Atemzug von TommyGunArts (Grey Mr. Grey) ================================================================================ Die Stadt Geek lag in tiefem Grau. Schon seit einigen Stunden regnete es ununterbrochen. Das Wasser floss in Strömen über den matschigen Boden und nahm alles mit sich, was sich nicht rechtzeitig in Sicherheit brachte. Bei einem solchen Sauwetter blieben die Stadtbewohner in ihren Häusern und Hütten, um Schutz vor dem hämmernden Regen zu finden. Und wenn man kein Zuhause besaß, wie die meisten Bewohner der Unterstadt, so stellte man sich zumindest irgendwo unter und wartete darauf, dass die dunklen Wolken weiterzogen. Deshalb waren die sonst so belebten Straßen wie leergefegt. Nur ein Mann hatte es nicht bis nach Hause geschafft, sondern war auf seinem Weg zusammengebrochen und lag nun reglos am Boden. Die dicken Tropfen prasselten auf seine zerfetzte graue Kleidung. Auf den ersten Blick sah es aus, als sei er tot, doch bei genauerem Hinsehen fiel auf, dass sich sein Brustkorb langsam hob und senkte. Er atmete noch. Doch von »leben« konnte nicht die Rede sein. Jedenfalls war der Mann weder Herr seiner Sinne, noch seines Verstandes. Denn beides befand sich gerade in den Weiten der Welt, irgendwo in dem Unendlichen. Den ganzen Abend hatte sich der Mann das Hirn vernebelt, hatte sich Traumpulver durch die Nase gezogen und ungünstig viel Ge-Tex inhaliert, bis er schließlich beschlossen hatte, nach Hause zu gehen und sich vor dem aufkommenden Regen zu verstecken. Doch auf ebendiesem Weg hatte die volle Wirkung beider Rauschmittel eingesetzt und ihn wegkatapultiert an einen Ort fernab der Realität. Es war ein Ort des Unbegrenzten, ein Ort des Traumes. Ein Ort an den er sich klammerte, weil er eine Art Wärme für ihn bereithielt, die ihm im wahren Leben verwehrt blieb. Doch jäh wurde er fortgerissen aus seiner Fantasie und Stück für Stück zurück in die Wirklichkeit geholt. Der Mann mit dem Namen Stix Grey hustete schwer, als er aufwachte. Da er mit dem Kopf in einer Pfütze lag, war ihm beim Einatmen Wasser in die Lunge getreten, das er nun unter einem Hustenanfall zurück auf den Boden spuckte. Dann setzte sich der triefendnasse Körper langsam in Bewegung und Stix richtete sich auf, noch immer verwirrt und nicht ganz bei Verstande. Mit den eingefrorenen, steifen Fingern versuchte er seinen Hut zu ertasten, der ihm bei dem Sturz vom Haupt gefallen war. Doch als er bemerkte, wie seine Finger ihm nicht gehorchen wollten, wie er nicht einmal in der Lage war, seine Arme und Beine mehr als ein paar Fingerbreiten zu bewegen, wie er erkannte, dass er machtlos war, fing er an zu wimmern. Tränen schossen über seine Wangen, wie der Regen über die Dächer, und ihr Salz brannte in seinen aufgeschürften Wunden. Wie ein Idiot saß er nun auf dem nassen, dreckigen Boden und heulte sich die Seele aus dem Leib. Scheiße! Dieser verdammte Idiot war ich! Die Erkenntnis traf mich hart und als meine Seele zurück in ihren Körper glitt, hatte es dieselbe Wirkung wie ein kräftiger Faustschlag in die Magengegend: Ich musste mich übergeben. Wie immer, wenn ich zu viel des Guten genossen hatte, hatte mein Ich seine sterbliche Hülle verlassen, war geschwebt und hatte die Welt gesehen. Hatte sich nicht mit dem dreckigen Nichtsnutz identifiziert, den es dort am Boden jammern gesehen hatte. Doch es hatte seinen Weg zurück gefunden. Die Kotze mischte sich mit dem Regenwasser und wurde die Gasse hinunter getragen. Einen Moment lang folgte ich ihr mit den Augen, dann wandte ich mich ab und kroch ein Stück vorwärts, um an den Hut zu gelangen. Mit einer ungeschickten Bewegung griff ich danach und setzte ihn auf meinem Kopf ab. Für einen Augenblick blieb ich so am Boden liegen und atmete tief durch, während ich die Kette um meinen Hals fest umklammert hielt. Sie war ein Geschenk meines großen Bruders gewesen und ich hatte das lächerlich kindliche Gefühl, wenn ich seine Kette berührte und mir fest wünschte, er wäre hier, würde er wirklich da sein, mir aufhelfen und mich nach Hause bringen. Mich retten vor mir selbst. Doch mein Bruder war nicht da, schon seit mehr als zwanzig Jahren nicht. Also musste ich mich allein aufraffen, wie an jedem anderen Tag auch. Schwer atmend versuchte ich meinen knochigen Körper hochzustemmen. Ich musste all meine Kraft aufwenden, doch schließlich gelang es mir, aufzustehen. Mit jedem wackeligen Schritt, den ich tat, drohten meine Beine nachzugeben, als würde ich ein immenses Gewicht mit mir herumschleppen. Der alte Mantel, der auf meine Schultern drückte, hatte sich mit Wasser vollgesogen und schien eine Tonne zu wiegen. Einst hatte er mir gute Dienste erwiesen, damals, als ich noch als Ermittler tätig war. Er hatte mich bei Observationen vor Wind, Kälte und Regen geschützt. Ich erinnerte mich kurz an alte Zeiten, dachte daran, wie viel dieser Mantel und ich schon erlebt hatten und wie sehr er mich doch geprägt hatte. Es war ebendieser Mantel, an dem man mich erkannte. Ja, dieses Kleidungsstück hatte mir einen Namen gegeben, der sich in die Gedächtnisse aller Straftäter eingebrannt hatte: Grey Mr. Grey. Doch heute war dieses Ding von Motten zerfressen, löchrig und nutzlos – beinah schon eine Belastung. Die vergilbten Abzeichen an Brust und Ärmeln waren das einzige, das daran erinnerte, dass ich einst ein Mann gewesen war, der sowohl geliebt, als auch gefürchtet wurde, der Ehre und Stolz besessen hatte, der als einer der Besten in seinem Beruf gegolten hatte. Der Mantel war ein Relikt aus längst vergessener Zeit. Abgenutzt und zerfetzt. Mit der Zeit verschlissen. Genau wie ich. Ich sog die kalte Luft ein. Die Unterstadt Geeks stank nach Armut, Krankheit und Exkrementen. Kein schöner Ort zum Wohnen. Wer wollte schon hier leben, inmitten von Ratten und Schmutz? Zwischen Bettlern und Krüppeln? Neben Dieben und verhungernden Kindern? Ich für meinen Teil hatte niemals hier leben wollen. Aber wie sagt man so schön? Wer viel hat kann viel verlieren. Und ich hatte alles verloren. Meinen Job, mein Haus in der Oberstadt, all meine Kontakte, die ich früher so penibel gepflegt hatte, meinen einzigen Freund und vor allem meine Hoffnung. Diesen winzigen Lichtschimmer in all dem Dreck und der Finsternis, den man so dringend benötigt, um sich aufzuraffen und sich der Welt entgegenzustellen. Ich war die Leiter nach oben geklettert, hatte die Mühen des Aufstiegs auf mich genommen und hatte schon fast das Ende erreicht, den sicheren Punkt an der Spitze. Doch dann war irgendetwas passiert, an das ich mich heute nicht mehr erinnern konnte, und ich war gefallen. Und als ich auf dem Boden aufschlug, hatte ich mir mehr als nur ein paar Rippen gebrochen. Ich war gefallen, wie viele andere vor und wahrscheinlich noch viele andere nach mir. Ich erreichte einen überdachten Hauseingang in der Gasse der Katzenaugen, an dem ich kurz stoppte, den kleinen Beutel mit Traumpulver aus meiner Manteltasche fingerte und mir eine Messerspitze von dem nassgeregneten Zeug durch die Nase zog. Manchmal könnte ich mich für meine Dummheit ohrfeigen! Als hätte ich mich noch nicht genug zugedröhnt, nein, ich musste natürlich noch einen draufsetzen. Das Traumpulver wirkte schnell, selbst in dem klumpigen zustand, und ich fühlte förmlich wie mein Hirn zu arbeiten begann. Doch auch die nun erhöhte Auffassungsgabe und die gesteigerte Reaktion und Konzentration verhinderten nicht die Abstoßreaktion meines Körpers, die sich darin zeigte, dass ich kurzzeitig zusammenbrach und mich erneut übergab. Als ich mich wieder gefangen hatte, setzte ich meinen Weg fort. Und diesmal war ich deutlich schneller unterwegs als zuvor. Es dauerte nicht lange, bis ich vor der massiven, aber mitgenommenen Tür stand, die in das Innere meines kleinen Hauses führte. Ich wollte nun nichts lieber, als endlich ins trockene kommen, den Kamin anwerfen und meine durchnässten Glieder von diesem schweren Mantel befreien. Ich wollte mich auf die harte Matratze werfen und meinen Rausch ausschlafen. Also streckte ich die Hand nach der Tür aus, machte auf dem Absatz kehrt und ging in die entgegengesetzte Richtung. Man konnte mir einiges nachsagen: Dass ich ein Narr sei, der es nicht geschafft hatte, seinen Erfolg aufrecht zu erhalten und förmlich daran zerbrochen war. Dass ich ein Bastard sei, der von seinem Vater ebenso gehasst wurde, wie von seiner Hurenmutter. Man konnte mich einen drogensüchtigen Nichtsnutz nennen, der beinah alles Schlucken würde, nur um für einen winzigen Moment seine Vergangenheit zu verdrängen. Ja, man konnte mich sogar einen Trottel schimpfen, der es kaum schaffe, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Der nicht einmal die leichtesten Aufgaben bewältigen könne, wie sich waschen, Essen kochen oder sich anziehen. Das alles konnte man mir nachsagen und ich würde nicht widersprechen. Aber eines konnte man ganz sicher nicht von mir behaupten: Dass ich ein Dummkopf sei, dessen Denken nicht mehr funktionierte. Zunächst war mir der leicht ranzige Geruch aufgefallen, der mit einem erschreckend süßlichen Duft unter dem Türspalt hervorkroch und mir in die verschnupfte Nase stieg. Kurz darauf hatte ich die frischen Kratzer am Hausschloss bemerkt, die eindeutig von einem ungeschickt benutzten Dietrich stammten. Erst dann waren mir die vereinzelten roten Flecken am Türrahmen aufgefallen, die vom Regen verschont geblieben waren. In dem Moment, als ich erkannte, dass es sich hierbei um Blutspritzer handelte, schrillten in meinem Kopf alle Alarmglocken los. Ich wusste, es war jemand im Haus gewesen. Ja, vermutlich war er sogar noch da und wartete auf mich. Vielleicht war es bloß eine extreme Vorsichtsmaßnahme, vielleicht wusste ich aber auch, dass ich in meinem derzeitigen Zustand kaum mit einer harmlosen Ratte fertig werden würde, geschweige denn mit einem geschulten Meuchelmörder, wie ich ihn im Hausinnern erwartete. Manche würden meine Vermutung für irrwitzig halten, die ich anhand ein paar lächerlicher Hinweise gestellt hatte. Aber seit ich vor zwei Jahren meinen Job verloren hatte, hatten bereits drei freundliche Assassinen mein bescheidenes Eigenheim aufgesucht. Sie wurden vermutlich von einer der vielen Persönlichkeiten geschickt, denen ich einst das Geschäft und wahrscheinlich auch das Leben versaut hatte. Da war es kein Wunder, dass mir der ein oder andere an den Kragen wollte. Bislang hatte ich es aber immer geschafft, die Mörder zu überwältigen – nur war ich in diesen Momenten auch nie so zugedröhnt gewesen wie heute. Deshalb hörte ich auf meinen Verstand, der mir sagte, dass es mein sicheres Ende sei, wenn ich jetzt auch nur einen Fuß in mein Haus setzen würde. Und so drehte ich mich um und ging die Säufergasse entlang, die an die Gasse der Katzenaugen angrenzte, und suchte mir eine der zahllosen Schenken aus, die den Namen Betrunkener Kobold trug. Ich stolperte hinein und pflanzte meinen Hintern auf eine Bank in der hintersten Ecke mit dem festen Vorsatz, den Meuchelmörder so lange warten zu lassen, bis dieser die Geduld verlor und sich aus meinem Häuschen verpisste. Mit lallenden Worten bestellte ich mir Koboldpisse, wie ich das Gesöff gern nannte, das etwas wie Bier darstellen sollte. Die kleine Kobolddame ließ kurz ihre schwarzen, messerscharfen Zähne aufblitzen, um mir zu signalisieren, ich solle bloß keinen Ärger machen, brachte mir dann aber, wie gewünscht, die Koboldpisse. Ich ließ den Blick durch die Schenke schweifen. Es waren kaum Besucher anwesend, nur die üblichen Säufer, die man schon von weitem an ihren rotleuchtenden Nasen erkannte. Deshalb hatten die flinken Kobolde nicht viel zu tun und mussten nur hin und wieder einen Schnaps einschenken. Der Betrunkene Kobold war eigentlich ein gut besuchter Laden, doch bei diesem Wetter war selbst hier nichts los. Es lag eine ungewöhnliche Stille in der Luft. Ich legte meinen Kopf auf die Arme und schloss für einen Moment die müden Augen. Das leise Säuseln der Gäste klang wie ein Schlaflied in meinen Ohren. »Iiich habbe doch gar niiichts getrrrrunken!«, hörte ich eine zeternde Frauenstimme irgendwo am Rande meines Bewusstseins. »Iiich bezaaahle das niiicht!« Langsam abdriftend in einen Traum, bot sich mir das Bild eines runzligen Weibes, das die Schankwirtin sternhagenvoll ansah und ihr versichern wollte, es habe keinen Alkohol zu sich genommen. Ich konnte die fettigen Haare der Frau riechen, die strähnig in ihrem faltenüberzogenen Gesicht klebten. Meine Augen waren geschlossen und doch hatte ich das Gefühl, wirklich zu sehen, wie sie mit der Wirtin stritt. Plötzlich drehte sie sich zu mir, kam auf mich zu, packte mich am Kragen und flüsterte mir mit weit aufgerissenen Augen zwei glasklare Worte ins Ohr: »Rette mich!« Ich schrak auf. Verwirrt sah ich mich um, doch da war weder die faltige Frau, noch die Wirtin. Das Traumpulver hatte mir bloß seltsame Bilder in den Kopf gesetzt. Ich schüttelte mich. Die nasse Kleidung ließ mich frösteln. »Guten Morgen, Mr. Grey«, sagte ein bleichgesichtiger Mann, der mir plötzlich gegenüber saß und mich aus zwei mausgrauen Augen heraus ansah. Sein weißes schulterlanges Haar hatte er zu einem Zopf nach hinten gebunden. Ein kleines Lächeln umspielte seine Mundwinkel, als er sich zu mir vorbeugte und erklärte: »Ihr steht auf der schwarzen Liste der Assassinen, Mr. Grey. Jemand hat das Verlangen, Euch tot zu sehen. Außerdem wird auf Euren Kopf ein schönes Sümmchen ausgesetzt werden.« Er sprach leise und ruhig, beinah schon beruhigend. Ich schluckte schwer und klimperte mit den Augen, in der Hoffnung, dass es sich bei dem Bleichgesichtigen ebenfalls um eine Sinnestäuschung handelte. Doch er löste sich nicht in Luft auf, sondern blieb weiterhin vor mir sitzen und durchbohrte mich mit seinem stählernen Blick. »Wenn Ihr Euch bewegt, töte ich Euch. Wenn Ihr schreit, töte ich Euch. Und wenn Ihr versucht zu fliehen, töte ich Euch ebenfalls. Also macht keinen Aufstand und hört einfach nur zu, verstanden?« Ich nickte langsam, weniger, um dem Mann vor mir zuzustimmen, sondern eher, um mir selbst zu sagen, dass es sich wohl nicht um eine Sinnestäuschung handelte. Reflexartig waren all meine Muskeln angespannt, um mein Leben, wenn nötig, so gut es ging zu verteidigen. Dennoch war mir klar, dass ich gegen den ausgebildeten Meuchelmörder vor mir, der er ohne Zweifel war, nicht die geringste Chance hatte. »Gut«, stellte das Bleichgesicht zufrieden fest, der mein Nicken offensichtlich falsch gedeutet hatte. »Ich beobachte Euch schon eine ganze Weile, Mr. Grey, und ich sage Euch offen und ehrlich: Ja, ich will Euch töten. 20.000 Scolt sind schließlich nicht gerade wenig und da werden sich sicherlich noch einige andere finden, die damit etwas anfangen können. Ihr habt also spätestens heute Nachmittag eine ganze Horde am Arsch kleben – entschuldigt meine Ausdrucksweise –, die nur auf den richtigen Zeitpunkt wartet, um Euch das Licht auszublasen.« Während er sprach, sah er mir fest in die Augen, sodass ich gezwungen war, seinen Blick zu erwidern. Ich hatte kein Stumpfhirn vor mir sitzen, das war mir von Anfang an klar. Ihm wäre es sofort aufgefallen, wenn ich auch nur mit dem Arm gezuckt hätte. »Der Auftrag steht seit zwei Tagen und glaubt mir, Mr. Grey, da will Euch jemand ein für alle Mal loswerden.« Er schwieg einen Moment und gab mir Zeit, das Gesagte zu verdauen. Dann fuhr er fort: »Jeder weiß von Eurem Problem das auf gewissen Substanzen beruht, was Euch zu einer leichten Beute macht. Und Ihr, Mr. Grey, wisst auch, dass Ihr eine leichte Beute seid.« Ich zuckte instinktiv zusammen, als der Bleichling seine spitzen Eckzähne beim Lächeln entblößte. Seine Erscheinung war mir ganz und gar unheimlich. Ich konnte förmlich spüren, dass Vampirblut durch seine Adern floss. Eine natürliche Abneigung gegen alles Fremde stellte sich bei mir ein. Nein, ich mochte diesen Kerl nicht. »Was soll das werden? Wollt Ihr mir die Kehle aufschlitzen?«, fragte ich, innerlich gegen den angeborenen Fluchtinstinkt ankämpfend. »Nein«, flüsterte er und beugte sich noch etwas näher zu mir, »nicht heute. Ich wollte Euch lediglich Bericht erstatten und davon in Kenntnis setzen, dass Ihr Vorsicht walten lassen solltet. Was Ihr mit dieser Information anfangt, das ist Eure Sache.« Dann stand er auf, zog seinen imaginären Hut vor mir und verließ den Betrunkenen Kobold mit einem freundlichen: »Auf Wiedersehen, Mr. Grey.