Weiß wie Schnee, Rot wie Blut von Ixtli (und Schwarz wie Ebenholz) ================================================================================ Weiß, wie Schnee : Glaube, Liebe, Hoffnung ------------------------------------------ I. Ubi caritas et amor, Deus ibi est Wo die Güte und die Liebe sind, da ist Gott Schneeflocken gleich, die der nachmittäglichen Hitze unbeeindruckt trotzten, trug der Wind die weißen Blüten der knorrigen Apfelbäume durch die Sommerluft. Lautlos drehten die anmutigen Tänzer auf den flirrenden Sonnenstrahlen ihre Pirouetten, bis sie sich scheinbar müde von ihrem Tanz auf den säuberlich geharkten Wegen und frisch bepflanzten Beeten des unter ihnen liegenden Gartens niederließen. Geschäftige Insekten flogen von einer Blüte zur nächsten und sammelten den Nektar ein. Alles war von der für den Frühling üblichen Lebensfreude und Geschäftigkeit erfasst. Bis auf eine Ausnahme, die sich an den Rand eines Rosenbeets zurückgezogen hatte und der heiteren Ausgelassenheit der Natur, die sich den Winterschlaf aus den noch etwas erschöpften Knochen streckte, den Rücken zuwandte. Schwarzer Stoff legte sich einem aufziehenden Unwetter gleich über die zögerlich blühenden Pflanzen. Das schwere Gewebe zerdrückte die filigranen Sprösslinge, die ihre zartgrünen Köpfe, der Winterruhe überdrüssig, gerade erst der Sonne entgegen reckten, und zwang diese wieder zurück zur Erde, deren Schoß sie mühevoll auf dem Weg ans Tageslicht verlassen hatten. Zwei schmale Hände stützten sich im frisch gejäteten Beet ab und zerquetschten die zierlichen Blütentänzer auf ihren floralen Ruhestätten. Die kalten, klammen Finger krallten sich in die modrige Erde und suchten in dem weichen Boden nach Halt. Ein unterdrücktes Würgen erklang und kurz darauf ergoss sich ein Schwall halbverdauten Mageninhalts über die aufgeworfene Erde und versickerte in den Furchen des Rosenbeets. Ruth hustete und spuckte von weiteren Attacken ihres rebellierenden Magens geschüttelt. Die säuerliche Flüssigkeit reizte ihren Hals, der kaum Ruhe fand, um sich von den dauernden Schmerzen zu erholen, die dieses nie enden zu wollenden Erbrechen ihr seit Wochen zufügten. Ihrem Bauch erging es ebenso, auch er schmerzte und krampfte und Ruth ahnte nur zu gut, was das alles heißen mochte. Ehe ihr Verstand den Gedanken richtig erfassen und in all seiner für sie sicher furchtbar enden werdenden Konsequenzen weiterspinnen konnte, schüttelte ein erneuter Krampf den erschöpften Körper der jungen Nonne. Die Rosen wiegten ihre Knospenköpfe hin und her, als schwankten sie zwischen Mitleid und Abscheu dessen, was sich zu ihren Wurzeln abspielte. "Bitte lass es nicht wahr sein", flüsterte Ruth erstickt, während sie mit zitternden Händen Erde über das Erbrochene schob, um es vor der Entdeckung durch eine ihrer Mitschwestern zu verbergen. Wie ein in die Enge getriebenes Tier sah sich Ruth um, doch die anderen Frauen gingen vollkommen ungerührt ihrer Arbeit nach. Noch hatte niemand Verdacht geschöpft. Zumindest hoffte Ruth das. Die letzten Wochen waren eine Qual für sie gewesen. Ständig hatte sie sich übergeben müssen und die dauernden Schwindelanfälle taten ihr Übriges dazu. Es war so schlimm, dass sie sich kaum noch traute an den gemeinsamen Mahlzeiten teilzunehmen. Wenn sie dann endlich Appetit hatte, achtete sie stets darauf, etwas zu essen, das ihren Magen nicht allzu sehr belastete. Die Gartenarbeit, zu der sich Ruth wegen der Übelkeit gemeldet hatte, war nur eine kurzzeitige Erleichterung für die geplagte Nonne. An der frischen Luft zwischen Blumen und blühenden Bäumen war sie zumindest für eine Weile nicht den ganzen Gerüchen ausgesetzt, die im Kloster auf sie einstürmten und ihr den Magen umdrehten, als handele es sich dabei um ein nasses Tuch, das ausgewrungen werden musste. Den Weihrauchgeschwängerten Gottesdiensten konnte sie dennoch nicht entkommen, so sehr sie es sich auch wünschte. Sie saß mittlerweile immer in einer der hinteren Bänke, um im Notfall die Kapelle so schnell wie möglich nach draußen verlassen zu können. All das machte ihr unglaubliche Angst, die sie mit niemandem teilen konnte, und bereitete ihr etliche schlaflose Nächte. Regentropfen gleich fielen ihre Tränen auf den kleinen Erdhügel und versickerten in dem fruchtbaren Boden, dessen tiefster Punkt in schier unvorstellbarer Dunkelheit lag, die jener Schwärze glich, die Ruth mit jedem einzelnen Mal, das sie sich erbrechen musste, fester umschlang und zu ersticken drohte. Von dort unten krochen sie langsam nach oben; ihre Ängste, die Gestalten angenommen hatten, die weitaus schrecklicher waren, als sämtliche biblische Dämonen. Ruth hörte das Scharren ihrer Krallen, wie sie sich durch die Erde ans Licht kämpften. Sie folgten ihr auf Schritt und Tritt und waren mittlerweile so laut geworden, dass sie sich sicher war, dass es auch die anderen hören mussten. Und das Schlimmste war, dass ihre Dämonen immun gegen alles zu sein schienen, was sie bisher an Maßnahmen ergriffen hatte. Etwas in Ruth – ihr letztes bisschen Stolz womöglich – lehnte sich gegen jeden weiteren Gedanken auf, die wie die Blumen in dem sonnigen Klostergarten aufblühten, und die Nonne spürte eine Welle wohltuender, statt saurer Wärme, die aus Richtung ihres gepeinigten Bauches aufbrandete und in ihre Schultern strömte, die sich zu straffen begannen. Ruth wischte sich die erdverkrusteten Hände notdürftig an ihrer Schürze ab, die sie für die Gartenarbeit trug. Sie schob sich ein paar verschwitzte Haarsträhnen aus der Stirn und beseitigte mit einem Zipfel ihres schwarzen Gewands die letzten Tränenspuren, ehe sie sich erhob. Noch etwas unsicher auf ihren zittrigen Beinen stehend klopfte sie sich die Erde von ihren Kleidern und ging zurück ins Hauptgebäude des Klosters. Nachdenklich sah Iris Ruth entgegen, die mit gesenktem Blick auf sie zukam. Gerne hätte sie gewusst, was ihre Mitschwester in letzter Zeit so quälte und nicht mehr schlafen ließ. Nacht für Nacht weinte sich Ruth in ihrem einsamen Zimmer in den Schlaf und sie musste alles von nebenan mit anhören. Vergeblich versuchte Iris in dem bleichen Gesicht der jungen Nonne die Antworten auf ihre Fragen zu finden, doch wie eine Barriere, die alle fremden Gedanken abblocken sollte, fiel die dunkle Holztür schwer hinter Ruth ins Schloss und ließ die besorgte Frau draußen stehen. Es war eine sternenklare, unbewölkte Nacht und das einzige Licht, das durch die hohen Glasfenster der Kapelle fiel, kam vom Mond, der hoch über dem Kloster am Himmel stand und mit seinem kühlen Schein die Welt unter sich beleuchtete. Die bei Tageslicht bunten Fensterbilder waren in der Dunkelheit lediglich bleiverglaste Konturen ohne Farbe. Die sonst prächtigen Kleider der Heiligen wirkten wie ärmliche Fetzen und ihre Gesichter waren fahl, als wäre alles Leben aus ihnen gewichen. Toten gleich knieten sie auf ihrer Glaserde und hatten die leichenblassen Gesichter mit den flehenden Blicken dem kalten Grau des Himmels zugewandt, der sich unerreichbar weit über ihnen erstreckte und dabei distanzierter denn je wirkte. An einer Stelle jedoch waren die tristen Wolken aufgebrochen und hatten Engel mit schmutzigen Heiligenscheinen ausgespien. Selbst die eigentlich strahlend weißen Gewänder der Engel, die vom Himmel zu den Betenden hinabstiegen, um ihnen zu verkünden, dass sie erhört wurden, schienen verwaschen. Keine Spur von himmlischem Glanz umgab die unnahbaren Geschöpfe zu dieser dunklen Zeit. Ganz im Gegenteil. Außer Ruth, die reglos auf einer der Holzbänke in der leeren Kapelle saß, schien es nie jemandem aufgefallen zu sein, wie anders Gottes Boten, die den Menschen, die verlassen auf der Erde wandelten, Trost spenden sollten, im Dunkeln doch aussahen, und auch sie kannte die düsteren Engel erst, seit sie kaum noch eine Nacht durchschlafen konnte, obwohl sie bis ins Mark erschöpft war. Die Blicke weiter auf den Engeln ruhend saß Ruth da und dachte nach. Die letzten Töne der Vigil waren schon vor Stunden verklungen und seither lauschte sie in die Stille der Kapelle und vor allem in die Stille tief in ihrer Brust. Je mehr sich ihr Bauch zu wölben begonnen hatte, umso stiller war es in ihr geworden. Und je stiller es in ihr wurde, desto