Im kalten Licht des Mondes von Chibara-sama ================================================================================ Kapitel 6: Tödlicher Kuss ------------------------- Die nächste Woche war ausgefüllt von mehreren niederen Missionen, und Evelyn war bald sichtlich genervt und vergrub sich hinter einer Mauer aus schweigsamer Grübelei. Der Hokage schmunzelte über Ankos Beobachtung und verschonte das Team mit weiteren Aufträgen, die das Ausführen von Hunden und das Jäten von Unkraut beinhalteten. Dafür erkundigte er sich nach den Fortschritten, die das Training der beiden Mädchen machte. „Yuna und Evelyn trainieren jede freie Minute. Evelyns Methode schlägt an. Yuna musste nur ihre Faulheit besiegen. Sie ist inzwischen richtig gut im Taijutsu. Wenn man jedes Mal eine über den Schädel bekommt, fördert das wohl den Ehrgeiz. Nebenbei lernt Evelyn von Yuna Genjutsu.“ „Es entwickelt sich also alles wie gewünscht?“ „Mehr als das. Die zwei sind schier unzertrennlich.“ „Dann habe ich eine Mission für euch.“ Der Hokage reichte ihr eine Mappe. „Das einzige Problem ist, dass wir nicht wissen, wie gefährlich der Mann ist.“, sagte der Hokage, während sie las. „Daher kann der Rang der Mission nicht bestimmt werden.“ „Wir übernehmen sie trotzdem.“ „Versuche, mich in einem Genjutsu einzufangen, Yuna. Ich will dir etwas demonstrieren.“, forderte Evelyn sie auf. Argwöhnisch folgte sie der Aufforderung ihrer Teamgefährtin und schloss ein paar Fingerzeichen. Evelyn schwebte in völliger Finsternis. Es war heiß, und sie hörte Flammen knistern, die kein Licht ausstrahlten. Ohne Hast legte sie die Handflächen aneinander und schloss die Augen. Yuna keuchte überrascht. Das Jutsu zeigte keine Wirkung! Es war, als hätte Evelyn ihr Gehirn abgestellt, und ihr ganzer Chakrafluss lag lahm. Die Illusion drang nicht mehr in ihren Geist vor. Plötzlich fühlte Yuna ein Kribbeln hinter der Stirn, dann wurde die Welt um sie herum schwarz und sie fiel in einen bodenlosen, gefräßigen Abgrund. Eine kühle Hand lag auf Yunas Stirn, als sie erwachte. Unwillig blinzelte sie, um ihre Benommenheit abzuschütteln. Die Welt verschwamm vor ihren Augen. Sie wollte sich aufrichten, doch jemand hielt sie mit sanfter Gewalt zurück. „Bleib liegen, Yuna. Die Wirkung vergeht gleich.“, ertönte Evelyns weiche Stimme neben ihr. Langsam lichtete sich der Schleier, und Yuna realisierte, dass sie am Boden lag, und die Hellhaarige mit unterschlagenen Beinen neben ihr im Gras saß. „Wie... was war das eben?“ „Eben Yuna?“ Evelyn klang belustigt. „Du warst über eine Stunde weggetreten.“ Yuna klappte der Mund auf. Was war das für ein Jutsu? „Du hast mich außer Gefecht gesetzt?“ In der Stimme des Mädchens schwang ein deutlicher Vorwurf mit. „Ja.“ „Muss das eigentlich ständig sein?“, maulte Yuna. „Wie kann ich ahnen, dass dich jeder Stubser aus den Latschen wirft?“ Evelyns Augen blitzten. „Stubser?!“, empörte sich die Dunkelhaarige, doch ihre Erregung verpuffte schlagartig, als Evelyn schallend zu lachen begann. Es war das erste Mal, dass Yuna ihre Teamkollegin lachen hörte. „Was ist? Was lachst du?“ Die Hellhaarige biss sich auf die Lippen, um den Anfall zu unterdrücken. „Nichts, nichts Yuna.