Highway to hell von Karma (Simon x ...) ================================================================================ Kapitel 3: Jürgen ----------------- Dass Jürgen uns bis nach draußen begleitet hat und immer noch da ist, fällt mir erst auf dem Parkplatz auf. Wir haben meinen Wagen fast erreicht, als er sich räuspert und mich damit halb zu Tode erschreckt. "Ich hatte eigentlich gehofft, dass wir vielleicht mal etwas Zeit zum Reden hätten, Simon", adressiert er in meine Richtung und ich bin zugegebenermaßen etwas überrumpelt davon. Damit hatte ich nicht gerechnet. Worüber mag Jürgen mit mir reden wollen? Bisher hatten wir uns noch nicht allzu viel zu sagen. Wir wissen, dass wir Vater und Sohn sind, aber bis auf ein, zwei oberflächliche Unterhaltungen, wie man sie eben unter flüchtigen Bekannten führt, und unser allererstes Gespräch, bei dem ich von all den Lügen, die meine sogenannten Eltern mir mein ganzes Leben lang erzählt haben, erfahren habe, haben wir noch nie wirklich miteinander geredet. "Aber wenn du heute keine Zeit hast, ist das auch nicht so schlimm. Dann eben ein anderes Mal", reißt Jürgens Stimme mich wieder aus meinen Überlegungen und noch ehe ich mir so genau darüber im Klaren bin, was ich da eigentlich tue, höre ich mich auch schon selbst sprechen. "Du kannst gerne auch mitkommen, wenn du willst. Ich kriege auch vier Leute satt statt nur drei", biete ich an und überrasche mich selbst damit nicht weniger als ihn. Erstaunt sieht er mich einen Moment lang einfach nur an, aber dann breitet sich auf seinem Gesicht ein Lächeln aus. "Sehr gerne", geht er auf meine Einladung ein und ich befreie meinen Arm erst mal aus Rubens Klammergriff, um meinen Wagen aufschließen zu können. Ruben und Chris verziehen sich wie auf der Herfahrt auf die Rückbank, während Jürgen sich neben mir auf den Beifahrersitz setzt und sich anschnallt. Es ist mehr als seltsam, dass er jetzt auch dabei ist, aber ich schiebe auch dieses merkwürdige Gefühl beiseite und bringe uns alle erst mal wieder zu mir nach Hause. Murray ist einigermaßen unbegeistert davon, dass sich schon wieder so viele Leute in seinem Revier ausbreiten. Misstrauisch beäugt er Jürgen, den er als Einzigen noch nicht kennt, aber als er merkt, dass wir nach kurzem Entledigen unserer Jacken und Schuhe gemeinsam in die Küche gehen, ist sämtliches Misstrauen gleich wieder vergessen. Küche ist für meine kleine Fressmaschine immerhin gleichbedeutend mit Futter und da ist er natürlich mit allergrößter Begeisterung dabei. Maunzend streicht er uns allen abwechselnd um die Beine und ich muss unwillkürlich grinsen. Da bin ich allerdings nicht der Einzige, denn Jürgen grinst ebenfalls. "Ich hatte auch mal eine Katze", erzählt er und jetzt ist es an mir, erstaunt dreinzuschauen. "Die Katze unserer Nachbarn hatte Nachwuchs und ich hab einfach eins der Kleinen mit zu uns nach Hause genommen, obwohl unsere Eltern das nicht wollten. Fast eine Woche lang konnte ich Millie vor unseren Eltern verstecken, aber dann haben sie sie doch gefunden." Die Erinnerung zaubert ein Schmunzeln auf sein Gesicht. "Ich habe riesigen Ärger bekommen. Vier Wochen Hausarrest. Aber Millie durfte trotzdem bleiben", beendet er die Geschichte und beugt sich nach unten, um Murray, der sich mittlerweile voller Elan an meinem Bein reibt – ich bin immerhin für die Fütterung des hungrigen Raubtiers zuständig, also werde ich natürlich auch mit einer kräftigen Dosis Katzenhaaren auf meiner Hose dafür entlohnt –, unterm Kinn zu kraulen. Mein dicker Kater lässt sich das