lauter hörte sie die eindringlich scharrenden Krallen unter sich. Bald. Bald hatten sie auch die letzte Erdschicht durchbrochen, ohne dass sie noch etwas dagegen tun konnte. Ruth senkte den Kopf. Ihre Blicke trafen auf die letzten noch brennenden Kerzen in dem vielarmigen Leuchter, der neben dem Altar stand. Tanzend loderten die Flammen um die Dochte der schlanken weißen Kerzen, die bis auf eine Handbreit herab gebrannt waren. Das schmelzende Wachs zischte und knackte und der Geruch des Paraffin erfüllte die Kapelle und verdrängte das herbe Aroma des Weihrauchs, dessen letzter Hauch noch in der Luft des Gotteshauses lag. Wie viele nutzlose Bittgesuche hatte sie in der letzten Zeit gen Himmel geschickt, ohne dass sie erhört worden waren. Immer und immer wieder die gleichen Worte, die ihre zitternden Lippen fast lautlos verlassen hatten, damit keine ihrer Mitschwestern etwas davon erfuhren. Quälende Stunden lagen hinter ihr, die zu ebenso quälenden Tagen und Wochen geworden waren, nachdem Ruth die Folgen dessen realisiert hatte, das ihr in ihrer anfänglichen Naivität als etwas so Unschuldiges vorgekommen war, dass sie nie einen Gedanken daran verschwendet hatte, was es eigentlich tatsächlich war. Ein leises Schluchzen verließ Ruth' Kehle. Ein paar Tränen rannen über ihre Wangen und fielen von ihrem Kinn hinab auf ihre krampfhaft zum Gebet verschlungenen Finger, ehe sie auf den schwarzen Stoff darunter tropften, der noch das verbarg, was ihr Preis für die Momente war, die sie sich unrechtmäßig angeeignet hatte. Die sie gestohlen hatte – von Gott und von jedem einzelnen Menschen, der in ihr ein Bindeglied sah, das sie zwischen ihrer Welt und der unerreichbaren Welt über ihnen darstellen sollte. Diese bedauernswerten Betenden, wenn sie nur wüssten, dass ihr Flehen umsonst war, weil sich eine der Überbringerinnen als Schlange herausstellen würde. Die Tränen quollen nun ungehindert aus ihren Augen. Wie nutzlos ihre eigenen Gebete waren, wusste sie auch. Seit vier Wochen hatte sie die endgültige Gewissheit, dass alles Flehen und Weinen nicht ungeschehen machen konnte, was sie insgeheim fürchtete, seit die Arme des einzigen irdischen Mannes, den sie je geliebt hatte, sie wieder freigegeben hatten. Und dennoch hatte es bis heute gedauert, sich das einzugestehen, was sie an ihrem stetig anschwellenden Bauch schon seit Wochen beobachten konnte. Für andere, ungeschulte Augen mochten diese Veränderungen noch nicht allzu sichtbar sein, was aber auch an ihrer weiten Tunika liegen mochte, doch Ruth, die die Ursache dazu nur zu gut kannte, hatte ängstlich jede einzelne dieser Wandlungen erschrocken verfolgt und mit jeder die prompte Entdeckung durch ihre Mitschwestern gefürchtet. Dabei hatte sie noch so unendlich viele Wochen vor sich. Ruth' gefaltete Hände lockerten sich ein wenig. Nur diesen einen Mann hatte sie geliebt. Das schmerzhafte Kribbeln in ihren Fingern ließ nach und langsam kehrte jegliches Gefühl darin wieder zurück. Sachte strichen ihre Hände über ihr Gesicht. Die nassen Tränenspuren auf ihren Wangen verwischten unter ihren Handflächen, ließen sie all die anderen vergossenen Tränen kurzzeitig vergessen und für einen Augenblick die Erinnerung an jene Momente zurückkehren, deren Schuld sie sich damals nicht hatte stellen wollen. Sie waren viel zu schön gewesen, als dass sie sie hätte als das erkennen können, was sie in Wirklichkeit waren. Keine einzige der bis dahin nie gekannten Berührungen hatte sie bereut; kein einziges der zärtlichen Worte, das zwischen ihnen gefallen war, und erst recht keinen der unzähligen Küsse, die ihre anfänglichen Zweifel hatten dahin schmelzen lassen. All das war bei ihr auf fruchtbaren Boden gefallen – in mehrerlei Hinsicht. Ruth' rastlose Hände kamen auf ihrem Mund zur Ruhe. Still verharrten sie auf ihren Lippen, die sich unter ihren Fingerspitzen zu einem Lächeln bogen. Und ausgerechnet diese Zeit, die für sie die glücklichste nach all den vergangenen Jahren war, barg nun eine Zukunft in ihrem Schoß, die sich zwischen sie und Gott stellte und mit ihrem täglich größer werdenden Schatten ihren Blick zum Himmel versperrte. Kein Wunder, dass keine ihrer Bitten dort oben angekommen waren. Ruth' Hände wanderten weiter über ihre Kehle nach unten. Ihre Fingernägel hinterließen rote Striemen auf ihrer hellen Haut. Als ob sie ihren Weg kannten, den das Schicksal ihnen als Ziel bestimmt hatten, glitten sie den rauen Stoff ihres Gewandes hinab, kratzten über den dunklen gestärkten Stoff, bis sie schließlich auf ihrem Unterleib wieder zur Ruhe kamen. Fest krallten sich die bebenden Finger in Ruth' Bauch, der sich mit jeder Woche, die verging, mehr und mehr zu wölben begann. Oh, könnte sie diese unselige Frucht doch nur mit ihren eigenen Händen aus ihrem Leib reißen, der dieses ungewollte Stück Fleisch ernährte. Viel mehr war es nicht! Ruth' Hände ballten sich. Sie erhob sie und zögerte einen winzigen Moment lang, ehe sie auf ihren Bauch hinabfuhren. Wütend trommelten ihre Fäuste auf das weiche Fleisch ein und versuchten das gesichtslose Ding in ihr für all das zu bestrafen, was es ihr antat. Ruth' Schläge in ihren Bauch wurden immer heftiger, bis ein gellender Schrei die andächtige Stille in der Kapelle zerriss und die Nonne erschrocken zusammenzucken und augenblicklich auf ihrem Platz erstarren ließ. Das Echo ihres eigenen zornigen Schreis hallte zigfach aus jedem Winkel nach. Wieder und wieder wurde ihr Schrei von der hohen Stuckverzierten Decke zurück geworfen, bis er immer leiser wurde und schließlich ganz verstummte. Erschrocken schlug sich Ruth die Hände vor den Mund. Ihr Hals war wie zugeschnürt. Mühselig zog sie den Atem ein und presste ihn schwer wieder aus ihren Lungen heraus. Als sich der Krampf in ihrer Kehle endlich wieder löste, brach sie in erneutes Weinen aus, das sie hinter ihren Händen zu verbergen versuchte. Hoffentlich hatte niemand im Haupthaus ihren Schrei gehört. Den folgenden bohrenden Fragen würde sie nicht mehr lange entkommen können. Doch eigentlich würde sie ihnen ohnehin nicht entkommen. Auch wenn ihre Kleidung jetzt noch den darunter anwachsenden Bauch verbarg, würde irgendwann die Zeit gekommen sein, dass sie keiner Frage mehr ausweichen konnte, weil ihr Zustand einfach unübersehbar sein würde. Ruth erhob sich und kniete auf der niedrigen Bank vor ihrem Sitzplatz nieder. Ihre Hände bedeckten wieder ihr Gesicht, doch dieses Mal aus Scham. Unbemerkt von Ruth, die sich jedes weitere sinnlose Gebet verbat, das nicht mehr rückgängig zu Machende doch noch irgendwie ungeschehen zu machen, brach der Morgen an. Und mit jedem Lichtstrahl, der langsam über den Boden wanderte und die dunklen Ecken des kleinen Gotteshauses eroberte, verlor die Kapelle ihren nächtlichen Schrecken. Die hohen Wände des Kapellenschiffs mit der wie Finger nach oben hin spitz zusammenlaufenden Decke wirkten nun weniger wie eine Gruft und mehr wie riesige, zum Gebet gefaltete Hände, die sich schützend um Ruth schlossen und die sich grämende Nonne, die einsam in einer der Holzbänke kniete, sorgsam in sich bargen. Aus den fahlen Figuren der Buntglasfenster wurden lebendig wirkende Wesen, die voller Zuversicht ihre Gesichter zu einem strahlend blauen Himmel empor gereckt hatten, von wo aus sie erhört und von einem halben Dutzend der schönsten Gottesboten empfangen wurden. Die im Dunkel schmutzig scheinenden Gewänder der Engel begannen im weiter anbrechenden Tageslicht mit den weißen Wolken, aus denen sie herabstiegen, um die Wette zu strahlen und auch ihre Heiligenscheine wurden wieder zu goldenen Koronen, die ihre Bezeichnung auch verdient hatten. Als Ruth endlich erschöpft aufsah, war sie für einen Moment erstaunt darüber, was während der letzten Stunden um sie herum geschehen war. Eine Lösung war ihr noch immer nicht eingefallen, aber sie hatte endlich das gehabt, was ihr in den vergangenen Wochen die meiste Energie geraubt hatte: sie hatte ihre Ruhe bekommen. Nur für wenige Stunden zwar, aber doch wenigstens so, dass sie völlig alleine mit sich und Gott gewesen war. Und wenn Er schwieg, sollte sie das womöglich auch tun. Vielleicht war es im Augenblick das Beste. Mühsam erhob sich Ruth aus ihrer knienden Haltung. Sie