Entscheidung von Undine ================================================================================ Kapitel 1: ----------- „So ähnlich oder anders.“ - pflegte meine Freundin zu sagen, doch der Sinn ihrer Worte blieb mir bis heute unerklärlich. An sich ein einfacher Satz, dem ich jedoch zuviel hinein interpretierte. Wenn ich jetzt zurück denke, da fällt mir unser letztes Telefongespräch ein. Letztes – weil wir uns immer an den Wochenenden gesehen haben. Die Kinder jeden Sonntag an unsere Männer abschoben, nur um etwas Zeit für uns selbst zu haben. Früh morgens aufstehen, Essen vorbereiten, Zettel schreiben, kleines und großes Kind wecken, dass eine für die Schule, dass andere für die Arbeit. Jeden Tag, Arbeit. Alltag. Früh bis Abends. Während der Regen gegen das Fenster prasselt muss ich sinnieren. Vielleicht ist es auch der heiße Kräutertee, welcher meine Zunge unaufhörlich verbrennt, doch ich kann nicht stoppen. “Du kannst dir nicht vorstellen, wie ich mich gefühlt habe. Ich bin vom Stuhl gefallen und das konnte auch nicht bis Sonntag warten. Da bist nicht nur du schwanger, sondern ich auch. Verdammte Scheiße! Was soll ich machen?“ Ich konnte sie mir regelrecht vorstellen, die Augen vom Weinen verquollen, verschmiertes Make-up, gerötete Wangen. So hatte ich damals auch ausgesehen. Während sich andere Frauen freuten das sie schwanger waren, schien dies für uns ein Albtraumzustand zu sein. „Keine Ahnung.“, erwiderte ich überfordert. Ich selbst wusste schon nicht wohin und nun auch Anna. „Lil. Ich hab so eine beschissene Angst. Du bist die Einzige, der ich das sagen kann. Wüsste Patrick davon, würde er mich dafür schon umbringen, das Wort Abtreiben überhaupt nur zu denken. Sag doch bitte etwas.“ Eine unheimliche Stille legte sich über uns. Ich konnte ihr unregelmäßiges Atmen hören, als auch mein pochendes Herz. Wieso überhaupt Kinder? Warum müssen gerade wir Kinder bekommen? „Lass uns zusammenfassen, weshalb wir nicht abtreiben sollten“, ertönte mein Flüstern, als ich vom Flur her Schritte vernahm. Anna räusperte sich. „Die Kirche sagt, dass es Mord ist. Das bedeutet also das Wir unsere Kinder ermorden.“ Ich konnte nun ihr leises Schluchzen hören und auch ich musste Schlucken. „Ich glaube Anna, die einzig vernünftige Antwort warum wir nicht abtreiben sollten ist, weil wir unsere Kinder ANGEBLICH umbringen“, antwortete ich scharf. „Ist das nicht das oberste Gebot unsere Kinder als das höchste Gut anzusehen?“, fragte sie mich. Es war zwar nicht zu sehen, doch ich schüttelte den Kopf. „Es gibt mehr positive Aspekte, Süße. Also zum Abtreiben meine ich. Deswegen kann man eigentlich nicht sagen das Wir unsere Kinder töten und wir sehen sie eh als unser innigstes an, sollten wir welche haben, Anna.“ „Du machst Haarspaltereien“, moserte sie, klang jedoch nun etwas gefasster. „Lass mich also die positiven Seiten hervorheben.“ Das klang so dermaßen makaber, dass ich lächeln musste. Ich liebe meinen Sohn und wusste auch von ihr, dass sie Maria über alles liebte, dennoch gab es einen Impuls in uns, der Kindern gegenüber ängstlich und pessimistisch gegenüberstand. „Ich glaube es gibt mehr negative Aspekte Lil. Es stimmt schließlich. In uns, da tragen wir leben und lassen wir es entfernen, da zerstören wir nicht nur den Körper, sondern auch die Seele und wir spucken Gott praktisch ins Gesicht.