« Überrumpelt und verwirrt saß ich da und trank den letzten Schluck Koboldpisse. Was war das gerade für ein Auftritt? Ich konnte mir keinen Reim darauf machen, warum der Meuchelmörder hier hereinspaziert war, sich zu mir gesetzt hatte und mir, anstatt mich zu erdolchen, eine Warnung hatte zukommen lassen. War es überhaupt eine Warnung? Oder eher eine Drohung? Und vor allem: was sollte dieses »Außerdem wird auf Euren Kopf ein schönes Sümmchen ausgesetzt werden« bedeuten? Dass dieser Satz im Futur gehalten war, war mir nicht entgangen. Doch was sollte er bedeuten? Hatte ich etwas verbrochen, das ein Kopfgeld rechtfertigen würde? Plötzlich packte mich das beklemmende Gefühl, das man hat, wenn man feststellt, dass man ganz allein auf dieser Welt ist. Ich dachte an den süßlichen Geruch an meiner Haustür und es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Wie konnte ich nur so blind sein? Angst ist ein gemeiner Begleiter. Sie schleicht sich klammheimlich an dich heran, umarmt dich liebevoll und sanft. Ihre Finger sind zart wie Seide und zunächst gibt sie dir das Gefühl von Glück und Frieden. Sie umgarnt dich, küsst dich, liebt dich, nur, um dir im nächsten Augenblick den Hals zuzudrücken. Du schnappst nach Luft und weißt doch, dass diese niemals wieder deine Lungen füllen wird. Denn sie wird ihren tödlichen Griff nicht mehr lockern, nicht in tausend Jahren. Sie wird dich bis an dein gottverdammtes Lebensende verfolgen, dich in deinen Träumen heimsuchen und jeden deiner Schritte, deiner Gedanken und deiner Taten mit Schmerz versehen. Sie wird dich zerstören und du kannst nichts dagegen tun. Ich sah auf das kleine Mädchen – es war nicht älter als sechs Jahre – und wusste, ich würde nie wieder atmen können. Es lag zusammengekrümmt und nackt auf meinem Bett. In dem Bett, in dem ich heute Nacht nicht geschlafen hatte. Die Nase des Kindes war abgeschnitten worden und lag in seiner fingerlosen Hand. Die Augen waren zwei schwarzen, blutverkrusteten Höhlen gewichen und der Unterleib der Kleinen war bis zur Brust aufgeschlitzt. In den offenen Wunden tummelten sich die Freunde des Todes: Maden. Der Anblick ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Als ich eben das Haus durch die geheime Luke auf dem Dach betreten hatte, hatte ich vor allem mit einem gerechnet: belastendem Material. Irgendwelche gefälschten Beweisstücke, die mich einer gemeinen Straftat bezichtigen könnten. Aber ich hatte bestimmt nicht angenommen, die verstümmelte und verwesende Leiche eines kleinen Mädchens in meinem Bett vorzufinden. Ich beugte mich zu ihm hinab und strich ihm das blutverklebte, lange Haar aus dem Gesicht. Die Kleine hatte den Mund zu einem erstickten Schrei geöffnet. Als hätte sie laut geschrien, um ihr Leben gefleht und geweint. Vielleicht hatte sie nach ihrer Mutter gerufen oder nach ihrem Vater. Vielleicht war es ihr auch egal gewesen, nach wem sie rief, solange nur jemand gekommen wäre und sie gerettet hätte. Solange sie jemand den Klauen ihres Schänders entrissen hätte. Letztendlich hatte sie niemand gehört. Ich hatte schon damals, als ich noch im Dienst war, oft mit verstümmelten Kindern zu tun gehabt. Und es war mir nie leicht gefallen, sie zu betrachten. Allerdings war ich gezwungen,  die Fälle links liegen zu lassen, weil es sich bei den meisten Opfern um arme Kinder aus der Unterstadt handelte. Und die Ermittlungsbeamten sollten sich nicht mit solch unwichtiger Klientel aufhalten. Schließlich brachte die Lösung dieser Fälle kein Geld. Aber dieses hier war kein Mädchen der Unterstadt und es kam auch sicher nicht aus ärmlichen Verhältnissen. Vielmehr wies der Ring – darauf waren zwei Schlangen zu sehen, die sich um ein Schwert ringelten – der neben ihm lag, darauf hin, dass es von Adel war. Denn arme Kinder trugen keine Ringe, und schon gar keine, auf denen das Zeichen des Königs prangte. Was das bedeutete, wurde mir erst dann wirklich klar, als die Vordertür aufflog und die Stadtwache vollbewaffnet hinein stürmte: Dieses tote Adelskind würde für Aufsehen sorgen und es würde alles daran gesetzt werden, den Mörder zu fassen und zu hängen. Und in den Augen der Stadtbewohner würde ich dieser Mörder sein. Ich war in diesem Moment wie gelähmt. Alles in mir schien gefroren zu sein, erstarrt zu kaltem Eis. Ich war nicht fähig, mich auch nur ein winziges Stück zu rühren. Das Mädchen hatte mich mit seinen toten, augenlosen Höhlen gefesselt, schien mich anzustarren und anzuschreien, mich anzuflehen, es von seinen Qualen zu erlösen. Ich konnte sein Wimmern deutlich in meinen Ohren hören und für die Länge eines Wimpernschlags hatte ich tatsächlich das Gefühl, die Kleine würde ihren Mund bewegen und sagen: »Rette mich«, genau wie es die alte Frau in meinem Traum getan hatte. Ich spürte nicht mehr, wie ich auf die Knie sank. Und ich spürte auch nicht, wie sich die Stadtwache, die sich vom ersten Schreck der Szene erholt hatte, auf mich stürzte. Ein kräftiger Kerl rammte mir seinen Ellenbogen ins Kreuz und legte mir Handschellen an. »Ekelhaftes, krankes Schwein!«, brüllte er mir ins Gesicht, doch die Worte drangen nur als ein leises Flüstern an mein Ohr. Ich schien endlos weit entfernt zu sein, war nicht mehr Herr meines Körpers, sondern höchstens ein stummer Beobachter, der auf sich selbst hinabschaut. Als wäre nicht ich es, der immer und immer wieder »Ich war es nicht« flüsterte und der dennoch wusste, dass ihm niemand glauben würde. Irgendwann hatte einer der Stadtsoldaten die Schnauze voll und zog mir kurzerhand den Schwertschaft über den Schädel.   *** Ich fand mich in einer dunklen, nasskalten Zelle wieder. Nur durch eine kopfgroße, vergitterte Öffnung drang Tageslicht hinein. Doch da der Tag trüb und der Himmel wolkenverhangen war, konnte man es nur als Tageslicht erahnen. Die wenigen hellen Strahlen trafen auf meine Augen und waren der Grund für mein Erwachen. Ich lehnte an einer Steinwand, die Hände auf dem Rücken in Schellen gelegt. Anstatt meiner eigenen Kleidung trug ich ein stinkendes Leinenhemd und eine viel zu große Hose. Man hatte mir also tatsächlich alles abgenommen – sogar das letzte Hemd. In meinem Kopf hatte sich ein Trommelspieler eingenistet, der so viel Taktgefühl besaß, wie ich Freunde.  Das verursachte mir höllische Schmerzen im Oberstübchen und ich konnte ein gequältes Stöhnen nicht unterdrücken konnte. Mich hatte ein gemeines Zittern befallen, wie hungrige Insekten einen Salatkopf. Das musste daran liegen, dass ich schon eine Weile drogenfrei war. Wie lange genau ich schon hier hockte, wusste ich nicht, aber das Zittern verriet mir, dass es mindestens ein halber Tag sein musste. Ich hasste es, wenn die Wirkung der Rauschmittel nachließ. Nicht nur wegen der Zitteranfälle, sondern vor allem wegen der Schmerzen, die meine Gliedmaßen hinauf und hinab strömten. Sie waren kaum zu spüren, aber doch so präsent, dass ich sie nicht ignorieren konnte. Wie eine Assel, die sich unter deiner Haut verkrochen hat und von dort aus auf Wanderschaft durch deine Adern geht. Und so sehr du auch mit der Hand darauf schlägst – die Assel bleibt und krabbelt stetig weiter. Ich biss mir auf die Unterlippe, um die Assel dort hin und weg von meinen Augen zu lenken. Es half, wenn auch nicht viel. Plötzlich drang ein Laut an meine Ohren. Zuerst hielt ich es für ein Flüstern, doch bei genauerem Hinhören wurde mir klar, dass es sich um schleifende Schritte handelte. Dicke Solen, die sich träge über steinernen Boden zogen. Dann erfüllte ein gelber Schein den Bereich hinter den Gittern. Ich erspähte die Silhouette eines Mannes, der gerade eine Fackel in die Halterung hängte und dann an seinem Schlüsselbund nach einem passenden Exemplar suchte, um meine Zellentür aufzuschließen. Mit einem Quietschen zog er die eiserne Tür auf, hängte den Schlüsselbund zurück an seinen Gürtel und trat ein. Mein Blick war wahrscheinlich nie so klar gewesen wie jetzt und doch war es mir in diesem Halbdunkel nicht möglich, den Mann zu identifizieren, der sich nun vor mir aufbaute. Erst als das Licht der Fackel günstig auf mein Gegenüber traf, erkannte ich den Alten, mit dem ich viele Jahre zusammengearbeitet hatte. Sein linker Mantelärmel hing schlaff herab. Und auch wenn ich es nicht richtig sehen konnte, wusste ich, dass ihm der linke Arm fehlte. Ich wusste es, weil ich der Grund dafür war. »Tag, Partner«, sagte Thomas Cip mit rauer Stimme und beugte sich zu mir herunter. »Cip«, erwiderte ich den Gruß mit der Andeutung eines Nickens. Einst waren wir Partner und Freunde gewesen, Cip und ich. Früher, als ich noch jung war und er noch nicht ganz so alt. Als ich noch nicht so viel Traumpulver zu mir nahm und er noch nicht so viele Falten in seinem hageren Gesicht hatte. Als ich noch Träume hatte und er seinen linken Arm. »Zwei Jahre«, begann Cip, »sind wir uns nicht mehr begegnet. Weißt du noch, wann wir uns das letzte Mal gesehen haben?« Ich schluckte. Natürlich wusste ich es noch, auch wenn ich schon oft gehofft hatte, es verdrängen zu können. »Ja, genau!«, rief er laut und schnipste mit den Fingern, als sei ihm plötzlich ein Licht aufgegangen. »Es war der Tag an dem du gekündigt wurdest, weil du mit einem Dolch auf meinen linken Arm losgegangen bist. Das Resultat siehst du ja hier. Bis zur Schulter – alles weg! Da ist nicht einmal ein kleiner Stumpf übrig geblieben. Kein Medicus der Welt konnte die Fetzen wieder zusammenflicken, die du in deinem Wahn hinterlassen hast, Partner.« Er betonte das letzte Wort besonders verächtlich. »Müssen wir da jetzt drauf rumkauen?«, warf ich ein und erntete eine Backpfeife, die mit einer überraschend jugendlichen Wucht auf meine Wange traf. »Zwei Jahre!« schrie Cip jetzt, das Gesicht verzerrt vor Wut. »In zwei Jahren hast du es nicht ein einziges Mal geschafft, mich zu besuchen, mich zu fragen, wie es mir geht, geschweige denn dich auch nur zu entschuldigen! Du hast dich einfach in deinem Häuschen verkrochen und gehofft, es wäre alles beim alten, wenn du nur genug von diesem Pulver schniefst.« Er hielt mir einen Beutel Traumpulver vor die Nase. Meinen Beutel Traumpulver. Der Trommelspieler in meinem Hirn hatte plötzlich seine Lautstärke erhöht, sodass es mir schwer fiel, Cips Worte aufzunehmen. Hinzu kam, dass das Pulver vor meinem Gesicht die gleiche Wirkung auf mich hatte, wie ein blutiges Stück Fleisch auf einen ausgehungerten Wolf. Ich fühlte mich magisch angezogen von dem feinen Stoff, den Cip wie ein Pendel von links nach rechts tanzen ließ. »Gib es mir«, flüsterte ich kaum hörbar, aber mit einem bedrohlichen Unterton, der mir selbst fremd war. »Das hier?«, fragte Cip gespielt verwundert, betrachtete den kleinen Beutel von allen Seiten, öffnete ihn und verteilte seinen Inhalt quälend langsam auf dem Boden. »Was zum?! Gib es mir, verdammt!«, krächzte ich heiser, während ich mit ansehen musste, wie meine einzige Chance, der Realität zu entfliehen, dahin rieselte. Cip setzte ein süffisantes Grinsen auf und entgegnete: »Nein, ich denke nicht. Findest du nicht auch, dass sich das Zeug hier im Dreck viel besser macht?« Er quälte mich, hatte scheinbar Freude daran, mir dabei zuzusehen, wie es mich innerlich zerriss. »Außerdem«, setzte er erneut an, doch ich hörte ihn kaum, »ist es dieser Mist, der Schuld daran ist, dass ich nur noch einen Arm habe. Verstehst du das?« »Was willst du hier, verflucht? Zum Dunkel mit dir! Bist du nur gekommen, um mir mein Leben zu nehmen?« Ich wollte Schreien und dabei wütend und fordernd zugleich klingen, aber der plötzliche Tränenausbruch ließ mich eher klingen wie einen aufgespießten Kobold. Doch es schien Wirkung zu zeigen, denn Cip unterbrach seine Folter und hielt das Beutelchen wieder in der Waagerechten. »Dein Leben?«, fragte er. Seine Stimme, die eben noch dem Trommelspieler in meinem Kopf Konkurrenz gemacht hatte, war nun wieder ruhig und gefasst. Beinah konnte ich eine Spur Mitleid heraushören. Und das klang falsch. »Wenn das so ist«, meinte er noch mit einem freundlichen Lächeln, bevor er den Beutel wieder verschloss und bis ans Ende der Zelle warf. Erleichtert darüber, dass mein Ex-Partner nicht mehr davon vergossen hatte, atmete ich tief durch. Allerdings wusste ich jetzt, dass es irgendwo hier im Raum lag, auch wenn es meinem Blickfeld entflohen war. Und ich wusste, dass ich es nicht erreichen würde. »Siehst du nicht, was es mit dir macht?«, wollte Cip von mir wissen, legte den Kopf schief und sah mir in die Augen. Es fiel mir schwer, mich von dem Bereich loszureißen, an dem ich das Traumpulver vermutete, und seinen Blick zu erwidern. »Du hast mir, deinem einzigen Freund, den Arm zerfetzt. Und ich wette, wenn ich dir damals nicht den Stein über den Schädel gezogen hätte und weggelaufen wäre, dann hättest du mich getötet. Wenn du im Wahn das deinem Freund antust…« Er stockte, doch ich wusste, worauf er hinaus wollte. Ich musste mich stark konzentrieren, um mich nicht in meinen eigenen Worten zu verheddern, als ich feststellte: »Du glaubst ich habe das Mädchen ermordet, richtig?« Dass er den Blick senkte war mir Antwort genug. Er verdächtigte mich nicht nur, sondern verurteilte mich regelrecht. »Cip, ich«, stotterte ich, »ich habe sie nicht umgebracht. I-Ich weiß nicht, wie …« »Wer soll dir noch glauben?« »Ich schwöre dir, dass …« »Du schwörst es mir?« Cips Augen leuchteten plötzlich auf. »So wie du mir geschworen hast niemals deine Hand gegen mich zu erheben? Du kamst zu mir mit nichts in deinen Händen und ich habe dich aufgenommen wie einen Sohn. Als Dank für diese Großzügigkeit fällst du mir in den Rücken.« Ich sammelte ein bisschen Spucke im Mund und versuchte damit meine trockene Kehle zu wässern. »Gibt mir«, setzte ich erschöpft an, »einfach ein bisschen Traupulver, dann können wir vernünftig reden. Wenn nur endlich diese verfluchte Assel…« Den Rest nuschelte ich unverständlich in mich hinein, weil ich kurz davor war, das Bewusstsein zu verlieren. »Wo ist denn die Assel? Hier vielleicht?«, fragte Cip, während er mir hart mit der Faust gegen die Stirn klopfte. Das rüttelte mich wieder wach. »Bei Ophosteus! Du warst mal ein schlauer Bursche. Und Würde hattest du auch mal. Doch davon ist nicht mehr so viel von übrig, nicht wahr?« Er richtete sich auf, machte sich größer als er war und sah noch einmal auf das vor ihm kniende Häufchen Elend hinab, bevor er Richtung Zellentür schritt. »Wo willst du hin?«, japste ich, den Kopf an der Wand reibend, um die Assel zu vertreiben, die nun unter meiner Kopfhaut hauste. »Nun … Ich gehe. Was soll ich noch weiter mit dir in einem Raum verweilen? Deine Gesellschaft widert mich an und ich glaube das weißt du.« »Aber«, jammerte ich, »es tut weh! Bitte, nur ein ganz bisschen von …« »Du wirst Morgen gehängt, Partner!«, unterbrach er mich freudestrahlend. »Das wird ein riesen Spektakel. Du solltest mit klarem Verstand erleben, wie du deinen letzten Atemzug tust.« Ich blinzelte die Tränen weg, gönnte mir eine Pause bei der Asseljagt und versuchte so vernünftig und glaubwürdig wie möglich zu klingen. Ja, ich richtete mich sogar etwas auf und blickte dem alten, einarmigen Mann fest in die Augen, als ich sagte: »Cip, Ich habe das Mädchen nicht getötet.« Cip senkte den Kopf, schloss die Zellentür hinter sich und nahm die Fackel auf. Dann lächelte er mich an, beinah freundschaftlich, und entgegnete: »Ich weiß.« Er ging. Und mit jedem seiner Schritte entfernte sich das Licht weiter von mir. Die Sonne ging unter, auf und wieder unter. Wäre mein Verstand eingeschaltet gewesen, hätte ich mich wahrscheinlich gefragt, warum ich noch am Leben war, wo ich doch schon längst am Galgen baumeln sollte. Aber mein Ich befand sich weit weg. Erneut. Deshalb bemerkte ich auch nicht, dass die Tage nur so verstrichen. Manchmal kam jemand vorbei und warf mir eine Schüssel mit Essen hin, doch ich registrierte nicht, wie ich aß. Und ich realisierte auch nie, dass die Schüsseln abgeholt wurden – wenn sie denn abgeholt wurden. Das ein oder andere Mal kamen Leute vorbei, die mich mit Fragen löcherten, die ich nicht verstand und deshalb auch nicht beantworten konnte. Vielleicht waren sie auch nicht wirklich da, diese Leute, sondern entstammten bloß meiner Fantasie. Mein Blick war stets nach draußen gerichtet, stach durch die Gitterstäbe und versuchte ein Stück Freiheit zurückzugewinnen. Er wollte die wenigen Sonnenstrahlen aufsaugen und sie meiner jämmerlichen Gestalt als Geschenk anbieten, mir Kraft geben und Hoffnung. Wollte mich aufbauen, als wäre da noch irgendetwas in mir gewesen, das man hätte aufbauen können. Viele Tage vergingen, in denen ich in meinen eigenen Ausscheidungen hockte, zitternd, heulend, mit mir selbst redend. Der Entzug war heftig, die Schmerzen unerträglich und der Gestank von Kotze und Scheiße unzumutbar. Aber das war alles irgendwie in Ordnung. Wirklich zerrissen hat mich nur die Tatsache, dass sich meine Erlösung keine zehn Fuß von mir entfernt, am anderen Ende der Zelle befand. Aber mit der Zeit vergaß ich auch das. Und gerade, als ich kurz davor war an der Leere zu ersticken, die sich in dem Rest meiner ausgebrannten Seele breit gemacht hatte und mich hinab zog, in einen Abgrund, dessen Finsternis jedes noch so grelle Licht verschluckte, wurden mir die Fesseln abgenommen. Zwei kräftige Männer packten mich unter den Armen und trugen mich aus der Zelle. Sie schleppten mich eine ganze Weile durch die Gegend, Treppen runter und wieder rauf, als hätten sie nichts Besseres zu tun. Ich – noch immer mehr in der Traumwelt als in der Realität – fand mich schließlich nackt und sabbernd in einem Zuber wieder. Das Wasser war wohlig warm und ich fürchtete schon im Himmel zu sein – es fehlte bloß noch eine hübsche Dienerin, dir mir Obst reichte –, als der alte, faltige Mann das Bild verschandelte. Er streckte mir mit seinem verbliebenen Arm einen Schwamm entgegen,  und begrüßte mich mit den Worten: »Wasch dich!