Highway to hell von Karma (Simon x ...) ================================================================================ Kapitel 1: Heaven's Door ------------------------ "Hey, mein Großer, ich bin wieder da." Ich ziehe meinen Mantel aus, hänge ihn an die Garderobe im Flur und muss unwillkürlich schmunzeln, als es hinter mir miaut. Im Spiegel der Garderobe kann ich sehen, wie Murray mich erst ausgiebig aus seinen gelben Augen mustert, ehe er sich mitten in den Weg setzt, so dass ich ihn, um nicht über ihn zu stolpern, gleich hochheben und nach drüben tragen muss. Genau darauf legt er es an und ich als braver Sklave meines persönlichen Stubentigers werde natürlich auch genau das tun, was er von mir erwartet. Mein Kater hat mich wirklich gut erzogen mittlerweile. Mich trifft ein Blick, der deutlicher als alle Worte der Welt ›Brav so, mein Dosenöffner!‹ sagt, dann lässt Murray gnädig zu, dass ich ihn tatsächlich hochhebe und ins Wohnzimmer schleppe. Dort setze ich ihn auf meiner Couch ab, wo er jedoch selbstverständlich nicht bleibt. Stattdessen stolziert er mit hoch erhobenem Schwanz und einem verächtlichen Blick über die Schulter hinüber zu seinem persönlichen Lieblingssessel und rollt sich dort auf dem Kissen zusammen, das ich extra für ihn ausrangiert habe. Früher war es mal eins meiner Kissen, aber Murray hat schon kurz nach seinem Einzug bei mir beschlossen, dass es jetzt ihm gehört. Ich habe nur zwei Wochen gebraucht, um meinen ohnehin sinnlosen Widerstand gegen diese Tatsache aufzugeben. Mit einem weiteren Schmunzeln streiche ich meinem Kater noch einmal über den Kopf, ehe ich erst mal in die Küche gehe, um seinen Napf aufzufüllen. Darauf wartet seine Hoheit schließlich schon, seit ich reingekommen bin. Zuallererst mal bin ich hier nämlich sein Versorger und persönlicher Entertainer und erst weit danach der gerade so eben tolerierte Mitbewohner. Aber so ist das nun mal, wenn man sich eine Katze – oder, wie in meinem Fall, einen Kater – zulegt. Ich wusste vorher, worauf ich mich einlasse, und ich bereue es auch nicht. Wenigstens ist meine Wohnung dadurch nicht mehr so vollkommen leer und still, wenn ich nach Feierabend nach Hause komme. Nachdem ich meiner Pflicht nachgekommen bin und all die deprimierenden Gedanken, die mich schon seit Wochen in ihren Klauen halten, fürs Erste erfolgreich zurückgedrängt habe, mache ich auf dem Rückweg zur Couch noch einen kurzen Abstecher zu meiner Anlage, um mich mit etwas Musik berieseln zu lassen. Murray flitzt unterdessen bereits an mir vorbei in die Küche, als hinge sein Leben davon ab, das Futter möglichst schnell in sich hineinzufressen. Er ist wirklich ganz schön gierig – was man ihm auch ansieht; der Schlankste ist er nicht gerade –, aber das ist mir nur recht. Abgesehen davon, dass er eben auch ein Kater ist, hat er kaum etwas mit Slim gemeinsam. Und dafür bin ich wirklich ungemein dankbar. Ich will nämlich nicht ständig daran erinnert werden, was ich verbockt habe. Und da sind sie schon wieder, die Gedanken, die ich einfach nicht loswerde. "Wunderbar", murmele ich ironisch und schließe die Augen. Ich bin doch wirklich ein Idiot. Es war eigentlich schon von Anfang an klar, dass das mit Jan und mir nicht gut gehen konnte. Ich bin einfach nicht der Richtige für ihn und genau das hätte ich schon sehr viel eher sehen müssen. Dann hätte ich ihm eine Menge Herzschmerz ersparen können. Aber Wünsche, Hoffnungen und Träume können einen manchmal eben blind machen für die Realität. Und die Realität ist nun mal, dass Jan ohne mich sehr viel besser dran ist – auch wenn er das, meinem kleinen Bruder zufolge, wohl immer noch anders sieht. ›I thought the future held a perfect place for us. That together we would learn to be the best that we could be. In my naivety I ran, I fell and lost my way. Somehow I always end up falling over me …‹ Meine Anlage spielt eins der Lieder meiner Lieblingsband, die ich gerade so gar nicht gebrauchen kann – Holding on, um genau zu sein – und ich lasse meinen Kopf seufzend auf die Rückenlehne der Couch sinken, ohne meine Augen wieder zu öffnen. Ich hatte wirklich, wirklich gehofft, dass es dieses Mal halten könnte, aber ich hätte es besser wissen müssen. Scheinbar, sinniere ich resigniert, bin ich einfach nicht dazu geschaffen, in einer festen Beziehung zu leben. Ohne hinzusehen taste ich nach der Fernbedienung meiner Anlage und spule den Song vor, aber das lässt die Gedanken unglücklicherweise auch nicht wieder verschwinden. Ich hätte Jan nicht so weh tun dürfen. Ich hätte mich gleich von ihm fernhalten sollen, als ich gemerkt habe, was mit ihm los war. Aber ich war egoistisch. Ich hätte es besser wissen müssen, aber ich wollte es einfach nicht sehen. Ich wollte auch endlich mal wieder glücklich sein. Aber es scheint, als wäre das einfach nichts für mich. ›To the songs that sing of glory and the brave: Are we dreaming there are better days to come? When will the banners and the victory parades celebrate the day a better world was won? On the day the storm has just begun, I will still hope there are better days to come …‹ Ich ertappe mich dabei, wie ich den Refrain von ›Sentinel‹ leise mitsinge. Im nächsten Moment bekomme ich einen unsanften Tritt in den Magen und als ich die Augen doch wieder öffne, sehe ich Murray, der halb auf der Couch und halb auf meinem Schoß steht und mich aus seinen gelben Augen seltsam fragend anschaut. Ich schenke ihm ein halbes Lächeln und hebe ihn ganz auf meinen Schoß, um ihn besser hinter den Ohren kraulen zu können. Ich weiß, das mag er besonders gerne. "Dein Dosenöffner ist ein Beziehungsversager, weil er sich grundsätzlich immer in die Falschen verliebt", erzähle ich dem Kater und ernte dafür einen Blick, der mir deutlich klarmacht, dass Murray mich für einen kompletten Vollidioten hält. Allerdings hat das wohl weniger mit meinen Beziehungsproblemen zu tun und mehr damit, dass ich ihn offenbar tatsächlich als Seelenklempner zu missbrauchen gedenke. Nicht, dass meinem Kater meine Gemütslage völlig egal wäre. Das nun wirklich nicht, aber solange ich noch in der Lage bin, ihn regelmäßig zu füttern und ihn zu kraulen, wenn er das will, kann ja alles gar nicht so schlimm sein. Das sagt jedenfalls sein ganzes Verhalten. Ich wünschte nur, ich könnte das auch so sehen. Seufzend lasse ich meinen Blick durch die Wohnung schweifen und als meine Augen an dem Bild hängen bleiben, das Flo mir zu meinem Einzug in meine erste eigene Wohnung geschenkt hat, möchte ein Teil von mir am liebsten laut schreien. ›The hope of my redemption is such that I believe that I am free. To confess would bring me no salvation. I alone hold the power to forgive me. And of my acts, I will admit, I've no pretensions. I've no regrets for all the things that I have done. My faiths, to me, are as foundations. None has the right to judge my soul but me.‹, steht dort in Flos überraschend schön geschwungener Handschrift geschrieben und so sehr mich diese Textzeilen auch sonst aufbauen, wenn ich mich mies fühle, jetzt gerade machen sie alles nur noch viel schlimmer. "Ich muss hier raus", teile ich Murray mit, hebe ihn hektisch von meinem Schoß und verschwinde in meinem Schlafzimmer, um mir ein anderes Hemd rauszusuchen. Dann statte ich meinem Bad noch einen kurzen Besuch ab, entscheide mich in Windeseile für weiße Kontaktlinsen und versuche die Erinnerung an Jans Stimme, die mir sagt, dass er meine grauen Augen mag, aus meinem Kopf zu verbannen. "Kann spät werden", informiere ich meinen Kater noch, dann habe ich mir auch schon meinen Mantel geschnappt und bin raus aus der Wohnung und in meinem Auto. Es kostet mich ganze zwei Sekunden, um mich zu entscheiden, wo ich den Rest des heutigen Abends verbringen werde. Ich weiß, dass Ruben und seine Freunde – zu denen inzwischen ja auch Jan gehört – heute auch feiern gehen wollten, also fällt mein Stammclub definitiv flach. So gerne ich meinen Bruder heute noch sehen würde, das kann ich Jan einfach nicht antun. Aber inzwischen gibt es ja auch eine Ausweichadresse. Ich war zwar noch nie im ›Heaven's Door‹, dem Club von Flos neuem Freund Ray, aber die Adresse kenne ich auswendig. Flo hat mich schließlich schon oft genug zu überreden versucht, doch endlich mal mitzukommen. Und heute Abend, das weiß ich hundertprozentig, wird er auch dort sein. Immerhin veranstaltet Ray, der ein ebenso großer ASP-Fan ist wie Flo, regelmäßig am ersten Freitag im Monat einen ASP-Abend – was für mich einen weiteren Vorteil hat, denn so kann ich mir hundertprozentig sicher sein, dass keiner der Songs, der mir heute endgültig den Rest geben würde, dort gespielt wird. Auf der Fahrt zum ›Heaven's Door‹ lasse ich mein Radio absichtlich aus. Ich fahre auch wesentlich schneller als erlaubt, aber zu so später Stunde – es ist inzwischen schon Viertel vor zwölf – ist kaum noch jemand unterwegs, also ist das kein Problem. Ich brauche nicht mal zehn Minuten, dann habe ich den Club erreicht, parke meinen Wagen auf dem recht vollen Parkplatz und betrete schnell den Club, ehe ich es mir doch noch anders überlegen kann. Kaum dass ich den Eingangsbereich hinter mir gelassen habe und mich an den Abstieg in den Keller – dort befinden sich Flo zufolge die Haupträumlichkeiten des Clubs – mache, schallt mir auch schon laut ›How far would you go?‹ von ASP entgegen. Die von der Nebelmaschine produzierten Schwaden machen es schwer, irgendetwas oder irgendjemanden deutlich zu erkennen, aber das macht mir nichts aus. Ich habe schließlich die ganze Nacht Zeit, um Flo und die Anderen zu finden. Da die Tanzfläche bei Flo immer der beste Startpunkt ist, sehe ich mich zuerst dort um, nachdem ich meinen Mantel an der Garderobe abgegeben habe. Allerdings ist Flo offenbar gerade nicht Tanzen, deshalb dehne ich meine Suche erst auf die Bar und schließlich auf die Nischen des Clubs aus. Und in einer dieser Nischen werde ich schlussendlich sogar fündig. Flo hockt gemeinsam mit seiner Schwester und einigen anderen Leuten, die ich nicht kenne, an einem großen Tisch und ist offenbar mitten in ein Gespräch vertieft. Ich beschließe, noch etwas zu warten, bis ich mich bemerkbar mache, aber Sarah kommt mir zuvor. Sie entdeckt mich als Erste und winkt mich hektisch zu ihnen rüber. "Was treibt dich denn her, Simon?", erkundigt sie sich erstaunt, sobald ich mich zum Tisch durchgekämpft und mich zu ihr nach unten gebeugt habe, um sie wie üblich kurz zu drücken. "Langeweile", beantworte ich ihre Frage und ernte dafür einen verwirrten Blick, aber ehe sie mich noch weiter ausquetschen kann, hievt Flo sich aus seinem Stuhl hoch und umarmt mich zur Begrüßung, wie er es immer tut. "Schön, dass du endlich doch mal hergefunden hast", brüllt er mir schon fast ins Ohr und ich halte ihn vielleicht eine Sekunde länger fest als nötig, ehe ich ihn wieder loslasse. "Ich musste mir doch mal anschauen, wo du dir so die Nächte um die Ohren schlägst." Flo lacht über meine Erklärung, die der Wahrheit nicht mal annähernd nahe kommt, und ich fühle mich gleich in meiner Entscheidung bestärkt. Es war richtig, heute Abend herzukommen. Wirklich verschwunden sind die ganzen deprimierenden Gedanken zwar noch nicht, aber ein bisschen besser geht es mir trotzdem schon. Irgendwie hat Flo immer diese Wirkung auf mich. Genau deshalb ringe ich mir auch ein Lächeln ab, als er sich meinen Arm schnappt und mich dann auf einen Stuhl drückt, den er blitzschnell von einem der Nachbartische organisiert hat. Ich bin einigermaßen froh, nicht unbedingt neben Sarah gelandet zu sein. Ich mag sie wirklich, aber heute Abend kann ich keine inquisitorischen Fragen von der Art gebrauchen, wie sie sie besonders gerne stellt. Heute brauche ich einfach nur gute Musik und eine Menge Ablenkung in Form meines besten Freundes, der bereits schwer damit beschäftigt ist, mich bei den drei Leuten am Tisch, die ich noch nicht kenne, vorzustellen. "Simon, das sind Lena, Thore und Dirk", beendet er seine Vorstellung schließlich und ich nicke den Dreien knapp zu, sage aber nichts. Was sollte ich auch sagen? Ich bin nun mal nicht der Kommunikativste. Und an einem Abend wie heute bin ich sogar noch weniger gesprächig als sonst. Das scheint jedoch niemanden groß zu stören. Wie üblich bestreitet Flo den Hauptteil der Unterhaltung, an der sich allerdings auch Sarah, Lena und Dirk – die offenbar ein Paar sind – beteiligen. Einzig Thore bleibt genauso schweigsam wie ich. Ich merke, dass er mich mehrmals von der Seite mustert, aber ich erwidere seine Blicke nicht und nehme erst wieder aktiv am Geschehen um mich herum teil, als Flo mich antippt und mir mit einem Nicken bedeutet, dass ich ihn zur Bar begleiten soll, um Getränke für alle zu besorgen. "Braucht ihr Hilfe?", erkundigt Dirk sich höflich, aber Flo schüttelt den Kopf und setzt sich in Bewegung. Ich folge ihm, aber er schlägt nicht den direkten Weg zur Bar ein, sondern steuert stattdessen eine kleine, sehr versteckt gelegene Ecke an, die ich bis jetzt noch gar nicht gesehen hatte. Die Ecke ist abgesperrt, aber Flo hakt die Kette kurz aus, winkt mich durch und hängt die Kette dann hinter uns wieder ein. Und hier, wo die Musik nicht mehr ganz so laut ist, sieht Flo mich mit schiefgelegtem Kopf fragend an. "Was ist los, Simon? Warum bist du heute wirklich hier?", erkundigt er sich sanft und ich lehne mich aufseufzend an die kalte Steinwand in meinem Rücken. "Kannst du dir das nicht denken?", kontere ich mit einer Gegenfrage und Flo nickt, als hätte er nichts anderes erwartet. Hat er wahrscheinlich auch nicht. Er ist und bleibt nun mal der Mensch, der mich am allerbesten kennt. Er weiß ganz genau, wie ich ticke und wann es mir nicht so gut geht, wie ich den Rest der Welt glauben machen will. Er hat mich schon immer durchschaut, als wäre ich aus Glas. Schon als wir uns kennen gelernt haben. Ehe ich noch mehr sagen kann, tut Flo genau das, was ich schon im Voraus wusste, was er tun würde: Er tritt einen halben Schritt näher, zieht mich zu sich und nimmt mich einfach in den Arm. "Genau deshalb bin ich heute Abend hergekommen", liegt mir auf der Zunge, aber ich spreche diese Worte nicht laut aus. Ich weiß, dass Flo auch so ganz genau weiß, was ich gerade denke. "Du hättest auch eher zu mir kommen können, weißt du?", murmelt er nach einer gefühlten Ewigkeit, in der er mich einfach nur festhält und ich diese Nähe einfach nur genieße. "Ja, ich weiß", nuschele ich leise zurück, lehne meine Stirn gegen seine Schulter und lasse zu, dass er mir sanft und tröstend über den Rücken streichelt. Das, ganz genau das habe ich heute gebraucht: Jemanden, der mich einfach nur in den Arm nimmt, ohne großes Aufhebens deswegen zu machen. Ray ist ein verdammter Glückspilz. Ich hoffe nur, er weiß das auch. Aber so, wie er sich Flo gegenüber verhält, ist ihm wohl durchaus bewusst, was für ein Glück er hat. Wie lange wir letztendlich so stehen bleiben, kann ich nicht genau sagen. Wir reden nicht mehr, aber das ist auch nicht nötig. Worte sind jetzt gerade überflüssig. Erst als wir uns doch endlich voneinander lösen, ringe ich mir ein schwaches Lächeln und ein "Danke" ab, das Flo mir wohl mehr von den Lippen abliest als dass er es wirklich hört. Dafür ist meine Stimme eindeutig zu leise. "Schon okay", wiegelt er ab und erwidert mein Lächeln eine Spur herzlicher als ich es gerade kann. "Dafür sind Freunde doch da", schiebt er noch hinterher und mir rutschen doch noch die Worte heraus, die ich eigentlich gar nicht mehr sagen wollte, einfach weil sie nicht mehr angebracht sind: "Ich liebe dich, Flo", höre ich mich selbst sagen und möchte mich am liebsten gleich dafür ohrfeigen. Trotzdem kann ich nicht aufhören. Jetzt ist es sowieso zu spät, da kann ich ihm auch gleich alles sagen. "Das ist mein Ernst. Und das wird sich auch nie ändern." Flos erste Reaktion auf mein Geständnis ist ein mehr als irritierter Blick, aber dann lächelt er wieder so strahlend, wie ich das von ihm gewöhnt bin. "Ich weiß", sagt er, als wären meine Worte das Normalste der Welt. Als hätte sein bester Freund, der zeitgleich auch sein Exfreund ist, ihm nicht gerade gestanden, dass er ihn noch immer liebt. Gut, meine Liebe zu Flo hat sich verändert, seit wir nicht mehr zusammen sind, aber sie ist immer noch da. Und ganz vergehen wird sie nie, das weiß ich genau. Er wird immer meine erste Liebe und einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben bleiben. "Und ich liebe dich auch, Simon." Mir wird warm, als ich diese Erwiderung höre, aber ich komme nicht dazu, dieses Gefühl richtig zu genießen. "Ist ja ausgesprochen interessant", kommt es von hinter Flo und als ich mich nach dem Sprecher umblicke, erkenne ich Thore, der vorhin noch mit uns am Tisch gesessen hat. Offenbar hat ihm unser Gang zur Bar zu lange gedauert und er hat nach uns gesucht. Darauf, dass er uns genau in diesem ausgesprochen ungünstigen Augenblick gefunden hat, hätte ich allerdings getrost verzichten können. "Weiß Ray davon?" Thores Stimme, als er sich an Flo wendet, ist schneidend und eisig, aber Flo stört sich nicht daran. Stattdessen nickt er einfach nur. "Ja, klar. Simon und er kennen sich. Und Ray weiß ganz genau über Simon und mich Bescheid", antwortet er und ich winde mich innerlich. So, wie er das sagt, klingt es, als hätten wir eine Affäre miteinander und nicht als wären wir inzwischen einfach nur noch befreundet. "Du kannst ihn ja fragen, wenn du mir nicht glaubst." "Das werde ich auch tun." Damit wirft Thore Flo und mir noch einen vernichtenden Blick zu, ehe er sich auf dem Absatz umdreht und in Richtung der Bar davonstiefelt. Ich habe das Bedürfnis, auf der Stelle im Erdboden zu versinken, aber ich unterdrücke den Fluchtimpuls und schließe mich stattdessen Flo an, der sich mit der Bemerkung "Wir sollten mal langsam die Drinks holen. Die Anderen sind sicher schon halb verdurstet" auch auf den Weg zur Bar macht. Wie ich vorhin bei meinem ersten Rundblick schon festgestellt habe, ist Ray noch immer hinter der Bar. Als Flo und ich dort ankommen, hängt er gerade an einem Ende halb über der Theke und ich brauche keinen zweiten Blick, um zu wissen, dass Thore seine Drohung wahrgemacht hat und Ray jetzt wirklich fragt, was es mit Flo und mir auf sich hat. Ich bin zu weit weg, um die Unterhaltung mitanzuhören oder auch nur Rays Reaktion wirklich sehen zu können, aber trotzdem hoffe ich, dass meine unbedachten Worte keine Konsequenzen für Flos Beziehung haben. Immerhin ist Ray, wie ich weiß, ziemlich eifersüchtig. "Vielleicht hätte ich heute doch nicht herkommen sollen", adressiere ich in Flos Richtung und fange mir dafür einen Rippenstoß und einen vorwurfsvollen Blick ein. "Doch, hättest du. Du hättest schon viel eher zu mir kommen sollen, du Trottel. Wie oft hab ich dir schon gesagt, dass du nicht immer alles mit