“ Ich glaube das Gott wohl der größte Faktor spielte, der uns Moral vorgaukelte, wo es doch aufgrund von Tatsachen abgewägt werden müsste. „Du bist zu gläubig Anna. Du solltest es logischer und rein faktisch bezogen entscheiden“, entgegnete ich, doch ich vernahm nur ein lautes Schnauben. Da platzte mir etwas der Kragen „Willst du nun das Ich dir helfe dein verdammt uneheliches Kind abzutreiben? Verdammt Anna du sollst nicht gegen mich, sondern mit mir Arbeiten!“, schrie ich sie an, bereute es aber kurz darauf. „Sprich bitte weiter“, forderte sie mich auf und ich sammelte meine Gedanken. Töteten wir wirklich unser Kind? Waren wir grausame Mütter, wenn wir überhaupt daran dachten? Ich dachte nicht nur daran, sondern wollte es auch wirklich in die Tat umsetzen. Und im Gegensatz zu Anna war das Kind von meinem Mann. Allerdings lag mir mehr an mir Selbst, als dass ich das Kind vorziehen würde. Machte dies eine Rabenmutter aus? Wenn ich an mein eigenes Leben dachte, welches ich noch nicht aufgeben wollte? Mein Körper, so hatten die Ärzte gesagt, würde die Geburt wahrscheinlich nicht überstehen. War das eine ausreichende Ausrede, damit ich mich im Fall der Fälle verteidigen konnte? Schließlich waren ein Mann und ein Kind zu versorgen. Aber reicht das? Faktisch und ergebnisorientiert, so war schon immer meine Denkstruktur gewesen. Trotzdem klang meine Stimme brüchig, als ich ihr die positiven Seiten erklärte. „Was ist, wenn eine Frau vergewaltigt wurde? Ist es dann nicht ihr gutes Recht abzutreiben, um die damit verbundene Schmach nie wieder erleben zu müssen? Könntest du mit einem Kind leben, dass die gewaltsam zugefügt wurde?“ „Ich weiß es nicht“, erwiderte sie kleinlaut. Als sie mit irgendeinem ihrer Bibelzitate kommen wollte, wimmelte ich sie ab. Ich wusste ganz genau das ich ein solches Kind nicht haben wollen würde. Welche Mutter konnte ein solches Kind lieben? Das dachte ich mir zumindest. Und wenn es derlei Kinder gab, dann taten mir diese leid. Mehr als Mitleid konnte ich jedoch nicht erübrigen, denn in meinen Augen hatte die Mutter versagt, wenn sie ein solches Kind nicht im Keim erstickt hätte. „Anna. Gott hat gesagt, dass egal welcher Herkunft und wie auch immer das lautete, dass jeder Mensch geliebt wird. Und schlussendlich ist es nur ein Kind welches nichts dafür kann.“ Ich ignorierte ihre Aussage. „Was ist, wenn ein Mädchen mit sechzehn schwanger wird? Kann es das Kind alleine versorgen? Wohl bestimmt nicht. Ist es der Aufgabe gewachsen? Erst recht nicht. Also ein weiterer Beweis, weshalb Abtreibung etwas Positives ist.“ Das redete ich mir zumindest ein. Und auch genau da war ich mir sicher das Kind abreiben zu können. Wer würde mit sechzehn schon ein Kind bekommen? Laut meiner Weltanschauung nur Kinder aus der Gosse und ohne Bildung. „Was sagst du dann zu den afrikanischen Mädchen, bei denen es normal ist das sie mit sechzehn oder siebzehn Kinder bekommen?“, erkundigte sich Anna scheinheilig. „Die haben eine harte Welt und es wird Zeit das eure Missionare mal dort eingreifen“, sagte ich salopp, doch wieder schnaubte Anna. „Lil. Die denken unser System ist komisch, genau, wie wir das von denen denken.