Stille Wasser von Ixtli ================================================================================ xox --- "Wenn wir uns nicht schon so lange kennen würden, wäre das jetzt das Ende..." Marie sah ihn von unten herauf finster an. Sie war zwei Köpfe kleiner als Leo, hatte aber überhaupt keine Probleme, ihm aus dem Stand an den Hals zu springen, um ihn zu würgen oder vermutlich die Hauptschlagader durchzubeißen. Jedenfalls wirkten ihre giftigen Blicke gerade so. "Ich meine das wirklich so", fügte sie mit lauernder Stimme hinzu. "Ist das ein Ja?" Grinsend forderte Leo sein Glück weiter heraus, das seit seiner Frage, ob Marie ihn heiraten würde, auf wankender Spitze stand und nur ein einziges falsches Wort benötigte, um entweder in die eine oder die andere Richtung zu kippen. Egal, wohin er fiel, er war gut auf den Sturz vorbereitet. Das hätte er jetzt nicht denken sollen, oder? Zynismus war nicht sein Ding. Das war was für Menschen, die Angst vor den Konsequenzen ihrer geäußerten Meinung hatten. Hatte er nicht. Brauchte er auch nicht. Warum also hatte er sich gerade diese Frage gestellt? War der Rest von ihm jetzt auch zum Würstchen geworden? Erleichtert nahm Marie Leos nachdenkliche Mimik wahr. Nicht, dass sie tatsächlich darüber nachdachte, ihre Freundschaft wegen so einer Lappalie zu beenden, aber das musste Leo ja nicht wissen. Wer wusste, auf was für idiotische Ideen er sonst noch kam?! Wegen Mariechen wollte er sie heiraten? Marie hätte beleidigt sein können. Stattdessen kam sie sich ertappt vor, weil sie selbst schon am Überlegen gewesen war, warum sie und Torsten - laut Leo der angelutschte Keks - nicht endlich heirateten. Ihm müsste sie böse sein, weil er nicht derjenige war, der sich Gedanken machte, die weiter als bis zur nächsten Woche reichten. Auf einmal fand sie Leos Frage nicht mehr so furchtbar taktlos, auch wenn sie sie nie bejahen würde. Sie ärgerte sich nur darüber, dass sie nun nie mehr so unbefangen mit Torsten am Tisch sitzen oder im Bett liegen konnte, ohne sich zu fragen, warum ausgerechnet Leo, der noch weniger von Beziehungen verstand als Torsten, nun dessen eigentliche Verpflichtungen einfach so übernehmen würde. "Wir hatten unsere Chance, meinst du nicht?" Um Leo nicht ansehen zu müssen sah Marie zu Mariechen, die noch immer, das Gesichtchen gegen Leos Brust gelehnt, selig schlief. Ihren Schnuller, der die Form einer Katzenschnauze samt rosafarbener Nase und aufgemalten Schnurrhaaren hatte, hielt sie in ihrer kleinen geballten Faust. Sie seufzte leise und rieb sich mit ihrer Hand die Augen. "Hatten wir", erwiderte Leo vernünftiger als es Marie von ihm gewohnt war. "Dann frag mich so etwas bitte nicht mehr, gut?" Leo rang sich zu einem Lächeln durch, das nicht nur Marie galt, sondern vor allem ihm selbst. Er musste sich selbst zuerst davon überzeugen, dass es vernünftig war, was Marie da sagte, auch wenn es ihm schwer fiel, sich damit zu belügen. "Ich tu's nicht mehr, versprochen." Henrik zog vorsichtig die Tür zu Normans Wohnung auf und betrat die Zeitkapsel, zu der die Räume darin geworden waren. Er war der erste, der die Tür öffnete und einen Fuß in die Wohnung setzte, seit sein Bruder die Tür hinter sich geschlossen hatte, mit der Absicht, nicht mehr zurückzukommen. Der erste Atemzug, den Henrik nun nahm, war für ihn also mehr als die bloße Aufnahme von Sauerstoff. Er beinhaltete alles, was in Henriks Augen eigentlich seinem Bruder zustand. Nicht er hätte den überquellenden Briefkasten unten im Hausflur leeren sollen. Er war es auch nicht, der den Schlüssel in das Wohnungstürschloss stecken sollte. Die Glühlampe im winzigen Flur war kaputt, aber wessen Aufgabe war es, sie zu wechseln? Seine sicher nicht. Henrik atmete tief ein und wieder aus. Er schloss die Wohnungstür hinter sich und wartete noch ein paar Herzschläge ab, wie ihn das Reich seines Bruders empfangen würde. Hier ist er, liebes Volk, Henrik I., euer neuer Herrscher - oder eher: Plünderer. Aus reiner, innerhalb einer Woche antrainierter Gewohnheit, sah Henrik zur Badezimmertür hinüber. Sie war nur angelehnt. Die beiden anderen Türen, die vom Flur abgingen, waren geschlossen. Ob das was zu heißen hatte? War das das letzte Zimmer, das Norman betreten hatte? Er war danach zu dieser Party gegangen, möglich wäre es also. Möglich wäre aber auch, dass ein Luftzug die Tür geöffnet hatte. Oder ein Windstoß die anderen Türen geschlossen hatte, die in die Küche und das Wohnzimmer führten. Absolut möglich wäre aber auch, dass er sich gerade mit lächerlichen Dingen abgab, auf die er sowieso nie eine Antwort bekommen würde, statt sich einzugestehen, dass er gerade kurz davor war, die Wohnungstür zu öffnen, hinaus ins Treppenhaus zu gehen, die Tür hinter sich zu schließen und heim zu seinen Eltern zu fahren, um ihnen zu sagen, dass es verdammt noch mal nicht seine Angelegenheit war, das Leben seines Bruders in Umzugskartons zu packen und zu entsorgen. Seine Aufgabe war, anständig um seinen Bruder trauern zu dürfen. In Ruhe, bitteschön. Er wollte keine Sekunde davon verpassen. Er wollte jetzt gerade nicht mehr daran denken müssen, was Norman getan hatte, als er vom Bahnhof nach Hause kam. Er wollte nicht Gefahr laufen, den einen entscheidenden Augenblick in dieser ihm unbekannten Zeitspanne kurz vor seinem Tod zu erwischen, an dem man alles, was danach kam, noch hätte verhindern können. Und diesen einen Augenblick gab es, musste es geben. Der alles entscheidende Moment, der wichtig gewesen wäre. Dessen rechtzeitiges Entdecken Normans Tod verhindert hätte. Der, den Henrik um gerade mal zehn Stunden verpasst hatte und der ihm wieder einmal den Magen umdrehte. Irgendwo steckte er. Irgendwo zwischen dieser Haustür und dem Haus, auf dessen Dach Norman einen Atemzug getan hatte, der vielleicht so wichtig gewesen war, wie derjenige, den Henrik hier getan hatte. Kalter Schweiß brach auf Henriks Stirn aus. Die Briefe und Werbezettel glitten aus seiner Hand und fielen raschelnd zu Boden, der vor seinen Augen verschwamm. Henrik fluchte leise und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen. Dieser verdammte Arsch! Was hatte er sich nur dabei gedacht? Mit einem Ruck an der Zugschnur riss Henrik die Jalousie im Wohnzimmer hoch. Der Staub, der eine Woche lang Zeit gehabt hatte, sich auf den Lamellen niederzulassen, wurde durch die plötzliche Bewegung aufgewirbelt und segelte träge in winzigen Partikeln durch die abgestandene Luft. Henrik öffnete das Fenster. Die frische Luft von draußen schien nur auf diesen Moment gewartet zu haben. Ein erster Stoß bauschte die Vorhänge wie Segel auf und ließ den Staub, der sich gerade wieder am Legen war, wild umher tanzen. Der Straßenlärm, der Henrik die erste Zeit, die er hier verbracht hatte, mehrmals um den Schlaf gebracht hatte, drang zu ihm wie eh und je. Mittags ging es ja noch, aber wenn am späten Nachmittag die ersten Bistros und das Kino öffneten, wurde es deutlich lebhafter. Erst recht an den Wochenenden. Norman schien dafür wie gemacht zu sein. Er hatte auch bei offenem Fenster ohne Probleme schlafen können. Er hätte wahrscheinlich auch unten auf dem Bürgersteig direkt neben der Straße schlafen können. Hupende Autos, Fahrradklingeln, kläffende Hunde und umher hetzende Passanten? Kleinigkeit. Norman war hier zu Hause gewesen - mehr als in seinem früheren Zuhause bei Henrik und ihren Eltern. Gedankenverloren lauschte Henrik dem Straßenverkehr, der sich im Takt der umschaltenden Ampeln mal beschleunigte und dann wieder stoppte. Er hätte sich hier auch wohlgefühlt. Jetzt vermutlich nicht mehr so unbefangen wie er sich das ausgemalt hatte. Henrik ließ sich auf dem Sofa nieder. Er nahm sein Handy und rief die Nachrichten auf. Er musste etwas weiter nach unten zu den älteren Mitteilungen scrollen, vorbei an den zahlreichen, die ihn nach Normans Tod erreicht hatten. Bei Dennys Namen stoppte er. Warum