setzte sich auf die Bank hinter sich und wartete, bis ihre taubgewordenen Beine wieder durchblutet wurden, so dass sie sich nicht darum sorgen musste, die Kapelle verlassen zu können, ohne schon nach einem gegangenen Schritt gleich wieder hinzufallen. Ihr letzter matter Blick galt dem geschnitzten Holzbild der Heiligen Familie, das die linke Seite der Wand hinter dem Altar zierte. Einen kurzen Augenblick lang beneidete sie Maria um ihren hilfreichen Engel, der ihr erschienen war und der jeglichen aufkeimenden Zweifel in den Menschen hinweg gewischt hatte, dass das Kind, das ohne Zutun ihres Mannes in ihr herangewachsen war, nicht ein Kind der Sünde war. Doch dann besann sie sich. Auch diesem Kind, dessen erwachsenes Ich gleich neben diesem ersten Bild einer glücklichen Familie an ein Kreuz geschlagen worden war, hatte kein Engel helfen können. Und auch bei ihm hatte Er bis zuletzt geschwiegen. Ruth schluckte die aufkommenden Tränen hinunter. Sie stand auf und wankte mit zitterigen Schritten zur Tür. Noch ehe das Morgenlob begann, musste sie auf ihrem Zimmer sein, damit niemandem auffiel, dass sie die Nacht nicht in ihrem Bett verbracht hatte. Ruth wollte so wenig Aufsehen erzeugen, wie möglich, weil sie ahnte, dass es nicht mehr lange so einfach laufen würde. Schwungvoll stieß Ruth die schwere Holztür der Kapelle auf und sofort wehte ihr die frische Luft von draußen entgegen. Das salzige Aroma vertrieb die Übelkeit der Schwangerschaft und der in der ungelüfteten Kapelle verbrachten Nacht. Ruth sog die Luft tief ein, als wäre sie kurz vorm Ersticken gewesen. Unter dem Kloster, das an einer Klippe direkt am Meer stand, rauschten die Wellen und brachen sich geräuschvoll an dem Strand. Zögerlicher Vogelgesang drang an ihre Ohren und war nach ihrem wütenden Schrei das erste richtige Geräusch, das sie an diesem Tag hörte. Es klang so viel beruhigender als die ständig flüsternden Stimmen in ihrem Kopf, die sie unablässig mahnten. Schützend hielt sich die junge Frau eine Hand vor die Augen, als die ersten Strahlen der über dem Klostergarten aufgehenden Sonne sie blendeten. Ihr wurde schwindelig und einen Augenblick lang fürchtete sie, doch noch ohnmächtig zu werden. Die kurzzeitige Euphorie über die furchtbare Nacht, die sie erfolgreich hinter sich gelassen hatte, schwand auf der Stelle, als Ruth das Ziehen in ihrem Bauch spürte. Der Schreck darüber, den Morgen wieder mit Erbrechen zu beginnen, ließ kalten Schweiß auf ihrer Stirn ausbrechen. Mit ebenso eiskalten Händen klammerte sich Ruth an dem Geländer fest, das die Stufen der Kapelle hinab zu einem Grasstück führte, und hoffte, es noch rechtzeitig bis dorthin zu schaffen, ehe die Übelkeit sie übermannte. Wankenden Schrittes taumelte Ruth die Treppenstufen hinab. Etwa in der Hälfte pochte es wieder ganz leicht in ihr und das erste Mal hielt Ruth inne. Das Ziehen und Klopfen kam nicht aus ihrem Magen, der sich zusammenzog, um gleich darauf seinen Inhalt ihre Speiseröhre hinauf zu befördern, nein, das sachte Pochen kam von weiter unterhalb. Überwältigt ließ sich Ruth auf der Treppe nieder. Ihre Hände ließen das schmiedeeiserne Geländer los und fuhren zu ihrem Unterleib bis unterhalb ihres Bauchnabels, wo sie still verharrten. Sie musste sich einige Minuten gedulden, in denen sie gebannt in sich hineinhorchte, doch dann fühlte sie es wieder. Etwas klopfte sachte von innen gegen ihren Leib. Ruth lachte hell auf. Es war tatsächlich nicht ihr rebellierender Magen gewesen, der einen erneuten Schub Übelkeit angekündigt hatte. Das, was sie fälschlicherweise als eine Strafe dessen angesehen hatte, was sie verbrochen hatte, war in Wirklichkeit ihr ungeborenes Kind, das ihr das erste Mal zeigte, dass es keine unheilvolle Ahnung war, sondern tatsächlich existierte und lebte. "Hallo, Kleines", flüsterte Ruth, ehe ihre Stimme brach. II. Vögel, die nicht singen Wie eine Diebin kam sich Ruth vor, als sie mit dem Stapel Bücher in ihren Armen durch die Bibliothek zu einem der hinteren Tische schlich. Vorsichtig legte sie die Bücher auf der Tischplatte ab und nahm auf einem Stuhl Platz, der ihr die Sicht über die gesamte Klosterbibliothek ermöglichte. Ruth' Herz schlug ihr bis zum Hals und sie hielt sich eine Hand prüfend auf eine ihrer Wangen, die förmlich zu brennen schienen. Es dauerte einige Momente, bis sie sich sicher war, dass niemand von ihr Notiz genommen hatte, als sie durch die Regale geschlendert und ein Buch nach dem anderen herausgezogen hatte, was in einer Bibliothek auch nichts Verwunderliches sein dürfte. Dass sie dabei auch vor den Büchern über Frauenheilkunde haltgemacht hatte, hatte ihren Blutdruck schließlich so weit in die Höhe getrieben, dass sie fürchtete, man könnte ihr rasendes Herz, dessen Puls in ihrem Kopf heftig klopfte, auch außerhalb ihres Körpers hören. Schnell hatte sie das Buch, auf dessen Deckblatt das Bild einer Familie zu sehen war, die glücklich auf einer Picknickdecke saß, zwischen die anderen auf ihrem Arm geschoben und war danach noch einmal zu dem Regal mit den Büchern über Gartenbau gegangen. Jetzt saß sie hier und musste sich bremsen, nicht gleich das Buch mit den fröhlichen Eltern samt pausbäckigem Baby aufzuschlagen. Stattdessen griff Ruth nach dem Gartenbuch und schlug es wahllos auf irgendeiner Seite auf. Ihre Blicke überflogen unkonzentriert den Text über das richtige Anlegen eines Kräutergartens, ohne ein Wort davon wahrzunehmen. In Wirklichkeit galt ihre Aufmerksamkeit den beiden Schwestern, die sich vor den Bücherregalen in der Nähe der Tür stehend flüsternd miteinander unterhielten. Hatte man sie gesehen, als sie das eine Buch genommen hatte? Ruth maß schnell in Gedanken die unterschiedlichen Winkel der Bibliotheksregale ab und welchen Blick man von welcher Stelle aus hatte, doch wenn sie sich nicht irrte, konnte man sie unmöglich von der Tür aus gesehen haben. Das Regal über Frauenheilkunde befand sich seitlich an der Wand und wurde durch mehrere in den Raum hineinragende Regale abgeschirmt, und da sämtliche Regale bis auf den letzten Platz mit Büchern vollgestopft waren, musste ihre Bücherwahl unentdeckt geblieben sein. Die beiden Schwestern wandten sich Ruth zu, die auf der Stelle auf ihrem Platz erstarrte. Zu ihrer Erleichterung nickten sie ihr allerdings lediglich zu, ehe sie die Bibliothek verließen. Jetzt war Ruth alleine in dem stillen Raum. Ihr Herzschlag kehrte zu seiner Normalgeschwindigkeit zurück und Ruth atmete ruhiger. Sie schob das Gartenbaubuch zur Seite und holte darunter das Buch hervor, das sie eigentlich interessierte. Neugierig schlug sie das Kapitel über den Verlauf einer Schwangerschaft auf und begann zu lesen. Seit Wochen, oder genaugenommen seit jener Nacht in der Kapelle und dem ersten Mal, dass sie die Bewegungen ihres Kindes gespürt hatte, besuchte sie regelmäßig die Bibliothek. Zuerst nur kurz und ohne dabei das Regal mit den ärztlichen Ratgebern zu beachten. Und nach all dieser Zeit, in der sie immer sicherer geworden war, hatte sie sich heute endlich dazu durchringen können, dieses eine Buch aus dem Regal zu nehmen, dessen Titel sie schon so oft im Vorübergehen gelesen hatte: Meine gesunde Familie. Ruth' Finger strichen sachte über die Zeichnung eines Fötus, der mit angezogenen Beinchen und Ärmchen im Bauch seiner Mutter lag. Wie groß das Baby doch schon war! Ein nahezu perfektes kleines Menschlein mit einem winzigen Herzen, das doch bereits seinen eigenen Rhythmus hatte. Ein kleiner Körper, der immer mehr dem eines fertig ausgebildeten Menschen glich, mit Fingern und Zehen, Nase, Mund und Augen; alles war da. Auch kleine Ohren, deren erstes Lauschen den Geräuschen seiner Mutter galt. Ruth konnte nur schwer fassen, welch wundersame Ereignisse in ihrem Körper vor sich gingen. Und nichts davon konnte sie mit jemandem teilen. Da war kein Mann, mit dem sie das Heranwachsen ihres gemeinsamen Kindes beobachten konnte und der sie tröstete, wenn es ihr mal schlecht ging. Nicht einmal eine gute Freundin hatte sie. Das, was da geschah, war eine Sache, die sie mit sich alleine ausmachen musste und die sie noch immer ängstigte, so schön sie auch war. Ruth seufzte leise. Sie brauchte Rat, der über das, was in Büchern stand, hinausging. Noch