“, gluckste sie. Yuna schüttelte den Kopf, um ihre Befremdung abzuschütteln. „Kannst du dir vorstellen, was ich eben gemacht habe?“ Evelyn war wieder ernst geworden. Ihre Teamgefährtin schüttelte den Kopf. „Dann will ich es dir erklären. Mann kann ein Genjutsu durch einen gezielten Chakrastoß beenden.“ „Das geht?“, platzte Yuna erstaunt dazwischen. „Wie du eben bemerkt hast. In der Meditation, die ich dir gezeigt habe, hast du gelernt dein eigenes Chakra bewusst wahrzunehmen, das geht natürlich auch mit fremdem Chakra, denn dieses ist wie ein Fingerabdruck: Es gibt keine zwei, die miteinander identisch sind. Ein Genjutsu ist mit einem Relais zu vergleichen. Du manipulierst mit deinem Chakra das meine, um mich wahrnehmen zu lassen, was dir beliebt. Somit erleide ich alle Schäden durch mein eigenes Chakra. Dieses Prinzip funktioniert nicht, wenn ich kurzzeitig meinen Chakrafluss anhalte, wie vorhin getan. Du übersendest Chakra von dir zu mir, und ich verfolge diese Verbindung zurück und lasse einen Stromschlag auf deinen Körper los. Deswegen bist du in Ohnmacht gefallen.“ „Aber du sagtest doch gerade, dass du dein Chakra lahm gelegt hättest. Wie konntest du dann den Stromschlag bewirken?“ „Gut aufgepasst, Yuna.“, sagte Evelyn anerkennend. „Du wirkst dein Jutsu und löst dann die Verbindung. In der kurzen Spanne zwischen der fertig gestellten Webung der Illusion und deinem Zurückziehen besteht die Verbindung noch, ohne dass Chakra von dir zu mir fließt. Diesen Moment nutze ich. Yuna kaute nachdenklich an ihrer Unterlippe. „Aber es gibt doch auch Genjutsus, die die ganze Zeit über gesteuert werden.“, merkte sie unsicher an. Die Hellhaarige nickte. „Die gibt es. Zu ihnen gehören die meisten Dou-Jutsus des Uchiha-Clans. Gegen diese Techniken kann man im Normalfall nicht viel tun.“ „Im Normalfall? Willst du damit sagen, unter besonderen Voraussetzungen kann man auch diese Jutsus brechen?“ „Da bin ich mir sogar sehr sicher, doch wüsste ich nicht, wie das zu bewerkstelligen wäre. Außerdem ist dafür wahrscheinlich das Sharingan notwendig.“ Yuna nickte nachdenklich. „Eine bemerkenswerte Fähigkeit, das Sharingan, findest du nicht?“ „Allerdings. Es ist schade, dass es nur so wenige gibt, die dieses Kekkei Genkai noch weiter vererben können.“ „Nur noch Sasuke und sein Bruder.“ Evelyn schwieg, obwohl sie es besser wusste. Es gibt noch zwei weitere, Yuna, aber es ist besser für dich, wenn du das nicht weißt, ging es ihr durch den Kopf. Die Hellhaarige schlang die Arme um die Knie und lauschte dem Konzert der Grillen im Gras. „Wir bekommen Besuch.“, sagte Evelyn plötzlich, und mit einem vernehmlichen Plopp tauchte Anko vor ihnen auf. „Abend ihr zwei. Uns wurde soeben eine Mission zugewiesen.“ Evelyn fiel auf, wie selten sie als ganze Truppe vor dem Hokage antanzen mussten, um ihre Missionen zu erhalten. „Worum handelt es sich?“, erkundigte sich die Hellhaarige sachlich. „Wir sollen einen Dieb und Schmuggler unschädlich machen, dem auch einige Morde angehängt werden. Derzeit befindet er sich irgendwo im Erdreich.“, klärte Anko sie auf. „Haben wir freie Hand?“ „Die haben wir. Es macht keinen Unterschied, ob wir ihn töten, oder er im Reich des Vogels hingerichtet wird. Das Urteil ist schon gesprochen und rechtskräftig.