Runner von Votani ================================================================================ Kapitel 1: Runner ----------------- 1 Mark Oliver rannte – stolpernd und strauchelnd. Der Schnee war längst durch seine Schuhe und Socken geweicht, so dass er seine Füße der Kälte wegen kaum noch spüren konnte. Trotzdem zerrte er an Kaidan, zog dessen Arm enger um seine eigenen Schultern und schleppte sie gemeinsam weiter die finstere Straße entlang. Laternen gab es in diesem Viertel keine. Nur die weiße Decke, die sich auf Fairburrow ausgebreitet hatte, spendete etwas Licht. Es wies ihnen den Weg, während mehr Schnee, vom eisigen Wind getrieben, auf sie niederfiel. Er verwischte ihre Spuren und schränkte das Sichtfeld ihrer Verfolger ein, dessen war sich Mark bewusst. Nicht einmal er selbst wusste, in welche Richtung sie gingen. In diesem Augenblick könnte es ihn jedoch kaum weniger kümmern. Mit keuchendem Atem zog er Kaidan in eine enge Seitenstraße hinein und verschnaufte einige Sekunden mit dem Rücken gegen eine kalte Mauer gepresst. Inzwischen trug Mark beinahe das gesamte Gewicht des Buchhalters. Kaidans Kopf rollte von einer Seite zur anderen, während dessen freie Hand auf die Schusswunde in seiner Brust gepresst war. In der Dunkelheit wirkte sein Blut schwarz – und Mark konnte mit Gewissheit sagen, dass sie eine Spur hinterließen, die von Rykers Männern früher oder später aufgenommen werden würde. Sie waren Spürhunde, die man nicht immer sah, die sich aber in einem unachtsamen Moment auf sie stürzen würden. Es waren entweder Kaidan und er oder Rykers Leute, wenn sie ohne erfolgreich beendeten Auftrag nach Kentucky zurückkehren würden. Ein Teil von Mark konnte noch immer nicht glauben, dass sie es überhaupt den gesamten Weg bis nach Georgia geschafft hatten. Zweimal hatte er bereits geglaubt ihre Verfolger abgehängt zu haben, nur um die Scheinwerfer des Lexus irgendwann wieder im Rückspiegel zu entdecken. Kompliziert war es jedoch erst geworden, als ihr Wagen auf dem Highway ins Schlittern gekommen und daraufhin liegen geblieben war. „Das... wird nichts, Mark“, holte ihn Kaidans Stimme aus seinen Gedanken. Mark blinzelte die Schneeflocken aus seinen Wimpern, als er den Kopf gegen die Mauer hinter sich lehnte. Zeitgleich zog er Kaidan wieder etwas in die Höhe, da dessen Knie einzuknicken drohten. „Vergiss es!“, presste Mark hervor. Er war nicht so weit gekommen, um jetzt einfach kampflos aufzugeben. „Wir sind schon in Fairburrow. Bis zu Alexey ist es nicht mehr weit.“ Dem kaum hörbaren Schnauben nach zu urteilen musste sich Kaidan Marks Orientierungslosigkeit bewusst sein. Unglaublich, dass er jahrelang in dieser Stadt gelebt hatte und nun eine Häuserecke von der nächsten nicht zu unterscheiden vermochte. „Ich bringe uns schon hin“, murmelte Mark abwesend, als sein Blick aus der Gasse wanderte und versuchte in dem Schneetreiben etwas zu erkennen. Reifenspuren im matschigen Schnee markierten die Hauptstraße, die zu dieser späten Stunde verlassen war. Als Mark das letzte Mal einen Blick auf seine Armbanduhr geworfen hatte, war es weit nach Mitternacht gewesen. Wahrscheinlich würden sich bald die ersten Menschen auf den Weg zur Arbeit machen. Spätestens dann konnten sie in Bedrängnis geraten, obwohl sich ihr Schicksal bis dahin sicherlich entschieden hatte. Entweder hatten Rykers Schoßhunde ihnen bereits eine Kugel in den Schädel gejagt und sie im Schnee für die Polizei liegen gelassen, oder aber sie hatten Unterschlupf bei Alexey gefunden. Alexey Pawlow, der nicht einmal wusste, dass Mark wieder in Fairburrow war - noch weniger um die Umstände für seinen Besuch. Einige Gestalten tauchten am Rand der Hauptstraße auf und zogen Marks Aufmerksamkeit auf sich, während er sich und Kaidan enger an die Hauswand presste. Waren es Rykers Leute? Sie waren nur vage Umrisse im Schnee, unmöglich von dieser Entfernung auszumachen. „Ihr könnt euch nicht ewig verstecken!“, brüllte einer von ihnen. Seine Stimme schallte durch die Nacht und brachte sicherlich einige Einwohner dazu, in ihren Betten die Augen aufzuschlagen. „Dein Kumpel wird es nicht mehr lange machen, Mark!“, fügte er nach einigen Sekunden hinzu. „Wahrscheinlich blutet er gerade aus. Mit dir werden wir uns auch Zeit lassen!“ „Schnauze da draußen!“, kreischte eine Frauenstimme aus der Ferne. Mark nutzte die Gelegenheit, um seinen Griff um Kaidans Hüften zu verstärken und ihn tiefer in die dunkle Gasse zu ziehen. Der Schnee knirschte unter seinen Turnschuhen, was ihn wieder und wieder einen Blick über seine Schulter werfen ließ. Ihre Verfolger konnte er nicht mehr entdecken, doch das hatte nichts zu bedeuten. Mit einem hatten sie nämlich recht gehabt: Kaidan würde das nicht durchstehen, wenn er ihn nicht zu einem Arzt brachte. Das war jedoch leichter gesagt als getan, denn das doppelte Gewicht, das auf Marks müdem Körper lag, machte ihn langsam und unbeweglich. Abgesehen davon, dass ein Besuch in der Notaufnahme zu viele Fragen aufwerfen würde. „Hör nicht auf diesen Trottel“, flüsterte Mark, wohl in dem Wissen, dass ein Buchhalter wie Kaidan wahrscheinlich keine große Ahnung über Schusswunden hatte. „Der Kerl weiß nicht mal, wo die Kugel dich getroffen hat.“ Kaidan röchelte in Marks Ohr, warmer Atem streifte dabei seine unterkühlte Haut. „I-Ich... denke, er weiß es.“ Und Mark wollte anhalten und dem Mann eine scheuern für diesen Pessimismus, doch stattdessen schleppte er ihn mit aufeinandergebissenen Zähnen weiter. Er setzte einen Fuß vor den anderen. Es war ein langsames Unterfangen, doch nur so konnten sie den Weg bis zu Alexey hinter sich bringen. Mit einem Fuß vor dem anderen.   2 „Ich... kann nicht mehr.