immer war ihr jeden Tag übel und sie konnte nur wenig essen, ohne dass ihr Magen es nicht gleich wieder hinaus beförderte, obwohl auch in dem Buch stand, dass so etwas meistens nach den ersten drei Monaten wieder verschwand. Sie war kein einziges Mal beim Arzt gewesen und hatte nur die immer häufiger werdenden Bewegungen des Kindes als Zeichen dafür, dass es zumindest noch lebte. Ob es ihm auch tatsächlich gut ging, wusste sie nicht und konnte es nur hoffen. Und dann war da schließlich auch noch die Geburt, die zwar noch in weiter Ferne lag, aber doch irgendwann eintrat, ob sie wollte oder nicht. Sie konnte das Kind unmöglich alleine zur Welt bringen. Und was noch unmöglicher war: ihren Bauch so lange vor allen zu verstecken... Eine Träne tropfte auf das aufgeschlagene Buch, mitten auf das Bild des daumenlutschenden Fötus. Schnell wischte Ruth den nassen Fleck vom Papier und schlug das Buch zu. Sie hatte endgültig genug davon. Von der Heimlichtuerei und von den Sorgen, die all das mit sich brachte. Niedergeschlagen räumte Ruth die Bücher weg und verließ die Bibliothek. Mit gesenktem Blick eilte Ruth den langen Flur entlang. Ihre Gedanken schienen ihr vorauszueilen und sie hatte Mühe, sie wieder einzuholen. Wie viel Zeit bereits vergangen war, wurde ihr jedes Mal bewusst, wenn sie den Klostergarten betrat. Die Apfelbäume trugen mittlerweile kleine grüne Äpfel, statt weißer Blüten. Noch einige Wochen und sie hatten ihre richtige Größe erlangt. Und noch etwas länger und sie würden sich rot färben, ehe sie gepflückt und über Winter eingelagert werden konnten. Ebenso war es mit ihrem Kind. Sie hatte mit Hilfe des Buches aus der Bibliothek den März als den Monat errechnet, in dem das Kleine geboren werden würde. Davor lagen noch Monate voller Zweifel und Furcht, enttarnt und aus dem Orden ausgeschlossen zu werden, der für die meisten nur ein Leben voller Entsagungen bedeutete, für sie selbst aber zum Mittelpunkt ihrer Existenz geworden war, die sie nun mit der Schwangerschaft zu einer Entscheidung drängte, die sie möglicherweise nicht treffen wollte. Ruth' Flucht zurück in ihr Zimmer wurde abrupt gestoppt und das erste Mal, seit sie die Bibliothek verlassen hatte, sah sie auf. "Entschuldigen Sie bitte, Schwester Iris." Ruth senkte wieder den Blick und wollte an der anderen Frau vorbeihuschen, als diese jedoch nach ihrem Arm griff und die Flüchtende sanft zurück hielt. "Ich habe Sie schon gesucht, Ruth", sprach Iris ihr Gegenüber an, das sich kaum getraute, ihre Blicke zu erwidern. "Worum geht es?" Ruth' Stimme schwankte unwillkürlich und ihr Herz schlug wieder so schnell, dass es ihr den Hals zuschnürte. Sie musste sich zusammenreißen, um nicht auf der Stelle vor Iris in Tränen auszubrechen. "Ich denke, wir müssten miteinander reden", fuhr Iris fort. Ihre Blicke gingen zu Ruth' Bauch hinab, den diese mit ihren Händen unbewusst zu verbergen versuchte, obwohl kaum etwas davon zu sehen war, wenn man es nicht gerade wusste. Iris ergriff eine von Ruth' eiskalt gewordenen Händen und drückte sie leicht und Ruth, die zu erschrocken über ihr so unvermutet gelüftetes Geheimnis war, öffnete den Mund, um dennoch alles abzustreiten. Die Worte, die ihn verließen, wollten jedoch einfach keinen Sinn machen. Sie hörte nur sich selbst etwas Unverständliches krächzen, ehe ihre Stimme versagte und eine angenehme Stille sich in ihrem Kopf breit machte. Iris hatte Mühe, die junge Frau aufzufangen, die bewusstlos vor ihr zusammen sank. Die ohnmächtige Ruth vorsichtig stützend, ging sie neben ihr langsam zu Boden. Sorgsam hielt sie Ruth im Arm und winkte eine Schwester zu sich, die die Lage sofort begriff und angeeilt kam, um zu helfen. Ruth' Bewusstsein kehrte schleppend zurück. Ihre Augen öffneten sich langsam und schlossen sich gleich darauf wieder, als sie das Gesicht erkannte, das auf sie hinab sah. "Was haben Sie sich nur dabei gedacht?" Iris klang unvermutet freundlich und Ruth fühlte wie Tränen aus ihren Augenwinkeln quollen und an ihren Schläfen hinab liefen. Ja, was hatte sie sich eigentlich gedacht? Viel zu viel, aber andererseits trotzdem nicht genug. "Ich weiß es nicht", hauchte Ruth verzagt. Iris' Hand strich Ruth die verschwitzten Haare aus der Stirn. Die ältere Schwester lächelte und langsam spürte Ruth die aufkommende Erleichterung darüber, entdeckt worden zu sein, die sogar die Angst vor dem Ausschluss einen Moment lang überwog. Man gönnte Ruth erst einige Tage ihre wohlverdiente Ruhe, in der man sie von einem Arzt aus dem nahegelegenen Ort untersuchen ließ. Nachdem es Ruth wieder besser zu gehen schien, bereitete man sie langsam auf die bevorstehende Unterredung mit der Vorsteherin des Klosters vor. Ruth hätte sich am liebsten wieder in ihrem Zimmer verkrochen, doch der Arzt machte ihr klar, dass sie nicht um eine gründliche Untersuchung im Krankenhaus herumkommen würde, wenn das Kind und sie gesund bleiben sollten. Nur schwer hatte sich Ruth mit dieser vernünftigen Entscheidung abfinden können und obwohl Schwester Iris ihr versichert hatte, dass ihr weder der Ausschluss aus dem Kloster bevorstand, noch die viel furchtbarere Konsequenz, die das unschuldige Wesen, das sie in sich trug, betraf, stand Ruth nun mit sorgenvoll schwerem Herzen vor dem Büro der Oberin und öffnete erst bei dem erneut erklingenden 'Herein' die Tür. Schwester Iris, die Ruth bereits vor dem Büro der Oberin erwartete, lächelte, als sie das erleichtert wirkende Gesicht ihrer Mitschwester sah. Ruth war noch immer bleich wie ein Laken, doch Iris wusste auch, dass die Vorsteherin eine umsichtige Frau mit langer Erfahrung und einer engelsgleichen Geduld im Umgang mit jungen Nonnen war. "Sie haben bestimmt Hunger, Ruth, oder?" Ruth lächelte Iris matt zu und schüttelte den Kopf. "Eigentlich kaum." Ihr Magen bereitete ihr heute wieder mehr denn je Schmerzen. "Ich bin nur müde." "Dann begleite ich Sie auf Ihr Zimmer und wenn es Ihnen wieder wohler ist, können Sie mir jederzeit Bescheid sagen und ich lasse Ihnen dann eine kleine Mahlzeit bringen." "Vielen Dank." Ruth ging neben Iris, deren beruhigende Hand sie in ihrem Rücken spürte, den Flur entlang. Wie hatte sie ihre Mitschwestern doch unterschätzt, dachte Ruth stumm. 'Denken Sie, Sie wären die Erste mit diesem Problem?', hatte die Oberin zu ihr gesagt. Das hatte sie tatsächlich angenommen, doch die Oberin hatte nur leicht ihren Kopf geschüttelt und sie weiter mit einem verständnisvollen Blick angesehen, den Ruth nicht erwartet und zuerst auch nicht hatte deuten können. 'Sie sind nicht die Erste und werden sicher auch nicht die Letzte sein', atemlos hatte Ruth jedem Wort der Oberin gelauscht. 'Wir haben noch immer jeder Frau helfen können, so dass wir auch immer eine Lösung fanden, die Mutter und Kind gleichermaßen von Nutzen war.' Da hatte Ruth dann schließlich doch wieder zu weinen begonnen, obwohl sie lange dagegen angekämpft hatte. Auf ihre Frage, ob sie den Orden verlassen musste, hatte die Oberin etwas geantwortet, das Ruth im ersten Moment die ganzen vorangegangenen Worte vergessen ließ. Ja, sie müsste das Kloster verlassen, jedoch nur bis kurz nach der Geburt. Was danach käme, hatte Ruth zaghaft wissen wollen. 