“ „Wohl ein ziemlich schlimmer Finger, hm?“, witzelte Yuna um ihr Unbehagen zu verscheuchen. „Anscheinend.“, meinte Anko. „Es ist wahrscheinlich eine Rang B Mission, denn wir wissen nicht genau, über welche Fähigkeiten Assif – so heißt der Kerl – verfügt.“ Evelyn zog nachdenklich die Stirn kraus. „Assif... Der Name sagt mir was. Ach ja, natürlich, ich kenne den Mann vom Hören. Ihn zu finden... das wird schwer werden. Er flutscht den Gesetzeshütern der verschiedensten Länder schon seit Jahren durch die Finger.“ „Hört sich nicht gut an.“, meinte Yuna unglücklich. Sie reiste lieber mit leichtem Gepäck, und je länger eine Mission dauerte, desto mehr Dinge würde sie schleppen müssen. Anko lächelte über den Einwurf. Sie sah es ähnlich wie ihre Schülerin. „Wann brechen wir auf?“, unterbrach Evelyn ihre Grübeleien. „Morgen früh bei Sonnenaufgang.“ Yuna stöhnte gequält. Schweigend schnallte Evelyn die weiße Satteltasche auf Auroras Rücken fest und befreite den Nacken der Füchsin von einigen Kletten. Die großen, stacheligen Pflanzensamen setzten sich ständig in ihrem Fell fest. Schnaubend leckte sie sich über die Schnauze und schnappte nach einer vorbei fliegenden Libelle. Evelyn konnte sich denken, was die Füchsin bewegte, und krauelte sie hinter den Ohren. „Mir gefällt die Sache nicht, Evelyn.“, knurrte sie. „Eine solche Mission ist die perfekte Gelegenheit, sich deiner zu entledigen.“ „Das glaube ich nicht. Das würde er nicht wagen, wenn Anko und Yuna in unmittelbarer Nähe sind. Außerdem gebe ich acht.“ „Ich kann mich einfach nicht daran gewöhnen, dass du kein wehrloser Welpe mehr bist.“ „Und dabei hast du mir doch erst die Flausen ausgetrieben.“, meinte die Hellhaarige und schwang sich auf Auroras Rücken. Die Muskeln der Füchsin spannten sich. „Da sind sie wieder.“ „Ich habe sie bemerkt.“; sagte Evelyn ernst. „Verschwinden wir hier.“ Aurora ließ sich nicht zweimal bitten und sprintete los. Die Hellhaarige genoss das Gefühl der vertrauten Bewegungen ihrer Partnerin und machte es sich gemütlich. Als Yuna das Tor erreichte, warteten Evelyn und Anko bereits auf sie. Sie seufzte, als sie an den Topf mit Salbe dachte, den die Hellhaarige ihr gegeben hatte. „Sie wird dich vor Sonnen- und Windbrand schützen. Das Gelände, durch das wir müssen ist recht ungemütlich. Außerdem habe ich mir erlaubt, das geheime Rezept des Aburame-Clans anzuwenden. Du brauchst dir also keine Gedanken um giftige Spinnen und Skorpione zu machen. Sie werden dich nicht behelligen. Das Rezept liegt bei.“ Evelyns Worte ließen nicht gerade darauf schließen, dass diese Reise erbaulich werden würde. „Guten Morgen.“, murmelte Yuna leise und wurde von ihren Teamgefährtinnen mit einem Nicken begrüßt. Gerade kroch die erste Röte über den Morgenhimmel. „Können wir dann?“ Es war eine rhetorische Frage, die Anko stellte, denn Aurora war bereits zum Tor hinaus getrottet und stieß ein ungeduldig klingendes Brummen aus. Evelyn, die auf ihrem Rücken saß, drehte sich um. „Ich glaube das ist wohl ein ja.“, raunte Anko Yuna zu. „Wie weit ist es eigentlich?“, wollte das junge Mädchen wissen. „In einem angemessenen Tempo werden wir etwa drei Tage brauchen.