« Ich konnte kaum den Arm heben. Die letzten Tage hatten meine Kraft vollständig verbraucht. Deswegen fiel es mir auch so schwer, den Schwamm über meinen verdreckten Körper gleiten zu lassen. »Das dauert zu lange!«, fauchte Cip, entriss mir den Schwamm wieder und übernahm schließlich die Aufgabe, den Dreck von meiner Haut zu schrubben. Als er fertig war legte er mir ein Handtuch über die Schultern, warf mir frische Kleidung entgegen und meinte: »Zieh das an. Und beeil dich. Die Zeit ist knapp.« »Ok«, antwortete ich mit eingerosteter Stimme, doch Cip hatte schon den Raum verlassen. Nur noch die beiden Wachleute, die mich hergebracht hatten, waren noch da und sorgten dafür, dass ich nicht auf dumme Gedanken kam und versuchte zu fliehen. Mit schwachen Beinen stieg ich aus dem Zuber, trocknete mich ab und kleidete mich ein. Das Ganze schien eine Ewigkeit zu dauern, aber mehr war aus meinem geschundenen Körper nicht rauszuholen. »Mitkommen!«, befahl eine der Wachen: ein hochgewachsener Mann mit braunen, nach hinten gekämmten Haaren, ebenso braunen Augen und dem wohl mürrischsten Gesichtsausdruck, den ich je gesehen hatte. Der andere Wachmann schien etwas jünger zu sein. Er wirkte auch nicht so unfreundlich, sondern im Gegenteil eher nett. Auch bei ihm stimmten Augen- und Haarfarbe überein. Ich konnte nur nicht wirklich sagen, ob es jetzt eher orange oder mehr rot war. »Hörst du schlecht?«, brüllte der Mürrische und gab mir einen Klaps gegen den Hinterkopf. Wir gingen durch die Tür und betraten einen Gang, dem wir bis zum Ende folgten und dann in einen weiteren Raum einbogen. Die Wachen ließen mich eintreten, sie selbst blieben draußen stehen. Hier war es deutlich heller als im Zimmer mit dem Zuber. Kerzen beleuchteten den Holztisch, auf dessen Oberfläche sich Papier stapelte. Dahinter saß Cip, die Sachen betrachtend, die vor ihm ausgebreitet dalagen. Meine Sachen. Er nahm die Kette meines Bruders zur Hand und betrachtete sie ausgiebig. Sie war aus reinem Glas, umgeben von einem Gitter, um für Stabilität zu sorgen. Früher hatte sie geleuchtet, in rot und gelb, wie eine kleine Laterne. Aber ihr Licht war mit dem meinem erloschen. »Hübsch, dieses Ding«, bemerkte Cip. »Woher hast du es?« »Geschenkt bekommen.« Er sah mich bedeutungsvoll an und fragte: »Und seit wann hast du es? Ich habe es noch nie an dir gesehen.« »Ich habe die Kette…«, begann ich, brach aber mitten im Satz ab. »Im Prinzip ist das auch völlig einerlei.« Cip stand auf und legte mir die Kette in die Hand. »Schließlich gehört sie dir.« Verdutzt nahm ich sie an mich und legte sie dahin, wo sie hingehörte: Um meinen Hals. »Warum bin ich hier?«, erkundigte ich mich. »Nun, vermutlich, weil dein Tod durch Erhängen auf heute früh bei Sonnenaufgang angesetzt ist.« »Der Termin war schon vor etlichen Wochen. Was hat sich ergeben?« Ich selbst hatte es gar nicht gemerkt, aber Cip hob erstaunt die Augenbrauen. Anscheinend hatte sich meine Auffassungsgabe zu mir zurückgesellt. »Da meldet sich dein Ermittler-Hirn. Erstaunlich, was ein Entzug alles bewerkstelligt. Aber ja, du hast Recht, es hatte sich etwas ergeben. Und zwar habe ich in den letzten drei Wochen jeden erdenklichen Hebel in Bewegung gesetzt, um Beweise für deine Unschuld zu finden. Ich habe mehrere Male um eine Verschiebung des Termins gebeten und habe Tag und Nacht durchgearbeitet, nur um dir deinen Arsch zu retten. Leider hat da jemand verdammt gründlich gearbeitet.« Ich fuhr mir mit der Hand durch das frisch gewaschene und noch nasse Haar. »Warum solltest du mir helfen wollen?« Er ging um den Schreibtisch herum und trat an mich heran. Seine meerblauen Augen sahen betrübt in die meinen. »Ich kenne dich seit du ein kleiner Knirps bist. Ich weiß noch, wie du heulend auf der Straße standst, weil dein Vater den Bastard in seiner Familie loswerden wollte. Während er zurück nach Nordholm ritt, bliebst du hier. Du wusstest nicht einmal warum. Manchmal sehe ich noch heute dieses unschuldige Kind von damals in dir, dass … Ach … was rede ich?« Er seufzte und wandte den Blick ab. »Jedenfalls habe ich es nicht geschafft das Kollegium von deiner Unschuld zu überzeugen.« Ich kannte sie ja, unsere werten Kollegen. Es waren schon immer versteifte Trottel gewesen, die lieber den Geschichten verwirrter Leute glaubten, als handfesten Beweisen. Aber was sollte ich schon machen? Als Verdächtiger hatte man in Geek nicht das Recht, seine eigene Sichtweise vorzutragen. Und man konnte auch keinen Einspruch erheben oder um Gnade bitten. Einfluss hatte man nur, wenn man außerhalb stand. Und selbst dann war es schwer. Letztendlich konnte ich die Ermittler auch verstehen. Das Volk machte ihnen Druck und wollte jemanden möglichst schnell für die Tat hängen sehen. Da war es eigentlich egal, ob man tatsächlich den Täter hängte oder nur einen armen Idioten, der gerade auf die Rolle des Sündenbocks passte. »Du hast noch ein paar Stunden«, erklärte Cip, während er die Sachen auf dem Tisch – Mantel, Hut und Stiefel – zusammenpackte und mir übergab. Dann gab er den beiden Wachleuten Anweisung hier zu bleiben, während er mich zurück in die Zelle geleitete. Auf unserem Weg schwiegen wir. Für mich war es die Probe für meinen letzten Marsch und erst jetzt wurde mir die Endgültigkeit bewusst, mit der das Todesurteil wirken würde. Ich würde nie wieder auch nur einen Schritt machen, nie wieder reden, nie wieder schweigen, nie mehr denken, nie mehr fühlen und nie mehr leben. Aber wahrscheinlich hatte ich eh niemals wirklich gelebt. Die Gänge waren leer, genau wie die Zellen. In diesem Bereich des Kerkers wurden selten Gäste untergebracht. Die meisten verfrachtete man in die Ostseite, nicht in die Westhälfte. Cip öffnete die Zellentür und ich trat ein. Ich sah ihn durch die Gitterstäbe an, den alten, einarmigen Mann, dessen müdes Gesicht von Furchen übersät war. »Ich habe alles gegeben, Stix. Mehr als du verdient hast. Aber ich kann nichts mehr für dich tun. Ich bin nur ein seniler Greis, der auch nicht mehr alles so kann wie früher. Der auch mal etwas vergisst.« Ich sah ihn verdutzt an. Worauf wollte er hinaus? »Ich werde dich nicht zum Galgen begleiten können. Jedenfalls … komm gut auf die andere Seite.« Ich nickte sichtlich verwirrt. Thomas Cip wandte sich zum Gehen. Und mit jedem seiner Schritte umklammerte ich die Gitterstäbe fester. Dann war er fort. Und ich hatte es auch jetzt nicht geschafft mich bei ihm zu entschuldigen. Erschöpft lehnte ich mich gegen die Zellentür, die Gitter noch immer fest umklammert. Und plötzlich erklang ein leises Quietschen. Ein Ruck fuhr durch mich hindurch und ich stolperte geradewegs aus der Zelle heraus. Erst jetzt erkannte ich den Sinn in den Worten meines Partners. Er hatte absichtlich vergessen die Tür zu verriegeln und mir damit eine letzte Chance gegeben. Schnell zog ich die Stiefel an, schlüpfte in den Mantel und ließ den Hut auf meinem Haupt thronen. Ohne Zeit zu vergeuden nutzte ich die Vorteile der Nacht und machte mich aus dem Staub. Ich kannte dieses Gefängnis noch aus alten Tagen und hatte folglich kaum Probleme einen unbewachten und für mich sicheren Ausgang zu finden – gut, einmal wäre ich fast in den mürrischen Wachmann gelaufen, der seine Patrouille erstaunlich ernst nahm, konnte mich aber rechtzeitig seinem Blickfeld entziehen. Ansonsten verlief meine Flucht unproblematisch. Doch meine Gedanken ließen nicht locker. Warum zum Dunkel hatte Cip mich gehen lassen? Ich hatte den Galgen mehr als verdient – wenn schon nicht für den Mord an dem Mädchen, dann doch zumindest für das was ich meinem Partner angetan hatte. Ich stahl mich durch ein Fenster im Erdgeschoss und huschte durch die Schatten der Nacht. An einer kleinen Baumgruppe, die ausreichend Schutz bot, machte ich halt. Was sollte ich als nächstes tun? Fest stand, ich musste untertauchen, weg aus Geek, am besten raus aus dem ganzen Königreich Kathah. Mir irgendwo in einem kleinen Dorf ein neues Leben aufbauen. Weit weg von all dem, was mich hier erwartete. Für meine Reise musste ich mir also zunächst ein Pferd beschaffen – nein! Zuerst musste ich raus aus Geek, dann würde der Teil mit dem Pferd kommen. In dieser Stadt würde man als erstes nach mir suchen und deshalb musste ich so schnell es ging einen Weg hinter die Stadtmauern finden. Und solange es noch Dunkel war konnte ich mich relativ unbeschwerlich fortbewegen. Ich hielt mir die imaginäre Karte der Stadt vor Augen und beschloss, das Südtor Richtung Unterstadt zu nehmen, da die Stadtwache dort lieber bei Brettspielen ihr Geld verlor, als auf das Tor zu achten. Das Problem war nur, dass es am anderen Ende lag. Mir wurde bewusst, dass Freiheit immer Schwierigkeiten mit sich bringt. Denn dann ist niemand da, der dir die Entscheidungen abnehmen kann. Du musst selber denken, selber handeln. Und eigentlich war ich noch viel zu schwach um mein Denken auf etwas Bestimmtes zu fokussieren. Aber wie sagt man so schön: Was muss, das muss. Also nahm ich die knochigen Beine in die Hand und hastete mit schnellen unbeholfenen Schritten durch die Nacht. Dichter Nebel zog dickflüssig durch die Gassen. Ich versank bis zu den Knien in der undurchdringlichen Masse, die meine Füße vollständig verschluckte. Nach oben hin wurde es lichter, sodass die Sicht nur minimal eingeschränkt war. So konnte ich gerade noch rechtzeitig die nächtliche Patrouille erspähen, die die Straßen auf ungebetene Gäste überprüfte und im Gleichschritt durch die graue Nebelsuppe stapfte. Ohne zu überlegen legte ich mich flach auf den Boden, um in dem zähflüssigen Brei zu verschwinden. Ich sah nichts, konnte nur das Geräusch von harten Stiefeln auf ebenso hartem Stein hören, das eilig näher kam und ebenso eilig an mir vorüberzog. Sobald sie um die nächste Ecke bogen sprang ich auf und lief weiter die Gasse entlang, nur um sogleich mit einem etwas dickeren Wachmann zusammenzuprallen, der anscheinend nicht schnell genug für seine Gruppe war. Der ungepanzerte Bauch des Dicken warf mich mit voller Wucht zurück. Ich geriet ins Straucheln, fiel und kam mit krachender Wirbelsäule am Boden auf. Während ich vergeblich nach Luft rang, trat der Dicke vor mich und sah mit traurigen Augen auf mich herab. »Ist alles in Ordnung?«, erkundigte er sich, streckte mir die Hand entgegen und halft mir auf. Ich hustete schwer und nickte zur Antwort. Dabei drehte ich den Kopf so gut es ging zur Seite, um zu vermeiden, dass der Wachmann mich erkannte. Doch es war schon zu spät. Seine massigen Hände umschlossen mein Gesicht und er betrachtete mich skeptisch. »Bist du nicht dieser Grey? Ja, ich kenn dich, du hast dieses Kind ermordet und«, er stockte und ich las den Ausdruck von Erkenntnis in seinem Gesicht, »und du solltest im Kerker sitzen und auf deine Hinrichtung warten.« Der Mann, der aussah wie ein Käsekuchen, versuchte zornig und überlegen auf mich zu wirken, verwandelte sich dadurch aber eher in gutmütigen Quark. »Zum dunklen Pfad der toten, teuflischen Teemütter mit dir!«, wollte ich fluchen, aber das war mir zu lang und zu aufwändig, also beließ ich es bei einem schlichten »Mist!«, trat meinem Gegenüber fest zwischen die Beine und rannte davon, sobald seine Hände reaktionsbedingt von meinem Gesicht auf die gerade getroffene Stelle wechselten. Ich preschte durch den Nebel und versuchte den erstaunlich schnellen Dicken loszuwerden, der sich nun wutschnaubend an meine Fersen geheftet hatte. Noch dazu brüllte er unablässig nach seinen Kollegen. Und weil das Schicksal mich genauso hasste wie alle anderen, legte es mir etwas in den Weg – vermutlich eine Holzkiste – über das ich einfach stolpern musste. Mein Verfolger holte mich ein und war rechtzeitig da, um mich mit blankgezogenem Schwert am Aufstehen zu hindern. Jetzt hatte ich im wahrsten Sinne ein dickes Problem. »Im Namen der Stadtwache und des Königs Larhunn, Sohn des Jaesh, Herrscher über Kathah, nehme ich dich als Gefang…« Er hatte seinen Text Pflichtbewusst begonnen, geriet dann aber ins Stocken. Er sah mich verdutzt an, als hätte er vergessen wer ich war und was er hier machte. Dann öffnete er den Mund, wollte etwas sagen, doch statt Worten drang rotes Blut heraus. Er schwankte gefährlich, verdrehte die Augen und fiel in den ewigen Schlaf. Geschockt starrte ich auf den bleichen Assassinen, der noch mit bluttropfendem Dolch hinter dem Toten stand. Visköse Nebelwolken waberten um seine Beine herum, ließen die tödliche Gestalt unwirklich und falsch erscheinen. Er steckte den Dolch zurück an den Gürtel, nachdem er ihn an dem Lederwams des Dicken abgewischt hatte, strich sich durchs weiße Haar, grinste breit und entblößte dabei die spitzen Zähne. Leichtfüßig und lautlos trat er an mich heran. Das Grau in seinen Augen blitzte amüsiert auf, als ich instinktiv über den Boden kroch, um wieder Abstand zwischen uns zu bringen. Seine Hände schnellten vor, packten mich am Kragen und zogen meinen klapprigen Körper hoch. Jetzt würde ich sterben. Das war‘s. Das Schicksal wollte mich um jeden Preis loswerden und ich freundete mich allmählich mit dem Gedanken an. Doch genau in dem Moment, als ich mit meinem Leben endgültig abschloss, ließ er mich los. Der Mörder musterte mich, klopfte mir friedfertig auf die Schulter und meinte dann: »Wir sollten los, Grey. Es tagt bald und bis dahin solltest du aus der Stadt verschwunden sein.« Geschockt starrte ich auf den Dicken, der leblos in einer kleinen Blutlache lag, die Augen noch immer verdreht. Er war mit Sicherheit ein netter Kerl gewesen, das Herz am rechten Fleck. Der Meuchelmörder zuckte mit den Schultern und erklärte: »Keine Sorge, der ist mausetot. Vor dem brauchst du nicht mehr wegzulaufen, aber so wie der rumgebrüllt hat wimmelt es hier gleich von Wachen. Ich an deiner Stelle würde jetzt endlich von hier verschwinden. Ich hatte dich ja schon vor einigen Wochen gewarnt, aber irgendwie hast du das nicht ganz verstanden, oder? Na jedenfalls bist du ja beinah am Galgen …« Er erzählte noch mehr, viel mehr (außerdem hatte er inzwischen zum Du gewechselt). Er war sogar ein richtiges Plappermaul. Aber in diesem Moment war ich wirklich nicht in der Lage zuzuhören. Stattdessen stand ich da, entkräftet, verwirrt und geschockt, den Mund offen und den Blick starr auf den Leichnam gerichtet. Ich schaffte es nur mit größter Anstrengung ein »Wieso?« hervorzubringen. »Wieso was?« »Wieso hast du ihn umgebracht? Wieso bist du hier? Wieso willst du mir aus der Stadt helfen? Wieso-« »Ok, das reicht erst einmal mit Fragen«, stoppte er mich. »Im Schnelldurchlauf: Umgebracht habe ich ihn weil er geschrien hat wie am Spieß, falls dir das entgangen ist. Hier bin ich, um dir aus der Patsche zu helfen und aus der Stadt helfe ich dir, weil ich es kann. Und jetzt hör auf zu flennen und komm mit!« Ich schluckte schwer, riss mich von dem Toten los und folgte dem Bleichling, der in den Nebelschwaden zu verschwinden drohte. Gegen seine Schritte klangen meine wie der Schlag auf einen Amboss – und ich bewegte mich schon leise. Er huschte lautlos in den dichter werdenden Nebel hinein und ich musste mich anstrengen, ihn nicht aus den Augen zu verlieren. »Ich bin übrigens Vail«, stellte er sich vor. Da er vor mir ging streckte er mir die Hand zur Begrüßung über die Schulter entgegen und ich schüttelte sie kurz. Sie war eiskalt. Einmal mehr wurde ich davon überzeugt, dass mein seltsamer Begleiter Vampirblut in sich trug. Wundervoll, ein vampirischer Meuchelmörder… So jemanden hat man doch gern in seiner Nähe. »Wohin gehen wir?«, wollte ich wissen. Die Abneigung gegenüber dem Kerl war noch größer geworden und ich musste dumm sein, ihm einfach so zu folgen. Dem Assassinen, der mir erst vor ein paar Wochen gesagt hatte, dass er mich gerne töten würde. Aber andererseits: Hätte er mich tatsächlich töten wollen, dann wäre ich bereits tot. Er blieb vor einer kleinen Säule auf dem menschenleeren Marktplatz stehen und lehnte sich dagegen. »Na, raus aus der Stadt, Dummerchen. Hab ich doch gesagt. Wir nehmen«, er hielt inne, weil er alle Kraft brauchte, um die Säule ein paar Fingerbreiten weiter zu schieben, »einen geheimen Tunnel.