selbstredend ohne Widerspruch gefallen und schnurrt nur noch lauter. Ich hingegen bin etwas überfahren. Das ist das erste Mal, dass Jürgen mir etwas Privates von sich erzählt, das nichts mit meiner Mutter und ihm zu tun hat. Und dann auch noch ausgerechnet etwas aus seiner Kindheit. Ein kurzer Rundblick durch die Küche zeigt mir, dass Ruben und Chris sich verzogen haben. Aus dem Wohnzimmer dringt Musik herüber, also haben die beiden es sich wohl dort bequem gemacht. Ich bin mir nicht sicher, wessen Idee es war, Jürgen und mich alleine zu lassen, aber ich habe eine bestimmte Vermutung. Mein kleiner Bruder ist viel zu neugierig, um sich irgendetwas entgehen zu lassen, also wird Chris wohl die treibende Kraft hinter dem Verschwinden der beiden gewesen sein. Dazu würde auch passen, dass ich nicht mal mitbekommen habe, dass sie gegangen sind. Wenn Ruben so etwas anleiert, dann ist er alles, aber nicht subtil. Chris ist da ganz anders. Mit etwas Mühe zwinge ich meine Gedanken weg von meinem kleinen Bruder und seinem Freund und wieder zurück zu dem Mann, von dem ich erst seit ein paar Monaten weiß, dass er mein Vater ist. "Davon wusste ich nichts", gebe ich zu und Jürgen nickt leicht, so als hätte er nichts anderes erwartet. "Hätte mich auch gewundert, wenn Ulrich je ein Wort darüber verloren hätte. Er war nach Millies Tod beinahe noch trauriger als ich und hat sich geschworen, dass er nie wieder ein Haustier haben will. Ich fand das unsinnig, aber nach allem, was Gloria mir erzählt hat, hat er sich ja wohl konsequent daran gehalten." "Allerdings", gebe ich Jürgen Recht und kann nicht ganz verhindern, dass meine Stimme bitter klingt. Ich habe mir schon als Kind nichts sehnlicher gewünscht als eine eigene Katze, aber mehr als ein ›Nein‹ habe ich nie zu hören bekommen. Eine Erklärung für diese Ablehnung wurde mir nie geliefert. Und wenn ich ehrlich bin, dann fällt es mir sehr schwer, mir vorzustellen, dass der Mann, den ich nur als kalt und unnachgiebig kenne, tatsächlich mal um den Tod einer Katze getrauert haben soll. "Früher war Ulrich nicht so … so …" "… kalt?", beende ich Jürgens Satz und er stockt kurz, nickt aber dann und lehnt sich abgrundtief seufzend rücklings an meinen Küchentisch. "Ich verstehe ihn nicht mehr. Schon seit Jahren nicht", gibt er leise zu und in seiner Stimme schwingt eine gewisse Trauer um den Bruder mit, den er irgendwann mal gekannt hat, lange bevor ich überhaupt geboren wurde. Ich habe Schwierigkeiten, das nachzuvollziehen, aber das behalte ich für mich. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass der Mann, der mir jahrelang mein Leben schwergemacht und mir vorgeschrieben hat, wie und wer ich sein sollte, irgendwann mal anders war als ich ihn kenne. "Ich kann mich an keine Zeit in meinem Leben erinnern, in der er und ich uns wirklich mal verstanden hätten." Warum ich das erzähle, weiß ich selbst nicht so genau. Normalerweise spreche ich nicht über den Mann, den ich jahrelang für meinen Vater gehalten habe. Obwohl … Das ist so auch nicht ganz richtig. Allerdings gibt es eigentlich nur zwei Menschen, mit denen ich jemals über das praktisch nicht existente Vater-Sohn-Verhältnis gesprochen habe, mit dem ich aufgewachsen bin. Dass einer dieser Menschen Flo ist, ist wohl irgendwie logisch. Der zweite Mensch, mit dem ich mir so manche Nacht redend um die Ohren geschlagen habe, ist jedoch nicht Tante Gloria, sondern Micha, Flos und Sarahs Vater. Nicht einmal mit Vally, Flos Mutter, habe ich jemals über dieses Thema gesprochen. Nicht, dass sie nicht auch