“ Doch es waren nicht Kaidans gekrächzten Worte, sondern der Arm, der sich von seinen Schultern löste, der Mark aus seiner Konzentration riss. Er wurde weggedrückt und der Buchhalter sackte in den Schnee hinab. Mark folgte ihm dem Bruchteil einer Sekunde später mit rasselndem Atem und klopfendem Herzen. Die kalte Luft brannte in seinen Lungen und ließ schwarze Punkte vor seinen Augen tanzen. Während Kaidan sich gegen den eingeschneiten Müllcontainer lehnte, blieb Mark kniend vor ihm sitzen. Erst jetzt, als er hoch in den bewölkten Himmel schaute, fiel ihm auf, dass der Schnee sich inzwischen gelegt hatte. Doch Marks Blick kehrte sogleich zu Kaidan zurück. Trotz der Dunkelheit, die sich auch in dieser Gasse verschanzt hatte, konnte Mark sehen, dass Kaidans Gesicht zu einer Grimasse verzogen war. Sobald er sein Feuerzeug aus seiner Hosentasche gezogen und angezündet hatte, entging ihm auch die Blässe nicht, die sich auf seinem braungebrannten Gesicht ausgebreitet hatte und sich unter dem Büschel schwarzer Haare deutlich hervorhob. Es trug die Farbe eines Toten. Ihre Blicke begegneten sich, bis Mark sich mit der Hand über das Gesicht fuhr. Sein Bart hatte an Länge gewonnen und ebenso wie sein Haar wies auch er graue Strähnen auf. Es lag in der Familie, auch bei seinem Vater hatte es Mitte Vierzig begonnen. Mark sah über seine Schulter zurück. Seitdem sie sich durch die vielen Seitenstraßen geschlichen, sich von einer Gasse zur nächsten geschleppt hatten, hatte Mark keine Spur mehr von ihren Verfolgern entdecken können. „Vielleicht haben wir sie ja diesmal abgehängt...“, murmelte er in die Stille hinein, die um sie herum zu herrschen schien. Das würde ihnen zumindest ein bisschen Zeit zur Orientierung geben und Mark, um herauszufinden, was er mit Kaidans Wunde anstellen sollte. „Bis zu Alexey ist es garantiert auch nur noch ein Katzensprung. Der kennt sich mit Schusswunden aus.“ Alexeys Leidenschaft für Schusswaffen hatte ihn schon vor einer langen Zeit zu einem Experten in diesem Gebiet gemacht. Schon damals, bevor er seinen eigenen Waffenladen eröffnet hatte und nur Mitarbeiter in einem anderen gewesen war, hatte er den Durchmesser jeder Kugel und die Auswirkungen der verschiedenen Geschosse gekannt. Angegeben hatte er damit, korrigierte sich Mark und seine Mundwinkel hoben sich ein Stück. „Wahrscheinlich flickt dich einer von seinen Leuten im Nu wieder zusammen.“ Wenn Alexey es nicht fertig brachte, die Dinge zu richten, dann vermochte es keiner. Schon damals, als er ihren Geschichtslehrer mit seiner Affäre bestochen hatte, um eine Eins auf dem Zeugnis zu sehen, hatte Mark gewusst, dass jemand von Alexeys Kaliber sich nicht von den Grenzen der Legalität einschränken lassen würde. Doch erst als sie gemeinsam in Fairburrow gelandet waren, hatte er sich in kriminelle Machenschaften verstricken lassen. Zumindest solange, bis er andere in sie verstrickt und ein Netzwerk aufgebaut hatte. Nun war er nichts weiter als der Mittelmann, der Sachen und Aufträge in Empfang nahm und an die richtigen Leute weiterreichte. Es war ein gutes Geschäft, dessen war sich Mark bewusst. „M-Meine... Familie...“ „Danach wird er dir helfen, deine Frau und deine Tochter aus Kentucky raus zu schmuggeln“, versicherte ihm Mark ein weiteres Mal. Er hatte Kaidan ohne dieses Versprechen kaum dazu bekommen, sich vorerst mit ihm abzusetzen. Es war ohnehin nur eine Frage der Zeit gewesen. In dem Drogenbusiness blieb man nicht lange auf dem Thron sitzen. Insbesondere, wenn man ehrgeizige Menschen wie Ryker zu seinen Anhängern zählte. Kaidan und er hatten lediglich das Pech gehabt mittendrin zu stecken, als es eskaliert war. Als Ryker Williams ihrem gemeinsamen Boss die Kehle aufgeschlitzt hatte. Das war das Ende von Carlos Rowland gewesen. Nun galt es nur noch die Zeugen aus dem Weg zu räumen, egal wie loyal oder herausragend sie in ihrem Job gewesen sein mochten. Mark war einer dieser Zeugen. Ein Zeuge und jemand, der mit seinem hohen Status Ryker die Führung des kleinen Empires streitig hätte machen können. Zumindest in dessen Augen. Und Kaidan... Kaidan war nur ein Buchhalter mit einer Familie, der irgendwie in diese Kreise geraten war. Er war nur einer von vielen, die an irgendeiner Stelle den falschen Weg eingeschlagen hatten. Seufzend richtete Mark den Blick wieder auf den rundlichen Mann und... hielt instinktiv die Luft an. Einen Moment hockte er noch an Ort und Stelle, im nächsten krabbelte er über den matschigen Boden gänzlich an Kaidan heran. Die Nässe hatte sich unlängst durch seine Jeans gesogen, gefühlsmäßig selbst bis in seine Knochen hinein. Marks Finger schoben den Kragen von Kaidans Jacke aus dem Weg und tasteten der eisigen Haut nach einem Puls ab. Ihre Suche blieb jedoch erfolglos. Plötzlich schien die Stille hier draußen erdrückend. Beinahe einsam, als würde sich eine Hand um Marks Herz schließen und langsam zudrücken. „Ich kümmere mich um deine Familie...“, entwich es Mark nach einigen Minuten und nachdem er den Kloß in seinem Hals heruntergeschluckt hatte. Mit zittrigen Fingern schloss er Kaidans Augen und stellte den Kragen seiner Jacke wieder auf. Anschließend zog er Kaidans Brieftasche aus seiner Hose und kämpfte sich wieder auf die Beine.   