hatte Norman Denny seine Nummer noch gegeben? War der Sprung nicht geplant gewesen? Machte man so etwas spontan? Henriks Zeigefinger schwebte bewegungslos über Denny, bis das Display sich verdunkelte. Er wartete einige Augenblicke und steckte sein Handy wieder zurück in die Hosentasche. Als ob er lesen müsste, um zu wissen, was drin stand?! Er kannte jedes Detail der Nachricht, die er, auf der Suche nach dem winzigsten Hinweis auf den Sprung vom Dach, gefühlte dreitausend Mal gelesen hatte. Das Datum und die Uhrzeit, die gleichzeitig auch das letzte Mal waren, dass Denny online gewesen war. Die Begrüßung, die so freundlich und selbstverständlich klang wie an dem Abend, als er zu Norman ins Auto gestiegen war und Henrik begrüßt hatte. Die eigentliche Nachricht, bei der sich Henrik unglaublich geschmeichelt gefühlt hatte, und die Verabschiedung, die nicht nach Auf Nimmerwiedersehen klang. Wie konnte an einem einzigen Tag ein riesiges Universum entstehen? Henriks erschöpfte Blicke fielen auf das Foto von Norman und Denny, das neben ihm an der Wand hing. Es hing ziemlich niedrig - der untere Rand verschwand sogar etwas unter der Rückenlehne - aber das wirkte nur so, so lange sich die Schlafcouch in dieser Position befand. Hatte man sie zum Bett ausgezogen, war das Foto in der richtigen Höhe, um es, den Kopf auf dem Kissen liegend, genau vor Augen zu haben. Es war normantypisch ungerahmt und mit einer simplen Reißzwecke befestigt. Das Loch, das die Reißzwecke in das glänzende Papier gestochen hatte, wirkte etwas geweitet und an den Rändern leicht ausgefranst, ganz so, als hätte das Foto öfter mal den Platz gewechselt. Sachte strich Henrik über das Foto. Er versuchte, sich daran zu erinnern, wie es sich tatsächlich angefühlt hatte, Norman zu berühren. Wann war das letzte Mal gewesen? Die Kopfnuss am Bahnhof bei Henriks Anreise? Hätte er es doch nur geahnt, wie alles enden würde - er hätte sich alles besser eingeprägt, wenn er es schon nicht mehr rückgängig machen konnte. Norman hatte das nicht geplant. Mit Sicherheit nicht. Vielleicht war es doch nur ein dummer Unfall gewesen. Norman sprang nicht einfach von irgendwo runter. Erst recht nicht, wenn er Gefahr lief, dabei sterben oder sich schwer verletzen zu können. Norman, der in einem Park saß, einen Arm über Dennys Schultern liegen hatte und glücklich in die Kamera lachte, tat so etwas nicht. Er hätte Henrik doch nie alleine gelassen. Und wenn er es getan hätte, absichtlich, hätten es ihre Eltern ihm gesagt, alleine schon wegen der Lektion, die Henrik daraus lernen sollte. Aber niemand sagte etwas. Er hatte noch so sehr darum betteln können, den Bericht sehen zu dürfen, ihre Eltern blieben stur bei ihrem Nein. Sie gaben sich damit zufrieden, was man ihnen gesagt hatte und ließen Henrik lieber alleine mit seinen Vorstellungen über jenen Abend. Und hier saß er nun inmitten von Normans Leben und die einzigen Gesprächspartner, die er hatte, waren die Geister dieses Lebens, die in den paar Habseligkeiten schlummerten, die von Norman übrig geblieben waren. Sie waren die einzigen, die ihm Antworten gaben, die seine Vorstellung in Bilder umwandelte. Frisches Blut auf dem gelben T-Shirt, das Norman getragen hatte, als er Henrik zum Zug gebracht hatte. Das war das klarste Bild unter den vielen, die sich mittlerweile angehäuft hatten. Henrik zupfte und drehte an der Reißzwecke, bis sie sich endlich aus der Wand löste. Er nahm das Foto und schob es in seine hintere Hosentasche. Wenn nichts von Normans Geistern übrig bleiben sollte, diese festgehaltene Erinnerung blieb bei ihm, bis es nur noch dieses eine Bild gab und die anderen, die Geister, verschwunden waren und die Fragen, wie etwa die, ob Norman und Denny sofort tot gewesen waren, sich mit ihnen verflüchtigten. Irgendwann musste es soweit sein. Das hoffte er. Zwei Kisten standen bereits gepackt im Flur und Henrik war gerade dabei, die dritte und letzte zu packen. Es war