Verständnis für mich gehabt hätte, aber irgendwie ist es mir bei Micha immer leichter gefallen, darüber zu reden – vielleicht, weil er selbst ebenfalls ein sehr problematisches Verhältnis zu seinem eigenen Vater hatte. Oder vielleicht lag es auch nur daran, dass Micha seinem Sohn sehr ähnlich ist und mich oft ebenso gut ohne Worte versteht wie sonst eigentlich nur Flo das kann. "Irgendwie standen wir immer auf Kriegsfuß miteinander. Mein ganzes Leben lang, so lange ich mich zurückerinnern kann. Fast jedes Gespräch zwischen uns ist früher oder später in Streit ausgeartet." Um mich irgendwie zu beschäftigen und auch etwas Nützliches zu tun, mache ich mich daran, Töpfe und alles, was ich für das geplante Mittagessen brauchen werde, aus meinen Schränken zu kramen und auf dem Tisch zu stapeln. Das gibt mir die Möglichkeit zu reden, ohne Jürgen dabei ansehen zu müssen, und das macht das Reden irgendwie leichter für mich. Ohne etwas zu sagen geht Jürgen mir zur Hand und als er mich ansieht, liegt auf seinen Lippen ein kleines Lächeln, in dem ich allerdings auch eine Spur Reue zu erkennen glaube. "Seit ich erfahren habe, dass Karin damals mit dir schwanger war und deshalb nicht mit mir nach Venezuela gehen wollte, wünsche ich mir manchmal, dass ich nicht so schnell aufgegeben hätte. Ich hätte sie so lange nach dem Grund für ihren plötzlichen Meinungsumschwung fragen sollen, bis sie es mir erzählt hätte", sagt er und seufzt leise. "Ich hätte dich gerne schon früher kennen gelernt, Simon. Ich hätte dich gerne aufwachsen sehen. Und ich hätte wirklich sehr gerne das Privileg genossen, dir ein Vater zu sein", fügt er noch hinzu und in meinem Hals bildet sich bei diesen Worten ein dicker Kloß, den ich nur mit Mühe herunterschlucken kann. Wie oft habe ich mir einen Vater gewünscht, der mich zumindest ein bisschen versteht – oder es wenigstens versucht? Ein paar Minuten lang hantiere ich einfach nur schweigend am Herd herum, während ich meine wild durcheinanderrasenden Gedanken zu beruhigen versuche. Sobald mir das endlich gelungen ist, räuspere ich mich, ohne Jürgen anzusehen. "Dafür ist es noch nicht zu spät." Ich kann meine eigene Stimme kaum verstehen, so leise kommen die Worte aus meinem Mund. Jürgen scheint mich allerdings sehr wohl verstanden zu haben, denn im nächsten Moment legt er mir eine Hand auf die Schulter und als ich ihn daraufhin etwas erschrocken anblicke – so etwas bin ich einfach nicht gewohnt –, lächelt er mich an und ich bemerke zu meinem leisen Entsetzen, dass seine Augen einen verdächtig feuchten Glanz haben. "Das hatte ich gehofft. Sehr sogar", sagt er mit belegter Stimme und ich versuche probehalber ein Lächeln, das allerdings höchstwahrscheinlich etwas kläglich ausfällt. Das hier ist absolutes Neuland für mich und ich fühle mich verdammt unsicher, aber irgendwie kann ich mich des Gefühls nicht erwehren, das Richtige zu tun. Dieser Mann hier, der jetzt gerade in meiner Küche steht und sich so über diese wenigen Worte von mir freut, ist immerhin mein Vater – etwas, das mir seltsamerweise hier und jetzt zum ersten Mal wirklich richtig bewusst wird. Nicht Ulrich ist mein Vater, sondern Jürgen. Ulrich mag mich erzogen haben – oder zumindest mag er es versucht haben –, aber er hat mich nicht gezeugt. Eigentlich, genau betrachtet, ist er nur mein Onkel, nicht mehr und nicht weniger. Diese Erkenntnis sorgt dafür, dass sich ein Knoten, der schon seit Jahren in meiner Brust sitzt, ganz plötzlich löst. Ich mag einige Gene mit dem Mann gemeinsam haben, der mir jahrelang das Leben schwer