« In diesem Moment gab es ein leises Klack und das Gebilde setzte von Selbst zurück, sodass ein kleiner Durchgang unter die Erde freigegeben wurde. Vail hüpfte auf und ab, wie ein Kind, und gestand lachend: »Wow, ich wusste nicht, dass der Tunnel noch aktiv ist. Da haben wir jetzt wirklich Glück gehabt. Ich habe zwar gehofft, dass er sich öffnen lässt, aber daran geglaubt habe ich nicht.« »Das heißt … du wusstest nicht, ob wir hier herauskommen?« »Was erwartest du von mir? Als ob ich alles wüsste.« Ich plusterte mich auf. Außenstehende hätten wahrscheinlich nur bemerkt, dass ich mich etwas größer machte, aber wichtig ist doch, was ich fühlte. »Und was, wenn dieser Eingang jetzt verschlossen gewesen wäre?«, fragte ich mit möglichst selbstsicherem Klang. Er zuckte mit den Schultern, sagte »Dann hätte ich nicht das machen können« und schubste mich die schmale Treppe hinab, die in den Untergrund führte. Ich stolperte über die unebenen Stufen, stürzte und kullerte den Rest hinunter. Mit ein paar geprellten Ellenbogen und Knien kam ich am Ende der Treppe an und fand mich in tiefschwarzer Dunkelheit wieder. Einzig das bisschen Licht des wolkenverhangenen Mondes fiel durch die Luke, die sich nun langsam schloss. Dann umgab mich Finsternis. Gerade als ich glaubte, der verfluchte Assassine habe mich hier unten eingesperrt, glomm ein blaues Licht an den Wänden auf. Es fand seinen Ursprung an Vails Händen, die er auf die Wände presste, und zog sich von dort aus in schmalen Streifen den ganzen Gang entlang, bis es irgendwo weit hinten in der Tiefe verschwand. »Es geht doch nichts über ein bisschen Zauberei, findest du nicht auch, Grey?« Ich schüttelte nur verzweifelt den Kopf. Der seltsame Herr war nicht nur Vampir und Meuchelmörder, sondern allem Anschein auch noch ein verdammter Magier. Aber dafür einer der angenehmeren Sorte. Die meisten Zauberkünstler waren pure Angeber, die nicht viel zustande brachten, aber gerne mit ihren kleinen Tricks im Mittelpunkt standen. Hauptsache viel Puff und Bamm und Pling. Ein normaler Magier hätte den Lichtzauber mit einem Feuerwerk, einer Handvoll wilder Tänze, drei brennenden Heuhaufen und einer fliegenden Katze unterstrichen. Der Bleichling mit seinem Dauergrinsen im Gesicht kam elegant die Treppe hinab gehüpft und zwängte sich an mir vorbei. Mit einem kurzen Wink bedeutete er mir ihm zu folgen.   Der Gang war schmal und lang und ich hatte das Gefühl, dass er niemals enden würde. Wir liefen jetzt schon seit mehreren Stunden durch diese Enge. Mein Gesicht war mit Spinnweben geschmückt und meine Stiefel durchnässt. Kurzzeitig mussten wir eine kleine Vertiefung passieren, in der sich schlammiges Wasser angesammelt hatte. Vail war einfach darüber hinweggesprungen, aber ich, ermüdet und kraftlos, hatte es nicht geschafft die Strecke zu überspringen und war auf der Hälfte in der stinkenden Brühe gelandet. Jetzt quietschten meine Stiefel bei jedem Schritt. Das alles stresste mich: Dieser ganze Wirbel, das tote Mädchen, die Tage im Kerker, der tote Wachmann, dieser Tunnel und Vails unaufhörliches Geplapper. Als der Damm bei ihm erst einmal gebrochen war, gab es kein Halten mehr und die Worte sprudelten ungebändigt aus ihm heraus. Er erzählte mir davon, dass er Regeln und Befehle hasste und sie grundsätzlich immer missachtete. Er meinte, solange man ihn um etwas bitte, sei alles in Ordnung und er würde diesen Bitten gerne nachkommen. Bekäme er aber einen Befehl, wie zum Beispiel »Töte Stix Grey«, so würde er alles daran setzten, diesem Befehl, so gut es ging, nicht nachzukommen. Deshalb half er mir. Nicht weil er mich mochte oder Mitleid mit mir hatte, sondern weil das Oberhaupt der Assassinengilde von ihm verlangt hatte, mein Lebenslicht auszuknipsen. Darum hatte er mich zunächst in dem Betrunkenen Kobold aufgesucht und auf höchst eigenartige Weise gewarnt. Aber da seine Warnung nicht die gewünschte Wirkung erzielten – er wollte, dass ich direkt aus der Stadt verschwand – und ich schließlich im Kerker saß, schmiedete er Pläne für meine Befreiung, die aber nicht mehr von Nöten war, weil ich vor einigen Stunden mit Cips Hilfe fliehen konnte. »Ich hatte dich die ganze Zeit im Auge, wollte aber eigentlich nicht aktiv in deine Flucht eingreifen, weil mir das irgendwie zu aufwändig war. Aber als dann dieser Mopps von Wachmann gedachte, dich geradewegs zurück in den Kerker zu geleiten, habe ich ihn daran gehindert. Und jetzt sind wir hier«, brachte er seine Geschichte zum Abschluss. Mir klingelten bereits die Ohren von seinem unaufhörlichen Gelaber. »Warum hast du ihn nicht einfach Ohnmächtig geschlagen oder betäubt? Hatte er den Tod verdient?« Vail blieb stehen, zog die Augenbrauen zusammen und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich kenne mich mit Töten aus, nicht mit Betäuben. Und jetzt stell dich bitte nicht als Verfechter der guten Sache dar, denn immerhin quäle ich meine Opfer nicht, so wie ihr Ermittler. Ich breche keine Knochen oder ziehe jemandem die Haut ab, um an Informationen zu gelangen. Gut, vielleicht töte ich Menschen und ja, vielleicht ist das falsch, aber du, mein Freund, du tötest Seelen.« »Das«, stammelte ich, »ist schon einige Jahre her! Ich arbeite nicht mehr als Ermittler.« »Aber diese Entscheidung lag ja wohl nicht bei dir.« Ich schwieg eine Weile, bevor ich feststellte: »Du hättest ihn trotzdem nicht töten müssen.« Ich für meinen Teil hatte in meinem ganzen Leben nur zwei Menschen aktiv getötet, wovon ein Mal ein Versehen war (mir war schlicht und ergreifend jemand ins Messer gelaufen). Wirklich getötet hatte ich nach meiner Rechnung also nur einen. Und der hatte es nicht anders verdient. »Müssen tue ich ohnehin nichts!«, konterte Vail, der soeben seinen Schritt aus unersichtlichen Gründen beschleunigte. Dann kehrte Stille ein. Das erste Mal seit unserem Aufbruch hielt der Assassine seinen Mund. Doch jetzt, wo es ruhig war und ich nur das Quietschen meiner nassen Stiefel hörte, keimte Unbehagen in mir auf. Ich hatte plötzlich das Gefühl, die kalten, blauglühenden Wände kämen näher. Der Gang schien sich immer weiter zu verengen, immer schmaler zu werden. Ich ging schneller. Doch je schneller ich ging, desto näher kamen sich die Wände. Mein Atem ging heftig, aber es kam mir vor, als würde kein Sauerstoff in meine Lungen dringen. Ich sog die Luft tief ein, und dennoch gelangte sie nicht in die Lungen. Als hätte jemand meinen Hals fest umschlossen und würde nun kräftig zudrücken. Meine Hände waren an die Wände gelegt und versuchten sie daran zu hindern mich zu zerquetschen. Doch die steinernen Bauten machten keine Anstalten, damit aufzuhören und bewegten sich stattdessen freudig weiter aufeinander zu. Ich fiel auf die Knie, rang nach Atem und versuchte gleichzeitig mein hämmerndes Herz zu beruhigen. Vail, der sich zu mir umgedreht hatte, schlug sich genervt die Hand vor den Kopf und murmelte: »Jetzt kriegt der auch noch Panik … Na toll!« Dann trollte er sich zu dem um sein Leben kämpfenden Häufchen Elend und sprach ihm seine ganze Aufmerksamkeit zu. Als er mich erreicht hatte, machte er kurzen Prozess, drückte mir die eisige Hand auf Mund und Nase und schnitt mir somit das letzte bisschen rettende Luft ab. Meine Fingernägel bohrten sich tief in Vails Arm, doch dieser schien es gar nicht zu bemerken. Stattdessen hob er fragend die Augenbrauen und schlug vor: »Wenn ich meine Hand wegnehme, dann atmest du am besten flach und gleichmäßig, verstanden? Du kannst natürlich auch hyperventilieren, aber besser wäre es, wenn du meinen Rat befolgen würdest.« Dann nahm er die Hand weg und ich füllte die Lungen mit Sauerstoff. Ich schöpfte das Lungenmaximalvolumen voll aus. Erst einmal, dann zweimal. Beim dritten Mal legte sich Schwärze vor meine Augen. Die Welt um mich herum versinkt im Nebel. Es ist dieselbe dickflüssige Suppe, durch die ich erst kürzlich flüchten musste. Und außer ihr gibt es nichts. Nur mich, der inmitten dieser weißen Leere steht, nicht wissend, wo er sich befindet. Ich gehe ein Stück, darauf hoffend, auf einen Anhaltspunkt zu stoßen. Auf etwas, das mir zeigt wo ich bin. Aber soweit mich meine Füße auch tragen, ich treffe weder auf Gemäuer, noch auf Bäume oder einen Fluss. Ich versuche das Weiß mit den Augen zu durchdringen, doch der Nebel denkt gar nicht daran, sich für mich zu lichten. Stattdessen scheint er sich nur noch mehr zusammenzuziehen, sich dicht an dicht zu kuscheln, wie weiße Kaninchen an kalten Wintertagen. Plötzlich vernehme ich ein Geräusch. Es ist leise, doch ich brauche nicht lange, um zu erkennen, dass es sich um Schritte handelt. Tapp, tapp. Ich schließe auf nackte Füße, die über rauen Boden huschen. Langsam. Aber sicher und gezielt. Der Gang der Person muss aufrecht und selbstbewusst sein. Kein Schlurfen, kein Humpeln, kein nervöses Tippeln. Tapp, tapp, tapp. Immer im Selben Rhythmus. Die Schritte kommen näher. Aufmerksam spitze ich die Ohren und nehme instinktiv eine Angriffsstellung ein. Ich drehe mich um die eigene Achse, darauf wartend, dass jeden Moment jemand aus dem Nebel tritt. Doch noch ist es ruhig. Tapp, tapp, tipp, tapp, tapp. Zu den ersten Schritten gesellen sich plötzlich zweite. Dann dritte und vierte. Es scheinen sich immer mehr Personen in meine Richtung zu bewegen. Es herrscht ein reges Getrappel. Unterschiedliche Füße und Gangarten vereinen sich, werden eins auf ihrem Weg zu mir. Und nun sehe ich die erste Gestalt aus dem Nebel schlüpfen. »Cip?«, frage ich erstaunt, als ich meinen Ex-Partner erkenne. Dieser hält sich den verbliebenen Arm an den Bauch und vermeidet somit, dass seine Eingeweide aus der riesigen Wunde fallen, die sich in einem langen Schnitt über den Bauch zieht. Er sieht erst an sich herunter, dann zu mir. »Rette mich«, flüstert er, sodass ich Schwierigkeiten habe, ihn bei dem Getrappel zu verstehen. Ich will zu ihm gehen, ihm helfen, tun, worum er gebeten hat und ihn retten, doch da hält mich etwas zurück. Eine kalte Hand legt sich mir auf die Schultern. Ich drehe mich um und sehe Vail, dem noch das Ende eines abgebrochenen Pfeils aus der Brust lugt. »Rette mich«, fleht auch er, während er auf die Knie sinkt. Von überall her strömen Menschen. Sie sammeln sich um mich herum und bitten mich, sie zu retten. Ich sehe die beiden Wachleute, die mir im Gefängnis begegnet waren und die jetzt nach meiner Hilfe verlangen. Ich sehe meinen Vater und meine Mutter und das kleine Mädchen – jetzt eine Frau – in das ich als Junge so unsterblich verliebt gewesen war. Ich sehe Weiber und Männer, Kinder und Jugendliche, Menschen, Elfen, Orks und Riesen, die im Chor zu singen scheinen. Fordernd, bittend, flehend, weinend. Es klingt, als würde die ganze Welt nach mir rufen. Nach mir, dem wahrscheinlich einzigen Menschen, der sie nicht retten kann. Ein ohrenbetäubender Knall ertönt und schlagartig verstummt die Menge. Zurück bleibt Stille, die nur von einem leisen tapp, tapp durchbrochen wird. Es ist dieselbe Person, die ich auch als erstes gehört habe. Der gleiche feste Gang. Aus dem Augenwinkel bemerke ich ebendiese Person, die sich aus der erstarrten Gruppe schält. Sie geht direkt auf mich zu und bleibt erst stehen, als nur noch drei Fuß Abstand zwischen uns bestehen – oder sollte ich besser sagen mir? Denn der Herr ist niemand anderes als ich selbst. Er hat meine grünen Augen, meine schmalen Lippen, meine Narbe am Auge, meine hohen Wangenknochen und meine pechschwarzen Bastardhaare. Er ist eine exakte Nachahmung meines ganzen verdammten Körpers. Mir bleibt der Mund offen stehen. Ich will etwas sagen, will erkennen, dass dies nur eine meiner Sinnestäuschungen ist. Aber der andere löst sich nicht in Luft auf. Stattdessen lächelt er mir abwertend entgegen. Dann schaut er fasziniert auf seine Hand, in der ein Messer liegt. Ich weiche zurück, alle Muskeln angespannt und zum Kampf bereit. Mein Zwilling klimpert traurig mit den Augen und macht einen Schmollmund. Dann fragt er in übertrieben weinerlichem Ton: »Du glaubst doch nicht, ich würde dir etwas antun?« »Ich weiß nicht, was ich glauben soll«, antworte ich ehrlich und entferne mich noch weiter, weil ich mir Angst mache. »Tzzz«, macht er und schüttelt ungläubig den Kopf. Ich stelle fest, dass in seiner Stimme ein dämonischer Unterton reift. »Du solltest nicht so schlecht von mir denken. Ich bin lediglich gekommen, um dir etwas zu sagen.« Ich sehe ihn fragend an. »Was willst du mir sagen?« Jetzt umfasst er das Messer mit beiden Händen und hält es mir drohend entgegen. »Rette mich!«, wispert er breit grinsend, dreht die Waffe, sodass die Spitze auf seine eigene Brust zeigt und sticht zu. Mir entgleiten die Gesichtszüge, als ich sehe, wie mein Spiegelbild sich selbst ermordet. Es geht alles so schnell, ich habe keine Chance zu reagieren. »Was zum H-«, beginne ich, kann den Satz aber nicht vollenden, weil statt Worten nur Gurgeln meinen Mund verlässt. Und dann ist da diese Wärme, die sich in meiner Brust sammelt. Die so wohlig in meiner Kehle brennt, wie ein harter Schnaps. Als ich mit den Fingern danach taste, treffen diese auf einen warmen Glibber. Eine organische Masse, aus der stetig Flüssigkeit suppt. Ich schiebe meine Finger tiefer hinein in das kleine Loch in meiner Brust, aus dem diese wundervolle Wärme kommt. Und es fühlt sich an, als würde man die Hand in den aufgeschnittenen Leib eines toten Tieres stecken. Mir wird schwindelig, also ziehe ich die Hand zurück. Ich schaue auf sie hinab, sehe das davon perlende Blut, das leise zu Boden tropft und das ewige Weiß besudelt. Dann halten mich meine Beide nicht mehr. Sie knicken einfach weg. Lassen mich neben die Blutstropfen fallen. Mein Spiegelbild, das nur ein paar Fuß von mir entfernt halb aufrecht sitzt, lächelt noch immer. Es zieht sich langsam das Messer aus der Brust. Ich keuche, weil ich es genau spüre. Die anfängliche Wärme weicht einer Eiseskälte, die mir die Beine hinaufkriecht, sich festbeißt und eine Decke aus Frost über mich legt. Mein Leben sickert aus mir heraus, formt sich rund in einer tiefdunklen Lache um meinen sterbenden Körper. Und das letzte, was ich sehe, ist das hämisch grinsende Gesicht meiner Selbst.   *** Ich schlug die Augen auf und erblickte nichts, als nackte Finsternis. Das genaue Gegenteil des alles verschlingenden Weißes, in das die Umgebung noch vor wenigen Augenblicken getaucht war. Mit dem schmutzigen Mantelärmel wischte ich mir den kalten Schweiß von der Stirn. Meine Brust hob und senkte sich, als hätte ich an einem Wettlauf teilgenommen. Ich hatte geträumt, das wusste ich. Und doch war mir dieser Traum so real, so grauenvoll echt vorgekommen, dass ich den Schmerz in der Brust noch immer spürte. Vorsichthalber tastete ich sie ab, fand aber keinerlei Verletzung. Dennoch saß mir der Schreck tief in den Knochen. Die gefräßige Dunkelheit hatte sich über alles Licht hergemacht, es spielerisch verschluckt, als sei es eine bunte Murmel, die Kinder sich so gerne in den Mund schieben. Die Tatsache, dass ich absolut nichts sehen konnte, half mir nicht gerade, mich zu beruhigen. Stattdessen schürte sie mein Unbehagen und brachte es zum Lodern, als ich ein Geräusch vernahm. War das gerade ein Knacken? Ich hielt die Luft an und lauschte in die Stille. Außer dem hämmernden Lärm meines Herzens konnte ich keinen Laut vernehmen. Vorsichtig setzte ich mich auf, peinlichst genau darauf achtend, lautlos zu handeln. Gewohnheitsmäßig suchte ich in der Manteltasche nach dem Traumpulver, um dieses Grauen besser ertragen zu können, wurde aber nur schmerzlich daran erinnert, dass ich es im Kerker vergessen hatte. Ich tastete über den Boden. Der Stein war kalt und glatt, aber trocken. Plötzlich glitten meine Finger über etwas Haariges, etwas, das sich zitternd bewegte. Blitzartig zog ich die Hand zurück und schloss sie stattdessen um die Kette, die zwar nicht den Rausch des Traumpulvers ersetzte, aber zumindest etwas Trost spendete. Was hatte mein Bruder früher immer gesagt, wenn wir darüber nachdachten, in den nachtschwarzen Zimmern alter Häuser eine Kerze zu entzünden? »Glaubst du, du willst sehen, was die Dunkelheit so krampfhaft versucht vor dir zu verbergen?