“ Erneut ignorierte ich ihre Aussage. Ich rieb meine Augenlider und gähnte einmal herzhaft. Draußen hörte ich Tim schreien, er musste hingefallen sein oder was auch immer, doch Paul war da, sollte der mal gehen. Manchmal war ich vielleicht etwas unsensibel – manchmal. Nicht immer. Oder eher selten. „Anna. In Deutschland ist es eh verboten abzutreiben, wenn man in der Schwangerschaft fortgeschritten ist. Außerdem ist Abtreibung legal. Ich denke, wenn wir es so früh wie möglich abtreiben, dann bemerkt der Fötus davon eh noch nichts. Merkt der überhaupt etwas davon?“ Bemerkte es das Kind im Bauch? Wenn wir es nicht liebten? Daran dachten es abzutreiben? Konnte es das fühlen? Die Gedanken und Entscheidungen erleben? Ich hoffte nicht. Langsam bemerkte ich, wie sich eine Entscheidung in mir formte, aber ich konnte diese noch nicht so recht greifen, als würden meine eigenen Gedanken sich mir entziehen. „Ich weiß nicht, ob der Fötus etwas fühlen kann.“, erwiderte Anna. Jetzt waren wir also beim Fötus angelangt und nicht mehr beim Kind. Wir stuften ES also herab. Jetzt konnte es uns nicht mehr so berühren. „Und wenn wir durch eine Untersuchung heraus finden, dass das Kind eine Behinderung hätte? Trisomie 21?“, fragte mich Anna. Für mich wäre es genauso undenkbar ein behindertes Kind zu haben. Konnte es dann laufen? Bestimmt nicht. Wie würde es uns in der Gesellschaft ergehen? Ich wollte nicht das die Menschen mich komisch ansahen, aber mit einem solchen Kind würden diese das wohl. Dann musste so ein Kind noch auf eine Behindertenschule. Würde es sprechen und lesen können? Hätte ich mit so einem Kind noch überhaupt ein eigenes Leben? Zum Glück konnten wir heute Entscheiden, ob wir abtreiben möchten oder nicht. „Ich hab gehört, wenn bei dem Kind eine Behinderung festgestellt wird, dann kann es auch noch nach der zwölften Schwangerschaftswoche abgetrieben werden“, sprach ich langsam. Ich wechselte das Handy in die andere Hand und rieb mir mit der rechten Hand die Tränen weg. Ich wusste nicht warum, aber sie kamen. „Und noch ein positiver Aspekt. Wir können heute abwägen, ob wir das Kind abtreiben möchten. Wir haben die Wahl, unser Leben wird erleichtert und dem Kind wird ein vielleicht schlechtes Leben erspart.“ Meine Stimme war brüchig, denn ununterbrochen flossen meine Tränen. „Lil? Süße? Weinst du etwa?“ So ungläubig, wie meine Freundin klang, so fühlte ich mich. Endlos lange sprachen wir miteinander, wobei Anna das Ruder an sich gerissen hatte. Sie warf die Fragen auf, an die ich selbst nicht einmal gedacht hatte. Gingen wir Frauen heute zu leichtsinnig damit um? Verteufelten wir unsere ungeborene Kinder schon von Anfang an? Und immer wieder fragte ich mich, welches die richtige Entscheidung sein mochte. Während ich den heißen Tee jetzt in großzügigen Schlucken zu mir nahm, fragte ich mich, ob unsere Entscheidung damals nicht Ironie des Schicksals gewesen sein muss. Ich hatte mich schlussendlich für meine Tochter entschieden und eine Totgeburt erlitten. Anna allerdings hatte sich für eine Abtreibung entschieden. Auf dem Weg zur Klinik hatte ihr ein Lkw die Vorfahrt geschnitten und war ungebremst in den BMW gefahren. Anna und das Kind waren sofort tot gewesen. Ich blickte auf, als es an meiner Tür klopfte. „Frau Sachher? Guten Abend. Ich bringe ihre Tabletten.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)