Göttlich verlassen von Anni-chan95 ================================================================================ Kapitel 8: Vergessene Liebe --------------------------- Kapitel 8 - Vergessene Liebe „Lennie, du musst irgendwann aufhören, Trübsal zu blasen und endlich weiterleben.“, seufzte Claire. Helen antwortete nicht. Sie hatte zwar vor einigen Tagen aufgehört, zu weinen – es war als wären all ihre Tränen und all ihre Traurigkeit wie weggeblasen –, aber seither machte sich ein Gefühl der Taubheit und Gleichgültigkeit in ihrem Körper breit, so dass es ihr inzwischen völlig egal war, was aus ihr wurde. Sie war vielleicht unsterblich, aber was genau brachte ihr ihr ewiges Leben, wenn sie es nicht mit Lucas zusammen verbringen konnte? Es machte das Glück, was sie noch vor einer Woche verspürt hatte, als sie mit Lucas nach Paris geflogen war, zunichte und ersetzte es durch niemals endende Qualen, Herzschmerz und Liebeskummer. Da bekommt man richtig Lust, unsterblich zu werden, dachte sie und ihre Gedanken schweiften sofort wieder zu Lucas, als ihr Blick auf die gerahmte Wildblume fiel, die er ihr letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hatte. „Lennie … Len … HELEN!“, rief Claire. „Hörst du mir überhaupt zu?“ „Was?“ Helen war aufgeschreckt, nachdem Claire ihr ins Ohr geschrien hatte. „Du hörst mir also nicht zu. Ich wollte dir nur sagen, dass du endlich wieder du sein musst. Das Leben geht weiter.“ Claire sagt das so einfach, dachte Helen. „Ach wirklich? Scheint mir nicht so.“, sagte sie mit einem müden Lächeln. „Aber das tut es. Und du solltest dich dem Schicksal fügen. Fang doch damit an, dass du dein Zimmer verlässt, etwas isst und ab Montag wieder in die Schule gehst.“ „Wie soll ich in die Schule gehen, wenn ich weiß, dass Lucas nicht dort sein wird?“, fragte Helen sie. „Ich weiß, dass du ihn vermisst. Das tun wir alle, aber wenn du es so siehst, kannst du nie mehr irgendwo hingehen.“, versuchte Claire sie zu überzeugen. „Ganz genau.“ Helen ließ sich nach hinten fallen bis sie auf ihrem Bett lag und sich von Claire wegdrehen konnte. Claire versuchte gar nicht erst, weiter auf ihre beste Freundin einzureden, sondern stand auf und ging. „Auf wiedersehen.“ „Tschüss.“ Helen drehte sich mit dem Rücken zur Wand und starrte auf die Wand mit ihrem Kleiderschrank. Bald darauf driftete sie in einen tiefen Schlaf. „Was ist los, Helen?“, fragte Morpheus sie, als sie bei ihm im Bett wieder aufwachte. „Warum machst du so ein langes Gesicht?“ „Lucas ist in die Unterwelt gerufen worden und mich hat er verbannt. Ich werde ihn also niemals wiedersehen.“ „Tut mir leid. Das wusste ich nicht. Wie lange ist er schon …?“ „Seit letzte Woche Sonntag. Ich war nicht mal dabei, weil Claire und Andy mich mit zum Shoppen genommen haben. Dabei wollte ich das gar nicht. Ich konnte mich nicht mal von ihm verabschieden.“ Morpheus umarmte sie, um sie zu trösten. „Komm mit.“, sagte er nach einer Weile, sprang aus dem Bett, nahm ihre Hand und ging los. „Wo gehen wir hin?“, fragte Helen, während sie hinter ihm her ging. „Wir gehen zum Albtraumbaum. Es kann doch nicht sein, dass Lucas dich aus der Unterwelt verbannt und euch beide damit unglücklich macht.“, bestimmte Morpheus. Dagegen hatte Helen nichts einzuwenden. „Hier sind wir.“, sagte Morpheus. „LUCAS!!!!“, rief er, doch nichts geschah. „LUCAS!!!“ Sie warteten einige Zeit. „Er wird nicht kommen.“, seufzte Helen. „Möchtest du gehen?“, wollte der Gott der Träume wissen. „Nein, ich werde noch etwas hier bleiben. Wenn ich so Lucas am Nächsten sein kann, bleibe ich so lange wie möglich hier.“, erwiderte sie kopfschüttelnd. „OK … ich werde dich dann allein lassen. Melde dich, wenn du gehst.“ „Natürlich.“ Helen setzte sich in ihren Shorts im Schneidersitz auf den Boden und blickte auf die Ödlandschaft der Unterwelt, die sich vor ihr erstreckte, die sie aber nicht mehr betreten konnte. Sie hatte keine Möglichkeit, dorthin zu gehen und selbst nach Lucas zu suchen. Aber vielleicht würde er kommen, wenn sie nach ihm rief. „LUUUCAAAAAAAAAAAAAS!!!!!