« Wollte ich das? Schließlich lagen manche Dinge nicht ohne Grund versteckt im Dunkeln. Trotzdem hätte ich in meiner derzeitigen Lage eine Kerze entflammt und die Finsternis mit ihrem Licht vertrieben, ganz einfach aus dem Grund, dass mir die Ungewissheit weit mehr Angst einjagte als alles, was ich bei Helligkeit hätte erblicken können. Nur hatte ich keine Kerze. Und auch nichts, womit ich sie hätte anzünden können. Eigentlich hatte ich gar nichts, abgesehen von meiner Kleidung und einem rasenden Herzen, das sich um nichts in der Welt beruhigen wollte. Und natürlich der Kette, die mir hier aber so wenig nützte, wie eine Salatgurke im Kampf gegen eine Horde Riesen. Dennoch klammerte ich mich an sie, als sei sie der rettende Felsvorsprung, der mich vor dem endlosen Fall in die Tiefe schütze. Als sei sie der letzte Funken Wahrheit in einer Welt voller Lügen. Ich saß noch einige Augenblicke still und reglos da, mich an längst vergessene Zeiten zurückerinnernd, die so verschwommen und unklar waren, als hätte ich sie nur geträumt. Zeiten, die so unbeschwerlich und einmalig gewesen waren und die dich letzten Endes nur zu der Erkenntnis treiben, dass sie für immer verloren sind. Da waren diese Bilder von schönen Sommertagen, an denen ich als Kind am Fluss spielte. An denen ich versuchte, die Fische mit bloßen Händen zu fangen, was mir nur selten gelang. Die kleinen Biester waren einfach zu glitschig gewesen, als dass ich sie hätte festhalten können. Ich erinnerte mich an Momente, an denen die Sonnenstrahlen wohlig warm auf meine Haut trafen und an denen ich noch spüren konnte, wie sie mich mit neuer Kraft beschenkten. Tage, an denen ich das Leben gespürt hatte. Es waren die kleinen Dinge gewesen, die mich damals so glücklich gemacht hatten. Die kleinen Dinge, für die ich mit der Zeit den Blick verloren hatte. Schweren Herzens ließ ich die Vergangenheit ruhen und konzentrierte mich wieder auf meine derzeitige Lage, die mindestens genauso unvorteilhaft war, wie die dreißig anderen Schlamassel davor. Da mir nichts Besseres einfiel, krabbelte ich auf allen Vieren über den Boden, mit der Hand blind vor mir hertastend. Als erstes stieß ich auf eine Wand. Ich strich an ihrer aalglatten Fassade entlang und folgte ihr, wie dem roten Faden in einer Geschichte. Dabei huschte etwas über meinen Handrücken und hinterließ darauf eine dicke Schleimspur. Angewidert wischte ich diese am Mantel ab. Als nächstes stieß mein Tastorgan auf etwas großes Kaltes. Ich strich vorsichtig über die weiche und glatte Oberfläche, die mich ein wenig an Papier erinnerte. Wären da nicht die vielen Höhen und Tiefen gewesen, so hätte ich es tatsächlich für Papier gehalten. Aber so wusste ich sofort, dass es sich um ein Gesicht handelte, als ich mit den Fingern die beiden Augen und die Nase passierte. Ich erstarrte. »Vail?«, wisperte ich. Doch ich erhielt keine Antwort. Ich überlegte kurz, ob ich es darauf anlegen sollte, das Wesen vor mir zu wecken und womöglich herauszufinden, dass es sich nicht um den Assassinen handelte, oder ob ich mich klammheimlich davon machen und das Geschöpf schlafen lassen sollte. Ich war ein vorsichtiger Mensch, deshalb wählte ich die zweite Option. Leider war ich nicht nur vorsichtig, sondern auch tollpatschig. Und weil ich in der letzten Zeit ohnehin viel Pech hatte, wunderte es mich nicht, dass folgendes geschah: Ich fasste mit der rechten Hand, mit der ich mich beim Rückwärtskriechen abstützend wollte, in eine Schleimspur, die die Tiere in diesem Tunnel nur allzu gern hinterließen. Die Hand rutschte weg und ich krachte mit dem Rücken zu Boden. Dabei verlor ich die Kontrolle über meine Beine, die sich nun eifrig daran machten, dem Schlafenden einen deftigen Tritt in die Seite zu verpassen. Der Schlafende schlief nicht mehr. Das wusste ich spätestens, als zwei Hände aus der Dunkelheit schossen. Die eine schloss sich fest um meine Kehle. Giftgrüne Funken umspielten die andere, die der Angreifer auf den eigenen Oberarm presste. Das giftige Licht durchfuhr seinen Arm und erreichte dann seine Finger, die meinen Hals in einer tödlichen Umarmung umschlossen. Das Grün sprang auf mich über, trat in meine Adern und breitete sich vom Hals über meinen gesamten Leib aus. Es floss, begleitet mit stechenden Schmerzen, durch meine Brust, den Bauch, die Beine, hinab zu den Zehen und schließlich hinauf zu den weit aufgerissenen Augen. Mein Inneres brannte. Brannte aus. Verwandelte sich in einen Haufen Asche. Im hellgrünen Schein erkannte ich Vail, der diese vernichtende Magie durch meinen schreienden Körper jagte. Als unsere Blicke sich trafen, stoppte er seinen Zauber und überließ meine leergebrannte Hülle ihrem Zusammenbruch. Das Grün erlosch und um mich herum wurde es wieder schwarz. Schwärzer noch als jede mondlose Nacht.   Einige Augenblicke später war der Tunnel wieder in eisblaues Licht getaucht. Ich lag nicht am Boden, wie ich es vermutet hatte, sondern stand sogar relativ fest auf beiden Beinen. Ungläubig sah ich an mir herab, davon ausgehend, nur noch ein Häufchen Staub zu erblicken. Aber entgegen all meinen Erwartungen war ich unversehrt. »Alles in Ordnung?« Vail musterte mich besorgt, konnte aber, genau wie ich, keine äußeren Verletzungen erkennen. Verwirrt drehte ich mich im Kreis. Dabei entfuhr meiner Kehle ein hysterisches Lachen, das deutlich zeigte, wie kurz ich davor stand, das letzte bisschen Verstand zu verlieren. »Ich bin ok«, sagte ich, ging ein paar Schritte den Tunnel entlang und wiederholte es noch einmal. »Tut mir leid, wenn ich dir nicht glauben kann, Grey, aber dieser Zauber-« Ich unterbrach ihn, indem ich mich ruckartig umdrehte, ihn am Kragen packte und anschrie: »ICH FÜHLE MICH PRÄCHTIG!« Aber das war gelogen. Wenn mein Körper auch wiedererwartend unversehrt geblieben war, so war zumindest ein Teil meiner Seele zersplittert. Gevatter Tod lauerte hinter jeder Ecke auf mich und es war schwer, ihm jedes Mal aufs Neue entgegen zu treten. Ich wusste nicht, ob ich beim nächsten Zusammentreffen noch genug Kraft haben würde, um ihn erneut zu besiegen. Früher oder später würde er den Kampf gewinnen, da war ich mir sicher. Vail begegnete mir ruhig. Er legte mir eine Hand auf die Schulter und riet mir, mich zu setzen. Und als ich erst einmal saß, den Kopf an die glatte Wand gelehnt, da wanderte meine Hand in die Manteltasche und suchte nach dem Traumpulver, das mir so sehr fehlte. »Ich kann das nicht«, keuchte ich verzweifelt. »Dieser Tunnel führt direkt nach Fyr«, antwortete der Assassine, nicht weiter auf mein Selbstmitleid achtend. »Die Stadt ist klein, liegt im Norden des Königreichs und bietet Einlass für jedermann. Wir werden dort in drei Tagen eintreffen und fürs erste bist du dort sicher.« »Fürs erste!«, höhnte ich. »Und was dann?« Vail zuckte die Schultern und entgegnete: »Im Weglaufen bist du ziemlich gut.« Das bitterste an dieser Aussage war, dass sie wahr war. Mein ganzes Leben lief ich schon davon. Immer dann, wenn es schwierig wurde. Ich hatte noch nie den Mut gehabt, mich mit ernsthaften Problemen auseinander zu setzen. Und vermutlich würde sich daran auch nichts ändern. »In Fyr werden wir auf ein paar Freunde von mir stoßen. Gemeinsam finden wir schön eine Lösung.« Vail war zuversichtlich. Ich  nicht. Ich schloss die Augen und stellte mir vor, wie ich schlaff am Galgen hing. Und ich fragte mich, ob das nicht besser und vielleicht sogar einfacher wäre, als diese wirre Flucht, die mich womöglich auf ewig begleiten würde. Es war nur so: Ich liebte das Leben, mit all seinen Facetten, seinen Farben, seinen Schönheiten, seinen Tränen und seiner Heuchelei, mit all seiner Verzweiflung, seinen grausamen Wundern und seiner Angst. Mit den vielen schwarzen Tagen, seiner ganzen Lustlosigkeit, seinem Hass und seiner Zerrissenheit. Und vor allem liebte ich seine unerfüllten Wünsche und all die wunderschönen Träumen, die einem das Leben belustigt unter die Nase hält, weil es weiß, dass du sie nicht wahrmachen kannst. »In Ordnung«, willigte schließlich ein. » Gehen wir nach Fyr.« So erhob ich mich und wir gingen schweigend weiter. Vail schlenderte voraus, doch mir entgingen die besorgten Blicke nicht, mit denen er immer mal wieder zu mir zurücksah. Der Tunnel wurde immer schmaler. Und jedes Mal wenn ich dachte, wenn es noch schmaler wird, dann bleiben wir stecken, mussten wir uns durch einen noch engeren Abschnitt zwängen. Irgendwann war auch die Decke so niedrig, dass wir kriechen mussten. Und erst, als meine Knie aufgeschürft waren und meine Ellenbogen bluteten, wurde der Gang wieder breiter. Wir waren lange unterwegs. Insgesamt hatten wir fünf Pausen eingelegt (wenn ich richtig gezählt hatte) und zwei Mal geschlafen. Solange wir gingen fiel es mir nicht auf, aber sobald ich mich hinlegte und versuchte zu schlafen, da begann die Kälte, die hier unten herrschte, meine Knochen zu zerfressen. Wäre Vails Umhang nicht gewesen, von dem ich nicht weiß, wo er ihn mitgeführt hatte, denn gesehen hatte ich ihn bis dato nicht, dann wäre ich bitterlich erfroren. Ich hatte das Zeitgefühl völlig verloren, aber es kam mir vor, als steckten wir schon mehrere Wochen in diesem Gang. Zu essen hatten wir nur ein bisschen Pökelfleisch, das Vail irgendwo in den Tiefen seiner Beutel mit sich trug. Und allmählich wurde das Wasser knapp. Doch das schlimmste war, das dieser elende Tunnel kein Ende zu haben schien. Es war, als würden wir uns kein Stück fortbewegen. Das Plappermaul hatte die meiste Zeit über den Mund gehalten und sich zusammengerissen, doch spätestens jetzt konnte er nicht mehr an sich halten und meinte möglichst beiläufig: »Dieser Zauber von mir …« »Schmerzhaft!«, fasste ich diese Erfahrung in einem Wort zusammen und bat ihn, diesen nicht noch einmal an mir zu testen. »Nun ja, es ist nur so«, druckste er und verlangsamte seinen Gang (zu meinem Glück, denn ich war ziemlich aus der Puste), »ebendieser Zauber hätte dich töten müssen. Nicht, dass ich dich töten wollte, versteh das nicht falsch, aber diese Magie … die überlebt man normalerweise nicht.« Jetzt wurde ich hellhörig. »Es ist ein Angiffszauber, der jede noch so kleine Zelle deinerseits hätte töten müssen und-« »-und doch bin ich am Leben«, vollendete ich. Ich verstand nicht ganz, was hier vor sich ging. »Wie hat es sich angefühlt?«, wollte der Meuchelmörder wissen. Inzwischen ging ich dicht hinter ihm. »Es war …« Ich überlegte kurz. »Es war, als würde ich brennen«, kam ich dann zu dem einzig ehrlichen Ergebnis, denn nur dieses Feuer in mir war in meinem Gedächtnis geblieben. Vail nickte nachdenklich. Dann blieb er abrupt stehen, drehte sich zu mir um und fragte: »Wie konntest du überleben?« Ich zuckte die Achseln. »Du bist der Magieexperte, nicht ich! Eigentlich müsstest du mir das erklären können.« »Nun«, begann er zögerlich, »vielleicht kann ein Teil von dir Magie absorbieren? Der Zauber scheint dich zumindest nicht gänzlich getroffen zu haben, denn dann wären von dir nur noch ein paar Zähne übrig.« »Ein Teil von mir?«, fragte ich mit spöttischem Unterton. Er hob unwissend die Arme, drehte sich um und ging wieder ein paar Schritte voraus. »Es war nur eine Vermutung. Wahrscheinlich irre ich ohnehin.« Daraufhin schwiegen wir wieder. Doch die Stille wurde jäh von einem ohrenbetäubenden Knall durchtrennt, auf den ein langatmiges Zischen folgte. Ich warf Vail einen fragenden Blick zu. »Ich will dich nicht beunruhigen, Grey«, sagte dieser, »aber ich rate dir: Lauf!« Ohne zu zögern setzte ich meine klapprige Gestalt in Bewegung und versuchte mit dem agilen Meuchelmörder mitzuhalten, der mit einer wahnsinnigen Geschwindigkeit voranpreschte. Nach den ersten dreihundert Fuß setzten die Seitenstiche ein. Im Anschluss daran bildete sich Schweiß auf meiner Stirn, der einen riesen Spaß daran zu haben schien, mir in die Augen zu laufen und darin zu brennen wie verrückt. »Was … ist … das?«, keuchte ich so laut ich konnte, um das Krachen, das von weit hinter uns kam, zu übertönen. Nach jedem Wort musste ich eine kurze Atempause einlegen. Vail hatte damit keinerlei Schwierigkeiten. »Um es kurz zu sagen: Ich weiß es nicht. Aber es klingt gar nicht gut.« Diesen Eindruck hatte ich auch. Der Boden hatte zu beben begonnen und das Rauschen wurde stetig lauter. Das konnte nur bedeuten, dass das, was auch immer sich da auf uns zu bewegte, schnell näher kam. Und dann beging ich den dümmsten aller Fehler: Ich sah zurück. Ein dicker Kloß bildete sich in meinem Hals, als ich erkannte, was da auf uns zukam. Ich spürte die Hitze lange bevor ich das flammende Inferno sah, das sich durch die Enge presste. Es verwandelte alles Leben, das es wagte, sich in seinen Weg zu stellen skrupellos in Asche. Das Feuer war gefräßig. Es verschlang das blaue Licht an den Wänden und hüllte alles in seinen gefährlichen Schein. Dieser Anblick fesselte mich, ließ meine Füße mit dem Boden verschmelzen und machte es mir schwer, mich davon loszureißen und weiter zu laufen. Doch es gelang mir. Ich rannte mir die Seele aus dem Leib. Rannte, als gäbe es ein Entkommen aus dieser ausweglosen Situation. Rannte, obwohl ich wusste, dass ich nicht schnell genug sein würde. War dies die nächste Begegnung mit Gevatter Tod, an die ich erst vor kurzem noch gedacht hatte? Auch Vail hatte erkannt, dass wir nicht schnell genug sein würden. Er war stehen geblieben und starrte hinauf zur hohen Decke, gegen die er nun beide Hände erhob. Zunächst glühten seine Fingerkuppen schwach, doch dann schoss ein grellblauer Strahl nach Oben und bohrte innerhalb weniger Augenblicke ein Loch hinein. Erstes Tageslicht strömte durch einen kleinen Spalt, der sich zunehmend vergrößerte. »An meinem Gürtel sind zwei Beutel, siehst du die?«, fragte Vail, als ich neben ihm stehen blieb. Ich nickte heftig, bemerkte dann, dass er meine Reaktion nicht sah, weil er sich voll und ganz auf die Decke konzentrierte und bejahe. »In dem Oberen findest du vier silberne Plättchen. Die kannst du dir jeweils an Hände und Füße kleben und damit die die Wand hochklettern.« Gesagt getan. Ich durchwühlte hektisch den Beutelinhalt und fand, was ich suchte. Die Plättchen waren kreisrund und etwa haselnussgroß. Als ich sie auf die Hände legte, verwuchsen sie mit dem Fleisch und bildeten dann dünne, klebrige Fäden, die sich bis zu den Fingerkuppen erstreckten. Selbiges geschah auch mit den Stiefeln. Für das Ankleben hatte ich kaum mehr als die Dauer eines Wimpernschlags gebraucht. In Stresssituationen war ich noch immer am besten. Gerade setze ich zum Klettern an, da erreichte uns das Inferno. Seine Hitze war schier unerträglich. Trotz des Schildes, den Vail erschaffen hatte, konnte ich spüren, wie die Haare an meinen Armen verglühten. Ich nutze die Chance, die der Assassine mir bot und kletterte um mein Leben. Das Loch war nicht breit, aber meine ausgemergelte Gestalt passte mühelos hindurch. Schweißgebadet fand ich mich auf einer sonnenbeschienenen grünen Wiese wieder. Erleichtert ließ ich mich auf den samtenen Rasen fallen, der so weich war, dass ich mich am liebsten darin eingekuschelt hätte. Aber Vail war noch unter der Erde und kämpfte gegen die mordlustigen Flammen. Ein kurzer Blick durch das Loch genügte, um mir des Geschehens bewusst zu werden und zu reagieren. Ich entfernte die Plättchen von Handflächen und Füßen und warf sie zu dem Magier hinunter, der schon versuchte, die glatte Fassade ohne Hilfsmittel zu erklimmen. Der Schild flackerte bedrohlich unter der Marter des Feuerballs, hielt aber stand. Das ermöglichte Vail die rettende Zeit, die er brauchte, um sicher nach oben zu gelangen. Das letzte Stück zog ich ihn hinauf. Er setzte sich zu mir ins Gras und sah mich mit müden Augen an. Auch er konnte seine Anstrengung nun nicht mehr verbergen. Da war der Assassine doch glatt an seine Grenzen gestoßen. »Danke«, sagte er, als mit einem krachenden Geräusch der Schild zerbarst. Eine kleine Feuersäule schoss aus dem Loch empor und versengte die Grashalme im nahen Umfeld. Ausgelaugt legten wir uns auf den weichen Rasen, den Blick auf den wolkenlosen Himmel gerichtet und blieben eine Weile so liegen. Dann zogen wir weiter. Feiner Nieselregen prasselte auf das zierliche Mädchen, dessen geschundener Körper auf einem hölzernen Podest lag. Der Totengräber hatte ihr ein schönes Kleid angezogen, sie gewaschen und versucht, ihre Verstümmelungen mit Schminke und Stoff zu verdecken, allerdings ziemlich erfolglos. Die Verwesung war schon zu weit fortgeschritten, als dass irgendjemand sie hätte aufhalten, geschweigedenn rückgängig machen können. Durch eine spezielle Einbalsamierung war es zumindest möglich gewesen, das Mädchen ein paar Wochen so zu konservieren, dass ihr das Fleisch nicht direkt von den Knochen fiel. Und da es bei den meisten Kathahgern üblich war, Verstorbene erst Wochen später gen Himmel zu schicken, war diese Balsamierung auch dringend von Nöten. Die Trauergemeinde war ganz in weiß gekleidet, um in der Dunkelheit der Nacht einen Lichtschimmer darzustellen. Auch König Larhunn Kathah hatte sich in Schale geworfen und das Weiß angelegt. Heute hatte er sogar auf goldene Broschen und Schmuck verzichtet, was er für gewöhnlich nie tat. Aber der Anlass, zu dem sie sich versammelt hatten, bot keinen Platz für Prunk, sondern nur für natürliche Trauer. Des Königs braunes Haar war ungemacht und verschmolz beinah mit dem dichten Bart, der die hinabhängenden Mundwinkel verdeckte. Im ersten Moment hätte man glauben können, dass es Müdigkeit sei, die seine tiefliegenden Augen widerspiegelten, doch der verräterische kleine Funken, der ab und an aufblitze, verriet, dass es Wut war, die er spürte. Sir Yall hatte ein geschultes Auge für die Launen seines Königs, deshalb entging ihm dieses Funkeln nicht. Und er konnte seine Wut nachvollziehen. Wer sah schon gerne das eigene Fleisch und Blut zerfetzt auf einem Scheiterhaufen liegen, darauf wartend, in Flammen aufzugehen? Wäre es Yalls Tochter gewesen, die dieser Schandtat zum Opfer gefallen wäre, so hätte er sich den Mörder namens Stix Grey gepackt, ihn auf eine Folterbank gespannt und ihm nach und nach jedes Körperteil einzeln abgeschnitten. Er hätte ihn bluten lassen, diesen Bastard, hätte ihn wie ein Schwein aufgehängt und ihn langsam krepieren lassen. Doch der König war anders. Er hatte den Mörder nicht einmal in seiner Zelle besucht, sondern stattdessen den Ermittlungskerl hingeschickt, der noch dazu die Hinrichtung, die zu gnädig gewesen wäre für einen solchen Mann, so lange hinauszögerte, bis der Gefangene genug von seinem Kerker hatte und sich auf und davon machte. Yall war sich sicher: Ihm wäre das nicht passiert! Ihm wäre Grey nicht so einfach entwischt. Er dachte nach. Vielleicht waren des Königs Emotionen einfach verschoben? Als er seinen Erstgeborenen im Krieg verlor, sah man ihm erst Monate später an, dass ihn der Verlust schmerzte. Yall erinnerte sich noch gut daran, wie Larhunn sturzbetrunken und mit blutigen Fingerknöcheln zu Tisch kam. Wie er schrie und lachte und heulte. Wie er das Essen vom Tisch fegte als sei es ein Haufen Dreck, den es zu entfernen galt. Wie er sein Gold und seine teuren Gewänder aus dem Fenster warf, weil weder das eine noch das andere so viel wert war, wie der Sohn, der ihm genommen wurde. Bald würde der König auch um seine geliebte Tochter trauern können, das wusste Yall. Aber noch hielt Larhunn Kathah seine Gefühle versteckt, zwang sie in die Knie, wie seine Untertanen. Nur damit sie sich irgendwann mit Gewalt an die Spitze kämpfen würden. Sir Yall sah in den Himmel hinauf und stellte fest, dass die Sterne geflohen waren. Das machte die Nacht noch finsterer, als sie ohnehin schon war. Als er den Blick wieder senkte, erblickte er seinen Knappen, der ihm eine Fackel reichte. »Nicht für mich!