dir selbst ausmachen sollst?", gibt er zurück und ich fühle mich erleichtert und schuldig zugleich. Flo ist wirklich der beste Freund, den man haben kann. Während ich noch in meine Gedanken versunken bin, gibt Flo schon mal die Bestellung auf und drückt mir zwei der Gläser in die Hand. Ich tue ihm den Gefallen und balanciere sie zurück in die Nische, in der Sarah und die Anderen sitzen und auf uns warten. Dann überlege ich kurz, ob ich meinen Platz wechseln soll – immerhin hat Flo mich vorhin direkt zwischen sich und diesem Thore platziert –, entscheide mich aber dagegen. Das würde aussehen wie eine Flucht oder gar ein Schuldeingeständnis und diesen Eindruck will ich ganz sicher nicht erwecken. "Wo ist denn Flo?", will Sarah neugierig wissen und als ich in Richtung der Bar nicke, grinst sie wissend. "Die Zwei kleben aneinander wie Fliegenpapier", meint sie und obwohl mir nicht wirklich danach zumute ist, zwinge ich mich trotzdem zu einem kurzen Schmunzeln. Offenbar zufrieden lehnt Sarah sich wieder zu Dirk und Lena und lässt mich mit meinen Gedanken alleine – jedenfalls so lange, bis Flo gemeinsam mit Ray und Thore zum Tisch zurückkommt. Offenbar, stelle ich mit einem Blick fest, hat Ray die Sache zumindest einigermaßen klären können. Allerdings bin ich mir ziemlich sicher, dass dieser Thore noch nicht ganz überzeugt ist. Das sagt seine ganze Mimik deutlicher als Worte. "Wie kommt's, dass es dich tatsächlich mal ins Heaven's Door verschlagen hat, Simon?", erkundigt Ray sich bei mir, sobald er in Hörweite ist. Ich antworte nur mit einem vagen Achselzucken. "Ich hatte keine Lust auf einen weiteren Abend nur in Gesellschaft von Murray. Mir war mehr nach guter Musik, deshalb bin ich hier. Außerdem wollte ich mir auch mal endlich ankucken, wovon Flo immer so schwärmt." Gut, das ist nur die halbe Wahrheit, aber das muss ich ja niemandem erzählen. Ray quittiert meine Worte jedenfalls mit einem Grinsen, aber ehe er noch mehr sagen kann, wird er von Flo auch schon voller Elan in Richtung der Tanzfläche geschleift. Ich kann nicht anders als die beiden zu beobachten, wie sie sich zu den Klängen von ASPs ›Küss mich‹ so eng aneinander schmiegen, dass nicht mal ein Haar noch zwischen sie passen würde. Rays Hände liegen besitzergreifend auf Flos Hüfte, Flo hat seine Arme um Rays Nacken geschlungen und knabbert hingebungsvoll an dessen Hals. Ich kann mir ziemlich gut vorstellen, was er ihm dabei zuraunt. Immerhin kenne ich Flo einerseits ziemlich gut und andererseits war vor knapp zweieinhalb Jahren noch ich derjenige, an dessen Hals Flo geknabbert und dem er beim Tanzen nicht jugendfreie Dinge ins Ohr geflüstert hat. Mitten in meine Erinnerungen hinein tippt mich irgendjemand an und als ich zur Seite blicke, stelle ich fest, dass Thore ein ganzes Stück näher zu mir gerückt und offenbar meinem Blick auf die Tanzfläche gefolgt ist. "Eifersüchtig?", fragt er und in seiner Stimme schwingt ein schwer zu definierender Unterton mit. Ich blicke noch einmal zu Flo und Ray hinüber, dann schaue ich Thore an und schüttele den Kopf. "Nicht eifersüchtig, neidisch", gebe ich zu, was mir einen sehr irritierten Blick einbringt. Thore sagt jedoch nichts weiter dazu und auch ich verspüre nicht wirklich den Drang nach Unterhaltung. So gut es auch vorhin getan hat, einfach mal in den Arm genommen zu werden, so sehr bereue ich es inzwischen doch, hergekommen zu sein. Aber obwohl das so ist, will ich trotzdem nicht gehen. Nicht jetzt schon. Einerseits ist es noch viel zu früh und andererseits würde das garantiert aussehen, als wäre ich doch eifersüchtig auf Ray – was definitiv nicht der Fall ist. Ja, ich beneide ihn darum, dass er mit Flo so glücklich ist, aber ich bin nicht eifersüchtig. Flo und ich, wir sind Vergangenheit. Sicher, hin und wieder vermisse ich das, was wir hatten, auch heute noch, aber dabei geht es mir nicht so sehr um Flo als vielmehr darum, einfach jemanden zu haben, den ich lieben kann und der mich auch liebt. Jan mag in mich verliebt gewesen sein, aber das mit uns war von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Er ist einfach viel zu zart und zerbrechlich für jemanden wie mich. Er braucht jemanden, der wirklich immer für ihn da ist. Und das kann ich ihm einfach nicht bieten. Um meinen sich schon wieder im Kreis drehenden Gedanken zu entkommen, gebe ich nach, als Sarah sich irgendwann schmollend beschwert, dass sie niemanden zum Tanzen hat, weil ihr Freund heute Abend nicht hier sein kann. Ich stehe auf, halte ihr meine Hand hin und muss tatsächlich ein bisschen schmunzeln, als sie mich irritiert ansieht. Allerdings war sie noch nie jemand, der eine Gelegenheit ungenutzt hätte verstreichen lassen, daher finde ich mich kurz darauf auf der Tanzfläche wieder. Es ist etwas merkwürdig, beim Tanzen eine junge Frau im Arm zu halten und keinen Mann, aber ich beschließe, mich darum heute einfach nicht zu kümmern. Sarah versucht während des Tanzens mehrmals, den eigentlichen Grund meines Hierseins aus mir herauszuquetschen, gibt aber recht bald auf. "Es ist echt fies, ständig mit Kerlen zu tun zu haben, die gegen meinen weiblichen Charme immun sind!", seufzt sie theatralisch und boxt mir gespielt verärgert gegen den Bauch, als ich sie ebenso gespielt erstaunt frage: "Du hast weiblichen Charme?" Sie weiß, ich meine es nicht böse, und tatsächlich hilft diese Neckerei mir, wieder ein bisschen mehr ins Gleichgewicht zu kommen. Sarah ist zwar keine so gute Hilfe wie ihr Bruder, aber trotzdem bin ich sehr viel besser gelaunt, als wir gemeinsam zum Tisch zurückkehren und uns wieder auf unsere Plätze fallen lassen. Wieder trifft mich ein merkwürdiger Blick von Thore, aber ich beschließe, mich einfach nicht mehr darum zu kümmern. Er kann von mir halten, was er will, das ist mir vollkommen egal. Als ich endlich doch wieder nach Hause komme, ist es bereits kurz vor fünf Uhr und damit eigentlich schon Morgen. Inzwischen bin ich ziemlich erledigt, aber ich fühle mich trotzdem sehr viel besser als vor dem Besuch im ›Heaven's Door‹. Flo hatte eindeutig Recht, der Club ist toll. Die Nacht hat zwar nicht besonders gut angefangen, aber nachdem ich durch Zufall irgendwann erfahren habe, dass Lena ein ebenso großer VNV Nation-Fan ist wie ich und dass sie nur mit im ›Heaven's Door‹ war, um ihrem Dirk einen Gefallen zu tun, hatte ich eine weitere Gesprächspartnerin neben Flo und Sarah. Alles in allem war es also eine gelungene, wenn auch recht lange und anstrengende Nacht. Gähnend schiebe ich die Wohnungstür hinter mir zu, hänge meinen Mantel auf und ziehe meine Stiefel aus, ehe ich einen kurzen Blick ins Wohnzimmer werfe. Das Licht mache ich nicht an, aber auch im Halbdunkel ist Murrays zusammengerollte Form auf meinem Sessel gut zu erkennen. Beim Klang meiner Schritte hebt er den Kopf und blinzelt mich schläfrig an, macht aber keine Anstalten, aufzustehen und zu mir zu kommen. ›Wenn du was von mir willst, Dosenöffner, dann beweg gefälligst deinen faulen Arsch hierher zu mir. Ich steh für dich jedenfalls ganz bestimmt nicht auf‹, sagt sein Blick und ich muss unwillkürlich grinsen. Wenn man sich mal so richtig abkanzeln lassen will, gibt es doch nichts besseres als eine Katze. "Ich hab dich auch lieb, Murray." Mit diesen Worten betrete ich das Wohnzimmer und lehne mich kurz von hinten über den Sessel, um seiner Hoheit noch eben seine üblichen Streicheleinheiten vor dem Schlafengehen zukommen zu lassen. Murray reibt seinen Kopf an meiner Hand und schnurrt nicht gerade leise, bleibt aber immer noch liegen. Ich störe mich jedoch nicht daran, sondern mache mich auf den Weg erst ins Bad und dann ins Schlafzimmer. Die Tür lasse ich dabei absichtlich offen, denn ich weiß ganz genau, dass Murray spätestens zwei Minuten, nachdem ich mich hingelegt habe, zu mir ins Bett sausen und sich am Kopfende über meinem Kissen ausbreiten wird. Das macht er jede Nacht so. Und wie nicht anders erwartet ist die heutige Nacht keine Ausnahme. Ich habe mich kaum in meine Decke eingewickelt, da hopst mein Kater auch schon zu mir aufs Bett, trampelt unsanft über meine Beine und meinen Bauch hinweg und reibt noch kurz seinen Kopf an meiner Wange, ehe er sich auf seinen Lieblingsschlafplatz zurückzieht. Und sobald er sich dort eingerollt hat und genüsslich zu schnurren beginnt, schließe ich ebenfalls die Augen, seufze abgrundtief und beschließe, mir ein Beispiel an Murray zu nehmen und endlich wieder an etwas anderes zu denken als nur an die Dinge, die in letzter Zeit so schief gelaufen sind. Daran kann ich sowieso nichts mehr ändern. Höchste Zeit, endlich damit aufzuhören, es zu versuchen. Kapitel 2: Krankenbesuch ------------------------ Am Samstag werde ich schon um halb elf nach viel zu wenig Schlaf durch hektisches Klingeln aus meinen wirren Träumen gerissen. Schlaftrunken setze ich mich auf, streiche mir die Haare aus dem Gesicht und rappele mich dann seufzend aus dem Bett. Ich kann mir nur zu gut denken, wer da gerade meine Klingel malträtiert. Und auch wenn ich mehr als unausgeschlafen bin, werde ich meinen kleinen Bruder ganz sicher nicht da draußen in der Januarkälte stehen lassen, nur weil ich in der letzten Nacht zu lange feiern war. Mir mühsam ein Gähnen verkneifend schlurfe ich also zur Tür, dicht gefolgt von Murray, der eine Chance auf Fressen wittert. Ich bin wach, also steht für ihn natürlich fest, dass es jetzt Zeit dafür ist. Bei ihm ist es eigentlich immer Zeit zum Fressen, wenn man es genau betrachtet. Ich ignoriere das energisch-bettelnde Miauen jedoch vorerst und betätige erst mal den Türöffner, um dem Dauerklingeln ein Ende zu bereiten. Und während mein Bruder die Treppen nach oben poltert, tapere ich in die Küche, um mir einen Kaffee zu kochen und meine kleine Fressmaschine zu versorgen. Sonst werde ich zu Tode genervt und dafür bin ich heute Morgen eindeutig noch viel zu müde. Während ich mich der Verköstigung der wilden Bestie widme, stürmt Ruben in die Wohnung und reißt mich fast um bei dem Versuch, mich zur Begrüßung zu umarmen, ohne dabei über den natürlich mitten im Weg herumtänzelnden Murray zu stolpern. "Hi, Simon!", werde ich enthusiastisch begrüßt und ringe mir ein Lächeln ab, während ich mich gleichzeitig insgeheim frage, wie man so früh morgens schon so gut gelaunt sein kann. Man könnte beinahe glauben, bei der Vaterschaft gab es eine Verwechslung und Jürgen ist nicht mein, sondern Rubens Vater. Die beiden haben wesentlich mehr gemeinsam als Jürgen und ich. Oder bilde ich mir das bloß ein? Unwillig schüttele ich diese Gedanken ab und verbanne sie in die hinterste Ecke meines Gehirns. "Dir auch einen guten Morgen, Ruben", grüße ich stattdessen zurück und werfe über den wuscheligen Schopf meines kleinen Bruders hinweg einen Blick in Richtung der Küchentür. "Dir auch, Chris", schiebe ich noch hinterher und Chris nickt mir mit einem zaghaften Lächeln zu. "Haben wir dich geweckt?", erkundigt er sich besorgt, aber ich winke ab. "Nicht schlimm. Murray hätte mich sowieso spätestens um elf aus dem Bett geworfen." Das tut er an meinen freien Tagen schließlich immer. Ausschlafen ist nicht mehr drin, seit er bei mir lebt. Aber es gibt wesentlich Schlimmeres als das. "Dann ist ja gut." Ruben strahlt mich von unten herauf an, ohne mich loszulassen. Ich drücke ihn noch ein bisschen fester an mich und er kuschelt sich auch noch etwas mehr an, zieht dann jedoch einen Flunsch. "Ich hatte eigentlich gehofft, dass du gestern auch feiern kommst", nuschelt er und ich seufze leise. "War ich auch", gebe ich zu. "Aber ich war im ›Heaven's Door‹. Flo kaut mir schon seit Monaten deswegen ein Ohr ab und gestern Abend bin ich dann einfach mal hingefahren, um mir den Club anzusehen." Warum ich das getan habe, behalte ich für mich. Das ist eine Sache, über die ich mit Ruben einfach nicht reden möchte. "Schade. Ich hab dich nämlich echt vermisst." Diese Worte verschaffen mir ein warmes Gefühl und ein schlechtes Gewissen zugleich – eine Mischung, die ich nur zu gut kenne. Egal, wie viel Zeit ich mit meinem Bruder verbringe, ich habe irgendwie immer das Gefühl, es ist einfach nicht genug. Die drei Jahre, in denen wir uns nur heimlich sehen konnten, fehlen mir immer noch. Gerade deswegen bin ich froh, dass wir uns jetzt treffen können, wann immer wir wollen, weil es niemanden mehr gibt, der uns das verbietet. Ich bin unglaublich stolz auf Ruben, weil er sich so durchgesetzt hat. Auf der anderen Seite gibt es allerdings auch einen Teil von mir, der wünschte, dass er das nicht getan hätte. Ruben hat eine glückliche, intakte Familie verdient. Aber wenn ich bedenke, dass er jetzt bei Andi, Babsi und Chris lebt, dann hat er diese Familie ja eigentlich. Auch wenn die Drei nicht seine leibliche Familie sind, für ihn sind sie genauso wichtig wie es für mich Tante Gloria ist – oder Flo und seine Familie, bei denen ich schon früher immer unterkriechen konnte und immer noch kann. Ich bin froh, dass Ruben Chris und seine Eltern hat. "Ich hab dich auch vermisst", gestehe ich meinem Bruder ehrlich und wieder beginnt Ruben zu strahlen. Das hält jedoch nicht lange vor. Stattdessen lässt er ganz plötzlich von mir ab, schnappt sich Murray und schleppt ihn kommentarlos ins Wohnzimmer, was mein Kater einigermaßen irritiert über sich ergehen lässt. So etwas ist er von Ruben nicht gewöhnt, aber die Aussicht auf mögliche Streicheleinheiten in seinem Lieblingssessel lassen ihn sein würdeloses Gebaumel in Rubens Armen verzeihen. Murray ist ein Opportunist – und viel zu faul, um wirklich wegen irgendetwas längerfristig eingeschnappt oder gar nachtragend zu sein. Ich blicke meinem Bruder verwirrt hinterher, aber ehe ich ihm folgen und ihn fragen kann, was mit ihm los ist – so ist er sonst nämlich eigentlich nie –, zieht Chris meine Aufmerksamkeit durch leises Räuspern auf sich. "Uli hat heute morgen schon ziemlich früh bei uns angerufen", erzählt er mir, ohne mich dabei direkt anzusehen. Es ist ihm sichtlich unangenehm, diesen Namen in meiner Gegenwart zu erwähnen, aber er räuspert sich erneut und fährt fort, ehe ich etwas dazu sagen kann. "Er hat mit Papa gesprochen und der hat uns nachher gesagt, um was es ging." Chris schluckt hart und sieht mich dann doch endlich an. "Eure Mutter hatte einen Unfall. Sie wurde von einem Auto angefahren, als sie mit dem Rad unterwegs war. Es ist nichts allzu Schlimmes passiert, aber sie liegt im Krankenhaus und... Uli sagte, sie würde sich sehr über Rubens Besuch freuen." Chris' Blick huscht unruhig durch meine Küche, als würde er nicht wagen, mich jetzt weiterhin anzusehen. Beinahe schafft es das bittere Lächeln, das ich fast schon spüren kann, sich auf meine Lippen zu legen, aber ich unterdrücke es und setze stattdessen einen möglichst neutralen Gesichtsausdruck auf. Auch wenn ich selbst derjenige war, der jeglichen Kontakt zu ihr abgebrochen hat, es tut trotzdem weh, dass meine eigene Mutter nicht einmal in einer solchen Situation auch nur nach mir fragt. Aber das wäre wohl auch zu viel verlangt. Mit einem innerlichen Kopfschütteln verscheuche ich diese Gedankengänge in den hintersten Winkel meines Hirns. Dingen, die man nicht ändern kann, sollte man auch nicht nachtrauern. Das führt ohnehin zu nichts außer schlechter Laune und Kopfschmerzen. Und davon habe ich in letzter Zeit ohnehin viel zu viel. Ehe ich mich doch noch von dieser ganzen Sache herunterziehen lassen kann, räuspert Chris sich ein weiteres Mal. Ich beobachte ihn und kann erkennen, wie er sich fast schon gewaltsam einen Ruck gibt, weiterzureden. "Ruben würde sie gerne sehen, aber er will das nicht zugeben. Wir haben uns deswegen gestritten", das einzugestehen fällt ihm unübersehbar schwer, "weil ich finde, er sollte über seinen Schatten springen und zu ihr fahren. Sie ist immerhin seine Mutter. Er will zwar zu ihr, aber er will dir nicht wehtun und dich nicht enttäuschen – nicht nach allem, was gewesen ist – und deshalb hat er sich entschlossen, sie nicht zu besuchen. Kannst du bitte mit ihm reden und ihm sagen, dass es okay ist, wenn er sie besucht? Auf mich hört er einfach nicht." Ich brauche einen Moment, um das Gehörte zu verarbeiten. Dann jedoch verabschiede ich mich mit einem innerlichen Seufzen von dem Plan, erst mal gemütlich einen Kaffee zu trinken, zu frühstücken und dabei etwas Zeit mit meinem kleinen Bruder und seinem Freund zu verbringen, ehe ich richtig in den Tag starte. "Ich ziehe mich nur eben an, dann können wir los", lasse ich Chris wissen und er lächelt erleichtert. "Danke, Simon", sagt er leise und umarmt mich kurz, aber voller Dankbarkeit, ehe ich die Küche verlassen kann. Ich werfe im Vorbeigehen einen Blick ins Wohnzimmer, wo Ruben eher energisch als so enthusiastisch wie sonst Murray streichelt, und verschwinde dann kurz ins Bad und ins Schlafzimmer, um mich fertig zu machen. Keine zehn Minuten später komme ich angezogen ins Wohnzimmer, wo Chris sich mittlerweile zu Ruben und Murray gesellt hat, und werfe meinem kleinen Bruder einen auffordernden Blick zu. "Kommt ihr? Ich wollte zum Krankenhaus", erkläre ich und Rubens Augen werden groß. Er sieht Chris bemüht böse an, kann aber die Erleichterung und sein schlechtes Gewissen nicht ganz verbergen. Jedenfalls nicht vor mir. Ich bin immerhin sein Bruder. Ich kenne ihn schließlich schon seit seiner Geburt. "Warum...?", setzt Ruben an, aber ich lasse ihn seine Frage gar nicht erst aussprechen. "Ich wollte Tante Gloria sowieso heute noch besuchen." Das hatte ich mir zwar erst für den Nachmittag vorgenommen, aber sie wird sicher nichts dagegen haben, wenn ich schon eher vorbeikomme. Sie freut sich schließlich immer, mich zu sehen. "Kommt, ich nehme euch mit." Damit wende ich mich zum Gehen und verlasse mich darauf, dass Chris und Ruben mir folgen. Tatsächlich habe ich gerade meinen Mantel von der Garderobe genommen, als Ruben auch schon neben mir auftaucht und sich an meinen Arm klammert. "Ist das auch wirklich okay für dich, Simon?", will er wissen und seine großen dunklen Augen bekommen einen feuchten Glanz, als ich ihn, statt zu antworten, einfach nur wie früher kurz an mich drücke und ihm durch die Haare streiche. So sehr ich mich eigentlich dafür schämen sollte, ich kann mir nicht helfen, dass es mir ein gutes Gefühl verschafft, dass mein kleiner Bruder meinetwegen auf etwas verzichten würde, was ihm offensichtlich so sehr am Herzen liegt. Nicht, dass ich das jemals von ihm verlangen würde. Das auf keinen Fall, aber zu wissen, dass er sich diese Entscheidung so schwer gemacht hat, weil er meine Gefühle nicht verletzen will, tut ungemein gut. Deshalb fällt es mir auch nicht schwer zu lächeln, als ich nicke. "Absolut", versichere ich ihm, löse sanft seinen Klammergriff von meinem Arm und schiebe ihn dann raus aus der Wohnung zu Chris, der bereits vorgegangen