'Das, was für Sie am Erträglichsten ist.' Instinktiv hatte Ruth gewusst, was die Oberin damit gemeint hatte. Eine Entscheidung hatte die Oberin nicht sofort verlangt. Ruth solle sich zuerst um sich und das Ungeborene kümmern. Es bliebe noch genügend Zeit für einen endgültigen Entschluss, den sie nicht überstürzen durfte. "Gute Nacht", verabschiedete sich Iris von Ruth, als sie an deren Zimmer angekommen waren. Ruth griff nach Iris' Unterarm. "Muss... muss ich das ganz alleine..." Iris schüttelte den Kopf. "Keine Sorge, es wird Sie jemand die ganze Zeit begleiten." "Danke." Ruth' Hand sank hinab und gab den Arm ihrer Begleiterin wieder frei. "Gute Nacht." Stillschweigend hatte man Ruth' Auszug nur wenige Wochen nach dem Gespräch mit der Oberin aufgenommen. Jede ihrer Mitschwestern nahm es kommentarlos hin, dass sie das Kloster verließ und Ruth fragte sich, wie oft sie selbst schon einer der Nonnen beim Abschied beigewohnt hatte, ohne zu wissen, weshalb sie gehen musste. Spontan fielen ihr ein oder zwei Frauen ein, die das gleiche Problem – wie es die Oberin bezeichnet hatte – wie sie selbst gehabt haben konnten. Und seit heute wusste sie auch um die Bedeutung der 'Kuren', mit denen man den kurzzeitigen Austritt jener Nonnen erklärt hatte, bei deren Weggang sie sich damals nichts gedacht hatte. Wie naiv sie doch gewesen war. Leichter Zweifel überkam Ruth als sie das erste Mal seit Jahren wieder zivile Kleidung trug. Auf eine befremdliche Art und Weise fühlte sie sich unwohl in den neuen Kleidern, als wäre eine schützende Barriere gefallen, die sie die ganze Zeit um sich herum gehabt hatte. Wieder so ein Ding, über das sie nie nachgedacht hatte. Ruth schloss den letzten der großen grünen Knöpfe an ihrer Wolljacke, die so bequem geschnitten war, dass ihr Bauch, dem man täglich beim Runder werden zugucken konnte, möglichst viel Freiheit hatte. Das Kleine strampelte fröhlich, als wüsste es, dass sie heute Großes vorhatten. Ruth legte ihre Hand auf ihren Bauch und wartete auf das leichte Klopfen. Mittlerweile konnte sie verschiedene Bewegungen des Kleinen ausmachen und mit jeder neu entdeckten Regung stieg auch Ruth' Freude über das kleine Wesen an, das in ihr heranwuchs. Sie wusste, wann es schlief, was meistens nicht mit ihrem eigenen Wach- und Schlafrhythmus übereinstimmte, und wusste auch, dass das regelmäßige Zucken Schluckauf war, den das Kleine von Zeit zu Zeit bekam, weil es, wie der Arzt ihr erklärt hatte, Fruchtwasser schluckte. Ob es wohl ein Mädchen wurde? Oder ein Junge? Diese Frage hatte ihr niemand beantworten können und Ruth merkte, wie ungeduldig sie wurde, je länger die Schwangerschaft andauerte. Das Klopfen an ihrer Zimmertür riss Ruth aus ihren Gedanken. Die Tür ging auf und Schwester Iris trat ein. "Sind sie fertig?" "Ja." Ruth nickte Iris lächelnd zu, die die vollgepackte Reisetasche nahm, die neben dem Nachttischschrank auf dem Boden stand, und auf Ruth wartete, die sich noch ein letztes Mal in ihrem Zimmer umsah. Sie hatte kaum persönliche Gegenstände besessen und trotzdem wirkte der kleine Raum nun noch leerer als zuvor. Der Schreibtisch am Fenster war aufgeräumt und sämtliche noch verbliebenen persönliche Papiere und Dokumente in der abschließbaren Schublade unter der Tischplatte verstaut. Den Schlüssel dazu hatte sie in ihrer Jackentasche. Ruth tastete danach. Er war noch da, sie konnte die Konturen unter dem Stoff ihrer Jacke deutlich spüren. Erleichtert atmete sie aus. Der Schlüssel war für sie zu einem Bindeglied geworden, dessen kühles Metall sie während ihres Verbleibs außerhalb des Klosters mit eben jenem verbinden würde. Noch immer wusste sie nicht, für was sie sich entscheiden würde, wenn das Kleine geboren war. Und niemand drängte sie, eine Antwort darauf zu finden, ganz wie versprochen. Nur der kleine Schlüssel, auf den sie gut aufpassen würde, erinnerte sie daran, irgendwann das zu tun, von dem sie inständig hoffte, dass es das Beste sein würde, wie auch immer jener Entschluss ausfallen mochte. Ruth gab sich einen Ruck und griff nach dem Regenschirm, der neben der Tür gegen die Wand gelehnt auf sie wartete. Sie widerstand dem Drang, sich doch noch einmal umzusehen und verließ an diesem stürmischen Herbsttag das Kloster auf der Klippe und stieg in das Taxi ein, das vor dem Haupteingang bereits auf sie und ihre Begleiterin wartete und in eine ungewisse, aber nicht weniger aufregende Welt brächte, die sie entweder nur zeitweise oder aber auch für immer aufnehmen würde. III. Glocken, die nicht klingen Wütend hatte der Herbstwind die Bäume durchgerüttelt, dass die alten Äste schwer ächzten, und dabei die buntgefärbten Blätter über die Straßen und den Gehwege verstreut, als hätte er es in diesem Jahr besonders eilig. Und dann, noch ehe die Bäume all ihr Laub hatten loswerden können, fiel bereits der erste Schnee und bedeckte die blutroten Blätter an den Ästen unter sich mit seiner weißen Last. Ruth und Iris spazierten schweigend durch den Park, der in der Nähe ihrer winzigen Wohnung lag, die sie seit dem Verlassen des Klosters bewohnten. Die vom Schnee freigeräumten Wege folgten in sanften Bögen einem zugefrorenen See, der in der Mitte des Parks lag. In der Nacht hatte es wieder so viel geschneit, dass die gestern noch im Licht der untergehenden Sonne spiegelnde Eisfläche nun wieder unter einer dichten Decke lag, die noch keine Spuren der sonst zahlreich den See bevölkernden Schlittschuhläufer aufwies. Eine angenehme Gewohnheit hatte sich in ihrem Leben eingestellt. Die erste Unsicherheiten waren vorbei und Ruth hatte gelernt, mit vielem umzugehen, das in den ersten Tagen mit solcher Wucht auf sie eingestürmt war, dass sie am liebsten nur noch in der Wohnung geblieben wäre. Iris hatte all das mit einer Gelassenheit hingenommen, dass Ruth mit jedem Tag, den sie Iris besser kennenlernte, ahnte, dass eben diese freundliche Schwester, die man ihr zur Begleitung mitgegeben hatte und deren Gesellschaft sie nicht mehr missen wollte, schon öfter solche Reisen unternommen hatte. Sie begleitete sie wie selbstverständlich zu allen Arztterminen und gab acht, dass es Ruth und dem Baby gut ging. Selbstverständlich hatte Ruth Iris nie direkt danach gefragt, ob sie mit ihrer Vermutung recht hatte, aber es gab eben die Dinge, die man nicht erst auf ihre Richtigkeit hin überprüfen musste, um die Wahrheit bestätigt zu bekommen. Und aus eben diesem Grund hielt es Ruth für besser, es auch so zu belassen, obwohl sie sich manchmal schon wünschte, dass man ihr bei der noch ausstehenden Aufgabe ein wenig unter die Arme griff. Wehmütig dachte Ruth an die bevorstehende Adventszeit, die sie besonders gerne in dem Kindergarten begangen hatte, der ihrem Kloster angehörte. Kinder hatten eine ganz eigene Art, sich an dieser Zeit zu freuen, deren Erinnerung an die eigene vergangene Kindheit erst wieder fühlbar zurückkehrte, wenn man selbst sah, wie Kinderaugen leuchteten, wenn sie die festlich geschmückten Räume betraten und mit staunend offenen Mündern den Geschichten lauschten, die von dem Fest erzählten, das sie Jahr für Jahr wieder begeisterte, als wäre es das erste Mal, dass sie es feierten. Wie an jedem Tag beendeten Ruth und Iris ihren Spaziergang in dem kleinen Café, das am See lag und von dessen Frontseite aus man einen guten Blick auf den See und die umliegenden Wege hatte. Im Sommer musste es wunderschön sein, bei Kaffee und Kuchen unter einem der großen Sonnenschirme auf der Terrasse zu sitzen und den zahlreichen Spaziergängern zuzusehen. Ruth wandte den Blick von der verschneiten Terrasse mit den abgedeckten Sonnenschirmen ab und hin zu dem Kuchen, der vor ihr auf dem Tisch stand. Sie stach die Gabel in den Kuchen und teilte bedächtig ein Mundgerechtes Stück davon ab. Eine halbe Kirsche löste sich aus dem Kuchenstück und fiel auf die blütenweiße Tischdecke. "Ich habe mich entschieden", sagte Ruth unvermittelt. Iris setzte ihre Teetasse ab, aus der sie gerade einen Schluck genommen hatte, und sah Ruth gespannt an, die ihre Blicke nun erstaunlich selbstbewusst erwiderte. "Und wie?" Ruth' Schmerzensschreie waren bis in das kleine Wartezimmer zu hören, in dem Iris saß und versuchte, durch Gebete der nur einige Türen weiter entfernt leidenden Frau nahe zu sein. Ihre Finger fühlten sich teilweise taub an, so fest hatte sie sie ineinander verschlungen. Ruth schien in der Tat für alles büßen zu müssen, was sie sich an Schuld aufgeladen hatte – und das bereits seit mehreren Stunden. Ruth' vorerst letzter Schrei verklang, ohne dass ein weiterer folgte und Iris atmete erleichtert auf. Müde lockerte sie den Griff ihrer Hände. Sie dachte an den Schlüssel, den ihr Ruth an dem Tag statt einer Antwort gegeben hatte, als sie ihr im Café mitteilte, sich entschieden zu haben, ob sie wieder in den Konvent zurückkehre oder nicht. Und Iris hatte auch ohne weitere Erklärung verstanden, was das bedeutete. Dennoch war sie bei der jungen Frau geblieben, die trotz dieser eigentlich für sie erfreulichen Entscheidung, die letzten Tage vor der Geburt immer stiller geworden war. Erschöpft sank Ruth auf die Liege zurück. Ihr Gesicht glänzte vor Schweiß und Tränen und sie zitterte vor Anstrengung. Sie hatte mit Schmerzen gerechnet, aber nicht mit