«, fauchte Yall den Jungen an und deutete auf den Mann neben sich. »Gib sie dem König.« Der Knappe tat wie ihm geheißen. Mit einer quälend langsamen Bewegung nahm Larhunn die Fackel entgegen. Dann setzte er zielsicher einen Fuß vor den anderen. Die Menge hatte ein Spalier gebildet, durch das der König nun marschierte, die Fackel träge hinter sich herziehend. Die Menschen in weiß hielten die Köpfe gesenkt, sobald der König an ihnen vorüber ging. Er passierte den Feuerkorb, der kurz vor dem Scheiterhaufen stand und entzündete das Holz in seinen Händen. Dann hob er die Fackel gen sternenlosen Himmel und sprach leise, aber voller Würde: »Möge dich das Licht erreichen.« Sir Yall sah zu den anderen Kindern des Königs hinüber, die ihren Platz weiter hinten hatten. Sie standen in der Mitte zweier Wachmänner, die ihre Rüstungen zwar ebenfalls gegen den weißen Umhang getauscht hatten, ihre Dolche aber bei sich trugen. Im Falle des Falles sollten sie die Nachkommen Larhunns mit ihrem Leben verteidigen. Ein leicht unbehagliches Gefühl überkam ihn, denn er wusste die beiden Wachen nicht direkt einzuordnen. Deshalb beschloss er, im Anschluss der Zeremonie diese Wissenslücke zu füllen. Yall betrachtete die Kinder. Der Sohn namens Aschtan stand da wie ein echter Mann, keine Miene verziehend. Doch die beiden Töchter konnten ihre Tränen nicht halten. Und als Larhunn Kathah die Fackel an den Scheiterhaufen hielt und die  Flammen sich gierig ins Holz fraßen, da hörte Yall die Kinder schluchzen und weinen. Er wandte den Blick ab und richtete ihn auf den brennenden Scheiterhaufen. Das Feuer erreichte das tote Mädchen. Es umtanzte die Kleine erst, züngelte wild und freudig um ihren einst so makellosen Körper herum und spielte ein letztes Mal mit ihr. Dann verschlang es sie. Mit einem fauchenden Geräusch, das an einen gequälten Schrei erinnerte, schossen die Flammen in die Höhe. Goldgelbe Funken stoben hinauf zu den Göttern und übergaben ihnen die Seele des kleinen Mädchens. Der König sank auf die Knie und betete. Yall sprach ebenfalls ein kleines Gebet, sah sich dann aber wieder zu den Kindern um. In Zeiten wie diesen war es umso wichtiger, dass er wachsam war. Damit der König keinen weiteren Grund zur Trauer bekam. Als er zurücksah fiel ihm direkt eines auf: Die beiden Wachmänner waren nicht mehr an ihrem Posten. Er sah sich nach ihnen um, konnte sie jedoch nirgends erblicken. Sir Yall reagierte schnell. Er wandte sich an die Leibgarde des Königs, die sich hinter ihm postiert hatte und nur auf seine Befehle wartete: »Vier Männer zum König und drei zu seinen Kindern. Elfran und Ohns, ihr kommt mit mir. Seid wachsam!« Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, da teilte sich die Garde auf, wie Yall es verlangt hatte. Yall und seine beiden Männer gingen auf den Palast zu. »Du kennst die Wachen, die eben noch dort standen?«, fragte er Ohns, dessen größte Stärke sein unglaubliches Gedächtnis war, und deutete auf besagte Stelle. Ohns nickte und antwortete: »Zwei Ritter aus Neu-Onar. Sie wurden uns zugeteilt.« »Zugeteilt?« Yall war verblüfft, dass er als Kommandant der Königsgarde nichts davon wusste. »Von wem?« »Ich weiß es nicht, Sir. Soweit ich mich entsinne, haben sie zunächst im Verließ ihre Arbeit verrichtet. Für den heutigen Anlass kamen sie als Verstärkung.« »Und wieso weiß ich nichts davon?« Yall sah den stämmigen Ohns böse an, der nur unschuldig mit den Schultern zuckte. »Wo sind die Neuen hin?«, wollte Elfran wissen, der schnell erkannt hatte, warum Yall so aufgebracht war. Sir Yall stieß die schweren Türen zum Palast auf und sagte: »Vermutlich hier.« »Ihr meint, es seien Diebe, Sir?« Elfrans kritischer Blick sagte alles. »Was weiß ich?«, zischte Yall und sah sich um. »Zumindest stimmt da etwas nicht, sonst wären sie auf ihrem Posten. Die ganze Sache stinkt mir!« Für gewöhnlich wusste Yall über die Männer Bescheid, die seinem Befehl unterstanden – die meisten kannte er schon seit Kindertagen. Aber diese zwei waren ihm völlig fremd. Und es schmeckte ihm ganz und gar nicht, dass es zwei Fremde an ihm vorbei und so nah an die Königsfamilie geschafft hatten. Wären es Meuchelmörder gewesen, dann wäre der König jetzt bei den Göttern, genau wie seine kleine Tochter. Die Tatsache, dass Larhunn noch am Leben war zeigte, dass die Wachen entweder einer Magenverstimmung unterlagen und dringend scheißen mussten oder Diebe waren, was Yall für wahrscheinlicher hielt. Die drei Ritter standen in dem großen Saal des Palasts, an dessen Außenseiten je eine Treppe nach Oben führte. »Elfran! Du gehst hoch in die Arkaden. Ohns! Du gehst hinab zu den Küchen«, befahl der Ritter und zückte den Dolch, den er unter dem weißen Umhang trug. »Bringt mir die Nichtsnutze lebend! Ich will wissen, was es damit auf sich hat.« Dann ging jeder seinen Weg. Elfran übernahm das erste Obergeschoss, Ohns den Keller und das Erdgeschoss. Und Yall nahm die Treppen bis ganz nach Oben. Dort betrat er den weitläufigen Rittersaal, in dessen Mitte eine lange Tafel stand. Es war ebenjener Tisch, an dem der König sturzbetrunken um seinen Erstgeborenen getrauert hatte. Vielleicht würde er auch hier um seine Tochter weinen. Der Saal war mit Blumen versehen. Teure Stoffe hingen mitsamt Gemälden und Portraits der alten Könige an den Wänden. Doch abgesehen davon war er leer. Deshalb ging er durch die hinterste Tür und betrat den Flur, der ihn zu den Gemächern des Königs führte. Er betrat jede Kammer, fand die Blender aber nicht. Dann erreichte er das Schlafgemach. Er drückte leicht gegen die verzierte Holztür und hob erstaunt die Augenbrauen, als sich diese nicht öffnen ließ. Der Sicherheit des Königs wegen hatte man vor einiger Zeit einen massiven Riegel im Schlafgemach angebracht. Somit konnte Larhunn vor dem Schlafengehen seine Tür verschließen und hatte eine zusätzliche Sicherheit zu den Wachmännern, die für gewöhnlich die ganze Nacht über vor der Tür standen. Nur befand sich Lahrunn derzeit ganz sicher nicht da drin. Er legte das Ohr ans Holz und horchte auf das, was immer dort drinnen vor sich ging. Sein Atmen ging so ruhig und lautlos, dass er davon nicht abgelenkt wurde und genau mitbekam, wie jemand auf der anderen Seite der Tür seine Waffe zückte. Das war Grund genug für den Ritter, um zu handeln. Mit drei kräftigen Tritten sprengte er den offensichtlich nicht so massiven Türriegel auseinander. Die Tür flog auf und er hatte freie Sicht auf ein erschrockenes Gesicht, das von mattem Kerzenschein beleuchtet wurde. Der junge Mann mit seinem orangen Haar und dem Dolch in der Hand überlegte nicht lange. Er ließ die Waffe fallen und sprintete auf das offene Fenster zu, umklammerte ein daran befestigtes Seil und schwang sich in die Tiefe. Doch Yall hatte nicht die geringste Absicht diesen Langfinger entkommen zu lassen, zumal er sich noch nicht mit ihm unterhalten hatte. Deshalb machte er einen Hechtsprung nach vorn und durchtrennte mit einem Hieb das Seil. Dann richtete er sich wieder auf und sah durch das Fenster. Es ging einige Menschenlängen weit runter. Wenn er Glück hatte, dann war der Blender so stark verletzt, dass er nicht mehr laufen und folglich auch nicht mehr fliehen konnte. Von hier Oben konnte er nicht erkennen, ob dort unten jemand lag, weshalb er im Eiltempo die Treppen hinabsprintete, um sich das Ganze aus der Nähe anzusehen. Und er hatte Glück. Der orangehaarige Bengel, dem das Kind ins Gesicht geschrieben stand, hatte sich das linke Bein verdreht. Schwer atmend und mit Schmerz in den Augen blickte der Kleine zu Sir Yall, der auch ohne seine Rüstung einen bedrohlichen Eindruck machte. Der Ritter packte den Bengel am Kragen und zog ihn hoch. »Sprich! Was hattest du im Schlafgemach des Königs zu suchen?« Yalls fordernder Tonfall ließ den Kleinen erschaudern. Hilfesuchend krallte er sich an den Arm des Ritters, brachte jedoch kein Wort heraus. Yall war nicht zimperlich und wusste, wie man an Informationen kam. Er ließ den Blender auf den Hintern fallen und trat mit voller Wucht auf sein gebrochenes Bein. Doch anstelle des erwarteten lauten Schreies drang nur ein klägliches Fiepen aus seiner Kehle. Yall lächelte anerkennend. Damit hatte er nicht gerechnet. Er kniete sich zu ihm herunter und hielt ihm den Dolch an die Kehle. »Du kannst es mir entweder jetzt sagen, oder ich werde es in der Folterkammer höchstpersönlich aus der herausschneiden.« »Was soll ich Euch sagen, Sir?«, kam es nun unter Schmerzen von ihm. Der Ritter zuckte die Schultern. »Fangen wir damit an, wo dein Partner ist. Er ist doch dein Partner, oder? Also: Wo ist er?« Der Bengel sah Yall mit großen Kulleraugen an und flüsterte: »Na, direkt hinter Euch.« In diesem Moment, als Yall seinen Fehler erkannte, spürte er einen heftigen Schlag auf den Hinterkopf, der ihn von einem Moment zum anderen in den Schlaf schickte. Granti zog immer eine mürrische Schnute. Die Mundwinkel runter, Augenbrauen zusammen. Hinzu kamen die harten Gesichtszüge, die ihr übriges taten. Doch jetzt war er richtig angesäuert, was sich besonders durch die kleine Ader an seiner Stirn zeigte, die unaufhörlich pochte. Er hatte die Nase gestrichen voll! Genervt sah er auf den Ritter der Königsgarde hinab, den er soeben mit blanker Faust bewusstlos geschlagen hatte. Wäre dieser Trottel nicht gewesen, dann hätten sie ihre Arbeit ohne Probleme machen können. Aber nein! Man musste sich ja unbedingt in ihre Angelegenheiten einmischen. »Steh auf!«, knurrte Granti dem anderen Idioten entgegen, der zu allem Überfluss nicht nur sein Partner, sondern auch sein Zwillingsbruder war und der gerade versuchte sich gleichzeitig Hals und Bein zu halten. Der Ritter hatte, als er in sich zusammengefallen war, mit der Dolchscheide den Hals des dämlichen Rotschopfs gestreift. Das bisschen Blut brachte diesen völlig aus der Fassung, sodass er jetzt jammerte, wie ein kleines Kind. Deshalb rollte Granti genervt mit den Augen, zerriss den weißen Umhang des Ritters und legte seinem Bruder die Fetzen auf die Wunde. »Stehst du jetzt auf?«, drängelte er, weil er bemerkte, wie der Ritter allmählich zu sich kam. Sein Bruder schüttelte den Kopf und wischte sich eine Träne von der Wange. »Du bist so ein Schwachkopf, Mumpitz! Wenn du jammern willst, dann bleib doch das nächste Mal Zuhause in deinem Bettchen!« Er packte den Verletzten unter den Armen und warf ihn sich dann wie einen nassen Sack über die Schulter. Mit einem kurzen Blick sondierte er die Lage. Sie befanden sich zwischen im kleinen Hofgarten, genau wie sie es geplant hatten – wenn man bedachte, dass eigentlich nichts wie geplant verlaufen war. Kaum zehn Fuß vor ihnen stand die Tür. Sie war sonnengelb und anderthalb Mann hoch. Und sie befand sich mitten auf dem Rasen. Granti begriff bis heute nicht, warum diese nicht gerade dezente Tür niemandem auffiel. Sein Bruder beteuerte zwar immer, dass das Nutzen und Sehen der Türen nur bestimmten Personen vorbehalten war, aber so ganz wollte er sich mit dieser Erklärung nicht abfinden. »Wenn du nicht weißt, dass es sie gibt und du auch gar nicht danach suchst, dann bleiben sie unsichtbar für dich«, hatte Mumpitz einst gesagt und seither bekam Granti diese Worte nicht mehr aus dem Kopf. Sie ergaben einfach keinen Sinn. Wieso soll man etwas nicht sehen können, nur weil man noch nie davon gehört hat? Doch mit seinem Bruder darüber zu streiten war unsinnig. Dabei trafen nur zwei Sturköpfe aufeinander und es endete immer damit, dass Granti »Nein!« schrie und Mumpitz »Doch!« Der Griesgram schritt auf die gelbleuchtende Tür zu. Als er direkt davor stand tippte er seinen Bruder an und meinte: »Konzentrier dich, es geht los!« Dann atmeten beide tief ein und hielten die Luft an. Innerlich zählte Granti bis drei, schloss die Augen und öffnete die Tür mit der freien Hand.  Er stellte sich den Zielort vor, rekonstruierte das Bild, das ihm im Gedächtnis geblieben war und fokussierte all sein Denken darauf. Auch wenn er es schon mehrere hundert Mal gemacht hatte, so musste er sich doch jedes Mal aufs Neue überwinden, mit geschlossenen Augen durch die Tür zu gehen. Denn letztendlich konnte er überall landen. Eine winzige Ablenkung würde reichen, um ihn an einen völlig anderen Ort zu bringen. Er stellte sich manchmal vor, hindurch zu gehen und den Fuß ins Leere zu setzen. Und zu fallen. Aber nicht jetzt. Jetzt gehörte seine ganze Aufmerksamkeit dem Zielort. Er packte seinen Bruder fester, um ihn nicht zu verlieren und atmete aus. Dann trat er über die Schwelle.   *** Sir Yall, der gerade zu sich gekommen war, traute seinen Augen nicht. Verwundert starrte er auf die Stelle, an der eben noch die beiden Männer gestanden hatten. Er hatte bloß geblinzelt. Konnten zwei Menschen innerhalb eines Wimpernschlags verschwinden? Oder war er erneut in Ohnmacht gefallen und hatte den Moment des Verschwindens schlicht und einfach verschlafen? Der Ritter rieb sich die pochenden Schläfen. Der Schlag des Anderen hatte gesessen. Eines war klar: Er hatte gewusst, wo er treffen musste, um eine Bewusstlosigkeit zu erzielen. Yall rappelte sich auf. Noch immer tanzten ihm dunkle Wolken vor den Augen, die sich dann und wann verdichteten und wieder lichteten. Der weiße Umhang des Ritters war mit Schlamm bedeckt und zerrissen. Er fühlte sich wie ein Bettler, der nicht genug Scolt besaß, um sich vernünftig einzukleiden. Und er verabscheute dieses Gefühl zutiefst. Er sah zu Boden. Dort, wo der Rotschopf gelegen hatte, fanden sich nun vereinzelte Blutstropfen wider. Mit einem Blick auf seinen Dolch stellte er fest, dass er den Burschen erwischt haben musste, als der Andere ihm den entscheidenden Schlag versetzt hatte. Das änderte zwar nichts daran, dass sie ihm entwischt waren, aber nun trug der Bursche wenigstens Yalls Andenken bei sich. Das wiederum erheiterte ihn ein bisschen. »Alles in Ordnung, Sir? Seid Ihr verletzt, Sir?«, kam es plötzlich von direkt hinter ihm. Wäre Yall ein schreckhafter Mann gewesen, dann wäre er jetzt zusammengezuckt, als er den heißen Atem in seinem Nacken spürte und die dazugehörige tiefe Stimme Ohns vernahm. Wie um alles in der Welt hatte es der Hüne geschafft sich derart an ihn heranzupirschen? »Nimm deinen Schädel aus meinem Nacken!«, giftete Yall, dem Ohns deutlich zu nah gekommen war. »Alles in Ordnung, Sir?