die, in die er die Dinge tat, die er mit zu ihren Eltern nehmen wollte, damit sie entschieden, was damit passieren sollte. Dazu gehörte auch Normans Notebook, das Henrik einige Augenblicke nachdenklich in der Hand hielt. Norman hatte den Messenger wirklich nicht gebraucht - weil er Henrik nichts zu sagen gehabt hatte? Henrik beschloss, das Notebook selbst zu behalten und legte es zurück auf den Schreibtisch. Ihren Eltern war zuzutrauen, dass sie es sowieso einfach wegwarfen. Seufzend ließ sich Henrik im Schreibtischstuhl nieder. Er verschränkte die Hände im Nacken und starrte vor sich auf die Tischplatte. Hier lag so vieles, was Norman irgendwann einmal wichtig gewesen sein musste, aber Henrik hatte keine Ahnung davon. Kinokarten, die ihren Weg in den Mülleimer noch nicht gefunden hatten, zum Teil unbeschriftete CDs, ein paar Postkarten, die ihm Leute geschickt hatten, deren Namen Henrik nichts sagten. Henrik schmunzelte über eine Postkarte. Der Verfasser berichtete irgendetwas über eine veraltete Straßenkarte, die in die Irre geführt hatte und einen abgeschleppten Mietwagen, in dem sich ausgerechnet sämtliche Papiere und Geldbörsen befunden hatten. Die Karte endete mit xox René. Henrik legte sie zu den anderen. Es waren nicht gerade wenige Karten und soweit er das überblicken konnte, kamen neun verschiedene Leute zusammen, die alle an Norman geschrieben hatten. Witzige Sachen wie die mit dem Mietwagen oder normales, was man eben so aus dem Urlaub berichtete. Alle hatten nur liebe Worte gefunden. Und trotzdem hatte niemand, wirklich niemand ihn dazu bringen können, sich alles noch einmal zu überlegen? Auch nicht xox-René, den er, wenn er sich die Verabschiedungsfloskel so betrachtete, besser gekannt haben musste? Normans Warum musste wohl ziemlich groß gewesen sein, dachte Henrik traurig. Ohne die Papiere weiter durchzusehen und zu sortieren, schob Henrik sie auf einem Haufen zusammen, den er dann in die Tüte neben dem Schreibtisch beförderte. Als er sich von seinem Sitzplatz erhob, sah er Normans Jeansjacke, die auf einem niedrigen Hocker lag. Henrik konnte nicht anders, als die Jacke anzuziehen. Sofort als er sie überstreifte fiel ihm Normans Geruch auf, der in jeder Faser zu sitzen schien. Henrik versetzte das einen unangenehmen Stich in die Magengrube. An dem Tag, als Norman sprang, war es warm gewesen. Nur deshalb lag die Jacke noch hier. Wäre es kälter gewesen, läge sie jetzt im Müll bei den anderen Kleidern, von denen man ihnen abgeraten hatte, sie zurückzunehmen. Da hatte Henrik das erste Mal die blanke Angst gepackt und das Bild von Normans gelbem T-Shirt mit den Blutflecken hatte seine ersten Konturen bekommen. Henrik rückte die Jacke zurecht. Sie passte nicht richtig. Die Ärmel waren zu kurz und um die Schultern spannte sie. Was auch kein Wunder war, da er seit einem guten Jahr größer als Norman war. So oft hatte er seinen großen Bruder damit aufgezogen, der ihn dennoch immer weiter als seinen kleinen Bruder vorgestellt hatte. Auch Denny. Ob Denny auch einen kleinen Bruder hatte? Oder eine Schwester? Henrik schob die Hände in die Taschen. Sie waren leer. Er zog die Jacke wieder aus und warf sie über die Rückenlehne des Schreibtischstuhls. Ganz egal, ob sie passte, die Jacke behielt er. Henrik wandte sich dem Hocker zu, der neben dem Sofa stand, und hob den Deckel hoch. Der Hocker war innen hohl und Norman hatte ihn als Stauraum für die Kleider benutzt, die gewaschen werden sollten. Das Zeug konnte weg und für den Hocker ließ sich sicher jemand finden, der ihn gebrauchen konnte. Genau wie für die ganzen anderen Möbel. Ohne allzu viel zu erwarten griff Henrik in das Innere des Hockers, um ihn auszuräumen. Das erste, was er zu fassen bekam, war ein T-Shirt und in dem Moment, in dem er es vor sich hielt, lachte Henrik das erste Mal seit Normans Tod. Das T-Shirt war gelb. Das verdammte T-Shirt war gelb. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)