“, antwortete Evelyn. Manchmal hasse ich es, dass sie so scharfe Ohren hat, dachte Yuna, der die Zeitangabe die Laune verdorben hatte. Drei Tage latschen. Ich kann mir angenehmere Dinge vorstellen. Missmutig trat Yuna einen Stein aus ihrem Weg, während sie den rötlichen Staub zu ignorieren suchte, den Aurora aufwirbelte, und den der Wind ihr erbarmungslos ins Gesicht trieb. Das Bergland hier war ein trostloser Ort durchzogen von tiefen Schluchten, in deren Gründen manchmal schmale schnelle Bäche entlang rauschten. Ein Ort, der mit seinen Spalten, Graten und steilen Abhängen geradezu dafür gemacht schien, unvorsichtigen Reisenden sämtliche Knochen im Leib zu brechen. Gleißend hell brannte die Sonne auf sie herab, obwohl sie nicht die Kraft zu haben schien, wirklich Wärme zu spenden. Das läge an der Höhe, hatte Evelyn gemeint. Sie schien überdies die einzige zu sein, die jene ungastliche Gegend kalt ließ. Yuna war dankbar für die Salbe denn auf Ankos Gesicht machte sich bereits eine gereizte Röte bemerkbar. Das junge Mädchen hatte das Gefühl, nichts als rotbraunen Staub in der Kehle zu haben. Das schöne weiße Fell Auroras war ebenfalls voller Staub und noch nicht einmal Evelyn gelang es, sich selbst und ihre Gefährtin längerfristig vom Schmutz des schmalen Pfades zu befreien. Plötzlich blieb Aurora stehen und Evelyn deutete einen Felsabsturz hinunter. „Wir sind da; dort unten liegt das Dorf Takasagi. Ab jetzt sollten wir gründlich Acht geben, denn dieses Kleine Nest dort unten wird von Untergrund dieses Reiches beherrscht, was nicht die gastfreundlichsten Gesellen sind. Lasst mich verhandeln, ich kenne ein paar Leute hier, und obwohl es schon etwas her ist, sollte mein Kontakt sich noch erinnern.“ Sie lächelte schwach. „Ansonsten haben wir sehr schnell einige Mörderlein mehr am Hals.“ Yuna und Anko tauschten einen überraschten Blick. Warum hatte sie Kontakte zu Gesetzlosen? Das fragten sich beide, und Anko begann sich zu fragen, wie viele Überraschungen noch in dem hellhaarigen Paketchen steckten. Evelyn schwang sich von Auroras Rücken und nahm ihr die Tasche ab. Sie zog einen weißen Lederriemen durch eigens dafür vorgesehene Schlaufen und hängte sich das Gepäckstück um. „Bis später.“, murmelte die Füchsin und löste sich in einer Wolke aus Eisstaub auf. Anko warf Evelyn einen Fragenden Blick zu. „Mit Aurora fallen wir zu sehr auf.“, erklärte die Hellhaarige. Anko verkniff sich die Aussage, dass Evelyn auch nicht gerade als Musterbeispiel für Unauffälligkeit gewertet werden konnte. Sie stiegen die Felswand über einen schmalen Sims herunter, der sich daran hinunterschlängelte, und Yuna musste sich sehr zusammenreißen, nicht hinunterzusehen. Ein falscher Schritt und sie würden mehrere hundert Fuß in die Tiefe stürzen. Doch niemand vertrat sich, und je tiefer sie kamen, desto heißer wurde es. Anko konzentrierte sich auf das Dorf. Es bestand nur aus einer Ansammlung schäbiger, windschiefer Holzhäuser und war alles andere als beeindruckend. Nichts regte sich auf den Straßen, sogar die Hunde hatten sich in die Schatten der Gassen zurückgezogen. Nach einer halben Ewigkeit, wie es Yuna schien, erreichten sie den Fuß der Steilwand. Unbeirrt