gemacht hat, aber ich bin nicht dazu verdammt, genauso zu werden wie er, nur weil ich sein Sohn bin. Denn das bin ich nicht. Diese Gewissheit ist so unglaublich befreiend, dass nun doch ein ehrliches Lächeln seinen Weg auf meine Lippen findet. Bevor ich jedoch noch etwas sagen kann, taucht der wuschelige Schopf meines Bruders wieder in der Tür zur Küche auf. "Brauchst du noch lange, Simon?", fragt er drängelnd und auch wenn sein Timing mal wieder suboptimal ist, muss ich trotzdem grinsen. Das ist einfach so typisch für Ruben, dass ich nicht anders kann. "Nein", antworte ich ihm daher und bedeute ihm mit einem Nicken, dass er schon mal reinkommen und den Tisch decken kann. Wenn er schon stört, denke ich mir pragmatisch, dann kann er sich auch wenigstens gleich ein bisschen nützlich machen. Ruben protestiert nicht, sondern kommt meiner unausgesprochenen Aufforderung ohne zu murren nach. Er ist heute immerhin nicht das erste Mal hier, also weiß er, wo alles ist. Gemeinsam mit Chris, der kurz nach ihm ebenfalls auftaucht, deckt er den Tisch für vier Personen und lässt sich, sobald die beiden damit fertig sind, auf seinen Lieblingsplatz ganz in der Ecke plumpsen. Sofort nutzt Murray die Gelegenheit, die ein freier Schoß ihm bietet, hopst auf Rubens Beine und wirft einen neugierigen Blick über den Tisch. "Runter da, du Fressmaschine." Selbstverständlich ignoriert mein Kater meine freundliche Aufforderung komplett, also hebe ich ihn selbst wieder von Rubens Schoß herunter und setze ihn auf dem Boden ab. Dafür ernte ich einen bösen Blick, der mich allerdings ganz und gar nicht beeindruckt – vor allem, weil ich ganz genau weiß, dass ein, zwei Leckerlis diesen Blick nach dem Essen eh wieder in zufriedenes Schnurren verwandeln werden. Dass ist bei Murray schließlich immer so. Er ist ein wirklich pflegeleichter Kater – meistens jedenfalls. Nachdem Murray klar wird, dass er auch heute wieder nichts vom Tisch abstauben kann, egal, wie sehr er bettelt und schnurrt, verzieht er sich nach drüben ins Wohnzimmer, um dort eine Runde zu schmollen. Ruben, Chris, Jürgen und ich kümmern uns jedoch nicht weiter darum, sondern widmen uns erst mal dem Essen. Dabei plappert Ruben wie üblich beinahe die ganze Zeit und lässt sich auch nicht von Chris' oder meinen Ermahnungen, dass sein Essen kalt wird, daran hindern. Das Einzige, was heute anders ist als bei den sonstigen Besuchen von Ruben und Chris ist die Tatsache, dass Jürgen eben auch da ist. Aber er fällt nicht unbedingt negativ auf. Eher sogar im Gegenteil. Es ist zwar ungewohnt, ihn hier zu haben, aber er schafft es ohne größere Schwierigkeiten, sich einzufinden. Nach dem Essen hilft Chris mir wie meistens beim Spülen, während Ruben sich ins Wohnzimmer verzieht, um Murray wieder mal halb zu Tode zu schmusen. Jürgen zögert einen Moment, geht dann jedoch auch rüber und ich finde mich gleich darauf mit einem braunen Augenpaar konfrontiert, das mich fragend und besorgt zugleich mustert. "Alles okay?", erkundigt Chris sich zaghaft und ich nicke gleich. Es tut gut zu wissen, dass er sich auch Sorgen macht, aber im Moment ist das gerade mehr als unnötig. Mir geht es gut – zumindest im Augenblick. Sicher, es läuft längst nicht alles rund für mich, aber der heutige Tag ist definitiv einer der besseren Tage in der letzten Zeit. "Alles okay", bestätige ich für Chris auch noch mal verbal und drücke ihm auch noch die letzten beiden Teller zum Abtrocknen in die Hand. Während er sich darum kümmert, räume ich schon mal alles wieder soweit ein und sobald wir komplett