ist und im Hausflur auf uns beide wartet. Er bleibt noch kurz stehen, bis ich die Tür hinter mir zugezogen habe, dann dreht er sich um und geht schon mal nach unten. Ruben steht noch immer unentschlossen vor meiner Wohnungstür und kaut auf seiner Unterlippe herum, aber als ich ihm einen weiteren sanften Schubs gebe, sprintet er eilig die Treppe runter. Vor der Haustür holt er Chris ein und ich kann sehen, wie er erst leise etwas zu ihm sagt und dann seine Hand in Chris' Jackentasche schmuggelt. Chris streicht ihm lächelnd eine widerspenstige schwarze Strähne aus dem Gesicht und ich möchte mich liebend gerne dafür ohrfeigen, dass ich jetzt sogar meinen kleinen Bruder um sein Glück beneide. Innerlich über mich selbst den Kopf schüttelnd schließe ich zu den beiden auf und lasse zu, dass Ruben sich mit seiner freien Hand wieder an meinen Arm hängt und mich zu meinem Wagen schleift. Er rutscht gemeinsam mit Chris auf die Rückbank und während ich mich in den samstagmorgendlichen Verkehr einfädele, überlege ich, ob Tante Gloria wohl schon weiß, was passiert ist. Falls nicht, sollte ich es ihr wohl erzählen, wenn ich sie gleich besuche. Das bin ich ihr schuldig. Immerhin geht es um ihre Nichte. Die Fahrt zum Krankenhaus vergeht unter Geplapper von der Rückbank und leiser Musik recht schnell. Wir brauchen kaum fünfzehn Minuten, dann kann ich auch schon einen Parkplatz suchen. Zu dritt betreten wir das große Gebäude und während Ruben sich am Empfang erkundigt, in welchem Zimmer unsere Mutter liegt, halte ich mich zusammen mit Chris im Hintergrund. Gemeinsam gehen wir zu den Aufzügen, aber während Ruben und Chris schon im zweiten Stock wieder aussteigen, fahre ich weiter bis zur vierten Etage. Das Zimmer meiner Tante liegt ganz am Ende des Ganges auf der linken Seite. Ich bin einigermaßen überrascht, als ich es nach kurzem Anklopfen betrete und feststelle, dass ich nicht der einzige Besucher bin. "Oh, guten Morgen, Simon", begrüßt Jürgen mich und ich nicke ihm kurz zu, ehe ich ans Bett trete und Tante Gloria einen flüchtigen Kuss auf die Wange drücke. Sie lächelt mich an, aber mir entgehen die dunklen Ringe unter ihren Augen ebenso wenig wie das leichte Zittern ihrer Finger, als sie mir wie früher die langen Haare hinters Ohr streicht. Sie so zu sehen tut mir fast schon körperlich weh, aber ich versuche dennoch zumindest ein bisschen zu lächeln, als ich mich wieder von ihr löse. Ich will einfach nicht, dass sie sich meinetwegen noch mehr Sorgen macht als sie es ohnehin schon tut. Sie hat im Moment genug mit ihren eigenen Problemen zu tun, da muss sie sich nicht auch noch meine aufhalsen. "Ich wusste nicht, dass du so früh kommen wolltest", sagt sie mit erstaunlich kräftig klingender Stimme und ich drücke noch einmal ihre Hand, ehe ich mir den zweiten Besucherstuhl heranziehe und mich darauf setze. "Das hatte ich auch eigentlich gar nicht vor", gebe ich dann zu und überlege einen kurzen Augenblick, ringe mich dann aber doch dazu durch, gleich die Wahrheit zu sagen. Tante Gloria kennt mich zu gut, als dass ich ihr etwas verschweigen könnte. Das habe ich bei ihr noch nie geschafft. "Meine Planung hat sich ziemlich kurzfristig verändert. Ruben und Chris waren da und Chris hat mir erzählt, dass Karin", ich bringe es einfach nicht mehr über mich, meine Mutter ›Mama‹ zu nennen; diese Zeiten sind ein für allemal vorbei, "einen Unfall hatte. Nichts Schlimmes", beschwichtige ich gleich, als sowohl Tante Gloria als auch Jürgen mich voller Besorgnis ansehen. "Ich weiß nicht, was sie genau hat, aber ich habe Ruben und Chris hergefahren, damit sie sie besuchen können." Dass mein Bruder eigentlich meinetwegen darauf verzichten wollte, erzähle ich nicht, aber das muss ich auch gar nicht. Zumindest Tante Gloria wird sich etwas Ähnliches denken können. Das sagt jedenfalls das Lächeln, mit dem sie mich bedenkt. "Du bist ein guter Junge, Simon", versichert sie mir und wie jedes Mal, wenn sie so etwas zu mir sagt, gehen mir diese Worte runter wie Öl. Es tut einfach gut zu wissen, dass es außer meinem kleinen Bruder in meiner Familie wenigstens noch einen Menschen gibt, der mich genauso annimmt und liebt, wie ich nun mal bin. Tante Gloria hat nie versucht, mich zu etwas zu machen, was ich einfach nicht sein kann und auch nicht sein will. Nicht so wie der Mann, den ich beinahe mein ganzes Leben für meinen Vater gehalten habe. Ganz im Gegenteil. Sie hat mich immer darin bestärkt, meinen eigenen Weg zu gehen und nur das zu tun, was ich für richtig halte. Und dafür werde ich ihr immer unendlich dankbar sein. Vielleicht ist das auch der Grund dafür, dass ich etwas tue, was ich eigentlich gar nicht vorhatte. "Fühlst du dich fit genug, um Karin zu besuchen? Dann bringe ich dich hin. Die Zimmernummer weiß ich", biete ich an und überrasche mich selbst damit noch wesentlich mehr als meine Tante und Jürgen. "Du bist wirklich ein lieber Junge." Tante Glorias Augen strahlen, als sie mich ansieht, und ich kann fühlen, wie mir Hitze ins Gesicht kriecht. Solche Dinge bekomme ich nicht allzu oft zu hören. "Dann lasst uns gehen." Jürgen reicht ihr ihren Morgenmantel und sobald sie aus dem Bett aufgestanden ist und ihn übergezogen hat, biete ich ihr meinen Arm an. Mit einem dankbaren Lächeln hakt sie sich bei mir ein und ich registriere verwundert, dass Jürgen uns nicht nur die Tür öffnet, sondern sich auch an Tante Glorias freier Seite hält, ohne etwas zu sagen. Scheinbar will er uns begleiten. Eine seltsame Situation, aber ich zwinge mich, nicht weiter darüber nachzudenken, was jetzt gerade wohl in ihm vorgehen mag. Ich meine, es muss doch merkwürdig für ihn sein, gemeinsam mit seinem leiblichen Sohn, von dem er vor einem knappen halben Jahr noch nicht einmal etwas wusste, seine ehemalige Verlobte zu besuchen, die heute mit seinem älteren Bruder verheiratet ist und von diesem noch einen weiteren Sohn hat, oder? Da Tante Gloria wegen ihrer Schwäche und der Schmerzen, die sie tapfer zu verbergen versucht, nur ziemlich langsam gehen kann, dauert es eine ganze Weile, bis wir den Aufzug erreichen. Gemeinsam fahren wir nach unten in den zweiten Stock. Dort orientiere ich mich kurz und führe meine Tante und meinen Vater – es ist auch für mich immer noch merkwürdig, dieses Wort in Verbindung mit Jürgen zu denken oder gar auszusprechen – dann in Richtung des Zimmers, in dem meine Mutter liegt. Jürgen klopft an die Tür und mir pocht mein Herz unerklärlicherweise bis zum Hals. Heute ist das erste Mal, seit ich von Jürgens Existenz erfahren habe, dass ich meine Mutter wiedersehen werde. Und unsere letzte Begegnung war wirklich alles andere als schön. Ich war wahnsinnig wütend und verletzt und ich habe damals Dinge gesagt, die unter anderen Umständen sicher nie über meine Lippen gekommen wären. Jedenfalls ganz bestimmt nicht so. Aber auch wenn die Art, wie alles geendet hat, mehr als unschön war, ich stehe auch heute noch zu dem, was ich damals getan habe. Dennoch ist es letztendlich einzig und allein Tante Glorias Hand an meinem Arm, die verhindert, dass ich mich doch noch auf dem Absatz umdrehe und fluchtartig den Gang verlasse. Nur das Wissen, dass sie mich als ihre Stütze braucht, lässt mich bleiben, wo ich bin, als die Zimmertür meiner Mutter geöffnet wird. Der Fluchtimpuls ist da und beinahe übermächtig, aber ich kämpfe ihn nieder und begegne Ulrichs fragendem Blick betont kühl und gleichgültig. Von allen Menschen auf der Welt muss er am wenigsten wissen, wie es jetzt gerade wirklich in mir aussieht. Für einen Moment sieht Ulrich mehr als überrascht aus, aber dann hat er sich wieder im Griff. Er presst seine Lippen fest aufeinander, als er mich ansieht, sagt aber nichts. Stattdessen öffnet er einfach nur die Tür so weit, dass wir das Zimmer betreten können, wendet sich jedoch demonstrativ von mir ab, als wäre ich etwas Ekelhaftes, dessen Anblick er einfach nicht länger ertragen kann. Schlagartig weicht die Nervosität, die ich eben noch gespürt habe, kalter Wut. Nur zu gerne würde ich diesem Heuchler an den Kopf werfen, was ich von ihm halte und wohin er sich seine Bigotterie stecken kann, aber Rubens Anwesenheit und Tante Glorias Finger, die sanft über meinen Arm streichen – anscheinend hat sie gemerkt, wie mir zumute ist; ihr liebevoll-besorgter Blick in meine Richtung spricht jedenfalls Bände –, sorgen dafür, dass ich mich zurückhalte und schweige. "Kind, was machst du denn für Sachen?", wendet sich Tante Gloria an meine Mutter, die halb aufrecht in ihrem Bett sitzt und abgesehen von einigen Schrammen und blauen Flecken nur einen Arm in Gips hat. Alles in allem sieht sie zwar etwas mitgenommen aus, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ihre plötzliche Blässe nichts mit ihrem Unfall zu tun hat, sondern wohl eher mit Jürgens und meiner Anwesenheit. Sie sieht jedenfalls aus, als hätte sie einen Geist gesehen. Dabei weiß sie doch schon seit Monaten, dass Jürgen wieder im Lande ist. Woher hätte ich sonst wissen sollen, wie sehr die Menschen, die ich für meine Eltern gehalten habe, mich jahrelang belogen haben? Und dass ich davon weiß, habe ich ihr ja im Dezember unmissverständlich klargemacht. "Es … es ist nicht … so schlimm, wie es aussieht." Die Stimme meiner Mutter zittert und noch immer hängt ihr Blick an meinem Gesicht, aber ich ignoriere sie und helfe stattdessen meiner Tante in den Besucherstuhl, den Chris gleich für sie frei gemacht hat. Und sobald meine Tante sitzt, hängt mein Bruder auch schon wieder an meiner Seite und schlingt die Arme ganz fest um meinen Bauch, ohne sich um den unübersehbar wütenden Blick seines Vaters zu stören. Für mich ist das eine Genugtuung sondergleichen – weshalb ich auch nicht gehe und draußen warte, wie ich es mir eigentlich vorgenommen hatte, sondern im Zimmer bleibe. Schmunzelnd beobachte ich, wie Ruben mit seiner freien Hand nach Chris' Hand tastet, sie festhält und ihn so auch etwas näher zu uns zieht. Ohne Rubens Hand loszulassen stellt Chris sich an meine andere Seite und ich erlaube mir den kleinen, aber dennoch ungemein befriedigenden Triumph, jedem der beiden einen Arm um die Schultern zu legen und dem Mann, der sich jahrelang als mein Vater aufgespielt hat, so zu zeigen, dass er es nicht geschafft hat, Rubens und meinen Willen zu brechen und uns dauerhaft voneinander fernzuhalten. Eine gute Stunde bleibt Tante Gloria bei meiner Mutter im Zimmer und unterhält sich mit ihr. Dann jedoch rappelt sie sich etwas mühsam wieder auf und wird sofort von Jürgen gestützt, weil ich nicht schnell genug zur Stelle bin. Dankbar lächelnd blickt sie ihn an, hakt sich dann aber auch gleich wieder bei mir ein, als ich ihr meinen Arm anbiete. "Besuch mich mal, wenn du dich besser fühlst, Kind", adressiert sie noch an meine Mutter, ehe wir uns wieder auf den Rückweg zu Tante Glorias Zimmer machen. Wir sind jedoch dieses Mal nicht nur zu dritt, sondern zu fünft, denn Ruben und Chris schließen sich uns an. Ruben kichert die ganze Zeit vor sich hin und Chris beobachtet ihn mit einem Schmunzeln dabei. Ich habe eine ungefähre Ahnung, worüber mein Bruder sich so amüsiert, aber auch wenn es mir ähnlich geht, verstecke ich mein Amüsement – noch jedenfalls. "Hast du sein Gesicht gesehen?", spricht Ruben meine Vermutung laut aus und spätestens jetzt kann ich mir ein winziges, aber dennoch eindeutig schadenfrohes Grinsen doch nicht länger verkneifen. "War ja wohl nicht zu übersehen", antworte ich meinem Bruder und dieser beginnt gleich wieder zu kichern, während Jürgen und ich uns damit beschäftigen, Tante Gloria ins Bett zu helfen und es ihr so bequem wie möglich zu machen. "Ihr zwei Frechdachse!", tadelt sie Ruben und mich, sobald sie wieder liegt, aber ihr Gesichtsausdruck zeigt deutlich, dass sie diesen Tadel keinesfalls ernst meint. Sie war früher schon immer der Meinung, dass Ulrichs Strafaktion, Ruben von mir fernzuhalten, nicht richtig war. Oder vielmehr war es in ihren Augen "eine riesengroße Sauerei", wie sie ihm irgendwann mal vorgeworfen hat – und das, obwohl Tante Gloria eigentlich absolut nichts vom Fluchen hält. Das hat zwar leider auch nichts an der Situation geändert, aber es tat damals wie heute gut zu wissen, dass sie hinter mir stand und immer noch steht. "Was denn?", kontert Ruben und zieht eine Grimasse. "Er hat's doch echt nicht besser verdient, der blöde …", fängt er an, aber ehe er noch mehr sagen kann, hält Chris ihm vorsorglich den Mund zu. "Das will hier wirklich niemand hören", sagt er leise und Ruben grummelt zwar kurz, gibt sich aber nach einem Rundblick geschlagen. "Ist ja schon gut", nuschelt er und schnappt sich Chris' Hand. "Aber denken darf ich das doch wohl trotzdem, oder?", will er dann wissen und Chris seufzt zwar, schmunzelt aber dennoch und wuschelt Ruben durch die Haare. Wieder verspüre ich bei dem Anblick einen Stich, aber ich schiebe dieses Gefühl ganz weit in die hinterste Ecke meines Bewusstseins. Es ist doch auch wirklich verdammt peinlich, mit neunzehn neidisch auf den kleinen Bruder zu sein, nur weil der es ganz im Gegensatz zu mir tatsächlich schafft, eine funktionierende Beziehung zu führen. Vielleicht sollte ich mich einfach komplett von der Vorstellung verabschieden, selbst irgendwann auch mal jemanden zu finden. Wäre sicherlich wesentlich weniger frustrierend als meine derzeitige Situation. Um nicht schon wieder in diesen elenden Grübeleien zu versinken, mit denen ich in den letzten Wochen sowieso schon viel zu viel Zeit vergeude, ziehe ich mir wieder einen der Besucherstühle heran und setze mich zu meiner Tante ans Bett, um mich noch ein wenig mit ihr zu unterhalten, während Ruben und Chris sich in meinem Rücken noch etwas weiterkabbeln und schlussendlich doch dazu übergehen, einfach nur händchenhaltend dazustehen und der Inbegriff eines glücklichen Pärchens zu sein. Es ist bereits nach zwei, als das Mittagessen für Tante Gloria gebracht wird. Der Essensgeruch erinnert mich daran, dass ich heute Morgen noch nicht gefrühstückt habe, also verabschiede ich mich von meiner Tante und beschließe, dass ich langsam nach Hause fahren und mir etwas kochen werde. Wie nicht anders erwartet hängt Ruben gleich wieder an mir, sobald ich Anstalten mache zu gehen. Chris folgt mir ebenfalls, aber dass Jürgen sich auch von Tante Gloria verabschiedet, verwundert mich doch etwas. "Wollt ihr noch zum Essen mit zu mir kommen oder soll ich euch absetzen?", wende ich mich an meinen Bruder und seinen Freund und muss unwillkürlich grinsen, als Ruben sich gleich noch etwas fester an mich klettet. "Wir kommen mit!", beschließt er und wirft einen kurzen Blick zu Chris. "Tun wir doch, oder?", will er von ihm wissen und Chris sieht mich fragend an. "Wenn wir nicht stören", murmelt er. Ich schüttele den Kopf. "Dann hätte ich euch nicht angeboten, dass ihr mitkommen könnt." Immerhin bin ich auch ganz froh, wenn ich gleich nicht den halben Tag alleine in meiner Wohnung verbringen muss. Kapitel 3: Jürgen ----------------- Dass Jürgen uns bis nach draußen begleitet hat und immer noch da ist, fällt mir erst auf dem Parkplatz auf. Wir haben meinen Wagen fast erreicht, als er sich räuspert und mich damit halb zu Tode erschreckt. "Ich hatte eigentlich gehofft, dass wir vielleicht mal etwas Zeit zum Reden hätten, Simon", adressiert er in meine Richtung und ich bin zugegebenermaßen etwas überrumpelt davon. Damit hatte ich nicht gerechnet. Worüber mag Jürgen mit mir reden wollen? Bisher hatten wir uns noch nicht allzu viel zu sagen. Wir wissen, dass wir Vater und Sohn sind, aber bis auf ein, zwei oberflächliche Unterhaltungen, wie man sie eben unter flüchtigen Bekannten führt, und unser allererstes Gespräch, bei dem ich von all den Lügen, die meine sogenannten Eltern mir mein ganzes Leben lang erzählt haben, erfahren habe, haben wir noch nie wirklich miteinander geredet. "Aber wenn du heute keine Zeit hast, ist das auch nicht so schlimm. Dann eben ein anderes Mal", reißt Jürgens Stimme mich wieder aus meinen Überlegungen und noch ehe ich mir so genau darüber im Klaren bin, was ich da eigentlich tue, höre ich mich auch schon selbst sprechen. "Du kannst gerne auch mitkommen, wenn du willst. Ich kriege auch vier Leute satt statt nur drei", biete ich an und überrasche mich selbst damit nicht weniger als ihn. Erstaunt sieht er mich einen Moment lang einfach nur an, aber dann breitet sich auf seinem Gesicht ein Lächeln aus. "Sehr gerne", geht er auf meine Einladung ein und ich befreie meinen Arm erst mal aus Rubens Klammergriff, um meinen Wagen aufschließen zu können. Ruben und Chris verziehen sich wie auf der Herfahrt auf die Rückbank, während Jürgen sich neben mir auf den Beifahrersitz setzt und sich anschnallt. Es ist mehr als seltsam, dass er jetzt auch dabei ist, aber ich schiebe auch dieses merkwürdige Gefühl beiseite und bringe uns alle erst mal wieder zu mir nach Hause. Murray ist einigermaßen unbegeistert davon, dass sich schon wieder so viele Leute in seinem Revier ausbreiten. Misstrauisch beäugt er Jürgen, den er als Einzigen noch nicht kennt, aber als er merkt, dass wir nach kurzem Entledigen unserer Jacken und Schuhe gemeinsam in die Küche gehen, ist sämtliches Misstrauen gleich wieder vergessen. Küche ist für meine kleine Fressmaschine immerhin gleichbedeutend mit Futter und da ist er natürlich mit allergrößter Begeisterung dabei. Maunzend streicht er uns allen abwechselnd um die Beine und ich muss unwillkürlich grinsen. Da bin ich allerdings nicht der Einzige, denn Jürgen grinst ebenfalls. "Ich hatte auch mal eine Katze", erzählt er und jetzt ist es an mir, erstaunt dreinzuschauen. "Die Katze unserer Nachbarn hatte Nachwuchs und ich hab einfach eins der Kleinen mit zu uns nach Hause genommen, obwohl unsere Eltern das nicht wollten. Fast eine Woche lang konnte ich Millie vor unseren Eltern verstecken, aber dann haben sie sie doch gefunden." Die Erinnerung zaubert ein Schmunzeln auf sein Gesicht. "Ich habe riesigen Ärger bekommen. Vier Wochen Hausarrest. Aber Millie durfte trotzdem bleiben", beendet er die Geschichte und beugt sich nach unten, um Murray, der sich mittlerweile voller Elan an meinem Bein reibt – ich bin immerhin für die Fütterung des hungrigen Raubtiers zuständig, also werde ich natürlich auch mit einer kräftigen Dosis Katzenhaaren auf meiner Hose dafür entlohnt –, unterm Kinn zu kraulen. Mein dicker Kater lässt sich das selbstredend ohne Widerspruch gefallen und schnurrt nur noch lauter. Ich hingegen bin etwas überfahren. Das ist das erste Mal, dass Jürgen mir etwas Privates von sich erzählt, das nichts mit meiner Mutter und ihm zu tun hat. Und dann auch noch ausgerechnet etwas aus seiner Kindheit. Ein kurzer Rundblick durch die Küche zeigt mir, dass Ruben und Chris sich verzogen haben. Aus dem Wohnzimmer dringt Musik herüber, also haben die beiden es sich wohl dort bequem gemacht. Ich bin mir nicht sicher, wessen Idee es war, Jürgen und mich alleine zu lassen, aber ich habe eine bestimmte Vermutung. Mein kleiner Bruder ist viel zu neugierig, um sich irgendetwas entgehen zu lassen, also wird Chris wohl die treibende Kraft hinter dem Verschwinden der beiden gewesen sein. Dazu würde auch passen, dass ich nicht mal mitbekommen habe, dass sie gegangen sind. Wenn Ruben so etwas anleiert, dann ist er alles, aber nicht subtil. Chris ist da ganz anders. Mit etwas Mühe zwinge ich meine Gedanken weg von meinem kleinen Bruder und seinem Freund und wieder zurück zu dem Mann, von dem ich erst seit ein paar Monaten weiß, dass er mein Vater ist. "Davon wusste ich nichts", gebe ich zu und Jürgen nickt leicht, so als hätte er nichts anderes erwartet. "Hätte mich auch gewundert, wenn Ulrich je ein Wort darüber verloren hätte. Er war nach Millies Tod beinahe noch trauriger als ich und hat sich geschworen, dass er nie wieder ein Haustier haben will. Ich fand das unsinnig, aber nach allem, was Gloria mir erzählt hat, hat er sich ja wohl konsequent daran gehalten." "Allerdings", gebe ich Jürgen Recht und kann nicht ganz verhindern, dass meine Stimme bitter klingt. Ich habe mir schon als Kind nichts sehnlicher gewünscht als eine eigene Katze, aber mehr als ein ›Nein‹ habe ich nie zu hören bekommen. Eine Erklärung für diese Ablehnung wurde mir nie geliefert. Und wenn ich ehrlich bin, dann fällt es mir sehr schwer, mir vorzustellen, dass der Mann, den ich nur als kalt und unnachgiebig kenne, tatsächlich mal um den Tod einer Katze getrauert haben soll. "Früher war Ulrich nicht so … so …" "… kalt?", beende ich Jürgens Satz und er stockt kurz, nickt aber dann und lehnt sich abgrundtief seufzend rücklings an meinen Küchentisch. "Ich verstehe ihn nicht mehr. Schon seit Jahren nicht", gibt er leise zu und in seiner Stimme schwingt eine gewisse Trauer um den Bruder mit, den er irgendwann mal gekannt hat, lange bevor ich überhaupt geboren wurde. Ich habe Schwierigkeiten, das nachzuvollziehen, aber das behalte ich für mich. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass der Mann, der mir jahrelang mein Leben schwergemacht und mir vorgeschrieben hat, wie und wer ich sein sollte, irgendwann mal anders war als ich ihn kenne. "Ich kann mich an keine Zeit in meinem Leben erinnern, in der er und ich uns wirklich mal verstanden hätten." Warum ich das erzähle, weiß ich selbst nicht so genau. Normalerweise spreche ich nicht über den Mann, den ich jahrelang für meinen Vater gehalten habe. Obwohl … Das ist so auch nicht ganz richtig. Allerdings gibt es eigentlich nur zwei Menschen, mit denen ich jemals über das praktisch nicht existente Vater-Sohn-Verhältnis gesprochen habe, mit dem ich aufgewachsen bin. Dass einer dieser Menschen Flo ist, ist wohl irgendwie logisch. Der zweite Mensch, mit dem ich mir so manche Nacht redend um die Ohren geschlagen habe, ist jedoch nicht Tante Gloria, sondern Micha, Flos und Sarahs Vater. Nicht einmal mit Vally, Flos Mutter, habe ich jemals über dieses Thema gesprochen. Nicht, dass sie nicht auch Verständnis für mich gehabt hätte, aber irgendwie ist es mir bei Micha immer leichter gefallen, darüber zu reden – vielleicht, weil er selbst ebenfalls ein sehr problematisches Verhältnis zu seinem eigenen Vater hatte. Oder vielleicht lag es auch nur daran, dass Micha seinem Sohn sehr ähnlich ist und mich oft ebenso gut ohne Worte versteht wie sonst eigentlich nur Flo das kann. "Irgendwie standen wir immer auf Kriegsfuß miteinander. Mein ganzes Leben lang, so lange ich mich zurückerinnern kann. Fast jedes Gespräch zwischen uns ist früher oder später in Streit ausgeartet." Um mich irgendwie zu beschäftigen und auch etwas Nützliches zu tun, mache ich mich daran, Töpfe und alles, was ich für das geplante Mittagessen brauchen werde, aus meinen Schränken zu kramen und auf dem Tisch zu stapeln. Das gibt mir die Möglichkeit zu reden, ohne Jürgen dabei ansehen zu müssen, und das macht das Reden irgendwie leichter für mich. Ohne etwas zu sagen geht Jürgen mir zur Hand und als er mich ansieht, liegt auf seinen Lippen ein kleines Lächeln, in dem ich allerdings auch eine Spur Reue zu erkennen glaube. "Seit ich erfahren habe, dass Karin damals mit dir schwanger war und deshalb nicht mit mir nach Venezuela gehen wollte, wünsche ich mir manchmal, dass ich nicht so schnell aufgegeben hätte. Ich hätte sie so lange nach dem Grund für ihren plötzlichen Meinungsumschwung fragen sollen, bis sie es mir erzählt hätte", sagt er und seufzt leise. "Ich hätte dich gerne schon früher kennen gelernt, Simon. Ich hätte dich gerne aufwachsen sehen. Und ich hätte wirklich sehr gerne das Privileg genossen, dir ein Vater zu sein", fügt er noch hinzu und in meinem Hals bildet sich bei diesen Worten ein dicker Kloß, den ich nur mit Mühe herunterschlucken kann. Wie oft habe ich mir einen Vater gewünscht, der mich zumindest ein bisschen versteht – oder es wenigstens versucht? Ein paar Minuten lang hantiere ich einfach nur schweigend am Herd herum, während ich meine wild durcheinanderrasenden Gedanken zu beruhigen versuche. Sobald mir das endlich gelungen ist, räuspere ich mich, ohne Jürgen anzusehen. "Dafür ist es noch nicht zu spät." Ich kann meine eigene Stimme kaum verstehen, so leise kommen die Worte aus meinem Mund. Jürgen scheint mich allerdings sehr wohl verstanden zu haben, denn im nächsten Moment legt er mir eine Hand auf die Schulter und als ich ihn daraufhin etwas erschrocken anblicke – so etwas bin ich einfach nicht gewohnt –, lächelt er mich an und ich bemerke zu meinem leisen Entsetzen, dass seine Augen einen verdächtig feuchten Glanz haben. "Das hatte ich gehofft. Sehr sogar", sagt er mit belegter Stimme und ich versuche probehalber ein Lächeln, das allerdings höchstwahrscheinlich etwas kläglich ausfällt. Das hier ist absolutes Neuland für mich und ich fühle mich verdammt unsicher, aber irgendwie kann ich mich des Gefühls nicht erwehren, das Richtige zu tun. Dieser Mann hier, der jetzt gerade in meiner Küche steht und sich so über diese wenigen Worte von mir freut, ist immerhin mein Vater – etwas, das mir seltsamerweise hier und jetzt zum ersten Mal wirklich richtig bewusst wird. Nicht Ulrich ist mein Vater, sondern Jürgen. Ulrich mag mich erzogen haben – oder zumindest mag er es versucht haben –, aber er hat mich nicht gezeugt. Eigentlich, genau betrachtet, ist er nur mein Onkel, nicht mehr und nicht weniger. Diese Erkenntnis sorgt dafür, dass sich ein Knoten, der schon seit Jahren in meiner Brust sitzt, ganz plötzlich löst. Ich mag einige Gene mit dem Mann gemeinsam haben, der mir jahrelang das Leben schwer gemacht hat, aber ich bin nicht dazu verdammt, genauso zu werden wie er, nur weil ich sein Sohn bin. Denn das bin ich nicht. Diese Gewissheit ist so unglaublich befreiend, dass nun doch ein ehrliches Lächeln seinen Weg auf meine Lippen findet. Bevor ich jedoch noch etwas sagen kann, taucht der wuschelige Schopf meines Bruders wieder in der Tür zur Küche auf. "Brauchst du noch lange, Simon?", fragt er drängelnd und auch wenn sein Timing mal wieder suboptimal ist, muss ich trotzdem grinsen. Das ist einfach so typisch für Ruben, dass ich nicht anders kann. "Nein", antworte ich ihm daher und bedeute ihm mit einem Nicken, dass er schon mal reinkommen und den Tisch decken kann. Wenn er schon stört, denke ich mir pragmatisch, dann kann er sich auch wenigstens gleich ein bisschen nützlich machen. Ruben protestiert nicht, sondern kommt meiner unausgesprochenen Aufforderung ohne zu murren nach. Er ist heute immerhin nicht das erste Mal hier, also weiß er, wo alles ist. Gemeinsam mit Chris, der kurz nach ihm ebenfalls auftaucht, deckt er den Tisch für vier Personen und lässt sich, sobald die beiden damit fertig sind, auf seinen Lieblingsplatz ganz in der Ecke plumpsen. Sofort nutzt Murray die Gelegenheit, die ein freier Schoß ihm bietet, hopst auf Rubens Beine und wirft einen neugierigen Blick über den Tisch. "Runter da, du Fressmaschine." Selbstverständlich ignoriert mein Kater meine freundliche Aufforderung komplett, also hebe ich ihn selbst wieder von Rubens Schoß herunter und setze ihn auf dem Boden ab. Dafür ernte ich einen bösen Blick, der mich allerdings ganz und gar nicht beeindruckt – vor allem, weil ich ganz genau weiß, dass ein, zwei Leckerlis diesen Blick nach dem Essen eh wieder in zufriedenes Schnurren verwandeln werden. Dass ist bei Murray schließlich immer so. Er ist ein wirklich pflegeleichter Kater – meistens jedenfalls. Nachdem Murray klar wird, dass er auch heute wieder nichts vom Tisch abstauben kann, egal, wie sehr er bettelt und schnurrt, verzieht er sich nach drüben ins Wohnzimmer, um dort eine Runde zu schmollen. Ruben, Chris, Jürgen und ich kümmern uns jedoch nicht weiter darum, sondern widmen uns erst mal dem Essen. Dabei plappert Ruben wie üblich beinahe die ganze Zeit und lässt sich auch nicht von Chris' oder meinen Ermahnungen, dass sein Essen kalt wird, daran hindern. Das Einzige, was heute anders ist als bei den sonstigen Besuchen von Ruben und Chris ist die Tatsache, dass Jürgen eben auch da ist. Aber er fällt nicht unbedingt negativ auf. Eher sogar im Gegenteil. Es ist zwar ungewohnt, ihn hier zu haben, aber er schafft es ohne größere Schwierigkeiten, sich einzufinden. Nach dem Essen hilft Chris mir wie meistens beim Spülen, während Ruben sich ins Wohnzimmer verzieht, um Murray wieder mal halb zu Tode zu schmusen. Jürgen zögert einen Moment, geht dann jedoch auch rüber und ich finde mich gleich darauf mit einem braunen Augenpaar konfrontiert, das mich fragend und besorgt zugleich mustert. "Alles okay?", erkundigt Chris sich zaghaft und ich nicke gleich. Es tut gut zu wissen, dass er sich auch Sorgen macht, aber im Moment ist das gerade mehr als unnötig. Mir geht es gut – zumindest im Augenblick. Sicher, es läuft längst nicht alles rund für mich, aber der heutige Tag ist definitiv einer der besseren Tage in der letzten Zeit. "Alles okay", bestätige ich für Chris auch noch mal verbal und drücke ihm auch noch die letzten beiden Teller zum Abtrocknen in die Hand. Während er sich darum kümmert, räume ich schon mal alles wieder soweit ein und sobald wir komplett fertig sind, gesellen wir uns gemeinsam zu Ruben und Jürgen, die beide schwer damit beschäftigt sind, meinen Kater gnadenlos zu verwöhnen. Ich werde ihn nachher, wenn alle wieder weg sind, noch mindestens eine Stunde streicheln und kraulen müssen, sonst ist er unter Garantie beleidigt. Aber ich beschwere mich ganz bestimmt nicht darüber. Es ist doch schön, dass es wenigstens irgendjemanden gibt, der mich so vehement in seiner Nähe haben will – auch wenn dieser Jemand eben nur Murray ist. Dadurch, dass ich nicht alleine bin, habe ich keine Zeit, um in trüben Gedanken zu versinken. Und darüber bin ich eindeutig froh. Der Nachmittag vergeht jedenfalls wie im Fluge, so dass ich einigermaßen überrascht bin, als Chris Ruben nach einem Blick auf die Uhr antippt und ihm zu verstehen gibt, dass es langsam Zeit für sie beide wird. "Ich setz euch noch eben ab", beschließe ich, um die Zeit, die ich mit meinem Bruder verbringen kann, noch etwas auszudehnen. "Würdest du mich auch eben nach Hause fahren?", unterbricht Jürgen die Aufbruchsvorbereitungen. "Sonst nehme ich mir ein Taxi", schiebt er noch hinterher, doch ich schüttele den Kopf. Wenn ich sowieso schon unterwegs bin, macht mir eine etwas weitere Fahrt auch nichts aus. "Kein Problem", gebe ich auch verbal eine Antwort und werde wieder ein wenig erschlagen von dem Lächeln, das ich als Reaktion auf meine Worte bekomme. Scheinbar, geht es mir durch den Kopf, meinte Jürgen es ernst, als er gesagt hat, dass er mich gerne näher kennen lernen will. Irgendwie verschafft mir das ein sehr seltsames Gefühl. Ich komme allerdings nicht dazu, lange darüber nachzugrübeln, was das wohl bedeutet. Ruben packt mich nämlich und schleift mich voller Enthusiasmus hinter sich her durch den Flur. Chris folgt uns etwas langsamer und Jürgen, der noch eben meine Wohnungstür hinter sich zuzieht, bildet das Schlusslicht. Gemeinsam steigen wir Vier in meinen Wagen und ich fahre erst einmal Ruben und Chris zu Chris nach Hause, wo mein Bruder mich zum Abschied mal wieder halb zu zerquetschen versucht, ehe er händchenhaltend mit Chris im Haus verschwindet. Einen Moment lang blicke ich den beiden nach, dann wende ich mich ab und gehe wieder zurück zu meinem Wagen, wo Jürgen noch immer auf dem Beifahrersitz auf mich wartet. Wahrscheinlich wollte er nicht stören. "Wo soll ich dich denn genau absetzen?", erkundige ich mich, sobald ich wieder eingestiegen bin und mich angeschnallt habe, und nachdem Jürgen mir seine Adresse genannt hat, fahre ich los. Dabei weiß ich nicht, was ich sagen soll, also bleibe ich einfach stumm. Jürgen schweigt ebenfalls erst eine Weile, ehe er sich leise räuspert. "Dein Bruder und du … ihr versteht euch gut, oder?", fragt er dann und ich nicke, ohne ihn anzusehen. Vom Beifahrersitz kommt daraufhin ein leises Seufzen, das ich allerdings, da ich mein Radio nicht angemacht habe, fast überlaut hören kann. "Wenn ich euch beide so beobachte, dann kommen eine Menge Erinnerungen hoch", murmelt Jürgen fast unhörbar und als ich ihm einen schnellen Seitenblick zuwerfe, sehe ich auf seinen Lippen ein trauriges Lächeln liegen. Ich habe eine Vermutung, woran er gerade denkt, aber ich frage nicht nach. Irgendwie will ich heute Abend keine weiteren Geschichten mehr über Jürgens Kindheit und über … seinen Bruder hören. Ich habe schon genug zu verdauen für einen Tag. Dankenswerterweise spricht Jürgen auch nicht von sich aus weiter, sondern scheint stattdessen in seinen Erinnerungen zu versinken. Das gibt mir wiederum die Gelegenheit, ihn immer wieder mal unauffällig zu beobachten, wenn es verkehrsmäßig vor uns gerade stockt oder wir an einer Ampel stehen. Er sieht seinem Bruder wirklich ziemlich ähnlich, stelle ich dabei fest. Die Ähnlichkeit zwischen den beiden ist jedenfalls wesentlich größer als die Ähnlichkeit zwischen Ruben und mir. Ruben kommt eher nach unserer Mutter, während ich … nun, offensichtlich habe ich mehr Ähnlichkeit mit meinem Vater und auch mit meinem Onkel als mit der Frau, die mich geboren hat. Was mir bei genauerem Hinsehen heute auch das erste Mal auffällt, ist, dass ich eindeutig Jürgens Augen habe, denn seine haben dieselbe Farbe wie meine. Schon irgendwie merkwürdig, dass ich bisher nie darauf geachtet habe. Irgendwie ist das alles sehr, sehr merkwürdig gerade und ich hätte jetzt zu gerne etwas Zeit, um in Ruhe über alles nachzudenken, was ich heute erfahren habe. Allerdings wird das wohl noch etwas warten müssen – zumindest so lange, bis ich Jürgen bei sich abgesetzt habe und selbst wieder zu Hause angekommen bin. Dann kann ich mir immer noch den Kopf über all die Dinge zerbrechen, die ich heute Morgen noch nicht wusste und die plötzlich so vieles, was ich bisher zu wissen glaubte, in einem völlig anderen Licht erscheinen lassen. Obwohl ich etwas abgelenkt bin, fällt mir doch irgendwann auf, dass wir das Ziel – also das Haus, in dem Jürgen wohnt – fast erreicht haben. Ich fühle eine unbestimmte Enttäuschung, schiebe sie jedoch direkt wieder beiseite und parke stattdessen erst mal meinen Wagen, ehe ich mich leise räuspere. Das bringt jedoch nichts, so dass ich Jürgen schlussendlich antippe. Dafür ernte ich einen etwas erschrockenen Blick. "Wir sind da", erkläre ich und Jürgen blinzelt überrascht und schüttelt kurz den Kopf, wie um einen ungebetenen Gedanken loszuwerden. "Danke, Simon", sagt er dann und als er mich anlächelt, lächele ich schon fast automatisch zurück. "Gern geschehen." Und das ist mein Ernst. Der heutige Tag war zwar anfangs recht unschön und später reichlich verwirrend – ich werde eine Menge zu sortieren und zu überdenken haben, wenn ich gleich erst mal wieder zu Hause bin –, aber trotzdem war es ein guter Tag. Vielleicht auch gerade deswegen, ich weiß es nicht. "Wenn du einverstanden bist, dann würde ich mich freuen, wenn wir uns ab jetzt öfter treffen und … einfach mal ein bisschen reden könnten", dringt Jürgens Stimme in meine Gedanken. "Es war mein Ernst, als ich gesagt habe, dass ich dich gerne besser kennenlernen würde. Du bist …", er stockt kurz, fasst sich aber schnell wieder. "… du bist immerhin mein Sohn", beendet er seinen Satz und ich habe schon wieder einen Kloß im Hals, der mir das Sprechen erschwert, also nicke ich einfach nur. "Gut, dann …" Jürgen wirkt mindestens ebenso nervös, wie ich mich gerade fühle. Fahrig streicht er sich durch die an den Schläfen bereits leicht angegrauten schwarzen Haare und löst dann seinen Anschnallgurt. Er steigt aus, schließt die Tür aber nicht direkt wieder, sondern beugt sich noch mal halb in den Wagen und bedenkt mich mit einem weiteren Lächeln. "Gute Nacht, Simon", wünscht er mir und ich muss mich kurz räuspern, damit meine Stimme wieder richtig arbeitet. "Wünsche ich dir auch. Bis demnächst", verabschiede ich mich dann und sehe Jürgen kurz nach, wie er, nachdem er die Wagentür zugeschlagen hat, in Richtung Haustür davongeht. Erst als er den Schlüssel ins Schloss steckt, aufschließt und sich noch einmal kurz zu mir umdreht, um mir zu winken, ehe er im Inneren des Hauses verschwindet, starte ich meinen Wagen und mache mich auf den Heimweg. Dabei drehe ich das Radio wieder auf, um meine Gedanken zumindest so lange im Zaum zu halten, bis ich wirklich zu Hause bin. Ich habe immer noch den Refrain von VNV Nations Solitary im Ohr, als ich meine Wohnungstür aufschließe. Eigentlich erwarte ich fast, dass Murray immer noch schmollt, aber erstaunlicherweise kommt er gleich angerannt, sobald er merkt, dass ich wieder da bin. Im ersten Moment wundere ich mich darüber, aber dann muss ich grinsen. "Ja, du kriegst ja gleich dein Abendessen, du Fressmaschine", teile ich dem Kater mit, hebe ihn hoch und schleppe meinen schnurrenden Futtervernichter in die Küche, um ihn zu füttern. Sobald das erledigt ist und mein dicker Kater freudig schlemmt, gehe ich rüber in mein Wohnzimmer und schalte erst einmal meine Anlage ein, um meinen Ohrwurm zu bekämpfen, ehe ich mich im Schneidersitz auf den weichen Teppich vor der Couch setze und bei den ersten Tönen von Beloved, die an meine Ohren dringen, die Augen schließe. Ich habe, sinniere ich dabei, schon eine ganze Weile nicht mehr meditiert. Und bei allem, was in den letzten Wochen und Monaten los war und immer noch ist, kann etwas Zeit, um in Ruhe alles zu überdenken, nun wirklich nicht schaden. Eher im Gegenteil. Wie lange ich mich einfach nur auf meine Atmung konzentriere und dabei meine Gedanken sortiere und fokussiere, weiß ich nicht. Irgendwann tapsen Pfoten auf meinen Beinen herum und ich muss unwillkürlich schmunzeln, als ich spüre, wie Murray sich erst zwei Mal um sich selbst dreht, ehe er sich auf meinem Schoß zu einem schnurrenden Ball zusammenrollt. Das hat er schon gemacht, als ich nach seinem Einzug bei mir zum ersten Mal meditiert habe. Und seitdem tut er das eigentlich jedes Mal, auch wenn er in der letzten Zeit sehr wenig Gelegenheit dazu hatte. Meistens war ich einfach viel zu angespannt für eine vernünftige Meditation, aber irgendwie bin ich heute ruhig und gefasst genug. Und Murrays Schnurren trägt einen großen Teil dazu bei, dass ich mich noch wesentlich besser entspannen kann. So ist es auch kein Wunder, dass ich, als ich die Meditation schließlich beende und einen Blick auf die Uhr werfe, feststelle, dass ich mehr als eine Stunde hier gesessen habe. Murray ist nicht unbedingt begeistert, als ich ihn von meinem Schoß schiebe und aufstehe, aber als ich ihn hochhebe und kommentarlos in mein Schlafzimmer trage, schnurrt er gleich wieder wie ein kaputter Rasenmäher. "Mach's dir schon mal bequem, Dicker. Ich bin gleich wieder da", informiere ich ihn, setze ihn auf meinem Bett ab und verschwinde kurz ins Bad. Als ich wieder zurückkomme, liegt Murray bereits auf seinem Lieblingsplatz direkt über meinem Kopfkissen und blinzelt mich schläfrig an. ›Leg dich endlich hin, Dosenöffner! Ich will schlafen!