führte Evelyn sie in den Weiler und steuerte ein Haus an, das sich in nichts von den anderen unterschied, sich jedoch als eine Art Gasthaus entpuppte. Der Mann hinter dem Tresen, der bei ihrem Eintreten noch so miesmutig dreingeschaut hatte, als wolle er sie am liebsten gleich wieder hinauswerfen, überschlug sich förmlich vor Hilfsbereitschaft, als Evelyn leise auf ihn einredete. Anko und Yuna tauschten einen verwirrten Blick, denn ihre Teamgefährtin bediente sich einer schnellen, harten Sprache, die keiner von beiden je zuvor gehört hatte. Hastig gab er ihr drei Zimmerschlüssel, und Evelyn reichte jeweils einen davon mit sichtlicher Selbstzufriedenheit an ihre Gefährtinnen weiter. Sie stiegen eine knarrende Holztreppe hinauf in einen Flur, der von mehreren Türen gesäumt wurde. „Was haltet ihr davon, wenn wir uns in drei Stunden im Gastraum unten treffen? Vor dem Abend werden wir ohnehin nichts erfahren.“, schlug Evelyn vor. Anko nickte, und Yuna fragte sich so langsam, wer eigentlich der Kopf des Teams war. Evelyn oder Anko? Nachdenklich strich Assif mit dem Finger über den mit Sake gefüllten Tonbecher, der vor ihm stand. Er hatte sich einen Platz in einer etwas heruntergekommenen Schenke gesucht, die er mit wenigen anderen Gästen teilte. Vornehmlich Söldner und Kopfgeldjäger, wie es sie in dieser Gegend in Massen gab. Kein besonders schöner Ort, doch hervorragend, um Geschäfte zu machen. Halbherzig ließ er seinen Blick über die staubige Straße gleiten. Bisher hatte er in dieser Ansammlung schäbiger Hütten nichts gesehen, was sein Interesse geweckt hatte, ob es sich nun um Waren oder neue Kontakte handelte, und langsam begann er sich zu fragen, ob er hier nicht seine Zeit vergeudete. Wo blieb nur dieser verdammte Hehler? Assif war es gar nicht gewohnt, dass jemand den Mut hatte, ihn warten zu lassen. In seinen Kreisen eilte ihm der Ruf voraus, dass er immer bekam, was er wollte. Ob nun freiwillig oder erzwungen interessierte ihn dabei herzlich wenig. Man mochte es ihm nicht ansehen, doch was den Schmuggel anging, war er einer der einflussreichsten Männer des Landes. Es konnte doch nicht sein, dass irgendein Wicht ihn erst herbat und dann sitzen ließ. Assif nahm sich vor, dem Mann ordentlich den Kopf zurecht zu rücken. Plötzlich stahl sich ein Lächeln auf seine Lippen, als sein Augenmerk auf ein Pärchen fiel, das gerade eine schmale Seitengasse verließ. Zwei junge Mädchen. Die eine hatte noch etwas kindlich naive Züge und ihr schwarzes Haar schimmerte in einem düsterroten Glanz, als hätte die Abendsonne es in Flammen gesetzt; sie mochte um die Dreizehn sein. Der Gegenstand seines Interesses aber war das Mädchen neben ihr. Komplett in makellosem weiß ohne auch nur eine Spur des allgegenwärtigen Straßenstaubes sah sie aus wie ein Kieselstein unter zerstoßenen Schieferplatten. Sie behielt ihre Umgebung unauffällig im Auge, während der Blick ihrer Gefährtin an ihr zu kleben schien, als erwarte sie irgendwelche Instruktionen. Die Hellhaarige machte eine harsche Handbewegung, als gehe ihr das Mädchen auf die Nerven. Die Dunkelhaarige wirkte gekränkt, trollte sich jedoch sofort. Wie Assif erfreut beobachtete, steuerte die Hellhaarige