fertig sind, gesellen wir uns gemeinsam zu Ruben und Jürgen, die beide schwer damit beschäftigt sind, meinen Kater gnadenlos zu verwöhnen. Ich werde ihn nachher, wenn alle wieder weg sind, noch mindestens eine Stunde streicheln und kraulen müssen, sonst ist er unter Garantie beleidigt. Aber ich beschwere mich ganz bestimmt nicht darüber. Es ist doch schön, dass es wenigstens irgendjemanden gibt, der mich so vehement in seiner Nähe haben will – auch wenn dieser Jemand eben nur Murray ist. Dadurch, dass ich nicht alleine bin, habe ich keine Zeit, um in trüben Gedanken zu versinken. Und darüber bin ich eindeutig froh. Der Nachmittag vergeht jedenfalls wie im Fluge, so dass ich einigermaßen überrascht bin, als Chris Ruben nach einem Blick auf die Uhr antippt und ihm zu verstehen gibt, dass es langsam Zeit für sie beide wird. "Ich setz euch noch eben ab", beschließe ich, um die Zeit, die ich mit meinem Bruder verbringen kann, noch etwas auszudehnen. "Würdest du mich auch eben nach Hause fahren?", unterbricht Jürgen die Aufbruchsvorbereitungen. "Sonst nehme ich mir ein Taxi", schiebt er noch hinterher, doch ich schüttele den Kopf. Wenn ich sowieso schon unterwegs bin, macht mir eine etwas weitere Fahrt auch nichts aus. "Kein Problem", gebe ich auch verbal eine Antwort und werde wieder ein wenig erschlagen von dem Lächeln, das ich als Reaktion auf meine Worte bekomme. Scheinbar, geht es mir durch den Kopf, meinte Jürgen es ernst, als er gesagt hat, dass er mich gerne näher kennen lernen will. Irgendwie verschafft mir das ein sehr seltsames Gefühl. Ich komme allerdings nicht dazu, lange darüber nachzugrübeln, was das wohl bedeutet. Ruben packt mich nämlich und schleift mich voller Enthusiasmus hinter sich her durch den Flur. Chris folgt uns etwas langsamer und Jürgen, der noch eben meine Wohnungstür hinter sich zuzieht, bildet das Schlusslicht. Gemeinsam steigen wir Vier in meinen Wagen und ich fahre erst einmal Ruben und Chris zu Chris nach Hause, wo mein Bruder mich zum Abschied mal wieder halb zu zerquetschen versucht, ehe er händchenhaltend mit Chris im Haus verschwindet. Einen Moment lang blicke ich den beiden nach, dann wende ich mich ab und gehe wieder zurück zu meinem Wagen, wo Jürgen noch immer auf dem Beifahrersitz auf mich wartet. Wahrscheinlich wollte er nicht stören. "Wo soll ich dich denn genau absetzen?", erkundige ich mich, sobald ich wieder eingestiegen bin und mich angeschnallt habe, und nachdem Jürgen mir seine Adresse genannt hat, fahre ich los. Dabei weiß ich nicht, was ich sagen soll, also bleibe ich einfach stumm. Jürgen schweigt ebenfalls erst eine Weile, ehe er sich leise räuspert. "Dein Bruder und du … ihr versteht euch gut, oder?", fragt er dann und ich nicke, ohne ihn anzusehen. Vom Beifahrersitz kommt daraufhin ein leises Seufzen, das ich allerdings, da ich mein Radio nicht angemacht habe, fast überlaut hören kann. "Wenn ich euch beide so beobachte, dann kommen eine Menge Erinnerungen hoch", murmelt Jürgen fast unhörbar und als ich ihm einen schnellen Seitenblick zuwerfe, sehe ich auf seinen Lippen ein trauriges Lächeln liegen. Ich habe eine Vermutung, woran er gerade denkt, aber ich frage nicht nach. Irgendwie will ich heute Abend keine weiteren Geschichten mehr über Jürgens Kindheit und über … seinen Bruder hören. Ich habe schon genug zu verdauen für einen Tag. Dankenswerterweise spricht Jürgen auch nicht von sich aus weiter, sondern scheint stattdessen in seinen Erinnerungen zu versinken. Das gibt mir wiederum die Gelegenheit, ihn immer wieder mal