‹, sagt sein Blick und ich muss schmunzeln. "Wie Euer Hochwohlgeboren befehlen", necke ich meinen Kater, bekomme jedoch nur ein Gähnen zur Antwort, als ich zu ihm ins Bett rutsche. Ich mache es mir bequem und zeitgleich mit dem Verlöschen meiner Nachttischlampe fängt mein persönlicher Rasenmäher wieder mit dem Schnurren an. "Schlaf gut, Dicker", murmele ich und strecke einen Arm aus, um Murray vor dem Einschlafen noch ein wenig zu kraulen. Ich weiß, er mag das. Und ich mag es, wenn er deshalb noch enthusiastischer schnurrt, obwohl er schon halb eingeschlafen ist. "Wenn ich dich nicht hätte, Murray …", sind meine letzten Worte und mein letzter Gedanke, ehe ich es meinem Kater gleichtue und selbst auch ins Reich der Träume abdrifte. Kapitel 4: Gabriel ------------------ Als mein Wecker am Montagmorgen um sieben klingelt, bin ich wesentlich ausgeschlafener als am Sonntag. Da ich aber gestern recht früh im Bett war und auch sehr schnell eingeschlafen bin – Murrays Schnurren sei Dank –, ist das nicht wirklich verwunderlich. Was allerdings etwas ungewöhnlich ist, ist meine gute Stimmung, als ich mich aus dem Bett schwinge und mich auf den Weg in mein Badezimmer mache. Das merke ich daran, dass ich leise vor mich hin summe – etwas, das ich sonst eigentlich nicht tue. Vor allem nicht an einem Montagmorgen. Aber heute ist irgendwie alles anders. Vielleicht, sinniere ich, während ich mich fertigmache, war es doch gut, dass der gestrige Tag so verlaufen ist wie es nun mal der Fall war. Zwar hat sich längst nicht alles, was derzeit bei mir im Argen liegt, schlagartig und auf magische Weise verbessert, aber ich fühle mich zumindest schon mal nicht mehr ganz so niedergedrückt wie in den vergangenen Wochen. Wer hätte gedacht, dass ein einfacher Krankenbesuch solche Folgen haben könnte? Ich jedenfalls ganz sicher nicht. Bestens gelaunt gehe ich nach dem Anziehen hinüber in die Küche, um mich um Murrays und mein Frühstück zu kümmern. Mein Kater ist wie üblich begeistert. Und noch begeisterter ist er davon, dass meine gute Laune sich in ein paar Extra-Leckerlis für ihn niederschlägt, sobald er sein Futter praktisch inhaliert hat. Ich gönne mir so lange wie möglich Zeit, um mich mit meiner Schnurrmaschine zu beschäftigen. Heute Morgen brauche ich das einfach. Murray, stelle ich zum wiederholten Mal fest, tut mir einfach gut. Ihn aus dem Tierheim zu mir zu nehmen war die beste Idee, die ich in diesem Jahr bisher hatte. Erst als es wirklich allerhöchste Zeit zum Aufbruch ist, hebe ich den Dicken wieder von meinem Schoß, auf dem er die letzte halbe Stunde schnurrend und mich vollhaarend verbracht hat. Zum Abschied kraule ich ihn noch mal kurz hinter den Ohren, dann schnappe ich mir meinen Mantel und meinen Autoschlüssel und bin auch schon unterwegs. Lucy, stelle ich mit einem kurzen Blick auf meine Uhr fest, ist sicher schon im Laden. Aber noch bin ich früh genug dran, also ist das schon okay. Als ich ankomme, steht Lucys Wagen tatsächlich schon auf dem für sie reservierten Parkplatz. Ich parke meinen daneben, steige aus und betrete den Laden dann durch die Hintertür. Noch ist die Vordertür schließlich nicht geöffnet. "Hi, Simon", werde ich aus dem Büro begrüßt und als ich einen Blick hineinwerfe, trifft mich ein irritierter Blick meiner Chefin. "Du bist heute aber kurz vor knapp", kommentiert sie und ich muss grinsen, was Lucys Verwirrung nur noch vergrößert. So gut gelaunt kennt sie mich nicht. Zumindest nicht in der letzten Zeit. Und ganz besonders nicht an einem Montagmorgen. "Ich konnte mich nicht von Murray losreißen. Er war heute Morgen besonders niedlich", erkläre ich mein für meine Verhältnisse tatsächlich recht spätes Erscheinen und sofort ändert sich Lucys Gesichtsausdruck von vorwurfsvoll-irritiert zu begeistert. Lucy liebt Katzen, aber wegen ihrer Spinnen – Lucy hat drei Vogelspinnen und eine Tarantel – traut sie sich nicht, welche zu halten. Ich kann sie da nur zu gut verstehen. Murray ist zwar eigentlich ein ziemlicher Faulpelz, aber wenn er doch mal in Spiellaune kommt, ist absolut gar nichts vor ihm und seinen Krallen sicher – am allerwenigsten meine Kissen und ich. "Na, du bist ja noch nicht wirklich zu spät dran." Lucys Worte entlocken mir ein leises Lachen, das ich einfach nicht unterdrücken kann. Wieder sieht sie mich schräg an, beschließt aber offenbar auch gleich, dass sie lieber gar nicht so genau wissen will, warum ich so verdächtig gut drauf bin. "Du kannst ja schon mal mit dem Einräumen anfangen, wenn du willst", sagt sie stattdessen und ich nicke ihr kurz zu, entledige mich meines Mantels und mache mich dann an die Arbeit. Dafür bin ich schließlich hier. Pünktlich um zehn schließe ich die Tür des Ladens auf, aber da die Weihnachtsferien gerade erst paar Wochen zurückliegen, haben Lucy und ich noch eine ganze Weile unsere Ruhe. Lucy nutzt die Zeit, um sich im Büro zu verschanzen und die Bestellungen, die ich ihr am Samstag noch notiert habe, durchzusehen und aufzugeben. Ich kümmere mich währenddessen darum, dass der Laden präsentabel aussieht. Und weil es gerade so ruhig ist, nehme ich mir auch endlich die Zeit, die Schmuckvitrinen mal wieder aufzuräumen und umzusortieren. Bis kurz vor eins bleibt es so friedlich. Nur insgesamt acht Kunden verirren sich in den Laden, von denen allerdings auch nur zwei wirklich Hilfe beim Aussuchen brauchen. Die anderen sechs wissen ganz genau, was sie wollen und wo sie es finden, weil sie Stammkunden sind. Mehr als ein kleiner Plausch zwischen Corsagen, Kleidern, Chokern und Plateaustiefeln ergibt sich also nicht, aber ich bin nicht unbedingt böse darum. Ab und zu ist es auch mal ganz nett, wenn etwas weniger Kundschaft da ist. Dann bleibt Zeit übrig, um all die kleinen Dinge zu erledigen, die sonst meistens wegen Zeitmangels liegenbleiben. Mit dem neunten Besucher des Ladens ist diese angenehme Ruhe jedoch schlagartig vorbei. Gewohnheitsmäßig sehe ich nach, wen es da zu uns treibt, sobald die Tür geöffnet wird. Den jungen Mann, der hereinkommt, kenne ich jedoch nicht, auch wenn er mir auf den ersten Blick schon ungemein bekannt vorkommt. Ich kann mich allerdings beim besten Willen nicht daran erinnern, wo ich ihn schon mal gesehen habe. Dass er hier im Laden allerdings goldrichtig ist, ist eindeutig nicht zu übersehen. Er trägt eine enganliegende schwarze Bondagehose und ein ebenfalls schwarzes Hemd. Er hat ein Nasenpiercing auf der linken Seite, seine Haare sind knallrot gefärbt und seine Lippen sind ebenso schwarz wie seine Fingernägel. Alles in allem sieht er also aus wie ein ganz typischer Kunde, aber trotzdem bin ich mir sicher, dass er noch nie hier war. Nein, ich habe ihn woanders schon mal gesehen. Aber warum kann ich mich bloß nicht daran erinnern, wo und wann das war? Da er sich suchend umsieht, mache ich mich bemerkbar. "Suchst du was Bestimmtes? Kann ich dir helfen?", erkundige ich mich und seine Augen werden groß, als er mich ansieht. "Wow!", ist seine Antwort und ich weiß nicht so genau, wie ich darauf reagieren soll. Es ist nämlich ziemlich offensichtlich, dass er nicht den Laden oder die Auswahl mit seinem Ausruf meint, sondern mich. Und das ist irgendwie … merkwürdig. Aber noch merkwürdiger sind der Blick, mit dem ich bedacht werde, und das Grinsen, das daraufhin auf den Lippen meines Gegenübers erscheint. "Heiß", kommentiert er und spätestens jetzt bin ich mir ziemlich sicher, im falschen Film gelandet zu sein. So etwas passiert mir nämlich nicht. Normalerweise jedenfalls. Deshalb bin ich mir auch nicht ganz sicher, was ich jetzt tun soll. Und wie immer, wenn ich nicht weiß, wie ich mit einer Situation umgehen soll, ziehe ich mich auf mir bekanntes Terrain zurück. "Wie gesagt, wenn du was Bestimmtes suchst, helfe ich dir gerne. Ansonsten … Ich hab hier noch einiges zu tun. Sieh dich ruhig in Ruhe um. Du kannst dich ja melden, wenn du Fragen hast", lasse ich ihn wissen und will mich wieder an die Arbeit machen, aber eine Hand an meinem Arm hält mich auf, bevor ich das tun kann. "Whoa, sorry!", entschuldigt sich ihr Besitzer und als ich ihn ansehe, reibt er sich mit seiner freien Hand den Nacken, während das Grinsen auf seinen Lippen einen etwas verlegenen Touch bekommt. Meinen Arm, stelle ich irritiert fest, hat er immer noch nicht losgelassen. "Ich wollte nicht … Was auch immer", murmelt er etwas konfus, macht aber immer noch keine Anstalten, seinen Griff zu lockern. "Du kannst mir bestimmt helfen. Ich suche meine Schwester", werde ich informiert und bin dadurch endgültig verwirrt. Was ist das denn für einer? Und wieso sucht er bitteschön ausgerechnet hier seine Schwester? Gut, wenn sie klamottentechnisch den gleichen Stil hat wie ihr Bruder, dann könnte sie sich schon hierher verirrt haben. Aber wie in aller Welt kommt er bitteschön auf die Idee, dass ich sofort weiß, wen er meint, wenn er nur von ›seiner Schwester‹ spricht? "Wir sind kein Fundbüro", ist das erste, was über meine Lippen kommt und nicht wie "Sag mal, hast du vielleicht einen Dachschaden oder so?" klingt. Anstatt jedoch sauer zu werden, lacht mein Gesprächspartner nur und lässt dann zu meiner Erleichterung doch endlich mal meinen Arm los. Ich kann mir nicht helfen, aber der Typ ist irgendwie merkwürdig. Definitiv. Sehr, sehr merkwürdig. "Ist mir schon klar." Er gluckst noch immer, bemüht sich aber augenscheinlich sehr, sich wieder zu beruhigen. Allerdings gelingt ihm das mehr schlecht als recht. "So war das auch nicht gemeint", japst er und stützt sich an einem der Kleiderständer ab. Ohne dass ich etwas dagegen tun kann, wandert eine meiner Augenbrauen wie von selbst in die Höhe, was mir gleich wieder einen Kommentar einbringt, auf den ich nur zu gut hätte verzichten können. "Du siehst übrigens echt scharf aus, wenn du so kuckst, weißt du das?", werde ich gefragt und der Drang, ihn einfach wieder vor die Tür zu setzen, wird langsam übermächtig. Allerdings scheint er so etwas zu ahnen, denn er rudert gleich wieder zurück, bevor ich meinen Plan in die Tat umsetzen kann. "Und schon wieder sorry. Vergiss einfach, was ich gerade gesagt hab, okay? Ich rede oft, ohne vorher nachzudenken. War aber nicht als Beleidigung gemeint, sondern als Kompliment, ehrlich." An diesem Punkt unterbricht er sich selbst, schüttelt den Kopf und atmet noch mal tief durch, ehe er wieder anfängt zu sprechen. "Was ich eigentlich sagen wollte: Ich suche meine Schwester hier, weil sie hier arbeitet", erklärt er dann und mit einem Mal beginnt mir zu dämmern, warum mir sein Gesicht so verdammt bekannt vorkommt: Lucy hat nämlich ein Bild von sich selbst zusammen mit diesem Typen – ihrem jüngeren Bruder, wie sie mir irgendwann mal erzählt hat – als Hintergrundbild für ihren PC im Büro eingerichtet. Ich habe ihn also tatsächlich schon mal gesehen. Ohne das Gestammel meines Gegenübers weiter zu beachten, drehe ich mich halb um. "Lucy? Besuch für dich!", rufe ich in Richtung des Büros und nur eine halbe Minute später taucht Lucys Gesicht im Türrahmen auf. "Wer ist es de- … Gabriel?", höre ich und im nächsten Moment rauscht sie auch schon an mir vorbei und fällt ihrem Bruder, dessen Namen ich bis gerade eben peinlicherweise vollkommen vergessen hatte, so stürmisch um den Hals, dass dieser beinahe zusammen mit ihr hintenüberkippt. Unwillkürlich muss ich grinsen, weil mich das ein bisschen an Ruben erinnert. "Was machst du denn hier?" Lucy klingt begeistert und verwirrt zugleich und ich kann ihr das nicht mal verdenken. Sie ist normalerweise ein ziemlich organisierter Mensch und spricht eigentlich sämtliche Termine nach Möglichkeit immer schon Wochen im Voraus ab. Überraschungen mag sie ganz und gar nicht. Scheint ganz so, als wäre ihr Bruder da aus anderem Holz geschnitzt. Das sagt jedenfalls das zu gleichen Teilen schelmisch und ertappt wirkende Grinsen, das bei dieser Frage auf Gabriels Lippen erscheint. "Na ja, ich bin seit vorgestern wieder raus und bei den beiden Alten hab ich's einfach nicht länger als bis heute Morgen ausgehalten, also hab ich mir gedacht, ich komm zu dir und fall dir einfach eine Weile auf den Wecker, Schwesterchen", teilt er ihr mit und für mich ist das das Stichwort, mich zu verkrümeln und die beiden alleine zu lassen. Was auch immer Lucy und ihr Bruder zu besprechen haben, ist ganz sicher privat und nicht wirklich für meine Ohren bestimmt, also mache ich mich wieder an meine Arbeit. "Lass uns nach hinten ins Büro gehen. Simon, du kommst doch alleine klar, oder?", adressiert Lucy in meine Richtung und ich nicke ihr kurz zu. Ich schmeiße den Laden oft genug mehr oder weniger alleine, also werde ich jetzt damit auch ganz bestimmt keine Probleme haben. Das sage ich allerdings nicht laut. Lucy ist normalerweise nicht so überdreht, aber jetzt gerade hat sie ja wohl einen mehr als triftigen Grund dafür. Und im Moment scheint sie keinen Kopf für den Laden oder mich zu haben. Aber gut, das verstehe ich. Ich selbst lasse schließlich auch alles stehen und liegen, wenn es um meinen kleinen Bruder geht. Ich glaube, das ist eine Krankheit, die so ziemlich alle älteren Geschwister gemeinsam haben. Damit die beiden in Ruhe reden können, schalte ich mir vorne im Laden die Anlage an. Mit Musik lässt es sich doch wesentlich leichter räumen. Und außerdem vergeht so die Zeit auch schneller. Ich bin so ins Umsortieren vertieft, dass mich erst eine Stimme, die ich ziemlich gut kenne, wieder in die Realität zurückholt. "Hey, Simon", werde ich von Morgaine begrüßt und als ich mich zu ihr umdrehe, stelle ich fest, dass sie nicht alleine ist. "Hi, ihr Zwei", grüße ich meinerseits in die Runde und Melina, Morgaines kleine Schwester, winkt mir kurz zu, ehe sie voller Elan in Richtung der Regale mit den Schuhen entschwindet. "Na, Shopping?", erkundige ich mich und Morgaine verdreht seufzend die Augen. "Auch, ja. Eigentlich bin ich ja zumindest zur Hälfte beruflich hier. Lucy hat mich herbestellt wegen der Fotos für die neue Sommerkollektion", antwortet sie und ich runzele nachdenklich die Stirn. "War das schon diese Woche?" Das hatte ich ja gar nicht mehr auf dem Schirm. Aber gut, in letzter Zeit vergesse oder verdränge ich einige Dinge eh meistens so lange, bis ich sie wirklich nicht mehr länger vor mir herschieben kann. "Am Mittwoch, ja", erinnert Morgaine mich und jetzt fällt es mir auch wieder ein. Das Shooting für die neuen Klamotten ist immerhin schon seit gut drei Wochen geplant, wenn nicht sogar noch länger. Das mag vielleicht etwas früh erscheinen, wo der Winter doch noch nicht mal richtig vorbei ist, sondern die Stadt noch richtig fest im Griff hat, aber so ist Lucy nun mal. Sie hat alles lieber zu früh erledigt als zu spät. "Allerdings hab ich vorhin zu Hause den Fehler gemacht zu erwähnen, dass ich heute noch mal wegen der letzten Vorbesprechungen herkommen wollte, und da hat meine süße, herzallerliebste Schwester mich so lange genervt, bis ich mich hab breitschlagen lassen, sie mitzunehmen und hier abzusetzen." Morgaine zieht eine Grimasse und ich beiße mir auf die Zunge, um sie jetzt nicht auszulachen. Dafür würde sie mir nämlich unter Garantie den Hals umdrehen. "Kleine Geschwister sind schon was Feines", kann ich mir dennoch nicht verkneifen, meine beste Freundin ein wenig zu necken. Wobei mir direkt wieder was einfällt: "Aber mit Lucy zu quatschen könnte im Moment schwierig werden. Ihr Bruder ist vor ner Weile hier aufgetaucht und die Zwei hocken seitdem hinten im Büro. Haben sich wohl viel zu erzählen." Das vermute ich jedenfalls mal, denn inzwischen ist es, wie mir ein kurzer Blick auf die Uhr zeigt, schon fast halb drei. Eigentlich langsam Zeit für meine Mittagspause, aber ich will Lucy jetzt nicht unbedingt stören. "Na klasse. Ausgerechnet heute, wo mir das so gar nicht in den Kram passt." Morgaine klingt alles andere als begeistert, aber das kann ich ihr nicht verdenken. Sie hat schließlich auch noch andere Shootings, nicht nur die für die Homepage des Ladens. "Wenn sie jetzt keine Zeit hat, ist das schlecht. Ich muss nämlich gleich weiter. Ich hab heute noch einen Haufen anderer Termine." Nachdenklich zupft Morgaine an einer ihrer blau gefärbten Strähnen herum. "Aber okay, dann muss ich eben nachher meinen Ersatz vorbeischicken. Der wird eh derjenige sein, der die Bilder macht. Ich kann am Mittwoch nicht. Das wollte ich Lucy eigentlich heute persönlich sagen. Aber das kannst du ihr ja auch ausrichten. Sie soll mich einfach nachher anrufen. Ich werde dann gleich meinen Ersatzmann schon mal vorab informieren und den Rest kann sie dann nachher oder so in aller Ruhe mit ihm bequatschen." "Alles klar. Deine Nummer hat sie ja. Und die vom Studio auch. Ich sag ihr dann nachher Bescheid, wenn ich sie sehe", erkläre ich mich einverstanden, meiner besten Freundin auszuhelfen. Dabei kann ich nicht anders als mich zu fragen, wer genau wohl Morgaines Ersatz sein soll. Sie hat mir zwar schon ein paar Mal von ihrem neuen Kollegen erzählt, mit dem sie seit ein paar Monaten zusammenarbeitet, aber persönlich kennen gelernt habe ich ihn bis jetzt noch nicht. Und wenn ich mich recht erinnere, dann ist bisher auch noch nie wirklich ein Name gefallen. Aber, denke ich bei mir, ich werde ja spätestens am Mittwoch wohl doch endlich mal erfahren, wie er denn nun heißt. "Das wär super." Morgaine schenkt mir ein Lächeln und drückt mich einmal, ehe sie sich an die Verfolgung ihrer Schwester macht. Die Zwei besprechen sich kurz