Highway to hell von Karma (Simon x ...) ================================================================================ Kapitel 4: Gabriel ------------------ Als mein Wecker am Montagmorgen um sieben klingelt, bin ich wesentlich ausgeschlafener als am Sonntag. Da ich aber gestern recht früh im Bett war und auch sehr schnell eingeschlafen bin – Murrays Schnurren sei Dank –, ist das nicht wirklich verwunderlich. Was allerdings etwas ungewöhnlich ist, ist meine gute Stimmung, als ich mich aus dem Bett schwinge und mich auf den Weg in mein Badezimmer mache. Das merke ich daran, dass ich leise vor mich hin summe – etwas, das ich sonst eigentlich nicht tue. Vor allem nicht an einem Montagmorgen. Aber heute ist irgendwie alles anders. Vielleicht, sinniere ich, während ich mich fertigmache, war es doch gut, dass der gestrige Tag so verlaufen ist wie es nun mal der Fall war. Zwar hat sich längst nicht alles, was derzeit bei mir im Argen liegt, schlagartig und auf magische Weise verbessert, aber ich fühle mich zumindest schon mal nicht mehr ganz so niedergedrückt wie in den vergangenen Wochen. Wer hätte gedacht, dass ein einfacher Krankenbesuch solche Folgen haben könnte? Ich jedenfalls ganz sicher nicht. Bestens gelaunt gehe ich nach dem Anziehen hinüber in die Küche, um mich um Murrays und mein Frühstück zu kümmern. Mein Kater ist wie üblich begeistert. Und noch begeisterter ist er davon, dass meine gute Laune sich in ein paar Extra-Leckerlis für ihn niederschlägt, sobald er sein Futter praktisch inhaliert hat. Ich gönne mir so lange wie möglich Zeit, um mich mit meiner Schnurrmaschine zu beschäftigen. Heute Morgen brauche ich das einfach. Murray, stelle ich zum wiederholten Mal fest, tut mir einfach gut. Ihn aus dem Tierheim zu mir zu nehmen war die beste Idee, die ich in diesem Jahr bisher hatte. Erst als es wirklich allerhöchste Zeit zum Aufbruch ist, hebe ich den Dicken wieder von meinem Schoß, auf dem er die letzte halbe Stunde schnurrend und mich vollhaarend verbracht hat. Zum Abschied kraule ich ihn noch mal kurz hinter den Ohren, dann schnappe ich mir meinen Mantel und meinen Autoschlüssel und bin auch schon unterwegs. Lucy, stelle ich mit einem kurzen Blick auf meine Uhr fest, ist sicher schon im Laden. Aber noch bin ich früh genug dran, also ist das schon okay. Als ich ankomme, steht Lucys Wagen tatsächlich schon auf dem für sie reservierten Parkplatz. Ich parke meinen daneben, steige aus und betrete den Laden dann durch die Hintertür. Noch ist die Vordertür schließlich nicht geöffnet. "Hi, Simon", werde ich aus dem Büro begrüßt und als ich einen Blick hineinwerfe, trifft mich ein irritierter Blick meiner Chefin. "Du bist heute aber kurz vor knapp", kommentiert sie und ich muss grinsen, was Lucys Verwirrung nur noch vergrößert. So gut gelaunt kennt sie mich nicht. Zumindest nicht in der letzten Zeit. Und ganz besonders nicht an einem Montagmorgen. "Ich konnte mich nicht von Murray losreißen. Er war heute Morgen besonders niedlich", erkläre ich mein für meine Verhältnisse tatsächlich recht spätes Erscheinen und sofort ändert sich Lucys Gesichtsausdruck von vorwurfsvoll-irritiert zu begeistert. Lucy liebt Katzen, aber wegen ihrer Spinnen – Lucy hat drei Vogelspinnen und eine Tarantel – traut sie sich nicht, welche zu halten. Ich kann sie da nur zu gut verstehen. Murray ist zwar eigentlich ein ziemlicher Faulpelz, aber wenn er doch mal in Spiellaune kommt, ist absolut gar nichts vor ihm und seinen Krallen sicher – am allerwenigsten meine Kissen und ich. "Na, du bist ja noch nicht wirklich zu spät dran." Lucys Worte entlocken mir ein leises Lachen, das ich einfach nicht unterdrücken kann. Wieder sieht