murray streichelt, und verschwinde dann kurz ins Bad und ins Schlafzimmer, um mich fertig zu machen. Keine zehn Minuten später komme ich angezogen ins Wohnzimmer, wo Chris sich mittlerweile zu Ruben und Murray gesellt hat, und werfe meinem kleinen Bruder einen auffordernden Blick zu. "Kommt ihr? Ich wollte zum Krankenhaus", erkläre ich und Rubens Augen werden groß. Er sieht Chris bemüht böse an, kann aber die Erleichterung und sein schlechtes Gewissen nicht ganz verbergen. Jedenfalls nicht vor mir. Ich bin immerhin sein Bruder. Ich kenne ihn schließlich schon seit seiner Geburt. "Warum...?", setzt Ruben an, aber ich lasse ihn seine Frage gar nicht erst aussprechen. "Ich wollte Tante Gloria sowieso heute noch besuchen." Das hatte ich mir zwar erst für den Nachmittag vorgenommen, aber sie wird sicher nichts dagegen haben, wenn ich schon eher vorbeikomme. Sie freut sich schließlich immer, mich zu sehen. "Kommt, ich nehme euch mit." Damit wende ich mich zum Gehen und verlasse mich darauf, dass Chris und Ruben mir folgen. Tatsächlich habe ich gerade meinen Mantel von der Garderobe genommen, als Ruben auch schon neben mir auftaucht und sich an meinen Arm klammert. "Ist das auch wirklich okay für dich, Simon?", will er wissen und seine großen dunklen Augen bekommen einen feuchten Glanz, als ich ihn, statt zu antworten, einfach nur wie früher kurz an mich drücke und ihm durch die Haare streiche. So sehr ich mich eigentlich dafür schämen sollte, ich kann mir nicht helfen, dass es mir ein gutes Gefühl verschafft, dass mein kleiner Bruder meinetwegen auf etwas verzichten würde, was ihm offensichtlich so sehr am Herzen liegt. Nicht, dass ich das jemals von ihm verlangen würde. Das auf keinen Fall, aber zu wissen, dass er sich diese Entscheidung so schwer gemacht hat, weil er meine Gefühle nicht verletzen will, tut ungemein gut. Deshalb fällt es mir auch nicht schwer zu lächeln, als ich nicke. "Absolut", versichere ich ihm, löse sanft seinen Klammergriff von meinem Arm und schiebe ihn dann raus aus der Wohnung zu Chris, der bereits vorgegangen ist und im Hausflur auf uns beide wartet. Er bleibt noch kurz stehen, bis ich die Tür hinter mir zugezogen habe, dann dreht er sich um und geht schon mal nach unten. Ruben steht noch immer unentschlossen vor meiner Wohnungstür und kaut auf seiner Unterlippe herum, aber als ich ihm einen weiteren sanften Schubs gebe, sprintet er eilig die Treppe runter. Vor der Haustür holt er Chris ein und ich kann sehen, wie er erst leise etwas zu ihm sagt und dann seine Hand in Chris' Jackentasche schmuggelt. Chris streicht ihm lächelnd eine widerspenstige schwarze Strähne aus dem Gesicht und ich möchte mich liebend gerne dafür ohrfeigen, dass ich jetzt sogar meinen kleinen Bruder um sein Glück beneide. Innerlich über mich selbst den Kopf schüttelnd schließe ich zu den beiden auf und lasse zu, dass Ruben sich mit seiner freien Hand wieder an meinen Arm hängt und mich zu meinem Wagen schleift. Er rutscht gemeinsam mit Chris auf die Rückbank und während ich mich in den samstagmorgendlichen Verkehr einfädele, überlege ich, ob Tante Gloria wohl schon weiß, was passiert ist. Falls nicht, sollte ich es ihr wohl erzählen, wenn ich sie gleich besuche. Das bin ich ihr schuldig. Immerhin geht es um ihre Nichte. Die Fahrt zum Krankenhaus vergeht unter Geplapper von der Rückbank und leiser Musik recht schnell. Wir brauchen kaum fünfzehn