die Schenke an und setzte sich an einen Tisch auf der anderen Seite des Raumes. Evelyn hatte mit Yuna abgesprochen, was zu tun war, wenn sie auf Assif stoßen sollten, und nun hatte die Hellhaarige allen Grund, sich zu dieser Vorsichtsmaßnahme zu beglückwünschen. Auf die vereinbarte, für Uneingeweihte höchst ungnädig wirkende Geste hin verschwand Yuna wie vereinbart in einem der kleinen Hehlerläden, um von dort aus die Situation im Blick zu behalten und Evelyn, wenn es denn nötig sein sollte, beizuspringen. Verstohlen musterte Yuna Assif, während sie Interesse an den Auslagen heuchelte Interesse an den Auslagen, obwohl sie die Schmuckstücke gar nicht wirklich wahrnahm. Assif war nicht besonders groß und eher schlank als kräftig gebaut. Er trug abgestoßene Kleider in verschiedenen Erdtönen, und ein Schlapphut über dem schulterlangen mittelblonden Haarschopf. Eingestaubt wie scheinbar alles hier war er alles andere als eine einprägsame Erscheinung. Yuna musste sich eingestehen, dass sie ihn wahrscheinlich einfach übersehen hätte. Was wahrscheinlich auch sein Erfolgsrezept ist, ging es ihr durch den Kopf, während sie unauffällig Evelyns weiteres Vorgehen im Blick behielt. Assif schmunzelte amüsiert, als die Hellhaarige sich einen Tee bringen ließ. Es fiel deutlich auf, wie wenig sie an einen Ort wie diesen passte. Sie muss eine ziemlich erfolgreiche Kopfgeldjägerin oder Leibwächterin sein, nach den Umgangsformen zu schließen, die sie an den Tag legt, ging es ihm durch den Kopf. Aus einer Ecke des Schankraumes ertönte spöttisches Gelächter. „Na Kleine, hast nen schwachen Magen, was?“, grölte ein hünenhafter Mann, der eindeutig schon einen zu viel im Tee hatte. Ihre Reaktion kam so plötzlich, dass sogar Assif erschrocken zusammen zuckte. Mit einem leisen Plock schlug eine lange Nadel in die Wand ein. Der Mann presste wütend eine Hand auf die Wange, auf der nun ein blutiger Schnitt prangte. „Verfluchtes Hurenweib, ich werde dich...“ Er sprang auf. Das Mädchen taxierte ihn kalt. „Lass es besser. Außerdem habe ich durchaus keinen schwachen Magen, aber du hast jetzt ein dringendes Problem. Ich rate dir, einen Heiler aufzusuchen, sonst tötet dich das Gift innerhalb der nächsten zwei Stunden, und es wird kein angenehmes Dahinscheiden.“ Sie erlaubte sich ein kurzes Lächeln. „Wenn du Glück hast, findet dein Helfer ein Gegengift.“ Sie nippte an ihrer Teetasse. „Sag, ist nicht ein ansehnliches Kopfgeld auf dich ausgesetzt, Takeo?“, erkundigte sie sich süßlich. Er fluchte, ergriff jedoch die Flucht, als er die begehrlichen Blicke gewahrte, die sich nun auf ihn richteten. Assif verbarg ein Grinsen in seinem Sakebecher. Das Mädchen hat Biss. Sie gefällt mir immer besser, dachte er, unterzog sie einer weiteren eingehenden Musterung und kam zu dem Schluss, dass es sich wirklich lohnen würde, ihre Bekanntschaft zu machen. Er erhob sich lächeln und schlenderte zu ihrem Tisch herüber. Nur kurz sah sie auf, als er sich zu ihr setzte. „Na, was verschlägt denn jemanden wie Euch in eine solche Gegend, meine Dame?“ Sie wandte sich ihm zu, legte den Ellenbogen auf den Tisch und stützte den Kopf auf die Hand. „Meine Aufträge.