sie mich schräg an, beschließt aber offenbar auch gleich, dass sie lieber gar nicht so genau wissen will, warum ich so verdächtig gut drauf bin. "Du kannst ja schon mal mit dem Einräumen anfangen, wenn du willst", sagt sie stattdessen und ich nicke ihr kurz zu, entledige mich meines Mantels und mache mich dann an die Arbeit. Dafür bin ich schließlich hier. Pünktlich um zehn schließe ich die Tür des Ladens auf, aber da die Weihnachtsferien gerade erst paar Wochen zurückliegen, haben Lucy und ich noch eine ganze Weile unsere Ruhe. Lucy nutzt die Zeit, um sich im Büro zu verschanzen und die Bestellungen, die ich ihr am Samstag noch notiert habe, durchzusehen und aufzugeben. Ich kümmere mich währenddessen darum, dass der Laden präsentabel aussieht. Und weil es gerade so ruhig ist, nehme ich mir auch endlich die Zeit, die Schmuckvitrinen mal wieder aufzuräumen und umzusortieren. Bis kurz vor eins bleibt es so friedlich. Nur insgesamt acht Kunden verirren sich in den Laden, von denen allerdings auch nur zwei wirklich Hilfe beim Aussuchen brauchen. Die anderen sechs wissen ganz genau, was sie wollen und wo sie es finden, weil sie Stammkunden sind. Mehr als ein kleiner Plausch zwischen Corsagen, Kleidern, Chokern und Plateaustiefeln ergibt sich also nicht, aber ich bin nicht unbedingt böse darum. Ab und zu ist es auch mal ganz nett, wenn etwas weniger Kundschaft da ist. Dann bleibt Zeit übrig, um all die kleinen Dinge zu erledigen, die sonst meistens wegen Zeitmangels liegenbleiben. Mit dem neunten Besucher des Ladens ist diese angenehme Ruhe jedoch schlagartig vorbei. Gewohnheitsmäßig sehe ich nach, wen es da zu uns treibt, sobald die Tür geöffnet wird. Den jungen Mann, der hereinkommt, kenne ich jedoch nicht, auch wenn er mir auf den ersten Blick schon ungemein bekannt vorkommt. Ich kann mich allerdings beim besten Willen nicht daran erinnern, wo ich ihn schon mal gesehen habe. Dass er hier im Laden allerdings goldrichtig ist, ist eindeutig nicht zu übersehen. Er trägt eine enganliegende schwarze Bondagehose und ein ebenfalls schwarzes Hemd. Er hat ein Nasenpiercing auf der linken Seite, seine Haare sind knallrot gefärbt und seine Lippen sind ebenso schwarz wie seine Fingernägel. Alles in allem sieht er also aus wie ein ganz typischer Kunde, aber trotzdem bin ich mir sicher, dass er noch nie hier war. Nein, ich habe ihn woanders schon mal gesehen. Aber warum kann ich mich bloß nicht daran erinnern, wo und wann das war? Da er sich suchend umsieht, mache ich mich bemerkbar. "Suchst du was Bestimmtes? Kann ich dir helfen?", erkundige ich mich und seine Augen werden groß, als er mich ansieht. "Wow!", ist seine Antwort und ich weiß nicht so genau, wie ich darauf reagieren soll. Es ist nämlich ziemlich offensichtlich, dass er nicht den Laden oder die Auswahl mit seinem Ausruf meint, sondern mich. Und das ist irgendwie … merkwürdig. Aber noch merkwürdiger sind der Blick, mit dem ich bedacht werde, und das Grinsen, das daraufhin auf den Lippen meines Gegenübers erscheint. "Heiß", kommentiert er und spätestens jetzt bin ich mir ziemlich sicher, im falschen Film gelandet zu sein. So etwas passiert mir nämlich nicht. Normalerweise jedenfalls. Deshalb bin ich mir auch nicht ganz sicher, was ich jetzt tun soll. Und wie immer, wenn ich nicht weiß, wie ich mit einer Situation umgehen soll, ziehe ich mich auf mir bekanntes Terrain zurück. "Wie gesagt, wenn du was Bestimmtes suchst, helfe ich dir gerne. Ansonsten … Ich hab hier noch einiges zu tun. Sieh dich ruhig in Ruhe um. Du kannst dich ja melden, wenn du Fragen hast", lasse ich ihn wissen und will mich wieder an die Arbeit machen, aber eine Hand an meinem Arm hält mich