Minuten, dann kann ich auch schon einen Parkplatz suchen. Zu dritt betreten wir das große Gebäude und während Ruben sich am Empfang erkundigt, in welchem Zimmer unsere Mutter liegt, halte ich mich zusammen mit Chris im Hintergrund. Gemeinsam gehen wir zu den Aufzügen, aber während Ruben und Chris schon im zweiten Stock wieder aussteigen, fahre ich weiter bis zur vierten Etage. Das Zimmer meiner Tante liegt ganz am Ende des Ganges auf der linken Seite. Ich bin einigermaßen überrascht, als ich es nach kurzem Anklopfen betrete und feststelle, dass ich nicht der einzige Besucher bin. "Oh, guten Morgen, Simon", begrüßt Jürgen mich und ich nicke ihm kurz zu, ehe ich ans Bett trete und Tante Gloria einen flüchtigen Kuss auf die Wange drücke. Sie lächelt mich an, aber mir entgehen die dunklen Ringe unter ihren Augen ebenso wenig wie das leichte Zittern ihrer Finger, als sie mir wie früher die langen Haare hinters Ohr streicht. Sie so zu sehen tut mir fast schon körperlich weh, aber ich versuche dennoch zumindest ein bisschen zu lächeln, als ich mich wieder von ihr löse. Ich will einfach nicht, dass sie sich meinetwegen noch mehr Sorgen macht als sie es ohnehin schon tut. Sie hat im Moment genug mit ihren eigenen Problemen zu tun, da muss sie sich nicht auch noch meine aufhalsen. "Ich wusste nicht, dass du so früh kommen wolltest", sagt sie mit erstaunlich kräftig klingender Stimme und ich drücke noch einmal ihre Hand, ehe ich mir den zweiten Besucherstuhl heranziehe und mich darauf setze. "Das hatte ich auch eigentlich gar nicht vor", gebe ich dann zu und überlege einen kurzen Augenblick, ringe mich dann aber doch dazu durch, gleich die Wahrheit zu sagen. Tante Gloria kennt mich zu gut, als dass ich ihr etwas verschweigen könnte. Das habe ich bei ihr noch nie geschafft. "Meine Planung hat sich ziemlich kurzfristig verändert. Ruben und Chris waren da und Chris hat mir erzählt, dass Karin", ich bringe es einfach nicht mehr über mich, meine Mutter ›Mama‹ zu nennen; diese Zeiten sind ein für allemal vorbei, "einen Unfall hatte. Nichts Schlimmes", beschwichtige ich gleich, als sowohl Tante Gloria als auch Jürgen mich voller Besorgnis ansehen. "Ich weiß nicht, was sie genau hat, aber ich habe Ruben und Chris hergefahren, damit sie sie besuchen können." Dass mein Bruder eigentlich meinetwegen darauf verzichten wollte, erzähle ich nicht, aber das muss ich auch gar nicht. Zumindest Tante Gloria wird sich etwas Ähnliches denken können. Das sagt jedenfalls das Lächeln, mit dem sie mich bedenkt. "Du bist ein guter Junge, Simon", versichert sie mir und wie jedes Mal, wenn sie so etwas zu mir sagt, gehen mir diese Worte runter wie Öl. Es tut einfach gut zu wissen, dass es außer meinem kleinen Bruder in meiner Familie wenigstens noch einen Menschen gibt, der mich genauso annimmt und liebt, wie ich nun mal bin. Tante Gloria hat nie versucht, mich zu etwas zu machen, was ich einfach nicht sein kann und auch nicht sein will. Nicht so wie der Mann, den ich beinahe mein ganzes Leben für meinen Vater gehalten habe. Ganz im Gegenteil. Sie hat mich immer darin bestärkt, meinen eigenen Weg zu gehen und nur das zu tun, was ich für richtig halte. Und dafür werde ich ihr immer unendlich dankbar sein. Vielleicht ist das auch der Grund dafür, dass ich etwas tue, was ich eigentlich gar nicht vorhatte. "Fühlst du dich fit genug, um Karin zu besuchen? Dann bringe ich dich