“ Lucas hörte jemanden rufen. Eine helle Stimme. Ein Mädchen, ganz sicher. Aber er kannte niemanden, der sich so anhörte. Er fragte sich, was dieses Mädchen von ihm wollte und schlussendlich siegte seine Neugier. Er machte sich unsichtbar und ging in die Richtung, aus der die Stimme kam. Sie ist ganz in der Nähe des Albtraumbaums, dachte er sich, als er immer näher an die Grenze zwischen der Unterwelt und dem Schattenreich kam. Da war wirklich ein Mädchen. Eine hübsche Blondine, die in Shorts auf dem Boden des Schattenreiches saß und geduldig auf ihn wartete. Sie sah auf, als er sich näherte. Dabei bin ich doch unsichtbar, dachte Lucas. Er ging noch ein paar Schritte auf sie zu und konnte dabei nicht den Blick von ihr abwenden. Sie war so wunderschön und Lucas konnte sich glatt in ihren braunen Augen verlieren. Nein, sie waren nicht braun. Sie hatten die wunderschöne Farbe von Bernstein. Lucas konnte sich nicht erklären, wieso ihm dieses Mädchen so bekannt vorkam. Dennoch tat sie es und Lucas wurde ganz warm ums Herz, als sie in seine Richtung lächelte. Wer war sie? Und wieso kannte sie seinen Namen? Waren sie sich schon mal begegnet? Lucas wollte nicht, aber ehe er sich noch mehr in ihren Bann ziehen lassen konnte, machte er kehrt und machte sich auf den Rückweg zum Palast. Er würde Persephone fragen müssen, wer dieses Mädchen war und was sie für ihn bedeutete. „Hast du dich dazu entschieden, nach Hause zurückzukehren, meine Schöne?“, fragte Morpheus sie, als Helen wieder an seinem Bett angekommen war. „Ja, auf der Erde ist jetzt Morgen. Ich danke dir dafür, dass ich hier sein durfte. Ich glaube, Lucas war kurz da. Ich konnte ihn ganz genau spüren und für einen kurzen Moment habe ich seine Silhouette gesehen. Er war da.“ „Meine Tür steht dir immer offen, das weißt du. Komm so oft her, wie es dir beliebt. Und wenn es nur ist, um deinen Lucas nahe zu sein. Aber du weißt, dass ich für dich auch Lucas sein kann.“ Morpheus verwandelte sich in Lucas und lächelte Helen verführerisch an, wie er es so gerne tat, wenn er versuchte, Helen für sich zu gewinnen. „Ja, ich weiß und ich mag dich ja auch, Morpheus, aber Lucas ist … Lucas eben. Für ihn gibt es keinen Ersatz.“, sagte Helen entschuldigend. „Verstehe.“ Morpheus nahm seine richtige Gestalt wieder an. „Das ist in Ordnung, solange du mich besuchen kommst.“ „Das werde ich bestimmt. Heute Nacht. Aber jetzt muss ich wirklich gehen. Auf Wiedersehen.“ „Bis bald, meine Schöne.“, seufzte Morpheus, traurig, sie wieder gehen lassen, zu müssen. Helen setzte sich in ihrem Bett auf und fühlte sich, als wäre sie wie neugeboren. So voller Energie. Sie hastete zu ihrem Kleiderschrank, zog sich eine dunkle Jeans ohne besonderes Muster an. Dann ein einfaches, eng anliegendes, rotes Top. Das hatte keinen besonderen Grund. Es lag nur einfach ganz oben in ihrem Schrank und im Nachhinein würde es sowieso niemand zu Gesicht bekommen. Helen nahm sich als nächstes ein Sweatshirt mit dem Aufdruck irgendeines spanischen Fußballvereins, den Helen nicht kannte, das ihr einige Nummern zu groß war. Doch das störte sie nicht, denn es war einer von Lucas‘ Sweatern und sie fühlte sich gleich viel besser, wenn sie ihn trug. Natürlich war es kein Vergleich zu, wenn Lucas sie ihm Arm hielt und küsste, aber es kam dem Gefühl am Nächsten. Helen bürstete sich die Haare und legte etwas Make-Up auf. Claire hatte, verdammt noch mal, Recht, dachte sie. Es wird echt Zeit, dass ich mein Leben weiterlebe. Allein in meinem Zimmer bringe ich niemandem etwas. Lucas niemals wiedersehen, zu können, tat zwar immer noch weh, aber sie fühlte sich ihm so verbunden, seitdem sie ihn letzte Nacht bis hin ins Schattenreich spüren und sogar kurz sehen konnte. Sie war sich ganz sicher, dass er es war und nicht nur ihr Wunschdenken. Lucas hatte sie gehört und war zu ihr gekommen. Helen fragte sich nur, warum er nicht zu ihr gekommen war, aber mit dieser Frage würde sie sich später auseinandersetzen. „Morgen, Dad. Morgen, Kate. Was gibt’s zum Frühstück?