3 Die Lichter der ersten Laternen und Leuchtreklamen kündigten das Stadtzentrum von Fairburrow an. Im ersten Moment brannten sie in Marks Augen, als hätte jemand eine Lampe in einem dunklen Zimmer eingeschaltet. Doch es war so viel mehr als das. Fast so, als hätte er soeben eine unsichtbare Ziellinie überschritten. Die Anspannung in seinen Schulterblättern löste sich, als er vor der Tankstelle stand, die seinen Weg gekreuzt hatte. Vage erinnerte er sich daran, dass er früher oft mit dem Auto auf dem Weg ins Polizeipräsidium an ihr vorbeigekommen war. Es war eine gefühlte Ewigkeit her, wie eine Erinnerung, die einem anderen gehörte, aus einem anderen Leben stammte. Genau genommen war es so, denn das Leben eines Kriminellen konnte man nicht als ein richtiges Leben bezeichnen. Es war ermüdend, ständig über seine Schulter blicken zu müssen, weil man Blaulicht oder den Lauf einer Pistole hinter sich vermutete. Als ehemaliger Polizist wusste er, wie schnell das geschehen konnte. Es brauchte nur einen einzigen unachtsamen Moment, damit sich das Blatt wendete. Womöglich war er sich dieser Tatsache schon früher zu sehr bewusst gewesen. Womöglich hatte sie ihn in der Vergangenheit paranoid gemacht. Kurz drehte sich Mark um und spähte die Straße herunter. Strategisch fuhren seine Augen über die Bürgersteige und Seitenstraßen. Ein weißer Truck fuhr an ihm vorbei und auf die Tankstelle auf. Er hielt an einer der Zapfsäulen, ehe ein alter Mann mit Vollbart ausstieg. Doch erst als er in dem kleinen Tankstellenshop verschwunden war, setzte Mark sich wieder in Bewegung. Die Wärme des Ladens umfing ihn wie eine warme Decke. Am liebsten hätte sich Mark hier und jetzt hingelegt und den benötigten Schlaf nachgeholt. Er sollte froh sein, dass ihr Wagen vor Fairburrows Stadtgrenze liegen geblieben war. Ansonsten hätte er Kaidan und sich irgendwann in den nächsten Baum gefahren, weil ihm die Augen zugefallen wären. Kaidan... Sich auf die Unterlippe beißend zwang sich Mark weiterzulaufen. Ein Seitenblick in die Richtung des Kassierers bestätigte ihm bereits, dass seine Präsenz zur Kenntnis genommen worden war. Der Bengel hinter dem Tresen konnte nicht älter als zwanzig Jahre alt sein. Wahrscheinlich finanzierte er sich mit diesem Job seinen Collageaufenthalt. Von irgendetwas musste man heutzutage schließlich leben. Dem Blick nach zu urteilen wartete er jedoch nur darauf, dass Mark seine Waffe zückte und das Geld von ihm verlangte. Doch bei diesem Gedanken konnte Mark nur mit den Augen rollen, obwohl er die Pistole bereits hinten in seiner durchnässten Jeans stecken hatte. Ohne sie verließ er schon lange nicht mehr das Haus, doch ein paar Kröten würden ihn vor den Männern, die ihm auf den Fersen waren, nicht retten können. Dazu müsste er wahrscheinlich erst eine ganze Bank ausrauben. Seine Beine trugen Mark zu den Gefrierschränken herüber, welche die gegenüberliegende Wand einnahmen. Es war seltsam, dass die Sucht einen in einem Moment der Not einzuholen drohte. Was würde er jetzt für ein Bierchen geben. Mark war geneigt, sich von seinem restlichen Kleingeld einfach ein Sixpack zu kaufen, sich irgendwo in einem überdachten Häusereingang hinzusetzen und auf Rykers Männer zu warten. Doch er riss sich von dem Anblick des Biers los und schlenderte weiter. Er konnte sein Versprechen an Kaidan nicht wahr machen, wenn er tot war. Dann konnte er rein gar nichts mehr tun. Deshalb landete er mit einer Kekspackung und einer Colaflasche im Arm an der Kasse und fischte seine letzten Scheine aus der Hosentasche. Eine Hand legte sich auf seiner Schulter, als sich jemand hinter ihm anstellte. „Alles in Ordnung mit dir, Kumpel?“ Mark rutschte das Geld aus der Hand, als er bei der Berührung zusammenfuhr. Als er jedoch aufschaute, blickte er direkt in das Gesicht des alten Mannes, der zuvor aus dem weißen Truck gestiegen war. „Sicher“, war seine rasche Antwort. Sie wurde mit dem Heben einer buschigen Augenbraue quittiert. „Ein bisschen schreckhaft offensichtlich, ansonsten...“, setzte Mark nach und zuckte mit den Schultern, ehe er sein Geld aufhob und es dem Kassierer reichte. Dieser beäugte ihn noch immer mit Misstrauen, während der Alte ihn von der Seite angrinste. „Und ein bisschen durchgefroren – offensichtlich.“ Dazu konnte Mark nicht viel sagen, obwohl er wusste, dass es bei diesen Temperaturen nichts Ungewöhnliches war. Wenigstens waren es keine Blutspritzer, die ihn verraten hatten. „Mein Wagen ist hier in der Nähe liegen geblieben“, erwiderte er, als er das Wechselgeld entgegen nahm. „Habt ihr zufällig ein Telefon hier?“ Kurz verengten sich die Augen des Kassierers, bevor er mit dem Finger ins Freie deutete. „Um die Ecke.“ „Falls du eine Mitfahrgelegenheit brauchst...“, begann derweil der Alte und nickte in die Richtung seines weißen Trucks. Doch Mark schüttelte ohne darüber nachzudenken den Kopf. „Ich komm klar. Ich kenne da jemanden nicht weit von hier.“ Mit diesen Worten sammelte er seine Sachen auf und steuerte den Eingang an. Er hob die Hand, ehe der eisige Wind ihn abermals umfing und ein Beben durch seinen Körper schickte.   4 Auf dem Weg zu der Telefonzelle, die sich auf der anderen Seite des Gebäudes befand, trank Mark die Hälfte seiner Flasche leer und machte sich über die Kekse her. Für gewöhnlich hatte er nichts für Erfrischungsgetränke übrig, doch unter den gegebenen Umständen hätte er nichts lieber getrunken. Sein Magen zog sich zusammen bei der plötzlichen Nahrungszufuhr, doch er schob sich auch weiterhin einen Keks nach dem anderen in den Mund. Dabei fasste er seine Umgebung ein weiteres Mal ins Auge. Mehr Autos düsten über die glatten Straßen, doch ein Lexus war nicht dabei. Allerdings konnte Mark nicht mit Sicherheit sagen, dass die Männer, die ihnen durch das Waldstück gefolgt waren, überhaupt schon mit ihren Kameraden im Lexus aufgeschlossen hatten. Zu Fuß konnte Mark wiederum ebenfalls niemanden entdecken. Deshalb klemmte er sich seine Sachen unter den Arm, zog den Hörer von der Gabel und tippte Alexeys Nummer ein. Es war eine der wenigen, die Mark sich eingeprägt hatte. Eine seiner Notfallnummern. Das darauffolgende Tuten schien sich wie Kaugummi in die Länge zu ziehen, während Marks Augen hin und her huschten. Er sah wie der weißer Truck die Straße herunterfuhr und an der nächsten Kreuzung abbog. Die Ampel, nicht weit entfernt von ihm, schaltete inzwischen von Rot auf Gelb und Grün, doch kein Auto war dort, um es mitzubekommen. Für eine Sekunde war Mark mutterseelenallein hier. Sein Atem hallte laut in seinen Ohren und vermischte sich mit dem beständigen Tuten. „Ich hoffe, es ist wichtig“, wurde der Anruf schließlich von einer schlaftrunkenen Stimme beantwortet. Mark atmete unwillkürlich auf. „Alexey? Bist du das?