und als Melina nickt, drückt Morgaine auch sie, bevor sie sich ausgesprochen knapp verabschiedet und dann auch schon aus dem Laden verschwindet. Scheinbar hat sie heute einen wirklich vollen Terminkalender. Sich so abzuhetzen sieht ihr nämlich eigentlich gar nicht ähnlich. Mit einem innerlichen Achselzucken überlasse ich Morgaine ihrem Job und kümmere mich lieber wieder um meinen eigenen. Melina ist zwar auch praktisch Stammkundin durch ihre Schwester, aber das bedeutet nicht, dass sie sich nicht trotzdem ganz gerne beraten lässt. Und dafür bin ich schließlich da, also nehme ich genau das auch in Angriff. Knappe zwanzig Minuten später stelle ich für mich selbst wieder einmal fest, dass ich unglaublich froh darüber bin, einen kleinen Bruder zu haben und keine Schwester. Eine Schwester wäre mir definitiv viel zu anstrengend. Und dabei ist Melina eigentlich noch eine von der pflegeleichteren Sorte. Sarah beispielsweise, Flos Schwester, ist beim Shoppen wesentlich pingeliger und anstrengender als Melina. Trotzdem würde ich keine von beiden freiwillig zum Shopping begleiten. Mit Morgaine ist das kein Problem – sie ist diesbezüglich zum Glück absolut unkompliziert –, aber sonst brauche ich wirklich keine Shoppingtouren mit irgendwelchen weiblichen Wesen. Danke, aber danke, nein. Aber zum Glück gibt es ja auch niemanden, der mich dazu zwingen kann. Ein paar Minuten, nachdem Melina bestens gelaunt und mit zwei Tüten bepackt, dafür allerdings im Portemonnaie etwas erleichtert, den Laden wieder verlassen hat, tauchen Lucy und ihr Bruder auch endlich wieder aus dem Büro auf. Lucy klebt förmlich an Gabriel, was diesem ein wenig unangenehm zu sein scheint – allerdings erst, als er bemerkt, dass ich immer noch hier vorne bin und sie beide so sehe. Ich kümmere mich jedoch nicht weiter darum. Klettende Geschwister bin ich immerhin gewöhnt. Mein Bruder ist schließlich selbst eine ziemliche Klette. Ich hätte Lucy zwar nicht so eingeschätzt, aber das zeigt nur, dass man jemanden nie so gut kennt, wie man gedacht hat. "Morgaine war vorhin hier. Ich soll dir ausrichten, dass sie am Mittwoch nicht selbst die Fotos machen kann. Sie schickt einen Ersatz. Du sollst sie am besten nachher noch mal anrufen, damit ihr das besprechen könnt", teile ich meiner Chefin mit, worum Morgaine mich gebeten hat, und mache mich nach einem knappen Nicken Lucys, das mir zeigt, dass sie mich verstanden hat und sich darum kümmern wird, wieder an die Arbeit. Dabei kann ich das Gefühl, beobachtet zu werden, nicht abschütteln. Ich habe so eine Vermutung, wer mich da beobachtet, also ignoriere ich das Gefühl, so gut es geht, auch wenn es mich zunehmend irritiert. Zwanzig Minuten lang gebe ich mir wirklich die allergrößte Mühe, mich nur auf meine Arbeit zu konzentrieren und auf sonst nichts. Aber dann geht es einfach nicht mehr. "Könntest du vielleicht irgendwo anders hinstarren? Das ist unglaublich nervtötend", wende ich mich an Lucys Bruder, der bemüht lässig an einem der Regale lehnt und sogar tatsächlich den Anstand besitzt, ertappt dreinzuschauen. Allerdings nur für einen Moment, dann legt sich gleich wieder ein Grinsen auf seine Lippen. "Du bist aber nun mal bei Weitem das Interessanteste, das es hier zu sehen gibt", kontert er frech und ich bin für einen Moment tatsächlich sprachlos. Derart offensichtlich bin ich schon ziemlich lange nicht mehr angebaggert worden. Nur zu gerne würde ich den Störenfried jetzt einfach an die Luft setzen – draußen ist es ziemlich eisig, das sollte ihn eigentlich abkühlen –, aber er ist immerhin der Bruder meiner Chefin, also sollte ich mir das wohl besser verkneifen. Immerhin scheint Lucy ja doch sehr an ihm zu hängen. Sie würde mir so eine Aktion bestimmt verdammt übel nehmen. Aus diesem Grund reiße ich mich zusammen, sage nichts und arbeite einfach nur schweigend weiter – jedenfalls so lange, bis Lucy wieder auftaucht und mich endlich in die Pause scheucht. So gut der Montag auch angefangen hat, ich bin doch froh, als ich endlich Feierabend habe. Gabriel ist eindeutig eine unglaubliche Nervensäge. In den letzten knapp zwei Stunden vor Feierabend konnte ich kaum einen Schritt machen, ohne dass er mir hinterhergelaufen ist, um mich auszufragen. Oh, er hat natürlich die ganze Zeit über so getan, als würde er sich für die Klamotten im Laden interessieren, aber zwischendurch kamen immer wieder Fragen, für die ich ihm am liebsten meine Meinung gesagt hätte, einfach weil sie viel zu persönlich waren. Allerdings habe ich mir das wohlweislich verkniffen. Nur hatten leider weder genervtes Schweigen meinerseits noch böse Blicke irgendeinen Effekt. Im Gegenteil, ihm schien das Ganze auch noch Spaß zu machen. Reichlich genervt vom Ende meines Arbeitstages schlage ich meine Autotür wesentlich lauter zu, als es nötig wäre, als ich endlich zu Hause ankomme. Aber sobald ich meine Wohnungstür aufgeschlossen, mich meines Mantels entledigt habe und Murray mir um die Beine streicht, um meine Aufmerksamkeit auf sein halb verhungertes Selbst zu lenken, schiebe ich sämtliche Gedanken an Gabriel beiseite. So schnell, denke ich bei mir, während ich meinen armen Kater erst mal vor dem Hungertod bewahre, werde ich ihm ja wohl – hoffentlich – nicht noch mal über den Weg laufen. Kapitel 5: Shooting ------------------- Wie sehr ich mich mit meiner Vermutung vom Montagabend getäuscht habe, stelle ich am Mittwoch fest, als es Zeit für das Shooting wird. Den Vormittag habe ich wie üblich im Laden verbracht, aber um halb zwölf taucht Lucy aus ihrem Büro auf und kommt nach vorne, um die Kasse zu übernehmen. Für mich bedeutet das im Klartext, dass es jetzt Zeit ist, loszufahren, damit ich pünktlich zum Shooting komme. Die Klamotten, die heute abgelichtet werden sollen, sind bereits seit heute Morgen in meinem Kofferraum verstaut. Bevor ich mich allerdings verabschieden und losfahren kann, hält Lucy mich noch mal auf. "Nimmst du Gabriel gleich eben mit? Ich hab mit Morgaines Ersatz gesprochen und er war einverstanden, dass er heute gleich zwei Models ablichtet statt nur einem", sagt sie und ich kann mir nur mit allergrößter Mühe ein genervtes Augenrollen verkneifen. Super, wirklich. Ganz toll. Ich hatte gehofft, ich würde zumindest noch eine Weile von dieser Nervensäge verschont bleiben, aber das war ja wohl nichts. Ich hoffe bloß, er reißt sich heute zusammen und geht mir nicht wieder so auf den Keks wie vorgestern. "Klar, mach ich", erkläre ich mich einverstanden, obwohl ich genau das eigentlich ganz und gar nicht bin. Aber Lucy ist nun mal meine Chefin. Und wenn sie will, dass ihr Bruder mit auf die Bilder kommt, dann muss ich mich wohl oder übel fügen. Nur gefallen muss mir das ja nicht unbedingt, oder? Ich verkneife mir allerdings jegliche Bemerkung in diese Richtung. Lucy wird ganz sicher nicht hören wollen, dass ihr Bruder meine Nerven schon am Montag reichlich überstrapaziert hat und dass ich mir nicht sicher bin, ob ich mich heute auch so gut im Griff haben werde. Nach einer kurzen Verabschiedung verlasse ich den Laden durch die Hintertür, um zu meinem Wagen zu gehen. Nur mit Mühe kann ich ein genervtes Aufstöhnen unterdrücken, als ich Gabriel entdecke, der offenbar bereits auf mich gewartet hat. Er begrüßt mich mit einem breiten Grinsen, das ich jedoch unerwidert lasse. "Steig ein. Wir haben einen Zeitplan einzuhalten." Ich bin mir durchaus dessen bewusst, dass ich nicht besonders freundlich klinge, aber das hat er sich definitiv selbst zuzuschreiben. Mag ja sein, dass es Leute gibt, die sich gerne so ungeniert ausquetschen lassen, aber ich gehöre nun mal nicht zu dieser Sorte Mensch. "So schlecht gelaunt?", erkundigt Gabriel sich noch immer mit deutlich hörbarem und auch unübersehbarem Amüsement, nachdem er eingestiegen ist und sich angeschnallt hat. "Muss an der Gesellschaft liegen", rutscht es mir heraus, aber Gabriel scheint mir das keinesfalls übel zu nehmen. Stattdessen lacht er nur, während ich meinen Wagen starte. "Das hör ich oft", gibt er unumwunden zu. "Ich bin ziemlich anstrengend, das weiß ich", fährt er fort und mir liegt die Frage auf der Zunge, warum er sich nicht etwas zurückhält, wenn ihm doch klar ist, wie sehr er anderen auf den Wecker fällt. Ich spreche die Frage jedoch nicht aus. Das muss ich allerdings offenbar auch gar nicht, denn Gabriel scheint mühelos erkennen zu können, was ich gerade denke. "Ich hab schon des Öfteren versucht, das abzustellen, aber irgendwie klappt das einfach nicht. Jedenfalls nicht dauerhaft. Mein Mund ist schon immer schneller gewesen als mein Hirn." Wieder werde ich angegrinst, aber wenn Gabriel eine Antwort von mir erwartet, dann wartet er vergebens. Ich schalte einfach nur mein Radio ein und konzentriere mich auf den Verkehr. Ich habe wirklich absolut nicht den Nerv, jetzt noch eine Unterhaltung zu bestreiten. Es reicht schon, dass ich ihn den ganzen restlichen Nachmittag werde ertragen müssen. Als das Studio, in dem Morgaine arbeitet, endlich in Sicht kommt, atme ich unwillkürlich auf. Gabriel hat zwar dankenswerterweise die ganze Fahrt über die Klappe gehalten, aber das Grinsen in seinem Gesicht hat mir ganz und gar nicht gefallen. Ich will wirklich nicht wissen, was in seinem Kopf vor sich geht. Und am liebsten wäre es mir, wenn er gar nicht erst hier wäre. Aber das ist er nun mal, also bleibt mir nicht viel übrig als mich irgendwie mit der Situation abzufinden. Ist ja nicht so, als ob ich eine großartige Wahl hätte. Nachdem ich meinen Wagen geparkt habe und gemeinsam mit Gabriel ausgestiegen bin, schnappe ich mir noch eben die Kartons mit den Klamotten aus dem Kofferraum. Gabriel geht währenddessen schon mal vor und hält mir sogar die Tür des Studios auf, aber ich bin ganz und gar nicht in der Stimmung, ihm dafür zu danken. Nicht bei dem unverschämten Grinsen, das schon wieder auf seinen Lippen klebt. Und sein zweideutiges Zwinkern hätte er sich meinetwegen auch gerne schenken können. "Hi", werden Gabriel und ich begrüßt, als wir das Studio betreten, und ich reiße meine Aufmerksamkeit von meinem nervigen Begleiter los, um sie auf Morgaines Vertretung zu richten. Er ist nur ein paar Zentimeter kleiner als ich und hat seine schwarzen Haare zu einem Zopf zusammengebunden, wohl damit sie ihm bei der Arbeit nicht im Weg sind – eine Tatsache, die seinen Undercut nur noch mehr unterstreicht. Seine Kleidung besteht aus einer schwarzen Jeans, einem ebensolchen Longsleeve, 30-Loch-Rangers und einem Nietenhalsband mit Ring. Seine grauen Augen – eine Spur heller als meine eigenen – hat er mit Kajal betont und sein Lächeln ist offen und freundlich. "Ihr müsst Simon und Gabriel sein. Ich bin Jonas, aber ihr könnt gerne Jojo sagen, wenn ihr wollt", stellt er sich vor und ich kann mir nicht helfen, aber irgendwie ist er mir auf Anhieb sympathisch. Kein Wunder, dass Morgaine so gut mit ihm klarkommt, wenn er wirklich so nett ist, wie er gerade rüberkommt. Und scheinbar ist er das tatsächlich, denn er nimmt mir ohne Aufforderung einen der Kartons ab und geht mit diesem vor nach hinten, wo bisher sämtliche Shootings für die Website des Ladens stattgefunden haben. Wie nicht anders erwartet ist schon alles vorbereitet. Es fehlen also eigentlich nur noch Gabriel und ich in den Klamotten, die Lucy für heute ausgewählt hat. "Umziehen könnt ihr euch da drüben." Jojo nickt in Richtung der provisorischen Umkleide, die ich schon zur Genüge kenne. Immerhin mache ich das hier nicht zum ersten Mal mit. Lucy hat mich schon kurz nach meiner Einstellung das erste Mal … freundlich überredet, mich für Fotos für die Website des Ladens zur Verfügung zu stellen. Man könnte auch sagen, sie hat mich einfach mitgeschleift und mir gar nicht groß eine Wahl gelassen. Aber so schlimm fand ich das damals eigentlich gar nicht. Und es stört mich heute auch heute kein bisschen. Gut, die Gesellschaft bräuchte ich nicht unbedingt, aber so langsam finde ich wieder einigermaßen zu meiner inneren Ruhe zurück. Egal, wie nervig Gabriel auch sein wird, ich werde das Shooting schon irgendwie überstehen, ohne ihm an die Gurgel zu gehen. Dieser Vorsatz gerät allerdings keine fünf Minuten später bereits ernsthaft ins Wanken, als Gabriel und ich gemeinsam in der Umkleideecke – eine wirkliche Kabine gibt es hier im Studio nicht; das Provisorium besteht aus einer Wäscheleine, an der mit Wäscheklammern zwei Bettlaken befestigt sind – stehen, um uns für das Shooting fertigzumachen. Ich bin gerade dabei, mir ein Hemd aus einem der Kartons herauszukramen und überzuziehen, als ich bemerke, dass Gabriel mich unverhohlen anstarrt. Als ihm auffällt, dass mir sein Starren nicht entgangen ist, legt sich ein Grinsen auf seine Lippen, das irgendwo zwischen ertappt, peinlich berührt und unverschämt schwankt. "So halb ohne Klamotten siehst du noch heißer aus", teilt er mir ungefragt seine Meinung mit und ich muss mich stark zusammenreißen, um nicht laut oder ausfallend zu werden. Der spinnt ja wohl! "Wir sind zum Arbeiten hier, nicht zum Gaffen", weise ich ihn etwas schärfer als notwendig zurecht, aber das beeindruckt ihn offenbar ganz und gar nicht. Eher sogar im Gegenteil, denn ganz plötzlich bekommt sein Gesichtsausdruck etwas merkwürdig Schwärmerisches, das ich mir nicht so recht erklären kann. Allerdings will ich das eigentlich auch ganz und gar nicht, also schnappe ich mir kommentarlos das Hemd, ziehe es über und lasse Gabriel dann einfach stehen. Wenn er Löcher in die Luft starren will, bitteschön. Das kann er gerne tun, aber ohne mich. Am Set angekommen atme ich mit geschlossenen Augen mehrmals betont tief durch, um meinen Ärger in den Griff zu kriegen. Als ich meine Augen wieder öffne, finde ich mich mit Jojo konfrontiert, der mich mit schiefgelegtem Kopf betrachtet. "Wenn ihr zwei Umkleiden braucht, lässt sich das auch einrichten. Dann bauen wir kurz ein bisschen um", bietet er mir an und obwohl es mir ein bisschen peinlich ist, dass mein Disput mit Gabriel nicht unbemerkt geblieben ist, bin ich doch dankbar für das Angebot. Trotzdem ist es reichlich lächerlich, einen solchen Aufriss zu machen, nur weil Gabriel mich nun mal nervt. "Geht schon", lehne ich daher das Angebot ab und Jojo bedenkt mich mit einem skeptischen Blick, sagt aber nichts mehr dazu, sondern dirigiert mich schon mal in die erste Pose, mit der er anfangen will. Keine zwei Minuten nach mir taucht auch Gabriel endlich auf, gesellt sich dazu und lässt sich ebenfalls in Pose bringen. Sobald er mit uns beiden zufrieden ist, schnappt Jojo sich seine Kamera und legt los. Er schießt Foto auf Foto, legt aber auch immer wieder mal die Kamera beiseite, um Gabriels oder meine Haltung zu korrigieren. Mit ihm zu arbeiten, stelle ich fest, ist eindeutig anders als ein Shooting mit Morgaine – logischerweise, denn Morgaine und ich kennen uns immerhin schon eine ganze Weile. Und heute bin ich ja auch nicht der Einzige, der abgelichtet wird. Allerdings gelingt es Jojo erstaunlicherweise ziemlich gut, dafür zu sorgen, dass Gabriel und ich während der Aufnahmen nicht aneinander rasseln. Gabriel geht mir zwar immer noch gehörig auf die Nerven, aber Jojo deichselt das Ganze irgendwie so, dass wir uns nach dem unerfreulichen Start nicht mehr gleichzeitig umziehen müssen und uns deswegen auch nicht mehr in die Haare geraten können. Gabriel wirkt davon zwar alles andere als angetan, aber ich bin Jojo eindeutig dankbar für seine Intervention. Um kurz nach sechs machen wir gerade gemeinsam eine Pause auf dem gemütlichen Sofa im hinteren Teil des Studios – wobei Jojo, sicher nicht ganz uneigennützig, den Platz zwischen uns gewählt hat –, als die Hintertür des Studios geöffnet wird und Morgaine auftaucht. "Hey, ihr Drei!", grüßt sie gut gelaunt in die Runde und kommt zu uns hinüber, um mich wie üblich kurz zur Begrüßung zu umarmen. "Schau mal, wen ich draußen gefunden hab", wendet sie sich danach mit einem breiten Grinsen auf den Lippen an Jojo, tritt zur Seite und ich bemerke jetzt erst den schlaksigen Kerl, den sie im Schlepptau hat. Er trägt eine schwarze Jeans, eins von den ASP-Shirts, die ich von Flos Familie so gut kenne, und seinerseits ein schiefes Grinsen im Gesicht. "Ich hab deinen Entwurf dabei", teilt der Typ Jojo mit seltsam unpassender Stimme und wenn ich nicht schon säße, hätte es mich in dem Moment, in dem mir mein Irrtum auffällt, ganz sicher aus den Latschen gehauen. Das ist ja gar kein Kerl, das ist ein Mädchen! Sie kramt kurz in der Umhängetasche herum, die sie bei sich hat, und reicht Jojo dann einen Block. Ich kann nicht genau erkennen, was darauf ist, aber Jojo, der sich kurz erhoben hat, um den Block entgegenzunehmen, kommt meiner Neugier entgegen, indem er sich wieder hinsetzt und erst dann einen genaueren Blick darauf wirft. Da ich direkt neben ihm sitze, kann ich jetzt auch erkennen, um was es sich bei der Zeichnung handelt: einen Namen. Adrian steht auf dem weißen Papier, die Buchstaben schräg von unten nach oben angeordnet und umschlungen von Efeuranken. Für mich sieht das eindeutig nach einem Entwurf für ein Tattoo aus, aber ich verkneife mir die Frage, ob ich richtig liege. Gabriel ist jedoch nicht so zurückhaltend wie ich. Da er es ganz offenbar auch dieses Mal nicht schafft, seine Neugier zu zügeln, hängt er sich halb über mich und liegt damit mehr oder weniger auf meinem Schoß. Er sieht zwar mich nicht an, sondern richtet seine ganze Konzentration auf den Block in Jojos Händen, aber trotzdem habe ich das Gefühl, dass es Gabriel ganz und gar nicht Unrecht ist, dass er mich jetzt hier aufs Sofa gepinnt hat, ohne dass ich mich verdrücken kann. Um das zu tun müsste ich ihn von mir runterschubsen und würde mich damit ganz sicher bis auf die Knochen blamieren. "Der Name von deinem Freund?", schießt Gabriel ins Blaue und grinst, als Jojo einfach nur nickt. "Ja. Das hier soll ein Geschenk für ihn werden. Eine Überraschung", erklärt er etwas verlegen und blickt dann das Mädchen an, das ihm den Entwurf vorbeigebracht hat. "Genauso hab ich's mir vorgestellt. Danke, Charlie", sagt er und auf Charlies Lippen legt sich wieder ein schiefes Grinsen. "Hauptsache, es gefällt dir. Und wenn's Adrian nicht gefällt, dann kriegt er's mit mir zu tun", droht sie und Jojo schüttelt leise lachend den Kopf. "Ich weiß nicht, ob ich da Schiedsrichter spielen wollen würde", scherzt er, klappt den Block zusammen und reicht ihn ihr zurück. "Wegen dem Termin komme ich noch rum. Damit wollte ich warten, bis er zu seinem Praktikum aufgebrochen ist", teilt er ihr dabei mit und Charlie nickt knapp, ehe sie sich neben Jojo auf die Couch plumpsen lässt. Scheinbar will sie hier auf ihn warten, bis er Feierabend macht – was mir, wenn ich ehrlich bin, sogar sehr gelegen kommt. Allerdings komme ich im Augenblick nicht dazu, Charlie anzusprechen, denn da