solchen, die wie ein Orkan auf sie einstürmten und sich anfühlten, als würde sie in unzählige Stücke gerissen. Kaum war eine Wehe abgeklungen, kündigte sich bereits die nächste an. Jetzt dauere es wirklich nicht mehr lange, hatte ihr die Hebamme tröstend versichert, doch Ruth konnte sich das Ende dieser Qualen einfach nicht vorstellen. Ein erneuter Schmerz, der ihr die Luft rauben wollte, schoss in ihren Unterleib und ließ Ruth sich wieder aufbäumen. Ihre Finger krallten sich mit Anschwellen der Wehe immer fester in das weiße Laken, auf dem sie lag, bis sie meinte, es im nächsten Moment zerrissen zu haben. Der schmerzende Druck in ihrem Unterleib wuchs weiter und weiter an, so dass Ruth sicher war, das Bewusstsein zu verlieren, doch nur wenige Augenblicke später war er vergangen und die junge Frau konnte einige schnelle Atemzüge nehmen. "Sehr schön, Ruth, das war das Köpfchen. Das Schlimmste haben Sie hinter sich", machte die Hebamme ihr Mut. "Nur ein letztes Mal noch pressen und dann haben Sie auch schon Ihr Baby." Ruth schloss die Augen. Sie wagte nicht, an irgendetwas anderes zu denken, als an diese eine letzte Wehe. Der zögerliche Schrei, der gleich darauf erklang, verwirrte die junge Frau zunächst, bis sie realisierte, dass es tatsächlich geschafft war. Sie öffnete ihre Augen und sah ein kleines nass glänzendes Bündel, das die Hebamme hochhielt, damit sie sich das Ergebnis dieser unmenschlichen Schmerzen betrachten konnte. Sie konnte keine Ähnlichkeit zu den hübschen Babys in dem Meine gesunde Familie-Buch feststellen. Der kleine Körper, der noch immer durch die Nabelschnur mit ihr verbunden war, war verschrumpelt als sei er bereits vergreist und an manchen Stellen klebte Blut – ihr Blut. Es war so gar nichts Schönes daran. 'Wie furchtbar', dachte Ruth und erschrak in der gleichen Sekunde. Die Hebamme schien ihre Gedanken auf ihrem erschütterten Gesicht abgelesen zu haben, denn sie lächelte sie an. "Warten Sie, bis er gebadet ist." "Er?", hakte Ruth nun aufmerksam geworden nach. "Ja, Sie haben einen kleinen Sohn." Die Hebamme wartete, bis der Arzt die Nabelschnur durchtrennt hatte und verschwand dann mit dem Baby aus Ruth' Gesichtsfeld. Erfolglos versuchte Ruth, der Hebamme mit den Blicken zu folgen. Sie hörte, wie hinter ihr ein Wasserhahn aufgedreht wurde und das Wasser in das Becken lief. Ruth spürte eine undefinierbare Angst, die kurz in ihr aufkam. Was, wenn Iris sie falsch verstanden hatte? "Darf ich ihn halten?" "Natürlich", antwortete die Hebamme amüsiert, "aber erst, wenn er sauber und angezogen ist." "Dann ist gut", murmelte Ruth erleichtert und schloss die Lider. Als Ruth ihre Augen wieder aufschlug fühlte sie sich schon viel besser. Ihr Unterleib schmerzte zwar noch immer, aber nicht mehr auf die Art wie während der Geburt. Das Plätschern des Badewassers war vergangen und Ruth setzte sich langsam auf, bereit, ihr Baby endlich in Empfang zu nehmen. "Kann ich ihn jetzt haben?", fragte sie die neben ihr sitzende Person, die den Kopf hob, als sie Ruth' Stimme hörte. Im gleichen Augenblick erkannte Ruth die Frau neben sich und ihr Lächeln verschwand auf der Stelle aus ihrem Gesicht. Jetzt sah Ruth auch, dass sie nicht mehr im Kreißsaal lag, sondern in einem Krankenzimmer. Ein kalter Schauer durchfuhr Ruth. "Wo ist er?" "Er schläft", antwortete Iris ruhig. Sie legte ihr Buch zur Seite und rückte näher zu Ruth' Bett hin. "Wann darf ich ihn denn endlich sehen?" "Sie sollten sich zuerst Ihre verdiente Ruhe gönnen." Iris strich Ruth über die verschwitzte Stirn. "Sie müssen sehr erschöpft sein." Ruth nickte stumm und sank zurück. Die kühle Hand, die ihr weiter über die Stirn strich, ließ sie bald wieder in Schlaf fallen. Drei Tage waren nun schon seit der Geburt ihres Sohnes vergangen. Drei Tage, in denen sie ihn nur das eine Mal kurz nach der Geburt gesehen hatte. Den ersten Tag hatte sie fast völlig verschlafen und die letzten beiden mit nahezu pausenlosem Nachdenken verbracht. Mittlerweile drehten sich ihre Gedanken nur noch im Kreis, als wollten sie einfach keinen weiteren Weg mehr suchen. Ruth dachte, dass es nun mal eben manchmal so war, dass man irgendwann am Ende aller Gedanken ankam und nichts mehr weiter darauf wartete, neu aufgegriffen zu werden. So wie bei ihr. Das kühle, glatte Metall des Schlüssels hatte sich in Ruth' Hand aufgewärmt und ihrer Körpertemperatur angepasst, so lange hielt sie ihn nun schon fest. Sie hatte ihn sich heute von Iris geben lassen und seither keinen Moment mehr aus der Hand gelegt. Sie hatte sich auch nicht darüber gewundert, weshalb die Nonne ihn bereits dabei gehabt hatte, ohne dass sie von Ruth' Entschluss hätte wissen können. Wahrscheinlich war sie selbst die Einzige, der der Zusammenhang nicht klar gewesen war. Ruth nahm den Schlüssel in die linke Hand und langte mit der rechten nach dem Fenstergriff. Der Nachtwind, der ihr durch das geöffnete Fenster entgegenschlug war frisch, als würden die letzten Wintertage noch in ihm stecken, doch es roch bereits nach Frühling. Ruth schob den Besucherstuhl, auf dem bis eben noch Schwester Iris gesessen hatte, näher zu dem Fenster hin und stieg darauf. Sie erschauerte unwillkürlich als ihr nackter Fuß das kalte Fensterbrett berührte. Sie hielt sich an dem Fensterkreuz fest und zog sich weiter hoch, bis auch ihr anderer Fuß auf dem schmalen Brett stand. Der Wind frischte auf und blähte das Nachthemd der jungen Frau auf. Ruth wagte einen vorsichtigen Blick unter sich. Drei Stockwerke tiefer fuhr gerade ein Auto auf den Parkplatz. Vielleicht ein frischgebackener Vater, der seine Frau und sein Baby besuchte oder sogar abholte, um sie mit nach Hause zu nehmen, wo der Rest der Familie auf sie warten würde. Eine der glücklichen Familie, wie auf dem Deckblatt von Meine gesunde Familie. Ruth lächelte. 'Deine gesunde Familie', fügte sie in Gedanken an den unbekannten Mann adressiert hinzu, der auf den Eingang des Krankenhauses zuhastete. Die nächste Windböe riss zuerst an ihr und versuchte, sie ins Zimmer zurückzuziehen, ehe sie sie aus dem Fenster zu drücken schien. Es war wie eine Aufforderung, der sie endlich auch nachgeben wollte. Ruth' Hand, die das Fensterkreuz umklammert hielt, lockerte sich, während die Hand mit dem Schlüssel sich fester um eben diesen schloss. Sie tat einen vorsichtigen Schritt nach vorne, bis sie den Rand des Fensterbrettes unter ihren Zehen fühlte. "Um Himmels Willen", ertönte ein erschrockener Aufschrei hinter Ruth. Ruth drehte sich um und sah eine Krankenschwester in der geöffneten Zimmertür stehen. Der Durchzug, der herrschte, zerrte an einigen ihrer Haare, die sich aus ihrem sorgsam geflochtenen Zopf gelöst hatten. Die schreckgeweiteten Augen in dem bleichen Gesicht waren starr auf Ruth gerichtet, die noch immer auf dem Fensterbrett stand, einen halben Schritt davon entfernt, zu springen. 'Nein, um meiner Willen und um seiner', dachte Ruth bitter. "Bitte, tun Sie das nicht", flehte die Krankenschwester Ruth an, die nicht schien, als überzeuge sie das. "Warum auch immer Sie das tun möchten, denken Sie doch noch einmal nach", fuhr die junge Frau mit zitternder Stimme fort. In ihren Augen standen Tränen und ihre Hände krallten sich Haltsuchend in den gestärkten weißen Stoff ihrer Schwesterntracht. Sie war noch ziemlich jung, fiel es Ruth auf. Vermutlich eine Schwesternschülerin. Ruth' Blicke wanderten wieder zu dem Parkplatz unter sich, der, bis auf die hohen Lampen, in der Dunkelheit lag. Die Lichtpunkte verschwammen vor Ruth' Augen. "Wie sieht er aus?" Ruth hatte ihre Tränen erst hinunterschlucken müssen, ehe sie diese vier Worte aussprechen konnte, ohne dass ihre Stimme gleich wieder versagte. Die junge Schwester kostete es mehr Mühe, der Frau, die mit wehendem Nachthemd im geöffneten Fenster stand, zu antworten. "Wann wurde er denn geboren?" "Vor drei Tagen", hauchte Ruth fast unhörbar, doch die Schwester, die aus Angst, eine falsche Bewegung zu machen, sich so sehr auf Ruth konzentrierte, verstand sie. Die Krankenschwester zwang sich dazu, zu lächeln, obwohl ihr ganz und gar nicht danach zumute war. "Der-der kleine Blonde also." "Ja?" Ruth lachte und weinte nun in einem, als sie sich ihren Sohn vorzustellen versuchte. Die