“ „Und wer möchte das wissen?“ Für einen kurzen Moment blinzelte Mark bei dieser Frage, ehe er sich bewusst wurde, dass Alexey seine Stimme nicht erkannte. Nicht sonderlich verwunderlich, da sie einander vor ein, zwei Jahren aus den Augen verloren hatten. Genauer gesagt war es sogar Mark gewesen, der den Kontakt hatte abbrechen lassen. Und das, obwohl Alexey derjenige gewesen war, der ihm den Job in Kentucky überhaupt ermöglicht hatte. Damals hatte es noch nach einer Chance ausgesehen, aus dem Loch zu klettern, in das er nach dem Ende seiner Karriere gefallen war. Eine Chance auf mehr Geld, als er bei der Polizei jemals erhalten hätte. Dieser war er ohnehin nur beigetreten, weil das Präsidium zu der Zeit neue Rekruten mit einem Geldbonus angelockt hatte. „Hast du mich schon vergessen, Alexey?“, fragte er und ließ den Blick unruhig schweifen. „Mark Oliver.“ Daraufhin herrschte kurzzeitig Schweigen. „Mark? Von wo rufst du an? Und warum erst nach so langer Zeit?“ Mark grinste unwillkürlich und schloss seine Augen. „Hatte eine Menge um die Ohren.“ „Und dann rufst du mich mitten in der Nacht an? Logisch. Wieso frage ich überhaupt?“ Diesmal war es Mark, der mit einer Erwiderung auf sich warten ließ. „Ich... könnte deine Hilfe gebrauchen, Alexey. Ich bin in Fairburrow.“ „Wo genau?“ Jegliche Belustigung war mit einem Mal aus Alexeys Ton gewichen und Mark nahm an, dass dieser bereits ahnte, dass es sich hierbei um keinen Freundschaftsbesuch handelte. War er so durchschaulich? „Jo-Beth Street“, antwortete Mark, als er seine Augen aufzwang. Zum wiederholten Male warf er einen Blick über seine Schulter und ließ ihn über die eingeschneiten Straßen und Häuser wandern. Dabei wurde Mark erst bewusst, wie müde er eigentlich war. „An der Tankstelle, aber...“ „Aber?“, erklang Alexeys Stimme, als Mark seinen Satz unvollendet ließ. Eine Gruppe mit drei schwarzgekleideten Gestalten trat soeben aus einer der Gassen und überquerte die Straße zur Tankstelle. „Ich bin nicht alleine.“ Marks Finger verkrampften sich um den Hörer, als einer von ihnen mit dem Arm in seine Richtung deutete. Ihre Schritte beschleunigten sich sogleich, während Alexeys Worte von dem Rauschen in seinen Ohren verschluckt wurden. Bis zum Eingang des Ladens würde er es nicht mehr schaffen, ohne diesen Kerlen dabei in die Arme zu laufen. Sie hatten ihm unwissend den Weg abgeschnitten. Wahrscheinlich bewahrte ihn nur die bewohnte Gegend vor einer Kugel im Rücken. Allerdings würden sie garantiert nicht davor zurückschrecken, ihn in eine dunkle Ecke zu schleifen und in Ruhe zu erledigen. Bevor er diesen Gedanken überhaupt vollendet hatte, rutschte der Telefonhörer aus seinen Fingern und baumelte an seinem Kabel. Mark hingegen rannte rutschend und schlitternd den Bürgersteig entlang, vorbei an geschlossenen Läden und dunklen Wohnhäusern. Sowohl seine Flasche, als auch die Kekspackung landete im Schnee. Die Reifen von entgegenkommenden Wagen schleuderten Matsch in seine Richtung, der Wind riss an ihm und aufgebrachte Stimmen verfolgten ihn mitsamt hektischen Schritten. Mark bemerkte es nicht. Sein Instinkt hatte längst die Kontrolle an sich gerissen, fokussierte sich nur darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen ohne dabei auszurutschen.   5 Marks Hände pressten gegen die kalte Steinwand vor ihm, als wollte er sie von sich schieben. Beinahe so, als könnte er sie dazu zwingen, ihm den Weg freizugeben. Sein gehetzter Blick ging nach links und rechts, doch die Mauern hatten ihn von drei Seiten umschlossen und zogen sich hoch in das wolkenbehangene Firmament. Wie dumm konnte er sein, dass er in eine Sackgasse hineinrannte? Mark schlug mit der Faust gegen die Mauer, zog sie im selben Moment jedoch schmerzend zurück. „Argh, verdammt!“, zischte er. Dabei vermochte Mark nicht zu bestimmen, ob er den Schmerz oder nicht doch die Tatsache meinte, dass er in eine hausgemachte Falle getappt war. Heute schien Rykers Glückstag zu sein – zuerst Kaidan, nun er. Schritte ertönten hinter ihm und Mark ging sogleich hinter einigen Müllcontainern in Deckung. Keine Sekunde später bohrte sich eine Kugel in den Schnee, wo Mark zuvor gestanden hatte, das Geräusch von einem Schalldämpfer verschluckt. „Hier drüben, Jake!“, rief der Schütze. Als Mark über den Rand einer der verschneiten Mülltonnen schielte, konnte er eine zweite Gestalt in die Sackgasse rennen sehen. Zwei gegen einen – obwohl es eigentlich drei Männer gewesen waren. Trotz dieser Schlussfolgerung tasteten Marks Finger nach der Pistole, die noch immer hinten in seiner Jeans steckte. Auch der Lauf seiner Taurus war mit einem Schalldämpfer versehen. Allerdings hatte er nur noch dieses eine Magazin übrig, und damit nicht mehr als sieben Schüsse zur Verfügung. Lediglich die Dunkelheit konnte er sich zum Vorteil machen, wenn er es richtig anstellte. Immerhin musste er für diese Kerle ebenfalls nichts weiter als ein vager Umriss sein. Abermals linste Mark zu seinen Verfolgern herüber. In den Händen beider meinte er Pistolen ausmachen zu können, als sie sich tiefer in die Sackgasse wagten. Der Abstand zwischen ihnen schrumpfte Meter um Meter. Sich auf die Unterlippe beißend löste Mark die Sicherung der silbernen Taurus und schob sie über den Rand der Mülltonne. Die Chancen, aus dieser Entfernung und in dieser Dunkelheit einen Treffer zu landen, war gering - selbst wenn Mark ein ausgezeichneter Schütze gewesen wäre. Sie warteten doch nur darauf, dass er den ersten Schritt machte. Dass er seine Position verriet. Die Winterluft sog er mit einem zittrigen Beben in seine Lungen und konzentrierte sich auf das Brennen, das sie auslöste. Panik würde ihm hier nicht