“, erwiderte sie und ein feines Lächeln zupfte an ihren Lippen, während sie ihn eingehend musterte. „Ah.“ Wie ich es mir gedacht habe: Leibwächterin auf Freigang, schoss es ihm durch den Kopf. „Dürfte ich eine Frage stellen?“ „Ihr habt bereits zwei gestellt. Ich sehe nicht, was eine Dritte schaden könnte.“ Er lächelte amüsiert. „Wie lautet Euer Name?“ „Evelyn. Und Ihr seid?“ „Ich bin Assif. Vielleicht kennt Ihr mich.“ „So, seid Ihr das?“ Ihr Lächeln verbreiterte sich und in ihrem Blick funkelte Interesse auf. So, so, du liebst also Macht und Einfluss, wie?, sagte der Dieb wortlos zu ihr. Wie erfreulich, dass ich so viel davon habe, meine Schöne. „Ich kenne Euch dem Namen nach, doch persönlich habe ich zum ersten Mal das Vergnügen. Wart Ihr es nicht, der die Kronjuwelen aus dem Reich des Vogels entwendet hat?“ Er grinste. „Man kann doch nicht zulassen, dass schöne Dinge einfach einstauben, oder was meint Ihr meine unerhört gut informierte Gesprächspartnerin?“ In diesem Moment brachte der Wirt ihr eine weitere Tasse Tee, und sie schob ihm eine Münze zu. Assif nutzte die Ablenkung, um näher an sie heranzurücken, sodass ihr betörender Duft nach Wasserorchidee und Kräutern in seine Nase stieg. Evelyn nippte leicht an ihrer Tasse und wandte ihm dann das Gesicht zu. Beinahe berührten sich ihre Nasenspitzen. Assif legte ihr eine Hand auf den Oberschenkel und strich über ihre seidenweiche Haut. Sie blieb vollkommen gelassen, und der Dieb sann darüber nach, ob er sie nicht einige Monde als Leibwache einstellen sollte. Selten hatte er eine Partnerin mit so viel Selbstbewusstsein gehabt. Die meisten anderen Mädchen wären spätestens jetzt unruhig geworden. Voller Unbehagen nagte Yuna an ihrer Unterlippe. Die Dinge liefen aus dem Ruder und in eine Richtung, die Evelyn auf keinen Fall beabsichtigen konnte. Wie hätten sie ahnen können, dass der Dieb ihr auf die Pelle rücken würde. Doch die Hellhaarige ließ kein Zeichen des Abscheus oder der Verunsicherung erkennen, viel mehr schien sie mit Assif zu spielen. Hatte sie vielleicht bereits einen Plan? Zuzutrauen wäre es Evelyn allemal. Yuna trat nervös von einem Fuß auf den anderen, während sie beobachtete, wie Assif mit dem Haar ihrer Freundin zu spielen begann, und Evelyn noch immer keine abwehrende Geste zeigte. Sie sah, dass Assif ihr in unangemessener Vertrautheit ein paar Worte zumurmelte, deren Bedeutung Yuna erahnen konnte, ohne etwas verstehen zu müssen. Wie ein nervöses Tier fing die Dunkelhaarige an, in dem kleinen Raum auf und ab zu wandern, ohne jedoch die Objekte ihrer Sorge aus den Augen zu lassen. Plötzlich ertönte eine Stimme hinter ihr, die sie erschrocken herumwirbeln ließ. „Na junge Dame, kann ich irgendwie behilflich sein?“ Assif meinte schon, die Süße des Triumphes auf der Zunge schmecken zu können, als er spürte, wie die Hellhaarige ihm eine Hand auf den Arm legte und diese ungeachtet der anderen Gäste, die sich nicht dafür zu interessieren schienen, langsam weiter nach oben wandern ließ. Wegen dieses Entgegenkommens entschied Assif, dass es Zeit war, einen Schritt weiter zu gehen, nahm die Hand von ihren Haarspitzen und legte sie ihr in den Nacken. Jetzt werde ich sehen, wie ernst es ihr ist, ging es dem Dieb durch den