hin. Die Zimmernummer weiß ich", biete ich an und überrasche mich selbst damit noch wesentlich mehr als meine Tante und Jürgen. "Du bist wirklich ein lieber Junge." Tante Glorias Augen strahlen, als sie mich ansieht, und ich kann fühlen, wie mir Hitze ins Gesicht kriecht. Solche Dinge bekomme ich nicht allzu oft zu hören. "Dann lasst uns gehen." Jürgen reicht ihr ihren Morgenmantel und sobald sie aus dem Bett aufgestanden ist und ihn übergezogen hat, biete ich ihr meinen Arm an. Mit einem dankbaren Lächeln hakt sie sich bei mir ein und ich registriere verwundert, dass Jürgen uns nicht nur die Tür öffnet, sondern sich auch an Tante Glorias freier Seite hält, ohne etwas zu sagen. Scheinbar will er uns begleiten. Eine seltsame Situation, aber ich zwinge mich, nicht weiter darüber nachzudenken, was jetzt gerade wohl in ihm vorgehen mag. Ich meine, es muss doch merkwürdig für ihn sein, gemeinsam mit seinem leiblichen Sohn, von dem er vor einem knappen halben Jahr noch nicht einmal etwas wusste, seine ehemalige Verlobte zu besuchen, die heute mit seinem älteren Bruder verheiratet ist und von diesem noch einen weiteren Sohn hat, oder? Da Tante Gloria wegen ihrer Schwäche und der Schmerzen, die sie tapfer zu verbergen versucht, nur ziemlich langsam gehen kann, dauert es eine ganze Weile, bis wir den Aufzug erreichen. Gemeinsam fahren wir nach unten in den zweiten Stock. Dort orientiere ich mich kurz und führe meine Tante und meinen Vater – es ist auch für mich immer noch merkwürdig, dieses Wort in Verbindung mit Jürgen zu denken oder gar auszusprechen – dann in Richtung des Zimmers, in dem meine Mutter liegt. Jürgen klopft an die Tür und mir pocht mein Herz unerklärlicherweise bis zum Hals. Heute ist das erste Mal, seit ich von Jürgens Existenz erfahren habe, dass ich meine Mutter wiedersehen werde. Und unsere letzte Begegnung war wirklich alles andere als schön. Ich war wahnsinnig wütend und verletzt und ich habe damals Dinge gesagt, die unter anderen Umständen sicher nie über meine Lippen gekommen wären. Jedenfalls ganz bestimmt nicht so. Aber auch wenn die Art, wie alles geendet hat, mehr als unschön war, ich stehe auch heute noch zu dem, was ich damals getan habe. Dennoch ist es letztendlich einzig und allein Tante Glorias Hand an meinem Arm, die verhindert, dass ich mich doch noch auf dem Absatz umdrehe und fluchtartig den Gang verlasse. Nur das Wissen, dass sie mich als ihre Stütze braucht, lässt mich bleiben, wo ich bin, als die Zimmertür meiner Mutter geöffnet wird. Der Fluchtimpuls ist da und beinahe übermächtig, aber ich kämpfe ihn nieder und begegne Ulrichs fragendem Blick betont kühl und gleichgültig. Von allen Menschen auf der Welt muss er am wenigsten wissen, wie es jetzt gerade wirklich in mir aussieht. Für einen Moment sieht Ulrich mehr als überrascht aus, aber dann hat er sich wieder im Griff. Er presst seine Lippen fest aufeinander, als er mich ansieht, sagt aber nichts. Stattdessen öffnet er einfach nur die Tür so weit, dass wir das Zimmer betreten können, wendet sich jedoch demonstrativ von mir ab, als wäre ich etwas Ekelhaftes, dessen Anblick er einfach nicht länger ertragen kann. Schlagartig weicht die Nervosität, die ich eben noch gespürt habe, kalter Wut. Nur zu gerne würde ich diesem Heuchler an den Kopf werfen, was ich von ihm halte und wohin er sich seine Bigotterie stecken kann, aber Rubens Anwesenheit und Tante