weiterhelfen, viel eher würde sie ihn umbringen. Doch mit jedem Schritt, mit jedem Knirschen des Schnees unter ihren Schuhsohlen, gewann eine Distanziertheit die Kontrolle über Mark. Er kannte sie. Sie war eine alte Bekannte, die ihn in den letzten Jahren häufiger besucht hatte. Es war dieser klare Kopf, der ihm erlaubt hatte, Kaidan in dieser Gasse liegen zu lassen. Der ihn erst von Kentucky hier herunter nach Georgia gebracht hatte, als der schwarze Lexus versucht hatte, sie von der Straße zu drängen. Mark atmete tief durch, als er mit der freien Hand Kaidans Brieftasche hervorzog. Seine Augen wanderten zwischen den Männern und ihr hin und her, bis er ausholte und sie von sich warf. Sie segelte ungesehen durch die Luft, landete irgendwo zu Marks Rechten, als bereits einige Kugeln ihr nachjagten. Mark nutzte den Moment. Er richtete sich auf und drückte den Abzug. Der Rückstoß sandte Schmerz seiner geschundenen Hand hinauf, doch er schoss weiter, als beide Männer zur Seite stürzten. Einer nahm Deckung hinter der kastenförmigen Klimaanlage des Hauses, während der andere ausrutschte und im Schnee landete. Nur sein Stöhnen ließ erahnen, dass Mark ihn erwischt haben musste. Seine Mundwinkel hoben sich – und fielen, als ihn etwas nach hinten zu Boden riss. Der Aufprall presste die Luft aus seinen Lungen, das Einziehen war dagegen von einem Stechen in seiner Seite begleitet. Mit offenem Mund starrte er in den dunklen Himmel, die Taurus noch immer in seiner Hand. Erst nach einigen Sekunden konnte er wieder einen klaren Gedanken fassen und seine Finger tasteten an der Jacke entlang, die er trug. Sie war genauso kalt wie der Rest seines Körpers, doch er brauchte nicht hinschauen, um das Blut zu erfühlen, das sich in den Stoff sog. Er war unachtsam gewesen... und eine Kugel hatte ihn getroffen. Eine verdammte Kugel steckte nun irgendwo in seiner Seite! Marks Atem stockte bei dieser Erkenntnis. Zeitgleich nahm er die Schritte im Schnee wahr, die sich ihm annährten. Zögerlich, lauernd. Das Adrenalin stieg erneut in ihm hoch, ließ ihn das Pochen und Stechen seines Körpers vergessen und brachte abermals diese kühle Distanziertheit mit sich. Während Autos von Benzin angetrieben wurden, war es bei ihm dieser Selbsterhaltungstrieb. Mark schloss die Augen und versuchte sich trotz des unterschwelligen Schmerzes zu entspannen. Nur einige Momente später schob sich einer der Männer hinter die Müllcontainer. Seine Pistole war auf Marks Brust gerichtet und er zögerte, wartete eine Weile, bevor er den restlichen Abstand überbrückte. Er ging neben Mark in die Hocke, woraufhin der Lauf seiner Waffe gegen Marks Schulter gestoßen wurde. Als er sich nicht rührte, stupste sie gegen sein Kinn. Mark stieß sie mit seinem Arm und einem kräftigen Ruck beiseite, ein Schuss löste sich, verfehlte ihn jedoch. Die Taurus in Marks Hand folgte, während die andere die Winterjacke seines Gegenübers packte. Die Pistole schnellte in die Höhe, nutzte die Überraschung ihres Gegners aus und versetzte ihm den Todesstoß. Anschließend sackte der Mann nach hinten, wo er bewegungslos liegen blieb. Als wäre dies das Stichwort gewesen, versiegte das Adrenalin und eine Leere ergriff von Mark Besitz. Er lauschte in die nächtliche Stille, doch niemand kam.   6 Nur die Tatsache, dass zwei Männer, eigentlich sogar drei, hinter Mark her gewesen waren, brachten ihn dazu, sich aus seiner Lethargie zu befreien. Eine Hand blieb auf die Wunde in seiner Seite gepresst, während er mit seiner Pistole in der anderen über den Schnee kroch. Minuten verstrichen, in denen seine Sinne gänzlich auf seine Umgebung fixiert waren, als er den Müllcontainer umrundete. Sein Atem ging schwer, als würde ein Stein auf seiner Brust liegen. Jede Bewegung setzte seine Nervenstränge unter Strom und kalter Schweiß bildeten sich an seinen Schläfen. Trotzdem schaffte er es den zweiten Schützen ins Auge zu fassen. Er hatte sich nicht gerührt, aber Mark hob dennoch mit zittriger Hand seine Taurus und opferte eine weitere Kugel. Anschließend robbte er in die Richtung, in die er Kaidans Brieftasche geworfen hatte. Es kostete mehr Anstrengung, als dass es Sinn machte, doch Mark sackte erst zurück in den Schnee, als er sie gefunden hatte. Seine Pistole fand den Platz auf seinem Oberschenkel, als er sich auf das Atmen konzentrierte. Darauf, eine innerliche Ruhe zu finden, mit der er den Schmerz in den Hintergrund verdrängen konnte. Doch er brauchte nur die Augen zu schließen und sich Rebecca Turners Gesicht vorstellen, um alles andere ausblenden zu können. Mit ihren straßenköterblonden Haaren und den kleinen Augen hatte sie nie eine Schönheit besessen, die man auf Anhieb erkannte. Selbst Mark hatte zwei, drei Blicke gebraucht, um auch nur einen Funken von Faszination für diese Frau zu empfinden. Sie war eine dieser typischen Kellnerinnen, die man in jedem Diner finden konnte. Eine Frau voller gespielter Heiterkeit und gekünsteltem Interesse, die ihm jeden Morgen das Frühstück an den Tisch brachte. Er hatte nie einen zweiten Blick riskiert, sondern sich lieber in seiner Zeitung vertieft. Zumindest bis zu jenem Morgen, an dem Rebecca ihm den heißen Kaffee über den Schoß gegossen hatte. Da war er aufgesprungen und hatte mit hochrotem Kopf an seiner Jeans gezupft – und diese Frau hatte noch die Dreistigkeit besessen, sich eine Hand vor den Mund zu schlagen und zu kichern. Mark schmunzelte, hielt jedoch auch weiterhin die Augen geschlossen. Was wäre bloß aus ihnen geworden, wenn man ihm nicht seine Marke genommen hätte? Wenn er nicht aus Versehen dieses kleine Balg erschossen hätte? Das war eine Frage, die in zu vielen schlaflosen Nächten gestellt worden war. Sie war abgenutzt und falsch formuliert. Was wäre gewesen, wenn Mark sich danach nicht hätte hängen lassen? Was, wenn er nicht mit dem Trinken begonnen