unauffällig zu beobachten, wenn es verkehrsmäßig vor uns gerade stockt oder wir an einer Ampel stehen. Er sieht seinem Bruder wirklich ziemlich ähnlich, stelle ich dabei fest. Die Ähnlichkeit zwischen den beiden ist jedenfalls wesentlich größer als die Ähnlichkeit zwischen Ruben und mir. Ruben kommt eher nach unserer Mutter, während ich … nun, offensichtlich habe ich mehr Ähnlichkeit mit meinem Vater und auch mit meinem Onkel als mit der Frau, die mich geboren hat. Was mir bei genauerem Hinsehen heute auch das erste Mal auffällt, ist, dass ich eindeutig Jürgens Augen habe, denn seine haben dieselbe Farbe wie meine. Schon irgendwie merkwürdig, dass ich bisher nie darauf geachtet habe. Irgendwie ist das alles sehr, sehr merkwürdig gerade und ich hätte jetzt zu gerne etwas Zeit, um in Ruhe über alles nachzudenken, was ich heute erfahren habe. Allerdings wird das wohl noch etwas warten müssen – zumindest so lange, bis ich Jürgen bei sich abgesetzt habe und selbst wieder zu Hause angekommen bin. Dann kann ich mir immer noch den Kopf über all die Dinge zerbrechen, die ich heute Morgen noch nicht wusste und die plötzlich so vieles, was ich bisher zu wissen glaubte, in einem völlig anderen Licht erscheinen lassen. Obwohl ich etwas abgelenkt bin, fällt mir doch irgendwann auf, dass wir das Ziel – also das Haus, in dem Jürgen wohnt – fast erreicht haben. Ich fühle eine unbestimmte Enttäuschung, schiebe sie jedoch direkt wieder beiseite und parke stattdessen erst mal meinen Wagen, ehe ich mich leise räuspere. Das bringt jedoch nichts, so dass ich Jürgen schlussendlich antippe. Dafür ernte ich einen etwas erschrockenen Blick. "Wir sind da", erkläre ich und Jürgen blinzelt überrascht und schüttelt kurz den Kopf, wie um einen ungebetenen Gedanken loszuwerden. "Danke, Simon", sagt er dann und als er mich anlächelt, lächele ich schon fast automatisch zurück. "Gern geschehen." Und das ist mein Ernst. Der heutige Tag war zwar anfangs recht unschön und später reichlich verwirrend – ich werde eine Menge zu sortieren und zu überdenken haben, wenn ich gleich erst mal wieder zu Hause bin –, aber trotzdem war es ein guter Tag. Vielleicht auch gerade deswegen, ich weiß es nicht. "Wenn du einverstanden bist, dann würde ich mich freuen, wenn wir uns ab jetzt öfter treffen und … einfach mal ein bisschen reden könnten", dringt Jürgens Stimme in meine Gedanken. "Es war mein Ernst, als ich gesagt habe, dass ich dich gerne besser kennenlernen würde. Du bist …", er stockt kurz, fasst sich aber schnell wieder. "… du bist immerhin mein Sohn", beendet er seinen Satz und ich habe schon wieder einen Kloß im Hals, der mir das Sprechen erschwert, also nicke ich einfach nur. "Gut, dann …" Jürgen wirkt mindestens ebenso nervös, wie ich mich gerade fühle. Fahrig streicht er sich durch die an den Schläfen bereits leicht angegrauten schwarzen Haare und löst dann seinen Anschnallgurt. Er steigt aus, schließt die Tür aber nicht direkt wieder, sondern beugt sich noch mal halb in den Wagen und bedenkt mich mit einem weiteren Lächeln. "Gute Nacht, Simon", wünscht er mir und ich muss mich kurz räuspern, damit meine Stimme wieder richtig arbeitet. "Wünsche ich dir auch. Bis demnächst", verabschiede ich mich dann und sehe Jürgen kurz nach, wie er, nachdem er die Wagentür zugeschlagen hat, in Richtung Haustür davongeht. Erst als er den Schlüssel ins Schloss steckt, aufschließt und sich noch einmal kurz zu mir umdreht, um mir zu winken, ehe er im Inneren des Hauses verschwindet, starte ich meinen Wagen und mache mich auf den Heimweg. Dabei