Glorias Finger, die sanft über meinen Arm streichen – anscheinend hat sie gemerkt, wie mir zumute ist; ihr liebevoll-besorgter Blick in meine Richtung spricht jedenfalls Bände –, sorgen dafür, dass ich mich zurückhalte und schweige. "Kind, was machst du denn für Sachen?", wendet sich Tante Gloria an meine Mutter, die halb aufrecht in ihrem Bett sitzt und abgesehen von einigen Schrammen und blauen Flecken nur einen Arm in Gips hat. Alles in allem sieht sie zwar etwas mitgenommen aus, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ihre plötzliche Blässe nichts mit ihrem Unfall zu tun hat, sondern wohl eher mit Jürgens und meiner Anwesenheit. Sie sieht jedenfalls aus, als hätte sie einen Geist gesehen. Dabei weiß sie doch schon seit Monaten, dass Jürgen wieder im Lande ist. Woher hätte ich sonst wissen sollen, wie sehr die Menschen, die ich für meine Eltern gehalten habe, mich jahrelang belogen haben? Und dass ich davon weiß, habe ich ihr ja im Dezember unmissverständlich klargemacht. "Es … es ist nicht … so schlimm, wie es aussieht." Die Stimme meiner Mutter zittert und noch immer hängt ihr Blick an meinem Gesicht, aber ich ignoriere sie und helfe stattdessen meiner Tante in den Besucherstuhl, den Chris gleich für sie frei gemacht hat. Und sobald meine Tante sitzt, hängt mein Bruder auch schon wieder an meiner Seite und schlingt die Arme ganz fest um meinen Bauch, ohne sich um den unübersehbar wütenden Blick seines Vaters zu stören. Für mich ist das eine Genugtuung sondergleichen – weshalb ich auch nicht gehe und draußen warte, wie ich es mir eigentlich vorgenommen hatte, sondern im Zimmer bleibe. Schmunzelnd beobachte ich, wie Ruben mit seiner freien Hand nach Chris' Hand tastet, sie festhält und ihn so auch etwas näher zu uns zieht. Ohne Rubens Hand loszulassen stellt Chris sich an meine andere Seite und ich erlaube mir den kleinen, aber dennoch ungemein befriedigenden Triumph, jedem der beiden einen Arm um die Schultern zu legen und dem Mann, der sich jahrelang als mein Vater aufgespielt hat, so zu zeigen, dass er es nicht geschafft hat, Rubens und meinen Willen zu brechen und uns dauerhaft voneinander fernzuhalten. Eine gute Stunde bleibt Tante Gloria bei meiner Mutter im Zimmer und unterhält sich mit ihr. Dann jedoch rappelt sie sich etwas mühsam wieder auf und wird sofort von Jürgen gestützt, weil ich nicht schnell genug zur Stelle bin. Dankbar lächelnd blickt sie ihn an, hakt sich dann aber auch gleich wieder bei mir ein, als ich ihr meinen Arm anbiete. "Besuch mich mal, wenn du dich besser fühlst, Kind", adressiert sie noch an meine Mutter, ehe wir uns wieder auf den Rückweg zu Tante Glorias Zimmer machen. Wir sind jedoch dieses Mal nicht nur zu dritt, sondern zu fünft, denn Ruben und Chris schließen sich uns an. Ruben kichert die ganze Zeit vor sich hin und Chris beobachtet ihn mit einem Schmunzeln dabei. Ich habe eine ungefähre Ahnung, worüber mein Bruder sich so amüsiert, aber auch wenn es mir ähnlich geht, verstecke ich mein Amüsement – noch jedenfalls. "Hast du sein Gesicht gesehen?", spricht Ruben meine Vermutung laut aus und spätestens jetzt kann ich mir ein winziges, aber dennoch eindeutig schadenfrohes Grinsen doch nicht länger verkneifen. "War ja wohl nicht zu übersehen", antworte ich meinem Bruder und dieser beginnt gleich wieder zu kichern, während Jürgen und ich uns damit beschäftigen, Tante Gloria ins Bett zu