«, wiederholte Ohns, nachdem er einen Schritt zurückgetreten war. Yall dachte gar nicht daran, dem Hünen zu antworten und besah sich stattdessen noch einmal den Dolch und die Umgebung. »Die Achtzehn der Königsgarde werden sich aufteilen«, beschloss er und sah Ohns eindringlich an. »Diejenigen, die beim König, dem Prinzen und den Prinzessinnen sind, die bleiben dort. Der Rest durchkämmt jeden Winkel der Burg, verstanden?« Ohns sah den Kommandanten ungläubig und etwas dümmlich an. »Ich habe nicht die Befugnis, Befehle zu erteilen, Sir.« »Ich habe sie dir soeben erteilt!«, zischte Yall, der seinen Dolch am zerrissenen Umhang säuberte. »Anschließend wirst du dir Männer suchen, ganz egal woher. Nimm dir die Stadtwache oder sonst wen und tu was nötig ist, damit zuerst die Burg und dann ganz Geek abgeriegelt wird.« Das Schlimmste für Yall war die innerliche Blamage. Er fühlte sich zutiefst in seiner Ehre verletzt, weil es ihm nicht gelungen war, die beiden Blender in seine Gewalt zu bringen. Deshalb war sein Tonfall besonders fordernd, als er sagte: »Niemand kommt rein oder raus, bis wir gefunden haben, was wir suchen!« Er erinnerte sich an das letzte Mal, als er zu einem solchen Schritt gezwungen war. Es war noch nicht lange her, gerademal ein paar Tage. Und es war ebenfalls mitten in der Nacht gewesen: Der Tag an dem Stix Grey aus dem Verließ entkommen war. Und genau wie heute war er nicht sonderlich zuversichtlich, dass die Schließung der Tore den gewünschten Effekt erzielen würde. Aber das würde sich zeigen. Ohns tippelte unsicher mit den Füßen. Es wirkte ein bisschen so, als müsste er sich dringend erleichtern. Dann ergriff er etwas kleinlaut das Wort und meinte: »Ich will Euch nicht infrage stellen, Sir, aber es wird niemand von mir Befehle entgegennehmen. Ich kann meinen eigenen Zug befehligen, ja, und eventuell auch die Stadtwache, aber die anderen Ritter der Königsgarde werden mir keinerlei Beachtung schenken, Sir.« Yall ließ in seinem Kopf einige Flüche explodieren, musste aber zugeben, dass der Hüne Recht hatte. Und das ärgerte ihn noch mehr. Dennoch blieb er erstaunlich ruhig, als er antwortete: »Gut, dann werde ich die Burg abriegeln lassen und du kümmerst dich um die Stadt.« Ohns nickte und wollte sich schon abwenden, als Yall ihn zurückhielt. »Wenn du das erledigt hast, dann versuchst du herauszufinden, wer alles mit den Betrügern in Kontakt stand.« Wieder nickte Ohns und verschwand dann schnellen Schrittes in der Dunkelheit. Sir Yall blickte nach oben zu dem offenen Fenster, aus dem mattes Kerzenlicht schien. Was um alles in der Welt hatten die beiden Männer dort oben, im Schlafgemach des Königs gewollt? Er selbst wusste, dass es in dieser Kammer nichts Wertvolles zu holen gab, abgesehen von ein paar vergoldeten Broschen und prunkvoller Kleidung, die man aber in einem Adelshaus viel einfacher hätte ergattern können. Der Ritter kratzte sich am Hinterkopf. Das alles war ihm ein Rätsel. Ein Rätsel, das er noch lösen würde. Wir waren den ganzen Tag und die ganze Nacht hindurch unterwegs. Vail hatte uns keine Pause gönnen wollen. Immer hieß es »Es ist nicht mehr weit« und »Wir sind doch bald da.« Aber daraus wurde ein langer Marsch durch pralle Sonne am Tag, Nieselregen in der Nacht und heftigem Wind am frühen Morgen. Erst gegen Mittag, als die Sonne ihre ganze Kraft zu uns hinab schickte, erreichten wir Fyr. Die kleine Stadt lag auf freiem Feld, ringsherum Ackerland. Geschützt war ihr Inneres nur durch eine einfache Holzpalisade. Von weitem sahen wir schon die zwei Wachtürme, die knapp hinter der Palisade in die Höhe schossen und durch eine Brücke miteinander verbunden waren. Die Wachen saßen zu viert im linken Turm vor einem kniehohen Tisch und würfelten. Als wir näher kamen, erkannten wir, dass es sich um zwei Armbrust- und zwei Bogenschützen handelte. Es waren gelangweilte Burschen, die uns zwar schon längst entdeckt hatten, sich aber kaum die Mühe machten, die Köpfe zu heben und von ihren Würfeln aufzusehen. Erst als wir direkt vor dem verschlossenen Stadttor standen und hinaufriefen, stand einer von ihnen auf. »Verpisst euch, die Stadt ist voll!«, brüllte er kurz und setzte sich wieder hin. »Werte Herren…«, begann Vail. »Steck dir deine werten Herren in den Arsch und hau ab!« Von dem Turm drang Gelächter zu uns herunter. Der Assassine verschränkte die Arme vor der Brust und knirschte beleidigt mit den Zähnen. »Wir sind Reisende«, versuchte ich es und erntete ebenfalls einen blöden Spruch. Doch ich ließ nicht locker. »Wir benötigen Nahrung und Ausrüstung. Deshalb sind wir gewillt, unser Geld in die Kassen Fyrs zu legen.« Bei dem Wort »Geld« sprangen alle vier Männer auf und sahen uns mit gierigen Augen an. Die Meisten würden alles für ein paar Scolt tun und genau das kam uns gelegen. »Nun«, sprach ein Bogenschütze im Namen seiner Kumpanen. »Fyr ist leider überfüllt und wir sind nicht befugt, die Tore für irgendwen zu öffnen. Aber ich glaube in eurem Falle könnten wir darüber hinweg sehen.« »Sieh sie dir mal an! Als ob die Geld hätten!«, mischte sich ein besonders schlauer Schütze ein. Vail, der meinen Plan durchschaut hatte, knöpfte einen seiner Beutel vom Gürtel ab und empörte sich: »Ihr beleidigt uns, werter Herr. Für Euch gibt es keine Belohnung.« Schon erschallte schadenfrohes Lachen. »Aber euch anderen bin ich gewillt, etwas für eure Mühen zu geben, sofern wir Einlass erhalten.« Der Bogenschütze beugte sich weit über die Brüstung und taxierte den Beutel, in dem es freudig klimperte. Er war ein Mann um die Vierzig, der in seinem Leben vermutlich kaum etwas anderes gemacht hatte, als auf dem Turm zu würfeln. Sein Bauch war kugelrund und zeugte von übermäßigem Bierkonsum. »Wie viel ist euch der Einlass denn wert?«, stellte er eine erstaunlich intelligente Frage. »Wie viel verlangt Ihr?«, entgegnete ich. Ich war sicherlich kein geselliger Mensch. Eigentlich verbrachte ich meine kostbare Zeit viel lieber allein. Ich war nicht gut darin, mit anderen zu interagieren und zu kommunizieren. Aber eines hatte ich schon sehr früh gelernt: Wer Fragen stellt, kontrolliert das Gespräch. Und Kontrolle ist Macht. Der Bogenschütze verschwand aus unserem Blickfeld, um sich mit seinen Kumpanen zu beratschlagen. Es dauerte nicht lange, da ließ sich der Mann wieder blicken und offerierte sein Angebot: »Einhundert Scolt für jeden von uns.« »Fünfzig für jeden«, hielt Vail dagegen. »Siebzig!« »Fünfundzwanzig für Euch und die anderen beiden. Derjenige, der uns beleidigte erhält nichts.« Der Schütze spuckte verächtlich aus. »Willst du mich jetzt beleidigen? Hast du den Sinn von handeln nicht verstanden? Fünfundzwanzig ist viel zu wenig. Dafür würde ich euch nicht einmal bei den Schweinen schlafen lassen.« Vail schien das ganze köstlich zu amüsieren. Er hatte sichtlich Spaß daran, die Schützen zum Narren zu halten. Mich hingegen ermüdete es bloß. Der Assassine setzte zum nächsten verbalen Schlag an, während er den Beutel zurück an seinen Gürtel knöpfte. »Wir können Fyr auch umrunden und zum Nordtor gehen. Die Wachen dort freuen sich sicher über fünfundzwanzig Scolt.« Jetzt ragten gleich drei Köpfe über die Brüstung – der vierte Mann saß wahrscheinlich schmollend in der Ecke. Die Wachen hatten die Augen weit aufgerissen und die Münder zu einem erschrockenen »Das meinst du nicht ernst!« geöffnet. Der Bogenschütze hatte seine Augenbrauen so weit hochgezogen, dass seine Stirn in tiefen Falten lag. Wir verständigten uns kurz mit einem Blick darauf, die Wachmänner zappeln zu lassen, drehten uns gleichzeitig um und gingen ein paar Schritte an der Palisade entlang. »In Ordnung!«, schrie da der Bogenschütze, der sogleich einem seiner Kumpanen klarmachte, er solle das Tor öffnen. »Ich denke fünfundzwanzig Scolt sind angemessen.« Vail grinste noch einmal breit, bevor er sich wieder zu den Geldgeiern wandte. Derweilen öffnete sich das Holztor und heraus trat der Bogenschütze, der im Eiltempo vom Turm geklettert war und uns nun mit einem falschen Lächeln begrüßte. Seine Mimik hatte einen Hang zum Übertriebenen. Sein Lächeln zog sich über das ganze glattrasierte Gesicht, sodass es wirkte, als habe man ihm Angelharken in die Mundwinkel gesteckt und dann brutal an den Schnüren gezogen. Vail öffnete den Beutel und entnahm ihm die entsprechenden Münzen, die er nun dem Schützen in die Hand drückte. »Ich danke Euch für Eure Mühe, werter Herr. Wie heißt Ihr?« »Man nennt mich Hammel. Aber ich bin nicht adelig, also lassen wir doch die Höflichkeiten«, bot der gezähmte Bogenschütze an, dessen Lächeln erstaunlicher Weise noch breiter wurde. Er bedeutete uns mit einladender Handbewegung, dass wir in Fyr willkommen seien und fügte noch hinzu: »Wenn ihr etwas braucht, lasst es mich wissen.« Wir traten durch das Tor und befanden uns direkt im Gedränge. Sie hatten Recht gehabt, die Stadt war wirklich voll. Ich war kaum einige Augenblicke hier, da waren mir schon sechs verschiedene Leute auf die Füße getreten. Dem Siebten, der sich zielstrebig auf mich zubewegte und dem man schon von weitem ansehen konnte, dass er mir auf die Stiefel latschen würde, wich ich mit einem Sprung zur Seite aus, wobei ich zwei Frauen, die unglücklicher Weise hinter mir standen, anrempelte. Die Klatschweiber gerieten ins Taumeln und stießen gegen die nächsten und die wiederum gegen noch andere. Ich hatte mit meinem Ausweichmanöver eine Kettenreaktion ausgelöst, die sich jetzt vermutlich durch die ganze Stadt ziehen würde. Ich tat, als hätte ich nichts damit zu tun und sah mich stattdessen nach Vail um, den ich in den Massen verloren hatte. Ich stellte mich aufrecht hin und versuchte über die unzähligen Köpfe hinweg zu blicken und das charakteristische weiße Haar des Meuchelmörders ausfindig zu machen. Doch die Menge, die zu einem einzigen Fleischklumpen zusammengeschmolzen war, hatte kein Verständnis für meine Lage. Hinter mir schrien schon die ersten, ich solle endlich weiter gehen und nicht den Verkehr aufhalten. Ich ignorierte sie und betrachtete unbeirrt meine Umgebung. Die Häuser waren hoch gebaut, deutlich höher als die in Geek, und sie  machten einen eher plumpen und geometrischen Eindruck. Ein Kastenbau an dem anderen zogen sich die Gebilde durch die Straßen. Was die Baumeister an Höhe hinzugefügt hatten, hatten sie an breite gespart. Und besondere Kreativität hatten sie auch nicht gebraucht, um die Klötze zu errichten. Ihre mattgraue Farbe war so trüb und nichtssagend, dass man schon von vornherein kein Interesse daran hatte, hier eine Wohnung zu beziehen. Ich konnte einen Gemüsestand erblicken, an dem eine junge Frau ihre Ware feilbot, indem sie die Leute anschrie, sie sollten gefälligst stehen bleiben und sich ihr Sortiment genauer ansehen und nicht nur dämlich gucken. Und da entdeckte ich die schneeweißen Haare Vails, die ich gesucht hatte. Ich wollte mich gerade daran machen, mir einen Weg zu ihm zu bahnen, als ich plötzlich von hinten angeschoben wurde. Ein großer und ebenso dicker Oger hatte seine Plauze vorgeschoben und zwang mich dadurch, mich in den Fleischklumpen einzureihen und mit dem Strom zu schwimmen. Der Oger presste mich gegen meinen Vordermann und keilte mich damit zwischen ihnen ein, sodass ich gar keine Möglichkeit hatte, in irgendeine andere Richtung zu gehen. Mit dem Hintern an dem Bauch des Ogers und mit dem Kopf in den Schweißflecken meines Vordermanns wurde ich mitgerissen. Bei dem Stadtrundgang, an dem ich unweigerlich teilnehmen musste, konnte ich nichts als Füße sehen und nichts außer den Schweiß des Kerls riechen, an dessen verschwitztem Hemd ich klebte. Irgendwann erreichte die Menge einen großen Marktplatz, an dem sie sich spaltete und in verschiedene Richtungen weitergingen. Der Oger hatte beschlossen mich freizugeben und sich nach rechts zu wenden. Mein Schweißfreund war derweil nach links verschwunden. Ich ließ den Blick schweifen und musste mir eingestehen, dass ich keine Ahnung hatte wo ich war und wie ich wieder zum Ausgangspunkt zurückkam. Mit sieben Jahren war ich nach Geek gekommen und hatte es seither nicht mehr verlassen. Ich kannte jeden Winkel und jede Gasse von Geek, jeden noch so kleinen Gang. Aber hier, in diesem Fyr, war ich verloren. Hier in dieser Fremde, in der Stadt die ich noch nie zuvor betreten hatte. Zum Henker, ich konnte mich nicht einmal mehr daran erinnern, wie man sich anhand der Sonne orientiert, wo Osten und wo Westen liegen. Ich war aufgeschmissen! Meine Hände begannen zu zittern. Das Getümmel auf dem Marktplatz behagte mir nicht. Mit Gesellschaft konnte ich noch nie viel anfangen. Ich wusste nie recht, was ich sagen sollte und was ich besser verschwieg. Manche mögen diese Taktlosigkeit meinerseits als das Produkt mangelnder Erziehung oder zu wenig Übung sehen, aber in Wahrheit handelte es sich dabei um reines Desinteresse. Die groben Höflichkeiten kannte ich zwar und ich war durchaus in der Lage, ein hochwertiges Gespräch zu führen, aber tiefgreifende Unterhaltungen, wie sie unter Freunden üblich sind, waren für mich schon immer ein unangenehmes Rätsel, das ich gar nicht erst lösen wollte. Was war daran reizvoll, irgendjemandem sein Herz auszuschütten und all seine wertvollen Geheimnisse preiszugeben? Im Allgemeinen empfand ich jedwede Art von Konversation als Zeitverschwendung. Nichts weiter als aneinandergereihte leere Phrasen. Den schnackenden Weibern und den dummschwätzenden Männern auf dem Marktplatz hätte ich nur zu gern das Maul gestopft. Ich hatte das Bedürfnis, einen nach dem andren zu packen und ihnen Pferdescheiße in den Hals zu schieben. Sie sollten ersticken an dem Mist, den sie tagtäglich von sich gaben! Die Mengen, die wie Flüsse zu fließen schienen, verursachten einen Schwindel bei mir, den ich versuchte loszuwerden, indem ich mich an die Ecke zweier Häuser zurückzog, mich dort hinsetzte und mit dem Rücken an die Wand lehnte. Was war ich nur für ein Jammerlappen geworden? Früher wäre ich nicht so schnell in meinem Elend und dem Selbstmitleid ertrunken. Ich vergrub das Gesicht in meinen trockenen Händen, die meine Wangen wie Schmirgelpapier aufschürften, und versuchte mir einen Plan zurechtzulegen, wie es für mich weiter gehen sollte, jetzt, wo ich auch noch Vail im Gedränge verloren hatte. Ich sah wieder auf und wollte es noch einmal damit probieren, mich zu orientieren. Die grellgelbe Sonne stach mir schmerzhaft in die Augen, als hätte sie die feste Absicht, mich erblinden zu lassen. Nun wirkte die lebendige Masse auf dem Platz eher wie eine Fuhre Heiliger, die sich im Lichte Asnemons, dem Gott der Strahlen, sonnten. Mein Blick hing auf den Erleuchteten, von deren Gepflogenheiten ich so wenig verstand. Plötzlich bildete sich eine kleine Gasse, nicht von den Leuten beabsichtigt, sondern entstanden aus reinem Zufall. Eine Lücke zwischen den Personen, die es mir erlaubte, bis zum anderen Ende des Platzes zu schauen. Sie blieb nur einen winzigen Augenblick, kaum länger als man für einen flachen Atemzug braucht, doch diese Zeit reichte, um mir einen Schauer über den Rücken zu jagen. Denn mein Blick traf auf zwei Männer, die ich sogar auf diese Entfernung und in der kurzen Dauer des Moments auf Anhieb erkannte. Den mürrischen Gesichtsausdruck des Ersten und das kindliche Lächeln des Zweiten würde ich wohl nie vergessen. Die Zeit schien in der Schwebe zu hängen und dehnte den Moment ins Unendliche. Ich starrte sie mit offenem Mund an. Mein Blick traf den des Mürrischen, der mir soeben den Kopf zugewandt hatte und mir nun direkt in die Augen sah. Und gerade, als dieser einen Ausdruck des Erkennens offenbarte, schoben sich hunderte von Beinen vor das Bild. Er hatte mich gesehen! Dieser verdammte Miesepeter hatte mich gesehen! Mit der Rechten klappte ich meinen offenstehenden Mund zu und mit der Linken wuchtete ich mich hoch. Zeit zu verschwinden! Ich quetschte mich durch die Leute und bog in eine schmale Gasse ein. Wie hatten es der Mürrische und das Kind nur so schnell von Geek nach Fyr geschafft? Und vor allem: Was wollten sie hier? Waren sie womöglich wegen mir hier? Völlig egal, dachte ich. Wenn die mich erwischen, dann geht diese Sache gewiss in eine Richtung, die mir nicht gefällt. Ich konnte nur hoffen, dass die Menge sie lange genug aufhalten würde, bis ich mich aus dem Staub gemacht hatte. Als ich um die nächste Ecke stolperte, fand ich mich auf einer breiten Straße wieder, die scheinbar die Huren für sich allein beanspruchten. In weichen Kleidern, in mehreren Schichten geschminkt und gepudert, glucksend und kichernd standen die Weiber an ihren jeweiligen Freudenhäusern und umgarnten jedes männliche Wesen, dass sich hierher verirrt hatte. Ich wollte gerade umkehren, da hatten mich schon drei junge Dinger bei den Armen gepackt und zerrten mich mit sich. Die letzten Muskeln aufs Zerreißen angespannt, riss ich mich