hätte? Es gab nur ein gewisses Maß an Verständnis, das ein Mensch für seinen Partner aufbringen konnte. Er hatte Rebeccas genommen und aus dem Fenster geworfen, bis er sich alleine in ihrem gemeinsamen Apartment wiedergefunden hatte. Genauso alleine, wie er es nun hier in dieser Sackgasse war. War das sein Schicksal? Seine Bestrafung, alleine hier draußen auszubluten? Seine innere Ruhe zerbrach wie Glas. Mit ihr kehrte der Schmerz mit doppelter Intensität zurück. Marks Körper spannte sich an und er musste die Zähne aufeinanderbeißen. In dem Moment, in dem etwas ihn daran erinnerte, dass er noch ein, zwei Kugeln in seiner Taurus hatte, knirschte abermals der Schnee in der Dunkelheit. Unter flatternden Augenlidern spähte er geradeaus, doch es brauchte einige Sekunden, bis sich ein Schatten von den anderen löste und die Gestalt eines Menschen annahm. Mark konnte erkennen, wie sein Gegenüber die Leiche entdeckte, als er abrupt in seiner Bewegung innehielt. Gleich darauf musste Mark die Augen schließen, als ein heller Lichtstrahl die Finsternis zerschnitt. Der Kerl hatte eine Taschenlampe dabei? Mark drehte den Kopf in die entgegengesetzte Richtung, während seine Finger sich fester um seine Pistole schlossen, er sie aber nicht hob. Es war vielmehr ein Festhalten, ein Anker. Selbst wenn er diesen Kerl trotz der ungewohnten Helligkeit erledigen könnte, würde es seinen Tod nur unnötig in die Länge ziehen. So aber hätte er wenigstens etwas Gesellschaft beim Sterben. „H-Hier drüben...“, krächzte Mark und sogleich glitt der Lichtstrahl zu ihm herüber und brannte wie Säure in seinen Augen. Die Schritte verrieten ihm, dass der Mann näher trat und Mark blinzelte angestrengt zu ihm hoch. Dichtes Haar umrahmte sein markantes Gesicht, während der Schal bis zur Nase hochgezogen worden war. „Wenigstens muss ich mir die Belohnung jetzt nicht mehr teilen“, waren Christophers einzige Worte, als er seine schwarze Glock auf Marks Stirn richtete. Da war kein Mitleid und auch kein Gefühl – und Mark war hin und her gerissen zwischen Stolz und Zorn in dem Wissen, dass er diesen Jungen ausgebildet hatte. Der Schuss ließ Mark zusammenfahren - doch es war Christophers Körper, der neben ihm in den Schnee sackte. „Gern geschehen, Mark.“ Der Angesprochene öffnete den Mund, ohne dass ein Laut seiner Kehle entrann. Stattdessen sah er mit geweiteten Augen zu, wie Alexey Pawlow die Taschenlampe aufhob und zwischen ihnen hielt. Seine rotbraunen Haare waren inzwischen länger und reichten ihm bis zum Nacken herunter, doch seine Nase war genauso krumm wie früher. „A-Alexey...“ Dieser ging neben ihm in die Hocke, während einer seiner Gefolgsleute Christopher auf den Rücken drehte, um sicherzugehen, dass er nicht mehr zur Gefahr werden konnte. „Nächstes Mal wäre ich dir sehr verbunden, wenn du mir ein größeres Zeitfenster einräumen könntest.“ Der Lichtstrahl wanderte inzwischen Marks Körper herab und blieb an dem Blut hängen, das sich mehr und mehr ausbreitete. „Was hast du nur wieder angestellt?“, setzte Alexey nach und zog die Augenbrauen zusammen. Mark stieß den Atem aus und der Halt um seine Taurus verstärkte sich ein weiteres Mal. „Ich weiß es nicht... ich... weiß es einfach nicht“, murmelte Mark, als er hart schluckte. Tränen, von denen er nicht wusste, dass er sie besaß, rollten zeitgleich seinen unterkühlten Wangen herab und verfingen sich in seinem Bart. Das beständige Zittern war zu einem Beben mutiert. „Kaidan ist tot... er ist tot... ich... wieso kann ich es nicht richtig machen?“ Alexey schwieg, ehe er den Strahl der Taschenlampe von Mark nahm und eine Hand in seinem Nacken ablegte. „Das war nicht deine Schuld, Mark. Woher hättest du wissen sollen, dass der Junge keine Waffe aus dem Rucksack zieht? Du hast ihn gewarnt. Mehrmals. Du hast dich nur verteidigt. Das ist dein gutes Recht.“ Die Hand rutschte auf seine Schulter, während mehr Worte geflüstert wurden. Leise und versöhnlich lullten sie Mark ein und erzählten davon, dass man sich um ihn kümmern würde. Dass es noch nicht seine Zeit wäre, dass er doch erst gerade nach Fairburrow zurückgekehrt war. „Die Polizei wird nicht lange auf sich warten lassen, Alexey“, unterbrach eine zweite Stimme. Sie war tiefer als Alexeys und in ihr schwang eine deutliche Ungeduld mit. „Den Schuss hat wahrscheinlich Gott und die Welt gehört.“ Schnee knirschte unter Sohlen, als jemand von einem Bein auf das andere trat. „Entschuldige. Ich hab’ bei der Eile den Schalldämpfer vergessen draufzuschrauben“, sagte eine dritte Stimme. Im Gegensatz zu den anderen steckte sie voller Leben, beinahe so, als könnte sie Bäume ausreißen. „Brice, fahr den Wagen vor“, entrann es Alexey schließlich und die Hand zog sich von Marks Schulter. „Wir kommen nicht drumherum, diese Kerle erst mal mitzunehmen. Ich will der Polizei keine Beweise in die Hände spielen, die daraufhin weisen, dass jemand aus Kentucky hier war.“ „Seit wann kümmert uns Kentucky?“, hakte Brice nach. „Seit Mark aus Kentucky stammt und ich nicht will, dass man die Morde zu ihm zurückverfolgen kann.“ Damit schien alles gesagt zu sein, denn ein Fußpaar entfernte sich und erneute Stille blieb zurück. Diesmal war sie alles andere als erdrückend, kein Gewicht auf Marks Brust, das ihn zu ersticken drohte. Vielmehr wog sie ihn in seinen Armen wie eine Mutter es mit ihrem Kind tat. Die Müdigkeit übermannte Mark, als er auch weiterhin nach den Stimmen in der Dunkelheit lauschte.   7 „Ich weiß, was ich sage.“ Eine dumpfe Stimme fraß sich durch Marks Bewusstsein und lockte ihn aus dem Schlaf. Sie war vertraut, anfangs jedoch unmöglich einem Gesicht zuzuordnen. „Außerdem solltest du aus Erfahrung wissen, dass ich zu meinem Wort stehe. Ich bürge für Mark Oliver.