Gabriel immer noch halb auf meinem Schoß liegt, kann ich nicht aufstehen. Und einfach über Jojo hinweg möchte ich nicht mit ihr sprechen – hauptsächlich, weil ich gut darauf verzichten kann, dass Gabriel seinen Senf dazu gibt. Er kann alles essen, aber alles wissen muss er nun wirklich nicht. Glücklicherweise sieht Morgaine mir an, wie unangenehm mir die Situation hier ist. "Kommst du mal kurz, Simon?", fragt sie und ich schiebe den deutlich widerwilligen Gabriel von mir herunter, damit ich aufstehen und zu Morgaine rübergehen kann. "Du bist meine Rettung", lasse ich sie leise wissen und sie grinst kurz, aber so, dass Gabriel davon nichts mitkriegt. "Lucys Bruder steht ja total auf dich", teilt sie mir mit, was mehr als offensichtlich ist, und ich verdrehe die Augen. "Schön für ihn, aber das beruht ganz sicher nicht auf Gegenseitigkeit", gebe ich zurück und Morgaine knufft mir kurz in die Seite, sagt aber nichts weiter dazu. Sie weiß zwar, dass ich aktuell als Single nicht unbedingt glücklich bin, aber sie kennt mich auch gut genug um zu wissen, dass Gabriel absolut nicht mein Typ ist. Zu aufdringlich, zu nervig. "Wollen wir dann weitermachen?", holt Jojos Stimme mich wieder aus meinen Gedanken und ich lasse mich gemeinsam mit Gabriel zurück an die Arbeit scheuchen. Und jetzt, wo Morgaine auch hier ist, fällt es mir wesentlich leichter, Gabriel zu ignorieren – eine Tatsache, die ihm scheinbar weder entgeht noch gefällt. Aber das ist sein Problem, nicht meins. Trotzdem bin ich froh, als Jojo irgendwann beschließt, noch ein paar Einzelshoots von uns beiden zu machen. Und dadurch, dass er mich zuerst ablichtet, habe ich danach endlich die Gelegenheit, meine Fragen an Charlie loszuwerden. Sie sitzt noch immer auf der Couch, inzwischen gemeinsam mit Morgaine, und ich setze mich einfach dazu. Dabei spüre ich durchaus Gabriels Blicke im Nacken, aber ich ignoriere ihn für den Moment. Jetzt gibt es wichtigeres als rothaarige Nervensägen. "Du bist Tätowiererin?", beginne ich das Gespräch und Charlie sieht mich erst ein wenig überrascht an, aber dann nickt sie. "Ja, wieso?", will sie wissen und schüttelt gleich darauf über sich selbst grinsend den Kopf. "Vergiss die dämliche Frage. Was willst du wissen?", erkundigt sie sich stattdessen und ich erwidere ihr Grinsen kurz, ehe ich in Richtung des Blocks nicke, der auf dem Tisch liegt. "Ich bin schon seit längerem auf der Suche nach einem Tattoostudio. Ich hab ein ganz bestimmtes Motiv im Kopf, das ich mir gerne stechen lassen würde", erzähle ich ihr dann und kann aus dem Augenwinkel sehen, wie Morgaine mich überrascht ansieht. Davon wusste sie bisher noch nichts, aber das ist kein Wunder. Ich will mich zwar wirklich schon seit längerer Zeit tätowieren lassen, aber bisher habe ich weder mit Morgaine noch mit Flo oder sonst wem darüber gesprochen. "Auch ein Namenstattoo?", will Charlie wissen und ich schüttele den Kopf. "Nicht wirklich, nein", antworte ich, spreche aber erst mal nicht weiter. Morgaine versteht meinen unausgesprochenen Wink, steht auf und seufzt übertrieben. "Wenn du unbedingt ein Geheimnis daraus machen musst, bitte sehr. Viel Spaß dabei", sagt sie und zieht einen Flunsch, der allerdings nur zur Hälfte ernst gemeint ist. Morgaine ist glücklicherweise wesentlich geduldiger als Flo. Wenn er jetzt hier wäre, würde er mich unter Garantie so lange ausquetschen, bis ich ihm erzähle, was mir genau vorschwebt. Sobald Morgaine außer Hörweite ist, mache ich mich daran, Charlie zu erklären, wie genau ich mir mein Tattoo vorstelle. Sie sagt nichts, sondern hört mir nur schweigend zu und nickt hin und wieder. Erst als ich geendet habe, ergreift sie wieder das Wort. "Klingt wirklich interessant", murmelt sie und kramt kurz in ihrer Tasche herum. "Aber das ist nicht unbedingt meine Stärke. Da solltest du dich besser an meine Chefin Sandy wenden. Oder noch besser an Lu. Der kriegt das, was du dir vorstellst, auf jeden Fall hin", schiebt sie noch hinterher und drückt mir eine Visitenkarte in die Hand, die sie nach kurzem Suchen aus den Untiefen ihrer Tasche herausbefördert hat. "Ich kann ihn ja nachher oder morgen schon mal darauf ansetzen. Normalerweise braucht er so ein, zwei Tage für einen ersten Entwurf, also wär's wohl am besten, wenn du am Freitag einfach mal reinkommst. Bis dahin hat er sicher was vorbereitet und dann könnt ihr eventuelle Änderungen vor dem Stechen noch in Ruhe absprechen. Die Adresse und die Öffnungszeiten stehen auf der Karte", erklärt sie mir und ich werfe einen Blick auf das kleine Stück Papier, ehe ich es in meinem Portemonnaie verschwinden lasse. "Danke." "Kein Ding." Auf Charlies Lippen erscheint ein schiefes Grinsen und sie nickt in Richtung Gabriel, der uns, wie mir nicht entgeht, unverhohlen anstarrt. "Ein Fan von dir, was?", vermutet Charlie und ich kann mir ein leises Auflachen nicht verkneifen. Irgendwie mag ich ihren etwas schrägen Sinn für Humor. "Sieht ganz so aus", gebe ich ihr Recht und ihr Grinsen wächst noch ein ganzes Stück in die Breite. "Wenn solche Leute nicht so dein Ding sind, dann sollte ich dich wohl besser warnen: Lu kann auch ziemlich nervig sein, wenn er will. Er macht auch nie einen Hehl daraus, wenn ihm ein Typ oder ein Mädel gefällt. Und ich bin mir ziemlich sicher, du würdest ihm gefallen", teilt sie mir mit und lacht ihrerseits auf, als ich sie mit einem Gesichtsausdruck bedenke, als hätte ich in eine Zitrone gebissen. "Aber keine Sorge. Wenn ich dabei bin, reißt Lu sich zusammen", verspricht sie mir, sobald sie sich wieder von ihrem Amüsement erholt hat. "Und wenn er zu sehr nerven sollte, sag ihm das einfach, dann nimmt er sich zurück. Lu ist nicht ganz so merkbefreit wie dein Fan da drüben", schiebt sie noch hinterher. Ich bin mir nicht sicher, ob mich das wirklich beruhigen soll, aber zumindest bin ich gewappnet. Wenn dieser Lu wirklich so nervig sein sollte wie Gabriel, dann muss ich eben weiter nach einem Tattoostudio suchen. Jetzt habe ich schon so lange gewartet, da kommt es auf ein paar Wochen mehr oder weniger auch nicht an. Eine gute halbe Stunde unterhalten Charlie, Morgaine und ich uns noch – ich erfahre unter anderem, dass Charlie einen Hund hat –, dann sind Jojo und Gabriel mit dem Shooting fertig und gesellen sich zu uns, sobald Gabriel sich wieder umgezogen hat. Gemeinschaftlich räumen wir Fünf dann noch eben das Studio auf und packen die Klamotten in meinen Kofferraum, ehe wir uns voneinander verabschieden. Wie schon auf der Herfahrt steigt Gabriel wieder in meinen Wagen, aber er ist wesentlich schweigsamer als heute Morgen. Offenbar ist ihm sein Soloshooting auf die Laune geschlagen, aber ich kann nicht behaupten, dass mich das stört. Im Gegensatz zu heute Morgen, als ich ihn vom Laden aus mitgenommen habe, setze ich Gabriel jetzt bei Lucy zu Hause ab. Ich warte aus Höflichkeit, bis er im Haus verschwunden ist, und fahre dann erst selbst nach Hause. Dort angekommen füttere ich zuallererst meine hungrige Bestie, ehe ich es mir im Wohnzimmer gemütlich mache, um den Abend mit etwas guter Musik und einem schmusebedürftigen Kater ausklingen zu lassen. Und so im Nachhinein betrachtet, war der Tag eigentlich doch viel weniger nervtötend als ich erwartet hatte. Ich kraule Murray, der wie üblich auf meinem Bauch liegt, hinter den Ohren und frage ich mich, ob dieser Lu, von dem Charlie mir erzählt hat, wohl wirklich so gut ist, wie sie behauptet hat. Aber, denke ich bei mir, während Murray mir schnurrend mein Hemd vollhaart, das werde ich ja am Freitag sehen. Kapitel 6: Freitag ------------------ Nach einem recht entspannten Donnerstag – von Gabriel war nach dem Shooting vom Mittwoch am Tag danach nicht ein einziges rotes Haar zu sehen – beginnt mein Freitagmorgen alles andere als gut. Ich werde fast eine Stunde zu früh aus dem Schlaf gerissen, weil mein dicker Kater es sich offenbar zur Aufgabe gemacht hat, mal wieder seine imaginären Feinde zu bekämpfen. Im Klartext bedeutet das, dass er mir erst auf den Bauch springt, nur um von dort aus einen wenig eleganten Satz auf den Nachttisch zu machen und bei dem Versuch, sich aus dem Kabel der Nachttischlampe zu befreien, in dem er sich verheddert hat, meinen Wecker umzureißen und runterzuwerfen. Nur ein schneller Griff meinerseits verhindert, dass ich mir zusätzlich zu einem neuen Wecker auch noch eine neue Lampe zulegen muss. Murray ist über meine Hilfe allerdings wenig begeistert und so darf ich, anstatt noch etwas weiterzuschlafen, erst mal ins Bad verschwinden, um die blutenden Kratzer auf meinem Handrücken zu versorgen. "Murray, du elendes Mistvieh!", murre ich den Kater an, der nach dieser Aktion natürlich nirgendwo mehr zu sehen ist. Wahrscheinlich versteckt er sich gerade entweder unter dem Bett oder aber hinter meinem PC. Und er wird garantiert erst wieder rauskommen, wenn ich ihm sein Futter fertigmache. Aber, beschließe ich mit einem grimmigen Blick in den Spiegel, darauf kann seine Hoheit heute lange warten. Jetzt werde erst mal ich frühstücken. Dem kleinen Moppel schadet es auch nicht, wenn er erst etwas später was zu fressen kriegt. Gedacht, getan. Noch immer grollend tappe ich barfuß in Richtung Küche – eine Entscheidung, die ich einen halben Meter vor der Küchentür schlagartig bereue, weil ich natürlich prompt auf einen Haarball trete, den Murray dort für mich hinterlassen hat. Nur mit Mühe unterdrücke ich einen sehr unflätigen Fluch, während ich auf einem Bein weiterhopse, um mir aus der Küche etwas Papier zu holen. Damit säubere ich erst einmal notdürftig meinen Fuß, ehe ich die Schweinerei vor der Küchentür beseitige. Normalerweise, grummele ich dabei vor mich hin, bin ich morgens aufmerksamer. Aber wenn man so … liebevoll aus dem Schlaf gerissen wird, ist es – zumindest bei mir – mit Aufmerksamkeit nicht allzu weit her. Noch schlechter gelaunt als eben schmeiße ich meine Kaffeemaschine an und beschließe dann, mir statt eines Frühstücks jetzt erst mal eine Dusche zu gönnen. Das ist definitiv nötig. Und danach bin ich hoffentlich auch wach genug, um weitere … Überraschungen meines Katers rechtzeitig zu sehen. Auf noch so eine Aktion kann ich heute Morgen nämlich definitiv verzichten. Mit deutlich gesunkener Laune pelle ich mich im Bad aus meinen Schlafklamotten und steige in die Duschkabine. Das warme Wasser trägt dazu bei, meine Stimmung wieder ein wenig zu heben, und so bin ich, als ich fertig geduscht habe, wesentlich besser drauf als vorhin. Auf dem Weg ins Schlafzimmer mache ich erst noch einen kurzen Abstecher ins Wohnzimmer, schalte meine Anlage ein und ziehe mich zu den Klängen von ›Tomorrow never comes‹ an, ehe ich den kaputten Wecker entsorge und dann dem Kaffeeduft in meine Küche folge. Noch immer ist von Murray nichts zu sehen, aber ich bin ihm inzwischen nicht mal mehr wirklich böse. Gut, die Sache mit dem Wecker hätte nicht sein müssen, aber das ist eben das Risiko, wenn man sich eine Katze anschafft. Und ein neuer Wecker kostet ja nun auch nicht die Welt. Außerdem habe ich heute früh Feierabend, also habe ich genügend Zeit, mir einen zu besorgen. "Komm schon her, Dicker. Frühstück", versuche ich also, Murray zu locken, aber der dicke Fellfussel bleibt verschwunden. Trotzdem richte ich sein Futter her und gönne mir dann doch endlich eine Tasse Kaffee, um meine Lebensgeister endgültig in Schwung zu bringen. Dadurch, dass ich heute deutlich früher wach und fertig bin als sonst, habe ich etwas mehr Zeit zum Frühstücken. Ich bin zwar eigentlich kein Mensch, der morgens ewig lange vor sich hin gammeln kann, aber es ist mal was anderes. Ungewohnt zwar, aber nach der zweiten Tasse Kaffee eigentlich gar nicht so schlecht. Ich bin bei meiner dritten Tasse Kaffee angelangt, als Murray, ganz Reumütigkeit in Person, in die Küche geschlichen kommt. Im Gegensatz zu sonst stürzt er sich jetzt auch nicht sofort auf sein Futter, sondern schielt erst einmal misstrauisch in Richtung Napf, ehe er sich zögerlich auf mich zubewegt. Ich beobachte ihn schmunzelnd dabei, stelle meine Tasse ab und sobald der Dicke nah genug ist, schnappe ich ihn mir und hebe ihn auf meinen Schoß. Dafür trifft mich ein abschätzender Blick, aber sobald Murray klar wird, dass ich ihn keinesfalls aus dem Fenster werfen werde, kuschelt er sich an meine Hand und schnurrt wie ein kaputter Ventilator. Unwillkürlich muss ich grinsen. "Hast du ein Glück, dass ich dich so mag. Sonst hätte dir der Mist da vorhin definitiv mehr Ärger eingebracht", teile ich dem Kater mit, aber davon lässt er sich nicht stören. Jetzt, wo er schon dabei ist, haart er mir erst mal voller Hingabe meine Klamotten voll, ehe er wieder von meinem Schoß hopst und zu seinem Fressnapf stolziert, um dessen Inhalt zu inhalieren. Ich werfe einen kurzen Blick auf meine Küchenuhr und erhebe mich dann mit einem Seufzen. Noch schnell die Kaffeetasse leeren und in die Spüle stellen, dann mache ich mich auf den Weg in den Flur, um mich fertig anzuziehen. Knappe zwanzig Minuten später parke ich meinen Wagen hinter dem Laden, betrete diesen durch die Hintertür und kämpfe beinahe sofort mit dem Drang, mich auf dem Absatz umzudrehen und wieder zu gehen. Vor mir taucht nämlich Gabriel auf, dicht gefolgt von Lucy, die mich voller schwesterlicher Begeisterung wissen lässt, dass ich heute das unsagbare Vergnügen haben werde, ihrem Bruder alles hier zu zeigen, "damit er dich oder mich mal vertreten kann, wenn was ist". Ich kann meine Begeisterung kaum zügeln, verkneife mir aber jeden diesbezüglichen Kommentar und nicke einfach nur. Dabei sinniere ich, dass der beschissene Start in den Tag wohl ein Omen gewesen sein muss. Aber, ermahne ich mich selbst, nur nicht die Nerven verlieren – auch wenn das bei Gabriels breitem, zufriedenem Grinsen wesentlich leichter gesagt ist als getan. Während Lucy sich nach der ersten Viertelstunde der Einweisung wieder in ihr Büro zurückzieht, schlage ich mir die ersten zwei Stunden meines Arbeitstages damit um die Ohren, Gabriel alles zu zeigen. Zum Glück – oder auch leider, je nachdem – ist so früh noch nicht allzu viel los, also habe ich genügend Muße. An Enthusiasmus mangelt es mir zwar, aber sehr zu meiner Erleichterung hält Gabriel größtenteils seine viel zu große Klappe. Ab und zu kann er sich zwar einen blöden Spruch oder eine dumme Bemerkung nicht verkneifen, aber außer hin und wieder einem strafenden Blick gönne ich ihm keine Reaktion darauf. Gegen elf trudeln so langsam die ersten Kunden ein. Ich komme mir ein bisschen blöd vor, weil Gabriel mir auch bei den Beratungsgesprächen immer noch wie ein übereifriger Welpe auf Schritt und Tritt folgt, aber das Gefühl tue ich mit einem innerlichen Schulterzucken ab. Das ist eben nicht zu ändern. Da muss ich nun mal durch, ob ich will oder nicht. Und je weniger ich mir meine Abneigung gegen das alles hier anmerken lasse, desto leichter wird es werden, davon bin ich überzeugt. Zum Glück habe ich heute nur einen halben Tag vor mir. Es ist kurz nach eins und ich bin gerade damit beschäftigt, ein paar Kleider wieder an die richtigen Ständer zurückzuhängen, als von hinter mir ein Räuspern kommt. Ich drehe mich um und finde mich mit jemandem konfrontiert, den ich erst auf den zweiten Blick erkenne. Thore. Was in aller Welt macht der denn hier? Der hat mir gerade noch gefehlt. Es ist ja nun nicht so, als wäre der heutige Tag nicht ohnehin schon ein kompletter Reinfall. "Hallo, Simon", begrüßt Thore mich und ich ringe mir etwas mühsam ein "Hi" ab, das zwar nicht gerade begeistert, aber wenigstens auch nicht komplett unfreundlich klingt. Mein Gegenüber streicht sich seine langen roten Haare – von Natur aus rot, nicht gefärbt wie bei Gabriel – hinters Ohr und auf seinen Lippen erscheint ein etwas verlegen wirkendes Lächeln, das mich zugegebenermaßen etwas aus dem Konzept bringt. Was wird das denn jetzt? "Hast du vielleicht mal fünf Minuten? Ich müsste kurz mit dir reden", kommt er zum offensichtlichen Grund seines Besuches und ich ertappe mich dabei, wie ich einfach nur nicke. "Klar", höre ich mich selbst sagen und bin einigermaßen erstaunt darüber. Aber zugegebenermaßen bin ich auch neugierig. Nach dem reichlich misslungenen vergangenen Freitag hatte ich alles erwartet, aber ganz sicher nicht, dass ich Thore noch mal wiedersehen würde. Und noch weniger hatte ich erwartet, dass er hier im Laden auftaucht. Weil es mich doch sehr interessiert, worüber genau er mit mir reden will, drücke ich Gabriel, der mal wieder fast an mir klebt, die Kleider in die Hand und instruiere ihn kurz, wo er sie aufhängen soll, ehe ich Thore andeute, mir nach draußen zu folgen. Im Laden müssen wir nun wirklich nicht reden. Gabriel, der Thore ziemlich feindselig anstarrt – etwas, was ich ihm definitiv noch abgewöhnen muss; so verhält man sich einem potentiellen Kunden gegenüber einfach nicht –, muss auch nicht alles wissen. Sobald wir den Laden verlassen haben, ziehe ich die Tür hinter mir zu und trete gemeinsam mit Thore ein Stück beiseite, so dass ich Gabriel durch eins der Schaufenster im Auge behalten kann. "Und worüber genau willst du mit mir reden?", erkundige ich mich, sobald ich mich davon überzeugt habe, dass Gabriel auch wirklich tut, was ich ihm aufgetragen habe. Thores Antwort lenkt meine Aufmerksamkeit allerdings sehr effektiv von Gabriel und seinen Launen ab. "Ich wollte mich bei dir entschuldigen", bekomme ich nämlich zu hören und bin mir sicher, dass ich Thore auf diese Worte hin ziemlich ungläubig anstarre. Entschuldigen? Habe ich mich verhört? "Entschuldigen?", echoe ich perplex und Thore nickt. Dabei wirkt er tatsächlich etwas beschämt. Er schiebt die Hände in die Taschen seiner Jeans, wie es auch Ruben oft macht, wenn er etwas ausgefressen hat. "Ja", bestätigt Thore mir mit einem Nicken, seufzt und lässt seinen Blick einen Moment lang über die Passanten schweifen, die die Einkaufsstraße bevölkern, ehe er mich wieder ansieht. "Für letzten Freitag. Ich hab mich ziemlich bescheuert benommen", fährt er fort und pustet sich ein paar rote Strähnen, die ihm in die Stirn gerutscht sind, aus dem Gesicht – mit mäßigem Erfolg, so dass er schließlich seine Hände zur Hilfe nehmen muss, um sie zu bändigen. Mit geübten Bewegungen dreht er seine langen Haare ein und bindet sie zu einem lockeren Knoten zusammen. "Ray hat mir für die Aktion, die ich mir da geleistet hab, hinterher noch ganz schön den Kopf gewaschen", gesteht er dabei und seufzt erneut. "Also: Sorry, dass ich da was ganz ordentlich missverstanden hab", schiebt er noch hinterher und ein etwas verunglücktes Grinsen erscheint auf seinen Lippen. "Aber Ray … Ray ist mein ältester und bester Freund und er hat's echt nicht verdient, noch mal so eine Scheiße durchmachen zu müssen wie mit seinem Ex." Die Anspielung ist mehr als deutlich und so nicke