los. Dies jedoch interpretierten die Mädels falsch und deuteten meine Reaktion nicht als Ablehnung, sondern viel mehr als Einladung, ihre Hände in meine Hose zu stecken. »Seht nur, wie es ihm gefällt«, meinte eines der Mädchen, dass meine Tochter hätte sein können. Unter der dicken Schminkschicht konnte man die Züge wahrer Schönheit erkennen, die nur wenigen Menschen vorbehalten war. Die Kleine zwinkerte kokett mit ihren dunklen Augen und drückte mir einen sanften Kuss auf die Lippen, während sie ihre Hand immer tiefer gleiten ließ. »Das reicht«, hauchte ich mit zitternder Stimme, doch meine Worte zeigten keine Wirkung. Die beiden anderen Mädchen streichelten mir Nacken und Brust und flüsterten mir ins Ohr, ich sollte mit ins Haus kommen. Derweilen küsste mich die Kleine hingebungsvoll. Und gerade, als ihre Hände im Begriff waren, meinen Penis zu berühren, rutschte mir die Hand aus. Meine Faust schnellte auf ihre zarte Nase, die der Wucht nicht standhalten konnte und mit lautem Knacken brach. Die Kleine fiel zu Boden, hielt sich die blutende Stubsnase und kreischte. Ich kniete mich zu ihr, wollte mich für meinen Ausrutscher entschuldigen, doch ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Also tätschelte ich nur unbeholfen ihre Hand. Damit betrachtete ich meinen Teil der Arbeit als erledigt und rannte in die entgegengesetzte Richtung, verfolgt von den wütenden Rufen der anderen Huren. Ich passierte eine Straße, in der sich der Clan der Barbiere niedergelassen hatte und dachte kurz darüber nach, mir den außer Kontrolle geratenen Bart stutzen zu lassen, entschied mich aber angesichts meiner Lage dagegen und hastete weiter. Genau in dem Moment, als ich an einer Gruppe Azzurer vorbei kam, die mit ihren blutroten, langen Haaren spielten, wie Kinder mit Puppen, und sich in ihrer eigenen harten Sprache darüber austauschten, wie sie ihr Haar als nächstes frisieren lassen sollten, schossen zwei Hände aus einer Tür heraus, packten mich am Kragen und zogen mich ins Haus. Ehe ich wusste, wie mir geschah, baute sich schon der Mürrische vor mir auf. Sein kindliches Mitbringsel, dessen eines Bein ekelhaft verdreht war, schloss derweilen die Tür. Ich sah mich um, ohne den Kopf zu drehen. Wir befanden uns scheinbar in dem Flur eines der Hochhäuser. Der Kastenbau sah von innen noch weniger einladend aus, als von außen. Keine Fenster, nur ein paar matschige Kerzen und eine Fackel, die den Flur in warmes, stinkendes Licht tauchten. Der Boden war mit Sand oder gewöhnlichem Dreck ausgelegt, der sich den Leuten, die hier lebten, an die Stiefelsolen heftete und sich dann Stück für Stück auf der morschen Holztreppe ausbreitete. Das war eigentlich auch schon alles, was es zu sehen gab. »Nett habt ihr es hier«, versuchte ich ein lockeres Gespräch einzuleiten. Doch der Miesepeter hatte keinen Sinn für Humor – oh, welch Wunder! Stattdessen zückte er seinen Dolch und hielt ihn mir drohend an die Kehle. »He! Was soll denn das?«, mischte sich der Kleine ein, der nun zu uns gehumpelt kam. »Du sagtest doch, wir würden mit ihm reden.« Die Miene des Mürrischen wandelte sich etwas. Er verdrehte genervt die Augen und biss sich leicht auf die Unterlippe. »Wir sind einen ganzen Haufen Ärger los, wenn ich ihn jetzt erledige!«, fauchte er. »Dann laden wir seine Leiche irgendwo in der Weißen Wüste ab, schicken ein paar Hinweisbriefe nach Kathah und dann sind wir aus dem Schneider.« Seinen südländischen Akzent hielt er gut verborgen, doch bei dem Wort »Schneider« offenbarte sich seine Herkunft, denn es klang vielmehr wie »Schnädder«. Der Kleine verschränkte störrisch die Arme vor der Brust und erwiderte: »Wenn du ihn tötest, dann bist du nicht besser als die Meuchelmörder, die du so sehr verabscheust!« »Meuchelmörder töten für Geld, du Trottel! Geht das nicht in dein Erbsenhirn rein?« Der Mürrische nahm den Blick von mir, um seinem Kumpanen seine Verachtung in vollem Maße zum Ausdruck zu bringen. Während die zwei noch stritten, nutzte ich die Gunst des Augenblicks und versuchte mich davonzustehlen. Ich war nicht weit gekommen, da unterbrachen die beiden ihre Zankerei, um ihre Blicke auf mich zu werfen und gleichzeitig »Hier geblieben!« zu rufen. Wie einig sie sich plötzlich waren. »Versuch nie wieder, mich zu verarschen, Bürschchen!« Der Mürrische hauchte mir seinen muffigen Atem entgegen, packte mich am Kragen und schleuderte mich mit dem Rücken an die Wand. »Weißt du, Grey«, begann nun der Rotschopf zurückhaltend. »Wenn du uns versprichst weit weg zu gehen und nie wieder nach Fyr zurückzukommen, dann lassen wir dich gehen.« Der Mürrische rastete nun vollkommen aus. »Was zur Hölle ist bei deiner Geburt falsch gelaufen, Mumpitz?« »Nichts, glaube ich.« »Und welche Entschuldigung hast du dann für deine Dummheit?« Der Kindliche namens Mumpitz antwortete nicht. »Sag du es mir, Grey: Womit habe ich es verdient mit so einem Trottel verwandt zu sein?« Der Mürrische zeigte auf den Rotschopf. Ich zuckte mir den Schultern. »Vielleicht will Ophostheus dich strafen, weil du ein Dieb bist?« »Woher-?« »-ich weiß, dass ihr beiden Diebe seid?«, vollendete ich. Soeben hatte ich das Ruder des Gesprächs übernommen. Ich deutete auf die Kleidung der Beiden, während ich mich beiläufig aus dem Griff des Mürrischen wandte. »Ich gebe zu, ihr habt die Rolle der Wachen in Kathah sehr gut gespielt, aber wenn ich euch zwei jetzt hier sehe, in dieser … Kluft, dann brauche ich bloß noch eins und eins zusammenzählen.« »Was stimmt mit unserer Kleidung nicht?«, fragte Mumpitz. Mir entfuhr ein Lachen. »Jungs, guckt euch doch mal an: Dunkle Stoffe, jede Menge Innentaschen, Kapuze, Dolche und Dietriche am Gürtel, und da«, mein Finger ruhte auf dem Gürtel des Mürrischen, »ist sogar ein Enterharken.« Zwei verblüffte Gesichter starrten mir entgegen. Für einen Moment waren die beiden so erschrocken darüber, dass ihr Beruf so offensichtlich war, dass sie erstarrten. Doch nachdem sie den Schreck überwunden hatten – der Miesepeter schaffte es schneller als das Kind – glitt erneut der Dolch an meine Kehle. Ich hob ergeben die Arme und sagte: »Wir wiederholen uns, Freunde.« Der Mürrische starrte mir durchdringend und wutschnaubend in die Augen. »Ist es wirklich so offensichtlich, dass wir Diebe sind, Granti?« »Halt deine Schnauze, Mumpitz!« »Granti, hm?«, lachte ich. Inzwischen war mir klar, dass es sich bei den beiden um Brüder handelte. Und ihre Namen waren wie für sie gemacht: Mumpitz, der offenkundig etwas schlicht war und durchweg dösige Antworten gab und Granti, der Miesepeter, der schon mit Missmut und Pessimismus zur Welt gekommen sein musste. »Was tust du hier, Grey?«, wollte Granti wissen. »Ich habe gehört du bist aus dem Kerker entkommen.« »Offensichtlich.«, sagte ich. »Alleine hättest du das nie geschafft. Du konntest nicht mal richtig laufen, so schwach warst du.« »Tatsächlich?« »Ja, verdammt!«, brüllte er. »Halt mich nicht zum Narren!« »Das würde ich mir nie erlauben«, gestand ich unaufrichtig. Da Granti mich um einen ganzen Kopf überragte, konnte er mich problemlos am Haarschopf packen. Er zog kräftig daran, sodass ich den Kopf in den Nacken legen musste und mein Hals frei lag. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und zwei Ogerinnen traten ein. »Assassine!«, schrie die dickere von beiden, als sie den Dolch an meinem Hals erspähte. Mumpitz lächelte höflich und winkte ab: »Nein, nein. Wir sind keine Assassinen. Wir sind Diebe.« Daraufhin schrie die zweite Ogerdame: »Einbrecher! Zu Hilfe!« Sie war zur Tür hinausgelaufen und schrie nun die ganze Stadt in Grund und Boden. Granti entfuhr ein Wutschrei. Mit Verachtung in den Augen trampelte er zielstrebig auf die verbliebene Ogerin zu, die erstarrt dastand. »Raus hier!«, schnauzte er und trat der Frau so gewaltig in den Bauch, dass diese rücklings zur Tür hinausflog. Ich überlegte nicht lange und sprintete die Treppe nach Oben, die morsch unter meinen Füßen knarrte. »Du Trottel hast die Tür nicht verriegelt!«, hörte ich Granti unten rufen, worauf ein lautes Klatschen und ein Aufschrei des Kleinen folgten. Als ich die Treppe zur Hälfte erklommen hatte, hefteten sich die Diebe an meine Fersen. Aber da Mumpitz eine Behinderung für seinen Bruder war, weil er mit seinem verkrüppelten Bein nicht schnell genug hinterherkam, hatte ich einen guten Vorsprung. Ich rannte weiter nach Oben, übersprang mehrere Stufen gleichzeitig und erreichte schließlich das Ende der Treppe – und somit auch das Ende meines erbärmlichen Fluchtversuchs. Denn nachdem ich die Dachluke über mir entriegelt hatte stellte ich fest, dass ich mich logischer Weise auf dem Dach des Gebäudes befand. Frischer Wind blies mir durchs Gesicht und der strahlendblaue Himmel blendete mich. Und ringsherum waren nur graue Dächer, die, zu meinem Unglück, nicht einmal nah genug beieinander standen, als dass ich von einem zum anderen hätte springen können. Also tat ich das einzige, was mir in dieser Situation einfiel: Ich warf die Dachluke zu und stellte mich drauf. Es dauerte nicht lange, da wurde von unten dagegen gehämmert. »Mach die verdammte Luke auf, Grey!«, fauchte Granti, der gleich darauf mit Nachdruck dagegen drückte, sodass sie einen Spalt aufging. Ich sah eine Hand, die sich tastend durch die entstandene Lücke zwängte. Doch ich dachte nicht daran, die Hand weiter tasten zu lassen und trat deshalb mit der Hacke auf die dünnen Finger. »Seht gefälligst zu, wo ihr bleibt!«, schrie ich den Dieben zu und nur um meine Worte zu unterstreichen sprang ich noch einmal mit voller Wucht auf die Luke, sodass sie sich mit einem Knall schloss. Da die beiden wenig Spielraum hatten, um ihre ganze Körperkraft anzuwenden, hatten sie keine Chance die Luke zu öffnen, während ich darauf stand. Und genau das nutzte ich mit Vergnügen aus. »Wir wollen doch nur mit dir reden, Grey«, kam es nun von Mumpitz, dessen Stimme aufgrund des hölzernen Wiederstands zwischen uns dumpf klang. »Reden?«, lachte ich. »Ich hab gesehen, wie dein Bruder mit mir reden will.« »Wir wollen doch bloß nicht, dass dich jemand verfolgt hat und dann uns auf die Schlich…« »Halt die Klappe, du Idiot!«, unterbrach ihn Granti. »Aber das ist es doch, was…« Es folgte ein Schlag. »He! Ich haue zurück, Blödmann!« Noch ein Schlag. Die Brüder bekamen sich erneut in die Haare. »Trottel!« »Mistkerl!« »Geh nach Hause zu Mama und heul dich bei ihr aus!« »Mama ist tot. Das wird wohl nichts.« Granti äffte seinen weinerlichen Bruder nach, indem er in übertriebenes Schluchzen verfiel. »Hör auf damit, Granti! Das mag ich nicht.« »Und ich mag dich nicht.« »Sag so etwas nicht. Das ist gemein.« Und so ging das Ganze noch eine Weile hin und her, bis sich irgendwann das Geräusch von klappernden Schwertern unter das Gekeife der beiden mischte: Die Stadtwache. Sie waren auf dem Weg hierher. Und sie waren nicht mehr weit entfernt. Ich wollte mir eine Bemerkung dazu nicht entgehen lassen und sagte: »Jetzt sitzt ihr in der Klemme, Freunde.« Mit einem Mal spürte ich einen kalten Luftzug im Rücken. Als ich mich umdrehte entdeckte ich Vail, der – weiß Ophostheus wie – auf das Dach gekommen war. Er grinste breit und sagte: »Das reicht jetzt, Grey. Ich denke, du hast deinen Spaß gehabt.« »Wie?«, fragte ich irritiert. »Du meinst, ich soll sie aufs Dach lassen?« Vail nickte und fügte hinzu: »Weißt du noch, als ich sagte, ich hätte Freunde in Fyr?« Jetzt nickte ich. »Nun«, murmelte er und deutete auf die Luke, »das sind sie.« Sir Yalls Stolz stand über allem. Ganz egal, was in den letzten Tagen geschehen war, er würde das wieder ausbügeln. Er würde weder Stix Grey, dem Kindermörder, noch den Dieben, von denen er noch nicht wusste, was sie entwendet hatten, ihre Freiheit lassen. Oh nein, das würde er gewiss nicht. Diese drei Personen hatten an Yalls Fassade gekratzt, hatten versucht, ein Loch hinein zu schnitzen und seine Autorität zu untergraben. Doch dafür würden sie büßen. Allesamt. Inzwischen hatte er den ersten Hinweis darauf, wer die Diebe waren und wie er sie finden konnte. Der Dolch, den der Rotschopf fallen gelassen hatte, war sehr aufschlussreich gewesen: Eine kurze Klinge aus einem Stoff namens Eliphin mit charakteristischen Mustern. Das Besondere an Eliphin war, dass es nicht im Erdreich zu finden war, wie Eisenerz. Es wurde also nicht gefunden und zu Tage gefördert, sondern erschaffen. Durch eine spezielle Art der Zauberei, ein Vorgehen namens Gedankenweben, das Yall als äußerst lächerlich empfand, konnte man seine Gedanken Stück für Stück aneinanderreihen und in Materie wandeln: Das Eliphin. Nur wenige Magier waren dazu in der Lage. Und nur drei von ihnen stellten Waffen damit her, von denen nur einer seine Klingen verzierte. »Das gute alte Markenzeichen«, flüsterte Yall, als er den Dolch betrachtete. »Das wird uns weiter bringen, Ohns. Gute Arbeit.« Der stämmige Ohns stand in Yalls Kammer, unweit der Tür und verbeugte sich rasch. »Nun denn … Wo befindet sich der Zauberer?« »Mit Verlaub, Sir, es handelt sich eigentlich um eine Zauberin.« Yall lachte. »Ein Weibsstück? Von mir aus. Also, wo befindet sich die Hexe?« »In Azurr, Sir.« »Sag bloß, sie ist auf Silbertau! Bei Ophostheus, diese Zauberschule ist ein Grauen.« »Nein, Sir. Sie hat sich auf dem Lande niedergelassen. Sie bewohnt eine Hütte am Rande Azurrs. Fünf Tagesritte von hier aus.« Yall klatschte freudig in die Hände. »Sehr gut, Ohns. Sehr, sehr gut!« Ohns kam ein paar Schritte näher und fragte: »Wollt Ihr selbst nach Azurr reiten?« »Natürlich nicht«, entgegnete der Kommandant bestimmt, als wäre die Antwort offensichtlich. »Wo kämen wir denn hin, wenn der wichtigste Mann des Königs die Burg verlässt?« »Mit Verlaub, Sir, ich dachte der Berater sei der wichtigste Mann des Königs.« Ohns hatte es wohl nicht beabsichtigt, aber seine Bemerkung traf Yall wie ein Faustschlag. Er musste sich zusammenreißen, um nicht in einen Wutausbruch zu verfallen. »Was tut ein Berater, Ohns?« »Ähm … beraten?« Sir Yall trat auf seinen Untergebenen zu und blieb dicht vor ihm stehen, um ihm in die Augen zu blicken. Ein vernichtender Blick, wie sich herausstellte. »Richtig. Und was macht die Königsgarde?« »Ähm …  sie schützt den König vor jedweder Gewalt?« Der Kommandant schnipste mit den Fingern und sagte: »Ganz genau. Was glaubst du also? Ist es wichtiger den König zu beraten oder ihn zu schützen?« »Ihn zu schützen, Sir. Aber … die Königsgarde bleibt doch hier, Sir. Warum könnt Ihr dann nicht gehen?« Jetzt hatte die Wut die Oberhand über Yall gewonnen. Er schrie seinem Untergebenen die Worte mitsamt einer Ladung Speichel ins Gesicht: »WEIL ICH DER KOMMANDANT DIESER HURENBÖCKE BIN!« Das Schreien tat gut. Es befreite seinen Zorn und nun konnte er sich wieder beruhigen. Er sprach in normalem Tonfall weiter: »Du bist doch nicht dumm, Ohns, das hast du mir mit deinen Recherchen bewiesen. Ich bin der wichtigste Mann des Königs. Ohne mich läuft hier nichts! Stell das nie wieder in Frage!« Ohns hatte den Wutausbruch wie ein Mann ertragen. Nun verbeugte er sich tief und sagte: »Entschuldigt, Sir. Ophostheus soll mich für meine Dummheit strafen. Ihr habt natürlich Recht. Soll ich an Eurer statt nach Azurr reiten?« Ein Lächeln breitete sich auf Yalls Gesicht aus. »Nein. Ich werde selbst reiten.« »Aber Ihr sagtet doch-« Yall klopfte ihm auf die Schulter und befahl: »Du wirst mich vertreten, während ich fort bin.« Der stämmige Ritter fuchtelte abwehrend mit den Händen und stammelte: »Ich … kann doch nicht einfach … eure Position …« »Keine Widerrede, Ohns«, unterbrach ihn der Kommandant. »So wird es sein. Punkt. Aus. Ende. Und jetzt ab mit dir.« Verwirrt ging Ohns ein paar Schritte auf die Tür zu, allerdings sehr zaghaft. »Hopp, hopp!« Yall wedelte mit der Hand, um seinen Mann zur Eile zu bewegen. Mit einer letzten unsicheren Verbeugung verließ Ohns die Kammer und schloss die Tür hinter sich. Jetzt, wo er allein war, ging Yall zum Fenster und sah hinaus. Die Stadt Geek lag zu seinen Füßen wie eine Horde Bauern, die den König um Gnade anflehte. Er konnte die Unterstadt kaum sehen, auch wenn seine Kammer im obersten Stockwerk der Burg war. Doch eine dicke Staubwolke verwehrte ihm die Sicht: Der Staub und der Dreck von Bettlern und Betrügern. Angewidert verzog er das Gesicht. Dort hatte Stix Grey gelebt, irgendwo inmitten des ganzen Unrats. Yall beschloss, noch etwas zu erledigen, bevor er nach Azurr aufbrechen wollte: Er würde Greys Partner aufsuchen und ihm einige Fragen stellen. Schließlich war er in der Nacht von Greys verschwinden im Kerker anwesend gewesen. Und vielleicht konnte er ihm ein paar nützliche Informationen geben. Lächelnd atmete der Kommandant die klare Luft der Oberstadt. Dann legte er seine geliebte Rüstung an. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)