auf, bevor ich das tun kann. "Whoa, sorry!", entschuldigt sich ihr Besitzer und als ich ihn ansehe, reibt er sich mit seiner freien Hand den Nacken, während das Grinsen auf seinen Lippen einen etwas verlegenen Touch bekommt. Meinen Arm, stelle ich irritiert fest, hat er immer noch nicht losgelassen. "Ich wollte nicht … Was auch immer", murmelt er etwas konfus, macht aber immer noch keine Anstalten, seinen Griff zu lockern. "Du kannst mir bestimmt helfen. Ich suche meine Schwester", werde ich informiert und bin dadurch endgültig verwirrt. Was ist das denn für einer? Und wieso sucht er bitteschön ausgerechnet hier seine Schwester? Gut, wenn sie klamottentechnisch den gleichen Stil hat wie ihr Bruder, dann könnte sie sich schon hierher verirrt haben. Aber wie in aller Welt kommt er bitteschön auf die Idee, dass ich sofort weiß, wen er meint, wenn er nur von ›seiner Schwester‹ spricht? "Wir sind kein Fundbüro", ist das erste, was über meine Lippen kommt und nicht wie "Sag mal, hast du vielleicht einen Dachschaden oder so?" klingt. Anstatt jedoch sauer zu werden, lacht mein Gesprächspartner nur und lässt dann zu meiner Erleichterung doch endlich mal meinen Arm los. Ich kann mir nicht helfen, aber der Typ ist irgendwie merkwürdig. Definitiv. Sehr, sehr merkwürdig. "Ist mir schon klar." Er gluckst noch immer, bemüht sich aber augenscheinlich sehr, sich wieder zu beruhigen. Allerdings gelingt ihm das mehr schlecht als recht. "So war das auch nicht gemeint", japst er und stützt sich an einem der Kleiderständer ab. Ohne dass ich etwas dagegen tun kann, wandert eine meiner Augenbrauen wie von selbst in die Höhe, was mir gleich wieder einen Kommentar einbringt, auf den ich nur zu gut hätte verzichten können. "Du siehst übrigens echt scharf aus, wenn du so kuckst, weißt du das?", werde ich gefragt und der Drang, ihn einfach wieder vor die Tür zu setzen, wird langsam übermächtig. Allerdings scheint er so etwas zu ahnen, denn er rudert gleich wieder zurück, bevor ich meinen Plan in die Tat umsetzen kann. "Und schon wieder sorry. Vergiss einfach, was ich gerade gesagt hab, okay? Ich rede oft, ohne vorher nachzudenken. War aber nicht als Beleidigung gemeint, sondern als Kompliment, ehrlich." An diesem Punkt unterbricht er sich selbst, schüttelt den Kopf und atmet noch mal tief durch, ehe er wieder anfängt zu sprechen. "Was ich eigentlich sagen wollte: Ich suche meine Schwester hier, weil sie hier arbeitet", erklärt er dann und mit einem Mal beginnt mir zu dämmern, warum mir sein Gesicht so verdammt bekannt vorkommt: Lucy hat nämlich ein Bild von sich selbst zusammen mit diesem Typen – ihrem jüngeren Bruder, wie sie mir irgendwann mal erzählt hat – als Hintergrundbild für ihren PC im Büro eingerichtet. Ich habe ihn also tatsächlich schon mal gesehen. Ohne das Gestammel meines Gegenübers weiter zu beachten, drehe ich mich halb um. "Lucy? Besuch für dich!", rufe ich in Richtung des Büros und nur eine halbe Minute später taucht Lucys Gesicht im Türrahmen auf. "Wer ist es de- … Gabriel?", höre ich und im nächsten Moment rauscht sie auch schon an mir vorbei und fällt ihrem Bruder, dessen Namen ich bis gerade eben peinlicherweise vollkommen vergessen hatte, so stürmisch um den Hals, dass dieser beinahe zusammen mit ihr hintenüberkippt. Unwillkürlich muss ich grinsen, weil mich das ein bisschen an Ruben erinnert. "Was machst du denn hier?" Lucy klingt begeistert und verwirrt zugleich und ich kann ihr das nicht mal verdenken. Sie ist normalerweise ein ziemlich organisierter Mensch und spricht eigentlich sämtliche Termine nach Möglichkeit immer schon Wochen im Voraus ab. Überraschungen mag sie ganz und gar nicht. Scheint ganz