Kopf, dann zog er sie näher zu sich heran und legte die Lippen auf die ihren. Evelyn zuckte nicht zurück, sondern erwiderte den Kuss mit offenkundiger Erfahrung – und mit Verlangen. Eine Zeit begnügte er sich mit sanftem Knabbern, dann strich er ihr mit der Zunge über die Lippen, und auch dieser Aufforderung kam sie sofort nach. Das junge Mädchen grub nun ihrerseits die Finger in sein Haar und schien nicht gewillt, Assif wieder aus ihren Fängen zu entlassen. Sie gehörte eindeutig zu dem Typ Frau, der wusste, was er wollte – und entschlossen war, es sich zu holen. Assif war von der Leidenschaftlichkeit angenehm überrascht. Kein lästiges Werben und endloses Schmeicheln. Und er musste noch nicht einmal Gewalt anwenden. Er gratulierte sich selbst zu der Wahl seiner Gespielin. Dann bemerkte er plötzlich, wie sich etwas veränderte. Evelyns Griff verhärtete sich, und sie legte ihm auch noch die zweite Hand in den Nacken. Ihre Gesichtszüge gefroren, und in ihre Augen trat eine distanzierte Kälte, die selbst Assif, der schon mit so einigen zwielichtigen Gestalten in Kontakt gekommen war, einen Schauer über den Rücken jagte. Ihn packte das nackte Grauen, als er spürte, wie eisige Kälte ihm in die Kehle kroch. Panisch versuchte er sich von ihr loszureißen, doch Evelyns Griff war so unerbittlich und eisern wie ein Schraubstock. Assif schien es, als kröche der Tod selbst ihm in den Körper, wie eine Schlange in einen Rattenbau, und er hatte das Gefühl, die Kälte fröre ihn von innen heraus ein. Inzwischen liefen ihm Tränen der Angst über die Wangen. Welchen bösen Gott er verärgert hatte, dass er ihm den Tod in einer solchen Gestalt sandte, war das Letzte, was Assif dachte, bevor er in eine namenlose Dunkelheit hinüber glitt. Sichtlich angewidert und von Ekel am ganzen Körper geschüttelt stieß Evelyn den Toten von sich, der hintenüber kippte und auf dem Boden aufschlug. Es herrschte Totenstille im Raum. Überrasch und manche sogar fassungslos starrten die anderen Gäste abwechseln sie und den Leichnam an. Mit verdrießlicher Miene stürzte Evelyn ihren Tee hinunter, als wolle sie sich einen üblen Geschmack aus dem Mund spülen. Yuna gab es sofort auf, Interesse an den Waren zu heucheln, die der Hehler, der sie eben so furchtbar erschreckt hatte, mit salbungsvoller Stimme anpries, und ließ den Mann sofort stehen. Sie rannte zu Evelyn herüber, die missmutig in ihre leere Tasse schaute. „Ich hasse es, auf diese Weise zu töten. Es ist ekelhaft.“ Es war nicht der Umstand, dass Assif tot vor ihren Füßen lag, der Yuna erschreckte, sondern die gleichgültige Kälte, mit der die Hellhaarige das in Worte fasste. Evelyn schüttelte sich erneut und warf dem Wirt eine Münze zu. Für Assifs Sake und für sein Schweigen. Gierig strich der Mann das Geld ein. „Unser Auftrag ist erledigt.“, meinte Evelyn. „Geh bitte Anko suchen. Ich möchte so schnell wie möglich von hier verschwinden. Das heißt, bevor Assifs Leute hier sind.“ „Ist er wirklich tot?“, fragte Yuna und stieß den Körper mit der Fußspitze an. „Einfach so?“ „Ja, einfach so. Und nun lauf schon.“ Yuna nickte und flitzte los. Sie war froh den Schauplatz verlassen zu können. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)