Schwester biss sich auf die Lippen. Natürlich war der Blonde ihr Sohn, es war das einzige Kind, das an jenem Datum zur Welt gekommen war. Und es war das einzige, das in einigen Tagen nicht von seiner leiblichen Mutter abgeholt werden würde, ganz gleich, ob sie sprang oder nicht. "Kommen Sie doch bitte wieder rein, dann kann ich Ihnen von ihm erzählen", flehte die junge Frau Ruth an. Sie rang die Hände, als wolle sie nach Ruth greifen, was wegen der Entfernung allerdings mehr als unmöglich war. Einen winzigen Moment dachte Ruth über das Angebot nach. Dann schüttelte sie ihren Kopf. Die Schwester hatte Ruth' Zögern bei ihrem Vorschlag, ihr mehr über ihren Sohn zu erzählen, sehr wohl bemerkt und blitzschnell daraus geschlossen, dass darin eventuell ihre einzige Chance lag, die Frau, die ihr Baby offenbar seit seiner Geburt nicht hatte sehen dürfen und die sich nun aus wahrscheinlich diesem Grund auch aus dem Fenster stürzen wollte, von genau diesem Vorhaben abzubringen. "Er hat ein Stupsnäschen", redete die Krankenschwester einfach drauflos, ohne Ruth jedoch aus dem Blick zu lassen. "Und während er trinkt schläft er immer wieder ein und – und – und wenn er schläft, dann seufzt er manchmal ganz leise, und seine Augen-", die junge Frau unterbrach sich selbst zum Luftholen und schniefte. "Was denn?", rief Ruth. "Was ist mit seinen Augen?" Die Schwesternschülerin wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. "Sie sind noch ganz dunkel wie zwei tiefe Seen und man sieht noch nicht, welche Farbe sie haben, aber die Schwester sagte, dass sie noch heller werden. Und er schaut einen manchmal ganz still an, ohne wegzugucken, als warte er darauf, dass man etwas zu ihm sagt." Unter sich hörte Ruth den Schlüssel auf dem Asphalt aufschlagen. "Kann ich ihn sehen?" Die Krankenschwester nickte eifrig. Sie hätte der Frau jeden Wunsch erfüllt, wenn es sie nur dazu brachte, nicht zu springen. Mit angehaltenem Atem sah sie Ruth dabei zu, wie sie langsam von dem Fensterbrett hinunter auf den Stuhl stieg. Als ihre Füße sicher auf dem Boden standen, atmete sie erleichtert aus. "Da drüben liegt er." Die Schwester deutete auf das Bettchen, das zwischen drei weiteren an der Wand aufgereiht stand. Ruth musste ihre Augen anstrengen, um etwas zu sehen, denn die einzige Lichtquelle in dem stillen Raum kam von einer Schreibtischlampe, die ein mattes Gelb von sich gab, das gerade stark genug war, um seine direkte Umgebung zu erhellen. Zögernd ging Ruth auf die Bettchenreihe zu. Sie spürte die Blicke der Schwester in ihrem Rücken und wusste auch, was diese sich gerade fragen mochte. Jeder einzelne Schritt war schwer für sie, denn es war zweifellos das letzte Mal, dass sie ihren Sohn sehen würde. Das Erste, was Ruth bemerkte, war das kleine Schild, das am Fußende des Bettchens befestigt war und das Ruth den Atem verschlug. Dabei waren es nur einige Buchstaben und Zahlen. J, männlich, und das Geburtsdatum samt Zeit. Das Herz brach ihr erst der kleine Zusatz: z. A. - zur Adoption. Ruth' Knie wurden weich und sie fürchtete, im nächsten Augenblick ohnmächtig zu werden. Wenn das passierte, drohten nicht nur ihr, sondern auch der Schwester, die so freundlich gewesen war, sie zu ihrem Sohn zu bringen, die Entdeckung. Für sie selbst würde das keine Konsequenzen haben als sie ohnehin schon zu bewältigen hatte, aber bei der jungen Schwester war sie sich nicht sicher. Tapfer straffte Ruth ihren Rücken und warf den ersten richtigen Blick auf ihr schlafendes Baby. Sie musste sich die Hände vor den Mund halten, um das entzückte 'Oh' zu unterdrücken, das ihr beinahe raus gerutscht wäre. Die Schwester hatte Recht behalten. Sein Haar war so hell, dass man es kaum sah, und so zart wie der Flaum eines Kükens. Auch die Wimpern und die Augenbrauen waren ebenfalls so hell, dass man sie kaum erkennen konnte. Er war sauber und sein Gesicht glatt. Nichts erinnerte mehr an das schrumpelige Wesen, das man ihr direkt nach der Geburt gezeigt hatte. Ruth streckte die Hand aus und strich sachte über das Köpfchen des Kleinen, der sofort auf die Berührung reagierte. Er kräuselte die kleine Stirn, schlief aber ruhig weiter. "Er ist der Ruhigste hier", flüsterte die Schwester, die an die andere Seite des Bettchens herangetreten war und Mutter und Sohn beobachtete. Ruth' Mund bog sich zu einem Lächeln. Ihre Hand glitt über die Hand ihres Sohnes, die dieser zu Fäusten geballt hatte. Als er wieder die Berührung spürte, streckten sich die kleinen Finger. Ruth strich über jeden und dachte wehmütig darüber nach, das diese Hände bald nach Spielzeug greifen würden, das nicht sie gekauft hatte – oder schlimmer: dass er die Ärmchen nach einer Frau ausstrecken würde, von der er dachte, dass es seine Mutter sei. Und in ein paar Monaten würde der kleine rote, leicht geöffnete Mund zu einer Fremden Mama sagen, ohne dass sie es je hören würde, obwohl es eigentlich ihr zustand. Ruth schluchzte leise auf und auf der Stelle verzog der Kleine auch seinen Mund. Hastig blinzelte Ruth die aufsteigenden Tränen weg. Sie wollte nicht, dass das letzte Mal, dass sie ihren Sohn sah, mit Tränen für sie beide endete. Die Schwester strich ihr mitfühlend über den Arm und Ruth lächelte gequält. "Was bedeutet das 'J'?" "Dass er das zehnte Kind ist, das-", die junge Frau unterbrach sich selbst. Sie wandte die Blicke von Ruth ab, die auf die Antwort gewartet hatte und sich nun das Ende des Satzes anhand der Reaktion der Schwester selbst zusammenreimte. "Schon gut." Ruth beugte sich zu ihrem schlafenden Sohn hinab und gab ihm einen zarten Kuss auf das Köpfchen. Sie schloss die Augen und atmete tief ein. Wenn sie je etwas vergessen sollte, dann durfte es alles sein, aber niemals wie ihr Sohn an jenem Tag ausgesehen oder gerochen hatte, als sie fast aufgegeben hatte und beinahe weder das eine noch das andere hatte kennenlernen dürfen. Ruth richtete sich auf. Es fiel ihr schwerer, ihren Blick von ihrem Sohn abzuwenden, als es ihr gefallen war, von dem Fensterbrett hinunter zu steigen, und trotzdem wusste sie, dass es nicht anders möglich war – nicht, so lange Er schwieg. "Danke", sagte Ruth leise zu der jungen Krankenschwester, dann verließ sie ohne sich noch einmal umzudrehen das Neugeborenenzimmer. Den Blick auf ihre gefalteten Hände gerichtet, saß Ruth im Wartezimmer der Wöchnerinnenstation und wartete auf Iris, die ihnen ein Taxi bestellte, das sie in ihre Wohnung zurückbringen sollte. Ihre Tasche hatte Iris bereits mitgenommen und Ruth musste nur noch ihre Entlassungspapiere in Empfang nehmen, danach konnte sie endlich das Krankenhaus verlassen und versuchen, so zu tun, als ob sie mit allem klarkäme. Und für den Fall, dass es nicht mit dem sich-selbst-etwas-vormachen klappte, hatte man ihr ein Röhrchen gegeben, das vollgepackt mit kleinen unschuldig weißen Tabletten war, die ihr beim Vorgaukeln helfen sollten. Ruth hatte sie, nachdem sie das Untersuchungszimmer verlassen hatte, direkt in einem der Mülleimer entsorgt. Eine helle Kinderstimme riss Ruth aus ihren Gedanken und sie hob den Blick. Durch die geöffnete Tür des Wartezimmers sah sie ein kleines Mädchen auf dem Flur, das einen Stoffhasen im Arm hielt und ungeduldig an der Hand des Mannes zog, der sie begleitete. "Schnell, schnell", rief die Kleine aufgeregt. Der Mann, sicher ihr Vater, lachte und stellte eine mit buntem Stoff ausgeschlagene Tragetasche, die er in der anderen Hand gehalten hatte, zu Boden. "Wir müssen erst auf Mama warten." "Ich will ihn sehen!" Die Kleine hüpfte wie ein Gummiball vor ihrem Vater herum, der sich von ihr abwandte und nach etwas Ausschau zu halten schien. Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus und er winkte jemandem zu, der noch außerhalb von Ruth' Sichtfeld lag. "Schau, da ist Mami ja", sagte er zu seiner Tochter, die noch immer herum hüpfte und dabei 'Ich will ihn sehen, ich will ihn sehen' in Endlosschleife sang. Eine Frau in Ruth' Alter gesellte sich zu den beiden. Sie hielt eine Mappe in der Hand, die sie dem Mann strahlend präsentierte. "Alles erledigt, wir können ihn abholen." Unwillkürlich horchte Ruth auf. Das konnte nicht sein. Und wenn doch, warum hatte es ausgerechnet heute sein müssen? Aus scheinbar weiter Entfernung nahm Ruth die helle Stimme des kleinen Mädchens wahr, das ein langgezogenes 'Jaaa' jubelnd von sich gab, ehe es von seinen Eltern ermahnt wurde, leiser zu sein. Ruth' Hände wurden eiskalt. Wo blieb nur die Schwester mit ihren Papieren? Sie wollte, nein, sie musste hier weg. Schockiert saß Ruth da und horchte ihrem eigenen Herzschlag, der hektisch in ihren Ohren pulsierte. Ihre Fingernägel bohrten sich schmerzhaft in ihre Handflächen. Ohne wirklich etwas wahrzunehmen sah sie den sich schleppend vorwärts kriechenden Zeigern der Uhr zu, die über der Tür des Wartezimmers hing. Sie überlegte, ob sie aufstehen und einfach gehen sollte - die Papiere konnte man ihr sicher auch zuschicken -, doch sie ahnte, dass ihre Beine nachgeben würden, sollte sie auch nur einen Schritt tun. Aber noch hatte sie die Gelegenheit, sich zusammenzureißen und zu gehen. Wie betäubt blieb Ruth sitzen, bis der Minutenzeiger der Uhr eine halbe Runde um das Zifferblatt geschafft hatte. Sich nähernde, bekannte Stimmen verdrängten Ruth' Konzentration auf ihren eigenen Puls, der sich im selben Moment wieder zu beschleunigen begann. Und dann standen sie wieder da auf dem Flur und waren ihre eigene Meine gesunde Familie. Atemlos sah Ruth zu, wie die Frau das Baby in ihrem Arm sanft hin und her wiegte. Deutlich sah man die hellblonden Haare, die Ruth so sehr an ein Küken erinnert hatten. Die Frau beugte den Kopf zu dem Kleinen hinab und küsste ihn auf die Stirn. Sie sagte etwas zu ihm, wie Ruth an ihrem sich bewegenden Mund erkennen konnte. Was es war, konnten nur der Kleine, der Vater, der seine Tochter auf dem Arm hielt, damit diese ihr neues Familienmitglied bestaunen konnte, und sie selbst hören. Ruth' Hals war wie zugeschnürt. Es war ihr Sohn, den die Fremde da im Arm hielt! Ihr Sohn, dessen Duft nach Babycreme und Milch sie riechen konnte, wenn sie die Augen schloss! Ihr Sohn, den sie gleich in einer fremden Tragetasche in ein fremdes Leben brachten, damit er dort eine Mama, einen Papa und eine kleine Schwester haben konnte, statt nur einer Mama und sonst nichts. Dass sie weinte, spürte Ruth erst, als die Tränen auf ihre verkrampften Hände hinab tropften. Hatte sie sich vielleicht doch falsch entschieden? Oder wollte sie das nur denken, weil sie den Drei da draußen, die durch ihr Baby auf eine Vier angestiegen waren, ihr Glück nicht gönnte? Weil sie schon glücklich waren, bevor sie das für sie fremde Kind zu sich geholt hatten und jetzt zwei Kinder hatten, während sie ihr einziges hergegeben hatte, um auf eine Antwort zu warten, die sie nicht mehr haben wollte. Ruth fuhr erschrocken zusammen, als der Vater, der einen Fotoapparat in der Hand hielt, sich nach jemandem umsah, der sie Vier für ewig an einen der wohl schönsten Tage erinnern würde, den sie als neue Familie begonnen hatten. Zum Glück hatte er sie nicht gesehen. Ruth würde nie ein Bild ihres Sohnes besitzen. Nur ihre Erinnerung würde Bilder dieses kleinen Wesens schaffen, die nie vergilben würden - die aber auch nie erneuert werden könnten. Für sie würde er immer nur ein paar Tage alt bleiben, mit den gleichen blonden Haaren, die so zart wie Daunen waren. Und immer würde ihre letzte Erinnerung diese sein, dass ihr Sohn sie auf den Armen fremder Menschen verließ. Ruth bedeckte ihr Gesicht mit ihren Händen. Sie wollte nicht sehen, wie die Vier gingen. Dieses Bild würde sie ihrer Erinnerung verbieten. IV. Kinder, die nicht lachen Natürlich werden die Kinder an Menschen in der Umgebung vermittelt, es sind ja nicht nur Kleinkinder, sondern auch ältere darunter, die man nicht aus ihrem gewohnten Umfeld reißen möchte. Machen Sie sich keine Sorgen. Ja, es wird alles überprüft, ehe man die Kinder in ihre neuen Familien lässt. Man ist sehr sorgfältig dabei. Sie müssen nicht weinen, Ruth, er wird es gut haben. Haben Sie noch die Tabletten, die man Ihnen im Krankenhaus gab? Nein. Na gut, dann werden wir Ihnen neue holen lassen. Sie müssen sie aber wirklich nehmen. Ich möchte nicht, dass Sie sich weiter so quälen. Beruhigen Sie sich doch, ich verstehe ja, dass es ein furchtbarer Verlust für Sie ist, aber denken Sie doch bitte auch an das Kind... Wie heißt er denn? Jei? Was für ein hübscher Name. Möchtest du nicht zu den anderen Kindern gehen? Schau mal, hier kannst du deine Straßenschuhe aus- und deine Hausschuhe anziehen. Und deine Jacke hängen wir an den Haken darüber. Kannst du dir merken, wo dein Platz ist? Siehst du das Bild? Das musst du dir gut merken. Richtig, es ist der kleine schwarze Hund. Jetzt sag deiner Mama Auf Wiedersehen und dann gehst du spielen. Die anderen Kinder warten schon auf dich. "Die Schwester sagt, dass die Augen noch heller werden." Ruth sah sich um. Sie kniete auf dem Boden. Um sie herum lagen drei gekrümmte Körper, deren Augen geschlossen waren und es für immer bleiben würden. Ihre Hände schmerzten. Aber nicht so sehr, wie ihr Herz schmerzte, seit sie das Krankenhaus verlassen hatte, kurz nachdem ihr Sohn es auf den Armen dieser Fremden getan hatte. Sie wusste noch, wie erstaunt Iris sie angesehen hatte, als sie sie tränenüberströmt im Wartezimmer vorfand. Kein Wort, warum es ihr so schlecht ging, hatte sie über die Lippen gebracht und Iris hatte sie schweigend in den Arm genommen. Unzählige Male hatte sie sich seither gewünscht, zu hören, wie seine Stimme klang und zu sehen, welche Augenfarbe er denn nun bekommen hatte. Wie honiggelbe Bernsteine sahen sie aus. Aufgeweckt und neugierig hatten sie Ruth angeblickt, als er eines Tages an der Hand seiner Mutter vor ihr gestanden hatte und leise auf die Frage, wie er denn hieße, antwortete. "Jei." Was für ein Zufall, dachte Ruth, dass ausgerechnet Kind-J am Ende Jei genannt worden war. Und was für ein Zufall, dass sie sich wiedersahen. Die Frau hatte keine Ahnung gehabt, wem sie sich da gegenüber befand, als sie ihren Sohn eines Tages ausgerechnet in den Kindergarten und die Vorschule des Klosters gebracht hatte, in dem seine leibliche Mutter lebte. Sie seien erst vor Kurzem hierher gezogen. Sie hatten weiter an die Küste gewollt, wo die Luft besser war. Ihre Tochter hatte Probleme mit der Atmung. Ganz kurz flackerte in Ruth Mitleid mit dem Mädchen auf. Aber sie sah nicht mehr hin. Nein, sie war stark genug, diesen Tag vergessen zu können. Sie hatte Übung darin bekommen, Dinge zu vergessen, die zu schmerzhaft waren, um sie zu ertragen. Gebannt sah Ruth den kleinen Jungen an, der stumm auf seine Eltern hinabsah, die sich nicht mehr regten. Er streckte die Hand nach der Frau aus und berührte sie sachte an der Schulter. "Mama?" Ruth durchfuhr ein glühendes Schwert, das sich direkt in ihr Herz bohrte, in gleicher Höhe wie 'z. A.'. "Jei", flüsterte sie leise, der erst jetzt zu merken schien, dass Ruth da war. "Was ist mit meiner Mama?" "Ich weiß es nicht." Ruth lächelte schwach. "Komm her." "Haben Sie sich wehgetan, Schwester Ruth?" "Ja, aber das ist nicht mehr schlimm." Das Messer in Ruth' blutiger Hand zitterte. Wie ein Kaninchen, das vor einer Schlange saß, folgte Jei mit seinen Blicken der glänzenden Klinge, die sich vor ihm in die Luft erhob. "Soll ich es nehmen, damit Sie aufstehen können?" Jetzt war es Ruth, die wie hypnotisiert den kleinen Händen zusah, wie sie sich dem Messer näherten. "Was ist mit meiner Mama?" Die kleinen Hände, die Ruth damals so winzig vorgekommen waren, schlossen sich um den Griff des Messers und um ihre Hände, die es hielten und auf ihn richteten, und wollten es ihr abnehmen. Ruth vergaß einen Moment, was sie vorgehabt hatte. Sie sah in die Augen ihres Sohnes, die ihr erst ein Mal so nah wie jetzt gewesen waren. Die Klinge wandte sich von dem kleinen Jungen ab und zeigte nun mit der Spitze auf die Brust der Nonne. Seine Hände lagen noch immer auf denen seiner unbekannten Mutter. Der Ruck, mit dem sich Ruth das Messer in die Brust stieß, um sich das 'z. A.' und all die anderen Erinnerungen herauszuschneiden, riss Jei mit nach vorne. Er stolperte und fiel vor Ruth zu Boden. Ein warmer roter Strom quoll aus Ruth' Brust und lief über seine und Ruth' Hände und tropfte schließlich schwerfällig zu Boden, als fiele ihm der Abschied schwer. Wird fortgesetzt Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)