so, als wäre ihr Bruder da aus anderem Holz geschnitzt. Das sagt jedenfalls das zu gleichen Teilen schelmisch und ertappt wirkende Grinsen, das bei dieser Frage auf Gabriels Lippen erscheint. "Na ja, ich bin seit vorgestern wieder raus und bei den beiden Alten hab ich's einfach nicht länger als bis heute Morgen ausgehalten, also hab ich mir gedacht, ich komm zu dir und fall dir einfach eine Weile auf den Wecker, Schwesterchen", teilt er ihr mit und für mich ist das das Stichwort, mich zu verkrümeln und die beiden alleine zu lassen. Was auch immer Lucy und ihr Bruder zu besprechen haben, ist ganz sicher privat und nicht wirklich für meine Ohren bestimmt, also mache ich mich wieder an meine Arbeit. "Lass uns nach hinten ins Büro gehen. Simon, du kommst doch alleine klar, oder?", adressiert Lucy in meine Richtung und ich nicke ihr kurz zu. Ich schmeiße den Laden oft genug mehr oder weniger alleine, also werde ich jetzt damit auch ganz bestimmt keine Probleme haben. Das sage ich allerdings nicht laut. Lucy ist normalerweise nicht so überdreht, aber jetzt gerade hat sie ja wohl einen mehr als triftigen Grund dafür. Und im Moment scheint sie keinen Kopf für den Laden oder mich zu haben. Aber gut, das verstehe ich. Ich selbst lasse schließlich auch alles stehen und liegen, wenn es um meinen kleinen Bruder geht. Ich glaube, das ist eine Krankheit, die so ziemlich alle älteren Geschwister gemeinsam haben. Damit die beiden in Ruhe reden können, schalte ich mir vorne im Laden die Anlage an. Mit Musik lässt es sich doch wesentlich leichter räumen. Und außerdem vergeht so die Zeit auch schneller. Ich bin so ins Umsortieren vertieft, dass mich erst eine Stimme, die ich ziemlich gut kenne, wieder in die Realität zurückholt. "Hey, Simon", werde ich von Morgaine begrüßt und als ich mich zu ihr umdrehe, stelle ich fest, dass sie nicht alleine ist. "Hi, ihr Zwei", grüße ich meinerseits in die Runde und Melina, Morgaines kleine Schwester, winkt mir kurz zu, ehe sie voller Elan in Richtung der Regale mit den Schuhen entschwindet. "Na, Shopping?", erkundige ich mich und Morgaine verdreht seufzend die Augen. "Auch, ja. Eigentlich bin ich ja zumindest zur Hälfte beruflich hier. Lucy hat mich herbestellt wegen der Fotos für die neue Sommerkollektion", antwortet sie und ich runzele nachdenklich die Stirn. "War das schon diese Woche?" Das hatte ich ja gar nicht mehr auf dem Schirm. Aber gut, in letzter Zeit vergesse oder verdränge ich einige Dinge eh meistens so lange, bis ich sie wirklich nicht mehr länger vor mir herschieben kann. "Am Mittwoch, ja", erinnert Morgaine mich und jetzt fällt es mir auch wieder ein. Das Shooting für die neuen Klamotten ist immerhin schon seit gut drei Wochen geplant, wenn nicht sogar noch länger. Das mag vielleicht etwas früh erscheinen, wo der Winter doch noch nicht mal richtig vorbei ist, sondern die Stadt noch richtig fest im Griff hat, aber so ist Lucy nun mal. Sie hat alles lieber zu früh erledigt als zu spät. "Allerdings hab ich vorhin zu Hause den Fehler gemacht zu erwähnen, dass ich heute noch mal wegen der letzten Vorbesprechungen herkommen wollte, und da hat meine süße, herzallerliebste Schwester mich so lange genervt, bis ich mich hab breitschlagen lassen, sie mitzunehmen und hier abzusetzen." Morgaine zieht eine Grimasse und ich beiße mir auf die Zunge, um sie jetzt nicht auszulachen. Dafür würde sie mir nämlich unter Garantie den Hals umdrehen. "Kleine Geschwister sind schon was Feines", kann ich mir dennoch nicht verkneifen, meine beste Freundin ein wenig zu necken. Wobei mir direkt wieder was einfällt: "Aber mit Lucy zu quatschen könnte im Moment schwierig werden. Ihr Bruder ist vor