“ Bei der Erwähnung seines Namens schlug Mark instinktiv die Augen auf. Blinzelnd schaute er sich um, wobei sein Blick an der gegenüberliegenden Wand hängen blieb. Sie war mit schwarz-weißen Fotos von Rennpferden und Stadien beschmückt. Er betrachtete sie eine Weile, während er nach der Stimme aus dem Nebenzimmer lauschte. Nach Alexeys Stimme. Doch es blieb still und Mark versuchte sich aufzusetzen, nur um wegen dem stechenden Schmerz in seiner Seite wieder nach hinten auf das Sofa zu sinken. Es war ein Zweisitzer, weshalb Marks Beine angewinkelt und steif waren. Zudem musste er drei Decken aus dem Weg schieben, um den Verband sehen zu können, der um seinen Oberkörper gebunden worden war. Eine Wärmeflasche ruhte bei seinen Füßen, die stark gerötet waren, und er trug nichts weiter als seine grauen Boxershorts. Hatte er so viel Blut verloren, dass er von alledem nichts mitbekommen hatte? Oder hatte man nachgeholfen? Wie lange war er überhaupt bewusstlos gewesen? Allerdings lenkte die Kälte im Raum Mark von diesen Gedanken ab und er zog die Decken wieder bis zu seinem bärtigen Kinn empor. Dabei kehrten seine Augen zu den Bildern an der Wand zurück. Das musste dann wohl Alexeys Wohnung sein. Alexey hatte schon immer eine Leidenschaft für Pferde gehabt. Diese war sogar noch älter als die für Schusswaffen, was wohl kein Wunder war, wo sie doch in einer ländlichen Gegend aufgewachsen waren. Dort hatten sie oftmals nichts besseres zu tun, als den Pferden beim Grasen zuzusehen. Insbesondere, bevor sie ihren Führerschein gemacht und mit dem alten Audi in die nächste Stadt oder wenigstens an den See hatten fahren können. „Jimmy sagt, dass du Glück gehabt hättest“, sagte plötzlich jemand hinter Mark. Als er den Kopf zur Seite drehte, konnte er sogar das Mädchen erkennen, das mit angezogenen Beinen auf dem Sessel am Fenster saß. Sie hatte den Vorhang ein Stück zur Seite gezogen und ließ das Tageslicht hinein. Zudem hatte es längst wieder zu schneien begonnen. „Die Kugel hat keine Organe beschädigt. Es sind auch nur Erfrierungen zweiten Grades an deinen Füßen. Jimmy meint, dass sie in ein paar Tagen weggehen sollten. Es kann nur sein, dass du Wärme und Kälte dort nicht mehr allzu gut spüren kannst - aber ich schätze, das ist besser als gar keine Zehen mehr zu haben.“ Während sie das sagte, schenkte sie Mark nicht einen Blick. Sie strich sich lediglich ein paar ihrer rotbraunen Haarsträhnen aus der Stirn. Mark beobachtete sie eine Weile schweigend, bis seine Neugier die Oberhand gewann. „Wer bist du? Bist du mit Alexey verwandt?“ Die Ähnlichkeit zwischen beiden beschränkte sich nicht nur auf die Haarfarbe, sie hatten auch dieselbe schlanke Statur und denselben gekrümmten Nasenrücken. „Nikki. Ich bin Alexeys Tochter.“ Ausdruckslose Augen erwiderten seinen Blick, ehe Nikki mit den Schultern zuckte. „Ich dachte, das sieht man.“ „Ich hätte nicht gefragt, wenn man es nicht sehen würde...“, bemerkte Mark aus Irritation heraus. Allerdings schien Nikki das Gespräch für beendet zu halten, denn sie wandte wortlos den Blick ab. Mark tat es ihr nach einigen Sekunden gleich und ließ den Kopf wieder gänzlich auf das Kissen sinken. Jetzt, da diese junge Frau es sagte, kehrten bruchstückhafte Bilder einer Tochter zu Mark zurück. Wenn er sich recht erinnerte, hatte Alexey sie während ihrer Zeit in Philadelphia gezeugt. Er versuchte sich an das Gesicht von Nikkis Mutter zu erinnern, doch es blieb verschwommen. Alles was er sich ins Gedächtnis rufen konnte war, dass Mark von Anfang an gewusst hatte, dass es auf längere Sicht zum Scheitern verurteilt war. Alexey war kein Familienmensch. Genauso wenig wie Mark. Rebecca Turner war seine Chance gewesen, doch er hatte sie in den Sand gesetzt. „Abgemacht, Ryker“, vernahm er Alexeys Stimme aus dem Nebenzimmer. Kurz darauf ertönten Schritte und die Tür öffnete sich. Alexeys hochgewachsene Gestalt schob sich aus der angrenzenden Küche, wobei sein Blick mit einem knappen Umweg zu Nikki auf Mark zum Ruhen kam. „Ich dachte schon, du willst nie wieder aufwachen, Mark.“ „Ryker?“, presste Mark hervor. „Was zum Teufel hast du mit Ryker besprochen?“ Abermals wollte sich er aufsetzen, doch Alexey hob die Hand, bevor er sich überhaupt auf den Ellenbogen abstützen konnte. „Es wäre ärgerlich, wenn die Nähte aufgehen würden“, sagte Alexey und ließ sich auf dem massiven Glastisch vor dem Sofa sinken. Er stützte die Arme auf den Knien ab, als er sich vorlehnte und sein Gesicht ernst wurde. „Er weiß jetzt, dass du zu mir gehörst - und dass ich es nicht mag, wenn man Jagd auf meine Leute macht. Er hat sich bereit erklärt, seine restlichen Leute abzuziehen.“ Freundschaft hin oder her, Mark wusste, was das bedeutete. Er stand nun offiziell in Alexeys Schuld. In der Vergangenheit war Mark nur ein alter Bekannter gewesen, dem er unter die Arme gegriffen hatte, diesmal aber hatte er sich mit Menschen angelegt, für die Alexey seine Kontakte hatte spielen lassen. Mit Carlos Rowland hatte Alexey eine Abmachung gehabt, während Ryker, der nun seinen Platz in Kentucky eingenommen hatte, ein aufbrausender Geselle war. Wenn er sich erst einmal in etwas verbiss, gab er es nur ungern wieder frei. Das hatte Mark inzwischen gelernt. „Was will er als Gegenleistung?“, fragte er deshalb und schaute an die schattenbesetzte Decke der Wohnung. Im Grunde wollte er es nicht wissen, aber er konnte genauso wenig die Augen davor verschließen. Alexeys Blick bohrte sich derweil noch immer in ihn hinein. Er konnte ihn förmlich auf seiner Haut spüren. „Ein paar kostenlose Gefallen. Lieferungen, so etwas in der Art.“ „Tut mir leid...“ Doch Mark konnte aus den Augenwinkeln sehen, wie Alexey den Kopf schüttelte. „Mir nicht“, erwiderte er. „Ein bisschen früher hättest du diesen Anruf aber tätigen können, das stimmt.“ Daraufhin schmunzelte Mark und Alexey klopfte ihm locker auf die Schulter.   