ich nur. Flo hat mir erzählt, dass Ray seinen Ex wohl mit einem anderen Typen erwischt hat – was erklärt, warum er so besitzergreifend ist. Ich an seiner Stelle wäre wohl nicht anders, wenn mir so was passiert wäre. "Flo hat mir davon erzählt", gebe ich zurück und schüttele kurz den Kopf. "Aber da muss Ray sich bei ihm keine Sorgen machen. Flo ist absolut treu, wenn er sich erst mal für jemanden entschieden hat. Und was das betrifft, was ich da letzten Freitag gesagt hab …" Was mir, zugegebenermaßen, im Nachhinein wirklich verdammt peinlich ist – vor allem, weil es jemand gehört hat, für dessen Ohren diese Worte ganz bestimmt nicht vorgesehen waren. Aber das kann ich jetzt nicht mehr ungeschehen machen. Augen zu und durch heißt also die Devise. "Flo war meine erste Liebe, aber das ist vorbei. Klar, es war ernst gemeint, was ich zu ihm gesagt hab", das ist schließlich so, "aber ganz sicher nicht so, wie es bei dir angekommen ist. Flo und ich sind seit unserer Trennung nur noch Freunde, weiter nichts. Er will nichts mehr von mir und ich will nichts mehr von ihm. Wir beide als Paar sind Geschichte." Das, was nach unserer Trennung noch eine Zeitlang zwischen uns gelaufen ist, werde ich hier und jetzt ganz sicher nicht zur Sprache bringen. Das ist Flos und meine Privatangelegenheit und geht außer uns niemanden etwas an. "Das haben Ray und Flo mir auch schon erklärt." Wieder seufzt Thore und schüttelt dann über sich selbst den Kopf. "Aber du kennst das bestimmt auch, gerade wenn Flo dein bester Freund ist. Du willst sicher auch nicht, dass ihm irgendwelche Scheiße passiert oder dass ihm irgendein Kerl das Herz bricht", sagt er und ich kann ihm da nur zustimmen. "Genau deshalb hab ich Ray bei der erstbesten Gelegenheit auch sehr gründlich unter die Lupe genommen", gebe ich zu und Thore lacht leise. "Ja, das hat er mir erzählt. Er meinte, er kam sich ziemlich verhört vor – schlimmer als von Flos Eltern", erwidert er und jetzt muss auch ich lachen. "Micha und Vally sind auch viel zu liberal", witzele ich und entlocke Thore damit noch ein weiteres Lachen. Aus dem Augenwinkel kann ich erkennen, dass Gabriel uns beide durch das Schaufenster beobachtet, aber ich ignoriere ihn. "Also ist zwischen uns alles geklärt?", erkundigt Thore sich, sobald er sich wieder erholt hat. Als ich einfach nur nicke, streckt er mir seine Hand hin. "Na dann: Freut mich, dich kennenzulernen, Simon. Ich bin Thore, Rays bester Freund", stellt er sich vor und nach kurzem Zögern ergreife ich die dargebotene Hand. "Freut mich auch", gebe ich zurück und auf Thores Lippen legt sich ein erleichtertes Lächeln. Er lässt meine Hand los und schiebt seine Hände wieder zurück in die Taschen seiner Jeans. "Eigentlich war ich am Mittwoch schon hier, um mich bei dir zu entschuldigen, aber du warst nicht da", teilt er mir dann mit und ich blicke ihn überrascht an. "Mittwoch war ich nur den halben Tag hier. Nachmittags hatten wir ein Shooting für die Website für die Sommerkollektion", erkläre ich meine Abwesenheit und nun ist es an ihm, überrascht dreinzublicken. Sein Blick wandert einmal komplett über meinen Körper und als er mir schließlich wieder ins Gesicht blickt, grinst er breit. "Sieh an, sieh an, ein Teilzeitmodel", zieht er mich auf und ich widerstehe nur mühsam den Drang, ihm die Zunge rauszustrecken. Allerdings wäre das jetzt wirklich zu albern. "Nicht freiwillig", stelle ich trotzdem klar. "Und nicht meine Idee. Befehl von meiner Chefin." "Na dann", kontert Thore gedehnt, noch immer mit diesem Grinsen auf den Lippen. Ihm ist deutlich anzusehen, dass er mich gerne noch etwas mehr triezen würde, aber ein Blick auf seine Uhr belehrt ihn offenbar eines Besseren. "Ich muss los. Meine Pause ist gleich zu Ende", teilt er mir mit und der Drang, ihm doch noch die Zunge rauszustrecken, wird beinahe übermächtig. Aber ich beherrsche mich. "Ich hab gleich Feierabend", lasse ich es mir dennoch nicht nehmen, ihn nun meinerseits aufzuziehen. Thore zieht eine Grimasse. "Du Glücklicher. Ich darf noch bis acht", seufzt er, tut das Ganze dann aber mit einem Achselzucken ab. "Egal. Die paar Stunden krieg ich auch noch rum. Und wenigstens hab ich am Wochenende frei." "Ich auch." Ich weiß nicht mal genau, warum ich ihm das überhaupt erzähle. "Aber ich will dich nicht länger aufhalten. Nicht, dass du meinetwegen zu spät aus der Pause kommst. Außerdem sollte ich auch mal langsam weitermachen. Heute ist schließlich mehr oder weniger Gabriels erster Tag und meine Chefin reißt mir den Kopf ab, wenn ich weiter hier draußen stehe und quatsche, anstatt zu arbeiten." Thore nickt nur auf meine Worte, hebt noch mal die Hand zum Abschied und macht sich dann auf den Weg. Ich blicke ihm kurz nach, schüttele dann über mich selbst den Kopf und gehe zurück in den Laden, wo mich ein wenig begeisterter Gabriel schon erwartet. "Wer war das?", erkundigt er sich neugierig, aber ich bleibe ihm die Antwort schuldig und scheuche uns stattdessen wieder beide an die Arbeit. Immerhin räumen sich die Regale ja nicht von alleine ein – auch wenn das meinen Job an manchen Tagen wirklich ein ganzes Stück einfacher machen würde. Um zwanzig nach zwei komme ich doch endlich dazu, Feierabend zu machen. Lucy übernimmt für mich und daran kann auch Gabriels wenig begeistertes Gesicht nichts ändern. Sie scheint nicht mal zu merken, dass seine Laune mit meinem Feierabend und ihrem Auftauchen ein ganzes Stück absackt. Oder vielleicht ignoriert sie es auch nur. Was es auch ist, es ist mir absolut egal. Ich habe einen freien Nachmittag und ein freies Wochenende vor mir. Und nach den letzten paar Stunden kann ich das auch nur zu gut gebrauchen. "Bis Montag", verabschiede ich mich also von Lucy und Gabriel und mache mich dann auf den Weg in die Innenstadt. Zuallererst werde ich mich mal um einen neuen Wecker kümmern. Und für den Rest des Tages habe ich auch schon einen Plan. Aber immer schön eins nach dem anderen. Ich habe heute schließlich Zeit und Muße genug. Einen neuen Wecker zu finden ist keine allzu schwierige Aufgabe, so dass ich mich um kurz vor drei bereits vor den Türen des Tattoostudios wiederfinde, dessen Visitenkarte Charlie mir vorgestern gegeben hat. Ich zögere nicht lange, sondern drücke die Tür auf und muss grinsen, als mir ›Allegiance‹ entgegenschallt. Doch, ich glaube, hier könnte es mir gefallen. Ein wenig ärgere ich mich ja schon, dass mir der Laden bisher noch nie aufgefallen ist, aber das ist ja eigentlich gar nicht so wichtig. Immerhin weiß ich jetzt ja schließlich, dass es ihn gibt. Und ich muss gestehen, ich bin ziemlich gespannt, ob der von Charlie am Mittwoch so angepriesene Lu meinen Entwurf wirklich schon fertig hat. Kaum dass ich das Studio betrete, kommt mir auch schon Charlie entgegen. "Oh, hi, Simon", begrüßt sie mich und nickt dann in Richtung des Wartebereichs. "Mach's dir schon mal bequem. Lu ist gerade noch beschäftigt, aber ich schick ihn dir gleich raus", verspricht sie und ich nicke ihr kurz zu, ehe ich ihrer Aufforderung Folge leiste und mich in einen der schwarzen Ledersessel setze. Und erst dann nehme ich mir die Zeit, mich richtig umzusehen. Die Wände des Studios sind in einem dunklen Rot gestrichen, das sicher nicht ohne Absicht an Blut erinnert. Überall stehen Vitrinen mit Piercingschmuck und anderen Schmuckstücken herum und auf dem Tresen vorne am Empfang liegen einige Bücher, in denen wahrscheinlich Bilder von Tattoos und Entwürfe aufbewahrt werden. "Hi!", werde ich aus meiner Betrachtung gerissen und als ich aufblicke, steht vor mir ein schlanker Typ von vielleicht achtzehn Jahren. Älter schätze ich ihn auf keinen Fall. Seine braunen Haare hat er zusammengebunden, obwohl sie eigentlich nicht unbedingt lang genug dafür sind, und einige Strähnen fallen ihm ins Gesicht. Blaue Augen beobachten mich neugierig und als er sich sicher ist, dass er meine volle Aufmerksamkeit hat, grinst er mich an. "Ich bin Lukas. Lu, wenn du willst. Du musst Simon sein. Charlie hat mir schon von dir erzählt. Ich hab deinen Entwurf soweit fertig. Warte kurz", sprudelt er drauflos, lässt mich alleine und kommt ein paar Minuten später mit einem Block wie dem wieder, den Charlie am Mittwoch Jojo gezeigt hat. Mit diesem Block bewaffnet lässt Lu sich in den zweiten Sessel mir gegenüber fallen und schiebt mir dann den Entwurf hin. Ich weiß nicht genau, was ich erwartet habe, aber das, was ich zu sehen bekomme, war es definitiv nicht. "Wow", entfährt es mir. Charlie hat definitiv nicht übertrieben, als sie ihren Kollegen so angepriesen hat. Er hat meine Erwartungen nicht nur erfüllt, sondern auf jeden Fall übertroffen. "Das ist unglaublich", lasse ich ihn wissen und Lus Augen beginnen zu strahlen. "Freut mich, dass es dir gefällt", erwidert er und sieht mich mit schiefgelegtem Kopf an. "Charlie sagte, du willst das Tattoo auf dem Rücken haben, von einem Schulterblatt zum anderen", greift er dann das auf, was ich am Mittwoch gesagt habe, und ich nicke. Daraufhin steht er auf, schnappt sich den Block und fordert mich dann auf, ihm ein Stück weiter nach hinten in den Laden zu folgen. "Dafür ist das Motiv wahrscheinlich ein bisschen zu klein. Ich müsste mir also mal deinen Rücken ansehen und dann die Größe ein bisschen anpassen", bekomme ich erklärt und sobald wir im hinteren Bereich angekommen sind, bedeutet er mir, meinen Mantel und mein Hemd auszuziehen. Etwas skeptisch – ich habe Charlies Warnung von Mittwoch nicht vergessen – sehe ich Lu an und auf seine Lippen legt sich ein breites, entwaffnendes Grinsen. "Keine Sorge, ich werd dich nicht fressen. Charlie hat mich vorgewarnt, dass ich brav sein soll, weil du's nicht so mit aufdringlichen Typen hast", sagt er und obwohl es mir ein wenig peinlich ist, dass er offenbar über meine Abneigung gegen Leute wie Gabriel im Bilde ist, zucke ich nur innerlich mit den Schultern und entledige mich dann erst mal meines Mantels, ehe ich mein Hemd aufknöpfe. "Yummy!", kommentiert Lu das und sein Grinsen wird noch etwas breiter, als ich ihn dafür ärgerlich ansehe. "Was denn?", fragt er betont unschuldig. "Ich hab nur versprochen, dass ich dich nicht fresse. Davon, dass ich meine Meinung nicht laut äußere, war nie die Rede", fährt er fort, lässt mir jedoch keine Zeit für eine Erwiderung, sondern hangelt wieder nach seinem Block und tritt damit hinter mich, um sich meinen Rücken anzusehen. Ich kann in dem Spiegel, der einen Großteil der Wand einnimmt, beobachten, wie er abwechselnd seinen Entwurf und meinen Rücken betrachtet und schließlich nickt, als müsste er sich selbst etwas bestätigen. "Okay, das sind nur zwei, drei Zentimeter, die ich das Motiv vergrößern muss." Im Gegensatz zu gerade eben noch klingt Lu mit einem Mal ziemlich professionell. Er scheint also wirklich zu wissen, was er tut. Nach kurzem Überlegen nennt er mir den ungefähren Betrag, den mein Tattoo mich kosten wird, und lässt mich auch gleich wissen, wie lange das Stechen wahrscheinlich dauern wird. "Wenn du noch etwas Zeit hast, dann mach ich das eben fertig und du kannst dir überlegen, ob es dir so gefällt. Wenn du noch Änderungen willst, musst du mir einfach nur Bescheid sagen. Und wenn's so okay für dich ist, dann können wir direkt auch einen Termin zum Stechen vereinbaren", bietet er mir an und legt wie vorhin den Kopf schief. "Das Stechen kann übrigens auch Charlie übernehmen, wenn dir das lieber ist", schlägt er mir dann vor. "Sie hat's nur nicht so mit dem Entwerfen und Zeichnen von Tiermotiven, aber sie kann sie ohne Probleme nachstechen", erklärt er mir, ohne mich aus den Augen zu lassen. "Ich überleg's mir", antworte ich und er nickt kurz, ehe er mir mein Hemd reicht, damit ich mich erst mal wieder anziehen kann. "Ich brauch so ungefähr ne halbe Stunde. Im Moment ist ja nicht viel los und ich hab heute keine weiteren Termine mehr", lässt er mich noch wissen und wartet, bis ich wieder angezogen und vorne gegangen bin. Er selbst bleibt hinten und ich kann sehen, wie er die Kabel eines MP3-Players aus seiner Hosentasche zieht, sich diese in die Ohren schiebt und sich dann mit dem Block hinsetzt, um an dem zweiten Entwurf zu arbeiten. Ich habe es mir gerade wieder vorne bequem gemacht, als Charlie auftaucht und sich zu mir setzt. Wie ich beobachtet auch sie Lu eine Weile beim Zeichnen, dann wendet sie sich mir zu. "Und? Hab ich dir zu viel versprochen?", will sie wissen und grinst, als ich den Kopf schüttele. "Eher sogar zu wenig", gebe ich zu und Charlie nickt, als hätte sie nichts anderes erwartet. "Lu mag manchmal etwas … bescheuert sein, aber er weiß, was er tut. Meistens jedenfalls", schränkt sie ein und streckt mit einem weiteren Grinsen die Beine aus. "Nein, ich faulenze nicht. Mein nächster Termin hat nur Verspätung", erklärt sie mir ihr Gammeln und ich muss selbst auch grinsen. Doch, ich mag sie, eindeutig. "Lu meinte übrigens, du könntest das Stechen auch übernehmen, wenn er den Entwurf fertig hat und ich mich nicht von ihm tätowieren lassen will", breche ich nach einer Weile das Schweigen, das sich zwischen uns ausgebreitet hat. Charlie blickt mich überrascht an, nickt dann aber. "Klar kann ich das machen. Ich krieg Tiere nur nicht so gut gezeichnet wie Lu. Da hab ich aktuell noch ein ziemliches Defizit. Aber wenn ich nen fertigen Entwurf hab, kann ich den ohne Probleme nachstechen. Lu und ich machen das öfter so – je nach Kundenwunsch eben. Manchen Mädels ist es einfach lieber, wenn sie nicht von nem Kerl tätowiert werden. Und manche Typen wollen keine Frau an ihre Haut lassen", erklärt sie mir, aber ich sage nichts dazu. Ehrlich gesagt habe ich mich nämlich noch nicht entschieden, von wem von beiden ich mich tätowieren lassen will. Darüber werde ich mir Gedanken machen, wenn Lu den zweiten Entwurf fertig hat. Vorher ist das ohnehin müßig. Charlie und ich verbringen noch ein paar Minuten damit, einfach über irgendwelche Belanglosigkeiten zu reden. Als die Tür des Studios jedoch geöffnet wird und eine junge blonde Frau etwas abgehetzt hereinkommt, Charlie entschuldigend anlächelt und sich dann aus ihrer Jacke schält, erhebt Charlie sich wieder. "Dann geh ich mal wieder an die Arbeit", adressiert sie in meine Richtung und verschwindet mit der Blondine im hinteren Bereich. Ich bleibe einfach, wo ich bin, und werfe immer mal wieder einen Blick in Lus Richtung, aber der bemerkt davon offenbar nichts. Er ist total vertieft in seinen Entwurf und das gibt mir die Gelegenheit, ihn ein bisschen zu beobachten. Er wirkt jetzt gerade ganz anders als vorhin – nicht so aufgedreht, sondern ziemlich konzentriert und sicher in dem, was er tut. Offenbar, geht es mir durch den Kopf, hat mich mein erster Eindruck getäuscht. Und eigentlich war er ja auch nicht wirklich aufdringlich. Ja, sicher, er konnte sich einen Kommentar offenbar nicht verkneifen, aber es gibt Schlimmeres als das. Wesentlich Schlimmeres. Es dauert noch eine gute Viertelstunde, bis Lu schließlich mit dem Block in der Hand und einem sehr zufriedenen Gesichtsausdruck wieder nach vorne kommt und sich in den Sessel gegenüber von mir plumpsen lässt. "Ich hab noch ein paar Kleinigkeiten geändert, deshalb hat's etwas länger gedauert", erklärt er und hält mir den Block hin. Ich nehme ihn entgegen, werfe einen Blick auf den neuen Entwurf und mir verschlägt es tatsächlich die Sprache. Lu hat nicht nur die Größe und damit die Proportionen angepasst, sondern direkt das ganze Motiv verändert. Statt eines Raben, der einfach nur auf einer der Querstreben eines Pentagramms sitzt und dem Betrachter den Rücken zudreht, hat er die Perspektive komplett verändert. Jetzt erwidert der Rabe den Blick des Betrachters. Aber das ist noch nicht alles. Statt die Flügel angelegt zu lassen, hat Lu sie beim zweiten Entwurf gespreizt, so dass der Rabe wirkt, als würde er entweder etwas oder jemanden vertreiben oder etwas anderes schützen wollen. Auch der Schnabel ist nicht mehr geschlossen, sondern geöffnet. Kurzum, das, was ich hier in der Hand halte, ist ein vollkommen anderes Motiv – eins, das mir sogar noch besser gefällt als das erste. "Ich weiß, es sieht jetzt völlig anders aus als der erste Entwurf, aber irgendwie … Ich fand das einfach passender. Aber wenn's dir nicht gefällt, kein Problem. Dann kann ich auch gerne den ersten Entwurf noch mal überarbeiten und anpassen. Deine Entscheidung." Lu klingt ein wenig nervös – zumindest kommt es mir so vor –, aber ich kann nichts darauf erwidern. Ich kriege kein Wort heraus. Ich bin einfach zu überwältigt und brauche fast zwei Minuten, bis ich meine Sprache doch endlich wiedergefunden habe. "Wann hast du den nächsten Termin frei zum Stechen?", ist das Erste, was ich schlussendlich von mir gebe. Lu wirkt einen Moment lang ziemlich überrumpelt, aber dann strahlt er mich an, springt auf und ist mit drei langen Schritten am Tresen, wo offenbar ein Buch mit den Terminen liegt. Er blättert kurz darin herum, pustet sich eine Strähne aus den Augen und sieht mich dann fragend an. "Wie wär's mit morgen?", schlägt er voller Enthusiasmus vor und noch ehe ich so recht weiß, wie mir geschieht, habe ich auch schon genickt. "Okay, dann trag ich dich gleich ein. Ist zwei Uhr okay? Dann sollten wir eigentlich genug Zeit haben. Das wird immerhin eine ziemlich langwierige Aktion. Oder sind dir mehrere Sitzungen lieber?" "Mir wär's lieber, wenn wir das in einem Rutsch fertig kriegen könnten", gebe ich zurück und auf Lus Lippen erscheint ein breites Grinsen. "Kann ich verstehen", murmelt er, kritzelt irgendetwas in das Terminbuch und kommt dann wieder zu mir. "Wenn ich mir irgendwas ausgesucht hab, kann ich's auch immer kaum erwarten, bis es fertig wird. Ich bin da ziemlich ungeduldig. Frag Charlie. Ich hab sie damit schon ein paar Mal fast in den Wahnsinn getrieben", gibt er ohne die geringste Spur von Verlegenheit zu und lacht, als ich ihn einfach nur mit hochgezogener Braue ansehe. Ich glaube unbesehen, dass er ziemlich nervtötend sein kann, aber ich denke, damit werde ich schon klarkommen. "Dann würde ich sagen, wir sehen uns morgen." Damit stehe ich auf und nehme meinen Mantel und die Tasche mit meinem neuen Wecker entgegen, die Lu mir reicht. "Alles klar. Ich freu mich schon drauf", erwidert er und klingt dabei so ehrlich begeistert, dass ich unwillkürlich schmunzeln muss. "Du magst deinen Job wirklich, oder?", kann ich mir nicht verkneifen zu fragen. Lu nickt sofort. "Ich liebe meinen Job", korrigiert er mich mit einem übermütigen Grinsen, begleitet mich noch bis zur Tür und winkt mir kurz nach, ehe er wieder im hinteren Teil des Ladens verschwindet. Ich hingegen mache mich auf den Heimweg. Mir ist jetzt nach einem gemütlichen Nachmittag mit meinem dicken Kater. Und genau das werde ich mir jetzt auch gönnen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)