ner Weile hier aufgetaucht und die Zwei hocken seitdem hinten im Büro. Haben sich wohl viel zu erzählen." Das vermute ich jedenfalls mal, denn inzwischen ist es, wie mir ein kurzer Blick auf die Uhr zeigt, schon fast halb drei. Eigentlich langsam Zeit für meine Mittagspause, aber ich will Lucy jetzt nicht unbedingt stören. "Na klasse. Ausgerechnet heute, wo mir das so gar nicht in den Kram passt." Morgaine klingt alles andere als begeistert, aber das kann ich ihr nicht verdenken. Sie hat schließlich auch noch andere Shootings, nicht nur die für die Homepage des Ladens. "Wenn sie jetzt keine Zeit hat, ist das schlecht. Ich muss nämlich gleich weiter. Ich hab heute noch einen Haufen anderer Termine." Nachdenklich zupft Morgaine an einer ihrer blau gefärbten Strähnen herum. "Aber okay, dann muss ich eben nachher meinen Ersatz vorbeischicken. Der wird eh derjenige sein, der die Bilder macht. Ich kann am Mittwoch nicht. Das wollte ich Lucy eigentlich heute persönlich sagen. Aber das kannst du ihr ja auch ausrichten. Sie soll mich einfach nachher anrufen. Ich werde dann gleich meinen Ersatzmann schon mal vorab informieren und den Rest kann sie dann nachher oder so in aller Ruhe mit ihm bequatschen." "Alles klar. Deine Nummer hat sie ja. Und die vom Studio auch. Ich sag ihr dann nachher Bescheid, wenn ich sie sehe", erkläre ich mich einverstanden, meiner besten Freundin auszuhelfen. Dabei kann ich nicht anders als mich zu fragen, wer genau wohl Morgaines Ersatz sein soll. Sie hat mir zwar schon ein paar Mal von ihrem neuen Kollegen erzählt, mit dem sie seit ein paar Monaten zusammenarbeitet, aber persönlich kennen gelernt habe ich ihn bis jetzt noch nicht. Und wenn ich mich recht erinnere, dann ist bisher auch noch nie wirklich ein Name gefallen. Aber, denke ich bei mir, ich werde ja spätestens am Mittwoch wohl doch endlich mal erfahren, wie er denn nun heißt. "Das wär super." Morgaine schenkt mir ein Lächeln und drückt mich einmal, ehe sie sich an die Verfolgung ihrer Schwester macht. Die Zwei besprechen sich kurz und als Melina nickt, drückt Morgaine auch sie, bevor sie sich ausgesprochen knapp verabschiedet und dann auch schon aus dem Laden verschwindet. Scheinbar hat sie heute einen wirklich vollen Terminkalender. Sich so abzuhetzen sieht ihr nämlich eigentlich gar nicht ähnlich. Mit einem innerlichen Achselzucken überlasse ich Morgaine ihrem Job und kümmere mich lieber wieder um meinen eigenen. Melina ist zwar auch praktisch Stammkundin durch ihre Schwester, aber das bedeutet nicht, dass sie sich nicht trotzdem ganz gerne beraten lässt. Und dafür bin ich schließlich da, also nehme ich genau das auch in Angriff. Knappe zwanzig Minuten später stelle ich für mich selbst wieder einmal fest, dass ich unglaublich froh darüber bin, einen kleinen Bruder zu haben und keine Schwester. Eine Schwester wäre mir definitiv viel zu anstrengend. Und dabei ist Melina eigentlich noch eine von der pflegeleichteren Sorte. Sarah beispielsweise, Flos Schwester, ist beim Shoppen wesentlich pingeliger und anstrengender als Melina. Trotzdem würde ich keine von beiden freiwillig zum Shopping begleiten. Mit Morgaine ist das kein Problem – sie ist diesbezüglich zum Glück absolut unkompliziert –, aber sonst brauche ich wirklich keine Shoppingtouren mit irgendwelchen weiblichen Wesen. Danke, aber danke, nein. Aber zum Glück gibt es ja auch niemanden, der mich dazu zwingen kann. Ein paar Minuten, nachdem Melina bestens gelaunt und mit zwei Tüten bepackt, dafür allerdings im Portemonnaie etwas erleichtert, den Laden wieder verlassen hat, tauchen Lucy und ihr Bruder auch endlich wieder aus dem Büro auf. Lucy klebt förmlich an Gabriel, was