“, begrüßte sie ihren Vater und ihre Stiefmutter und gab beiden einen Kuss auf die Wange bevor sie sich setzte und zu essen begann. „Helen? Alles ok? Ist irgendwas passiert, dass du so gute Laune hast?“, fragte Kate. Sie beide konnten sich nicht vorstellen, wie Helen sich von einem Tag auf den anderen aus ihren Depressionen befreien und in ein kleines Sonnenscheinchen verwandeln konnte. „Nein, wieso? Ich habe nur beschlossen, dass es nichts bringt, wenn ich mich in meinem Zimmer einschließe. Es wird Zeit, etwas zu unternehmen und genau das werde ich jetzt tun.“, erklärte sie gelassen. „Was hast du vor?“, fragte Jerry besorgt, dass sie vielleicht Dummheiten machen würde. „Bis jetzt noch gar nichts. Ich werde nachher zu der Familie Delos gehen und dann sehe ich weiter.“ Gesagt, getan. Eine halbe Stunde später stand Helen vor der Haustür der Delos-Familie und klingelte. Umgehend öffnete Noel ihr die Tür. Sie war wirklich überrascht, Helen so fröhlich zu sehen. Und Helen hätte wiederrum nicht gedacht, wie aufgelöst Noel sein konnte. Sie hatte sie noch nie so erlebt. Da Sonntag war, hatte Helen erwartet, dass alle noch im Esszimmer brunchten. Dem war jedoch nicht so. Als sie das Wohnzimmer betrat, war dort bereits die ganze Familie versammelt. „Helen, setz dich. Wir haben dir etwas zu sagen.“, bat Hector sie. „Das letzte Mal, als ihr mich gebeten habt, mich zu setzen, habt ihr mir gesagt, dass Lucas weg ist, also bleibe ich lieber stehen.“, erwiderte Helen und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ob du sitzt oder stehst, es ändert nichts an dem, was wir dir sagen müssen.“, gab Jason zu bedenken. „Ich weiß, aber ich fühle mich so besser. Was ist nun diese Sache, die ihr mir sagen wollt?“ „Lucas hat aus dem Fluss Lethe getrunken und kann sich an niemanden von uns erinnern. Nicht einmal an dich.“, sagte Hector einfach frei heraus. Helens Lächeln verschwand. Wenn er sie nicht mehr erkannte, wieso sollte er dann letzte Nacht zu ihr gekommen sein? Dann war es wohl doch nur Wunschdenken. Dabei war sie sich so sicher gewesen … „Oh, ok. … Hey, woher wisst ihr das?“ Ihr fiel auf, dass irgendjemand Lucas getroffen haben musste, um so eine Info zu haben. „Ich habe mit ihm gesprochen und er hatte keine Ahnung, wer ich bin.“, erklärte Orion. „Es tut mir Leid, Helen, aber anscheinend hat er sich selbst dafür entschieden. Er wollte uns – und noch viel wichtiger: dich – vergessen.“, sagte Cassandra leise. „Manchmal ist es dann leichter.“, gestand Helen ebenso leise und sah zu Boden. „In den meisten Fällen ist ‚Vergessen‘ die einzige Möglichkeit, um mit etwas fertig zu werden. Ich hätte mich an seiner Stelle nicht anderes entschieden.“ Hector hatte Recht, dachte Helen. Ich hätte mich echt setzen sollen. Helen musste ihre Gedanken ordnen. Lucas war nicht gekommen, weil sie gerufen hatte, weil er gar nicht mehr wusste, wer sie überhaupt war. Dabei war der pure Gedanke daran so erleichternd gewesen. „Helen, wir wissen, es ist schwer zu verdauen …“, begann Noel. Deshalb war sie also so aufgelöst. Ihr eigener Sohn erinnerte sich nicht mehr an sie. „Könnt ihr bitte mit den schlechten Nachrichten aufhören. Ich habe echt keinen Nerv mehr dafür.“, meinte Helen. „Ich habe mich gerade damit abgefunden, dass er in der Unterwelt ist und mich so vermisst, wie ich ihn vermisse, da erzählt ihr mir, dass er sich nicht an mich erinnern soll. Wenn ihr mich bitte entschuldigt, ich muss an die Luft.“ Sie stand auf und verließ das Haus. Ein Sparziergang am Strand sollte ihren Kopf frei machen. Als sie am Great-Point-Leuchtturm ankam, konnte sie nicht anders, als hochzufliegen und sich auf den schmalen Steg zu setzen. Ach, Lucas, ich kann verstehen, wieso du das getan hast, aber ich wünschte trotzdem, es wäre anders, dachte sie. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)