drehe ich das Radio wieder auf, um meine Gedanken zumindest so lange im Zaum zu halten, bis ich wirklich zu Hause bin. Ich habe immer noch den Refrain von VNV Nations Solitary im Ohr, als ich meine Wohnungstür aufschließe. Eigentlich erwarte ich fast, dass Murray immer noch schmollt, aber erstaunlicherweise kommt er gleich angerannt, sobald er merkt, dass ich wieder da bin. Im ersten Moment wundere ich mich darüber, aber dann muss ich grinsen. "Ja, du kriegst ja gleich dein Abendessen, du Fressmaschine", teile ich dem Kater mit, hebe ihn hoch und schleppe meinen schnurrenden Futtervernichter in die Küche, um ihn zu füttern. Sobald das erledigt ist und mein dicker Kater freudig schlemmt, gehe ich rüber in mein Wohnzimmer und schalte erst einmal meine Anlage ein, um meinen Ohrwurm zu bekämpfen, ehe ich mich im Schneidersitz auf den weichen Teppich vor der Couch setze und bei den ersten Tönen von Beloved, die an meine Ohren dringen, die Augen schließe. Ich habe, sinniere ich dabei, schon eine ganze Weile nicht mehr meditiert. Und bei allem, was in den letzten Wochen und Monaten los war und immer noch ist, kann etwas Zeit, um in Ruhe alles zu überdenken, nun wirklich nicht schaden. Eher im Gegenteil. Wie lange ich mich einfach nur auf meine Atmung konzentriere und dabei meine Gedanken sortiere und fokussiere, weiß ich nicht. Irgendwann tapsen Pfoten auf meinen Beinen herum und ich muss unwillkürlich schmunzeln, als ich spüre, wie Murray sich erst zwei Mal um sich selbst dreht, ehe er sich auf meinem Schoß zu einem schnurrenden Ball zusammenrollt. Das hat er schon gemacht, als ich nach seinem Einzug bei mir zum ersten Mal meditiert habe. Und seitdem tut er das eigentlich jedes Mal, auch wenn er in der letzten Zeit sehr wenig Gelegenheit dazu hatte. Meistens war ich einfach viel zu angespannt für eine vernünftige Meditation, aber irgendwie bin ich heute ruhig und gefasst genug. Und Murrays Schnurren trägt einen großen Teil dazu bei, dass ich mich noch wesentlich besser entspannen kann. So ist es auch kein Wunder, dass ich, als ich die Meditation schließlich beende und einen Blick auf die Uhr werfe, feststelle, dass ich mehr als eine Stunde hier gesessen habe. Murray ist nicht unbedingt begeistert, als ich ihn von meinem Schoß schiebe und aufstehe, aber als ich ihn hochhebe und kommentarlos in mein Schlafzimmer trage, schnurrt er gleich wieder wie ein kaputter Rasenmäher. "Mach's dir schon mal bequem, Dicker. Ich bin gleich wieder da", informiere ich ihn, setze ihn auf meinem Bett ab und verschwinde kurz ins Bad. Als ich wieder zurückkomme, liegt Murray bereits auf seinem Lieblingsplatz direkt über meinem Kopfkissen und blinzelt mich schläfrig an. ›Leg dich endlich hin, Dosenöffner! Ich will schlafen!‹, sagt sein Blick und ich muss schmunzeln. "Wie Euer Hochwohlgeboren befehlen", necke ich meinen Kater, bekomme jedoch nur ein Gähnen zur Antwort, als ich zu ihm ins Bett rutsche. Ich mache es mir bequem und zeitgleich mit dem Verlöschen meiner Nachttischlampe fängt mein persönlicher Rasenmäher wieder mit dem Schnurren an. "Schlaf gut, Dicker", murmele ich und strecke einen Arm aus, um Murray vor dem Einschlafen noch ein wenig zu kraulen. Ich weiß, er mag das. Und ich mag es, wenn er deshalb noch enthusiastischer schnurrt, obwohl er schon halb eingeschlafen ist. "Wenn ich dich nicht hätte, Murray …", sind meine letzten Worte und mein letzter Gedanke, ehe ich es meinem Kater gleichtue und selbst auch ins Reich der Träume abdrifte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)