diesem ein wenig unangenehm zu sein scheint – allerdings erst, als er bemerkt, dass ich immer noch hier vorne bin und sie beide so sehe. Ich kümmere mich jedoch nicht weiter darum. Klettende Geschwister bin ich immerhin gewöhnt. Mein Bruder ist schließlich selbst eine ziemliche Klette. Ich hätte Lucy zwar nicht so eingeschätzt, aber das zeigt nur, dass man jemanden nie so gut kennt, wie man gedacht hat. "Morgaine war vorhin hier. Ich soll dir ausrichten, dass sie am Mittwoch nicht selbst die Fotos machen kann. Sie schickt einen Ersatz. Du sollst sie am besten nachher noch mal anrufen, damit ihr das besprechen könnt", teile ich meiner Chefin mit, worum Morgaine mich gebeten hat, und mache mich nach einem knappen Nicken Lucys, das mir zeigt, dass sie mich verstanden hat und sich darum kümmern wird, wieder an die Arbeit. Dabei kann ich das Gefühl, beobachtet zu werden, nicht abschütteln. Ich habe so eine Vermutung, wer mich da beobachtet, also ignoriere ich das Gefühl, so gut es geht, auch wenn es mich zunehmend irritiert. Zwanzig Minuten lang gebe ich mir wirklich die allergrößte Mühe, mich nur auf meine Arbeit zu konzentrieren und auf sonst nichts. Aber dann geht es einfach nicht mehr. "Könntest du vielleicht irgendwo anders hinstarren? Das ist unglaublich nervtötend", wende ich mich an Lucys Bruder, der bemüht lässig an einem der Regale lehnt und sogar tatsächlich den Anstand besitzt, ertappt dreinzuschauen. Allerdings nur für einen Moment, dann legt sich gleich wieder ein Grinsen auf seine Lippen. "Du bist aber nun mal bei Weitem das Interessanteste, das es hier zu sehen gibt", kontert er frech und ich bin für einen Moment tatsächlich sprachlos. Derart offensichtlich bin ich schon ziemlich lange nicht mehr angebaggert worden. Nur zu gerne würde ich den Störenfried jetzt einfach an die Luft setzen – draußen ist es ziemlich eisig, das sollte ihn eigentlich abkühlen –, aber er ist immerhin der Bruder meiner Chefin, also sollte ich mir das wohl besser verkneifen. Immerhin scheint Lucy ja doch sehr an ihm zu hängen. Sie würde mir so eine Aktion bestimmt verdammt übel nehmen. Aus diesem Grund reiße ich mich zusammen, sage nichts und arbeite einfach nur schweigend weiter – jedenfalls so lange, bis Lucy wieder auftaucht und mich endlich in die Pause scheucht. So gut der Montag auch angefangen hat, ich bin doch froh, als ich endlich Feierabend habe. Gabriel ist eindeutig eine unglaubliche Nervensäge. In den letzten knapp zwei Stunden vor Feierabend konnte ich kaum einen Schritt machen, ohne dass er mir hinterhergelaufen ist, um mich auszufragen. Oh, er hat natürlich die ganze Zeit über so getan, als würde er sich für die Klamotten im Laden interessieren, aber zwischendurch kamen immer wieder Fragen, für die ich ihm am liebsten meine Meinung gesagt hätte, einfach weil sie viel zu persönlich waren. Allerdings habe ich mir das wohlweislich verkniffen. Nur hatten leider weder genervtes Schweigen meinerseits noch böse Blicke irgendeinen Effekt. Im Gegenteil, ihm schien das Ganze auch noch Spaß zu machen. Reichlich genervt vom Ende meines Arbeitstages schlage ich meine Autotür wesentlich lauter zu, als es nötig wäre, als ich endlich zu Hause ankomme. Aber sobald ich meine Wohnungstür aufgeschlossen, mich meines Mantels entledigt habe und Murray mir um die Beine streicht, um meine Aufmerksamkeit auf sein halb verhungertes Selbst zu lenken, schiebe ich sämtliche Gedanken an Gabriel beiseite. So schnell, denke ich bei mir, während ich meinen armen Kater erst mal vor dem Hungertod bewahre, werde ich ihm ja wohl – hoffentlich – nicht noch mal über den Weg laufen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)