8 An seinen Zehen bildeten sich Blasen. Mark konnte sie ganz deutlich sehen, als er sich am Abend in einer sitzenden Position auf dem Sofa befand. Angewidert verzog er das Gesicht, ehe er sich umständlich das T-Shirt überzog, das Alexey ihm gegeben hatte. „Die wirst du noch ein paar Tage sehen“, erklang dessen Stimme, als er aus der Küche zurückkehrte. Bei sich trug er eine Whiskeyflasche mit einem Schnapsglas, das er vor sich auf dem Tisch abstellte, als er sich auf dem zweiten Sessel des Zimmers niederließ. „Laut Jimmy ist es auch nicht unwahrscheinlich, dass sie hart werden und sich schwarz verfärben. Das soll aber normal sein.“ „Kannst du mir mal verraten, wer Jimmy ist?“ Mark sah mit zusammengezogenen Augenbrauen zu, wie Alexey die Flasche öffnete und sein Glas füllte. „Und wieso bringst du mir kein Glas mit?“ „Weil Jimmy – unser Arzt – dich mit Medikamenten vollgepumpt hat.“ Mit diesen Worten kippte Alexey den Whiskey seinen Rachen herunter und stellte das Glas geräuschvoll zurück auf den Tisch. Es war eine Lüge, dessen war sich Mark sicher. Alexey hatte sein Alkoholproblem nicht vergessen. Auch dass er vor seiner Nase trank, war kein Zufall. Vielleicht war es eine Art Probe. Mark wusste nicht, was für eine es sein sollte, doch Alexey machte selten etwas ohne einen Hintergedanken. Sich mit einer Hand über das Gesicht fahrend lehnte Mark sich behutsam nach hinten und schloss die Augen. „Wir müssen reden“, entrann es Alexey schließlich. „Ich habe das hier in deiner Tasche gefunden.“ Als Marks Lider sich öffnete, fiel sein Blick auf Kaidans Brieftasche. Alexey klappte sie unzeremoniell auf, wobei ein Foto zum Vorschein kam, das Kaidans Familie zeigte. Seine Frau und seine Tochter, die noch nichts über Kaidans Tod wussten. Nicht einmal über sein Verschwinden, weil Mark ihm geschworen hatte, dass sie beide nach Fairburrow holen würden und Kaidan es ihnen in Sicherheit erklären konnte. Sicherheit... lachhaft. „Ich nehme an, dass das Kaidan Griffin und seine Familie sind“, sagte Alexey und überging Marks überraschten Blick. „Du hast über ihn gesprochen, als wir dich gefunden haben. Und heute Morgen habe ich einen Anruf bekommen, dass ein toter Mann von der Polizei gefunden worden ist. Obwohl ich Brice und Ian den Auftrag gegeben habe, Rykers Männer zu entsorgen.“ „Worauf willst du hinaus?“ Alexeys Zeigefinger tippte gegen das Foto, gegen den Kopf der dunkelhaarigen Frau. Sie hatte ein rundes, freundliches Gesicht – und bei dem Anblick zog sich etwas in Mark zusammen. „Ich kenne dich, Mark. Und ich kenne Männer wie Kaidan Griffin.“ Und Mark kannte Alexey. So gut, dass er sich trotz der unterdrückten Schmerzen seiner Schusswunde von dem Sofa hievte. „Ich hab’s ihm versprochen, Alexey! Versprochen!“ Seine Stimme war lauter und wackliger, als er beabsichtigte, doch er hielt Alexeys Blick trotz allem stand. Auch als dieser sich ebenfalls erhob und sich vor ihm aufbaute. Mit dem grauen Anzug sah er beinahe aus wie ein vornehmer Geschäftsmann. Ein ernstzunehmender dazu. „Rykers zweite Bedingung war, dass du nie wieder Fuß nach Kentucky setzt“, antwortete Alexey beherrschter als Mark es war. „Das Gleiche gilt für meine Leute und für mich selbst. Ich werde niemanden opfern, nur weil du dein Gewissen erleichtern willst.“ Als Mark den Mund öffnete, schnitt Alexey ihm das Wort ab, indem er die Brieftasche aufgeschlagen auf den Tisch knallen ließ. „Du hast lange genug im Selbstmitleid gebadet, Mark. Es wird Zeit, dass du akzeptierst, dass du der Mörder dieses Kindes gewesen bist. Dass du Becca vergrault hast. Und auch dass du an Kaidans Tod mitverantwortlich bist. Das gehört zum Leben dazu. Die Schuld zu akzeptieren, sich zusammenzureißen und weiterzumachen.“ Unter Alexeys Blick biss Mark die Zähne fest aufeinander und starrte weiterhin auf das Foto herab, während er das Brennen in seinen Augenwinkeln ignorierte. Egal, wie sehr er sich dagegen versperrte, Alexey sagte die Wahrheit. Dessen war er sich bewusst, dessen war er sich immer bewusst gewesen. Allerdings war es ein Unterschied, es zu sich selbst zu sagen oder es von anderen ins Gesicht gesagt zu bekommen. Es hatte etwas Befreiendes. Insbesondere nach Jahren, in denen alle um einen herum von Unfällen und Schicksalen gesprochen hatten. „Gerade deshalb...“ Marks Stimme war rau und er räusperte sich. „Gerade deshalb will ich das Versprechen halten.“ Alexey schob die Hände in die Hosentaschen. „Das ist mir egal. Du gehörst jetzt zu mir, Mark. Das heißt, du wirst nirgendwo hingehen.“  Ihre Blicke begegneten sich daraufhin und hielten einander. „Woher willst du das wissen?“, fragte Mark. Obwohl er es nicht darauf abgesehen hatte, konnte er die eigene Provokation aus seiner Stimme heraushören. Doch Alexey verzog keine Miene, als er mit den Schultern zuckte. „Weil du unter dem ganzen Selbstmitleid so etwas wie eine verkümmerte Ehre besitzt. Eine, die weiß wem ihre Loyalität gehört.“ Mark schluckte, doch fand kein Argument, das Alexeys Worte widerlegen konnte. Stattdessen senkte er den Blick auf seine geschundenen Füße herunter. Er war sein gesamtes Leben vor etwas weggerannt. Sei es nun vor seinen Eltern, die Alexey Pawlow als einen schlechten Einfluss angesehen hatten, oder vor Fairburrow, in der sich die Straße befand, in der er einen kleinen Jungen aus Versehen niedergeschossen hatte. Er war vor einem Apartment geflüchtet, in dem zu viel an eine Frau namens Rebecca Turner erinnerte, und vor Auftragskillern, weil er Ryker die Führung der Organisation nicht streitig machen wollte. Mark Oliver war gerannt und gerannt. Womöglich war Alexey Pawlow tatsächlich ein schlechter Einfluss, womöglich war Mark aber auch einfach zu schwach, um auf eigenen Beinen stehen zu können. Er konnte rennen, aber nur selten stillstehen. „Okay...“, war alles, was Mark letztendlich über die Lippen brachte. „Okay.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)