helfen und es ihr so bequem wie möglich zu machen. "Ihr zwei Frechdachse!", tadelt sie Ruben und mich, sobald sie wieder liegt, aber ihr Gesichtsausdruck zeigt deutlich, dass sie diesen Tadel keinesfalls ernst meint. Sie war früher schon immer der Meinung, dass Ulrichs Strafaktion, Ruben von mir fernzuhalten, nicht richtig war. Oder vielmehr war es in ihren Augen "eine riesengroße Sauerei", wie sie ihm irgendwann mal vorgeworfen hat – und das, obwohl Tante Gloria eigentlich absolut nichts vom Fluchen hält. Das hat zwar leider auch nichts an der Situation geändert, aber es tat damals wie heute gut zu wissen, dass sie hinter mir stand und immer noch steht. "Was denn?", kontert Ruben und zieht eine Grimasse. "Er hat's doch echt nicht besser verdient, der blöde …", fängt er an, aber ehe er noch mehr sagen kann, hält Chris ihm vorsorglich den Mund zu. "Das will hier wirklich niemand hören", sagt er leise und Ruben grummelt zwar kurz, gibt sich aber nach einem Rundblick geschlagen. "Ist ja schon gut", nuschelt er und schnappt sich Chris' Hand. "Aber denken darf ich das doch wohl trotzdem, oder?", will er dann wissen und Chris seufzt zwar, schmunzelt aber dennoch und wuschelt Ruben durch die Haare. Wieder verspüre ich bei dem Anblick einen Stich, aber ich schiebe dieses Gefühl ganz weit in die hinterste Ecke meines Bewusstseins. Es ist doch auch wirklich verdammt peinlich, mit neunzehn neidisch auf den kleinen Bruder zu sein, nur weil der es ganz im Gegensatz zu mir tatsächlich schafft, eine funktionierende Beziehung zu führen. Vielleicht sollte ich mich einfach komplett von der Vorstellung verabschieden, selbst irgendwann auch mal jemanden zu finden. Wäre sicherlich wesentlich weniger frustrierend als meine derzeitige Situation. Um nicht schon wieder in diesen elenden Grübeleien zu versinken, mit denen ich in den letzten Wochen sowieso schon viel zu viel Zeit vergeude, ziehe ich mir wieder einen der Besucherstühle heran und setze mich zu meiner Tante ans Bett, um mich noch ein wenig mit ihr zu unterhalten, während Ruben und Chris sich in meinem Rücken noch etwas weiterkabbeln und schlussendlich doch dazu übergehen, einfach nur händchenhaltend dazustehen und der Inbegriff eines glücklichen Pärchens zu sein. Es ist bereits nach zwei, als das Mittagessen für Tante Gloria gebracht wird. Der Essensgeruch erinnert mich daran, dass ich heute Morgen noch nicht gefrühstückt habe, also verabschiede ich mich von meiner Tante und beschließe, dass ich langsam nach Hause fahren und mir etwas kochen werde. Wie nicht anders erwartet hängt Ruben gleich wieder an mir, sobald ich Anstalten mache zu gehen. Chris folgt mir ebenfalls, aber dass Jürgen sich auch von Tante Gloria verabschiedet, verwundert mich doch etwas. "Wollt ihr noch zum Essen mit zu mir kommen oder soll ich euch absetzen?", wende ich mich an meinen Bruder und seinen Freund und muss unwillkürlich grinsen, als Ruben sich gleich noch etwas fester an mich klettet. "Wir kommen mit!", beschließt er und wirft einen kurzen Blick zu Chris. "Tun wir doch, oder?", will er von ihm wissen und Chris sieht mich fragend an. "Wenn wir nicht stören", murmelt er. Ich schüttele den Kopf. "Dann hätte ich euch nicht angeboten, dass ihr mitkommen könnt." Immerhin bin ich auch ganz froh, wenn ich gleich nicht den halben Tag alleine in meiner Wohnung verbringen muss. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)