Stille Wasser von Ixtli ================================================================================ Dunkler Fluss -------------   Die Arme hinter dem Kopf verschränkt lag Henrik auf Normans Bettcouch und hörte dem Straßenlärm vor dem Fenster zu. Das letzte, was er wahrnahm, bevor er endgültig einschlief, war das kleine Loch in der Wand, das von der Reißzwecke stammte, die Norman und Dennys Bild gehalten hatte.   Der schrille Alarm, der Henrik abrupt aus dem Schlaf riss, ließ ihn auf seinem Nachtlager auffahren. Orientierungslos tastete er mit geschlossenen Augen nach seinem Handy, das diesen nervtötenden Höllenlärm von sich gab, bis er es neben sich auf dem Hocker zu greifen bekam. War es wirklich schon Morgen? Henrik blinzelte verschlafen auf das Display und schloss gleich darauf geblendet die Augen. Seufzend ließ er sich wieder zurück ins Kissen fallen. Er war todmüde, obwohl er laut Uhr neun Stunden geschlafen hatte. Henrik drehte sich auf den Bauch und vergrub das Gesicht im Kissen, doch als ihm bewusst wurde, wo er tatsächlich lag, schrak er auf. Jetzt war Henrik hellwach. Er schwang die Beine von der Couch und fuhr sich schnell mit den Fingern durch die Haare. Vorsichtig hob er den Blick. Wenn man nicht gerade die leeren Regale oder den Schreibtisch betrachtete, konnte man meinen, alles wäre beim Alten. Es fehlte eigentlich nur Norman. Henriks Blick streifte das gelbe T-Shirt, das er im Hocker gefunden hatte und das jetzt über dem Schreibtischstuhl hing. Wieder spürte er die Erleichterung darüber, dass es völlig sauber war. Keine Blutflecken, wie in seiner Vorstellung. Es war so, wie Norman es an ihrem letzten gemeinsamen Morgen hier angezogen und dann irgendwann nach Henriks Abreise wieder ausgezogen hatte. Es war das letzte, an das er sich erinnern konnte, was mit Norman zusammenhing. Norman, wie er am Bahnhof stand und dem Zug, in dem Henrik saß, nachwinkte. Genauso würde er ihn in Erinnerung behalten. Schnell fuhr sich Henrik mit einer Hand über seine Augen. Diese dämlichen Dinger waren neuerdings nicht mehr ganz dicht... Möglichst ohne noch weiter in seiner Erinnerung nach allen hätte er doch nur's zu kramen, ging Henrik ins Bad. Er benutzte sogar die einsame Flasche Duschgel, die in der Dusche gestanden hatte, und das sogar fast ohne wieder zu weinen.   Eine halbe Stunde später starrte Henrik mit knurrendem Magen in den leise vor sich hin brummenden Kühlschrank. Die kleine Lampe erhellte das milchweiße Innere des nahezu klinisch reinen Kühlschranks. Henrik zog die Gemüseschublade auf. Nichts. Nicht einmal eine welke Möhre lag darin. Noch nicht einmal ein winziges Blättchen einer verwelkten Möhre. Absolut nichts. Und das kleine Gefrierfach obendrüber hatte außer einer dünnen Eiskruste an den Seitenwänden ebenfalls nichts zu bieten. Anklagend gab Henriks Magen ein erneutes Knurren von sich. "Ja, sorry, ich kann auch nix dafür", entschuldigte sich Henrik bei seinem Magen. Es war ja nicht geplant gewesen, dass er hier blieb. Henrik fiel das letzte Frühstück hier ein. Norman hatte sich dafür entschuldigt, dass er keinen Kaffee gehabt hatte. Aber Honig hatte er gehabt. Und Kakao. Nacheinander öffnete Henrik alle Schranktüren, doch bis auf ein bisschen Geschirr befand sich dort das gleiche darin, wie im Kühlschrank. Was gäbe er jetzt für eine Tasse verhassten Kaffee... Die letzte Schranktür fiel leise zu und Henrik nahm schwerfällig auf dem Küchenstuhl Platz. Es passte schon wieder alles besser zusammen, als ihm lieb war. Er ging sogar jede Wette ein, dass, wenn er den Mülleimer öffnen würde, nichts darin fände. Nicht einmal eine Mülltüte. Und er musste noch nicht einmal hinein schauen, um zu wissen, dass es so war. Schon gut, er hatte verstanden. Er packte die Kisten ein und verschwand endgültig von hier.   Ein leises Schnappen begleitete den Schlüssel, mit dem Henrik zum letzten Mal die Tür absperrte. Bitte weitergehen, hier gibt es nichts mehr zu sehen, sagte das Schnappen. Es gibt hier auch keinen warmen Kakao mehr für kleine, sentimentale Brüder. Honigbrötchen auch nicht. Kindheitserinnerungen sind erst recht verboten. Zeit, erwachsen zu werden. Jetzt nimm deine dämlichen Kisten und hau ab. Und dreh dich bloß nicht noch mal um!   Der Kofferraum von Normans kleinem schwarzen Auto fiel dumpf über den Umzugskisten zu. Der Wackeldackel auf der Hutablage, der noch immer auf der knallroten Plüschkachel von der Abrissparty thronte, nickte verstehend. Er hatte tatsächlich alle Kisten in dem Kofferraum untergebracht. Nicht, dass es besonders viele waren – Norman hatte schon dafür gesorgt, dass nicht mehr allzu viel von seinem Besitz übrig war –, aber es war noch genug, um es zuhause ihren Eltern vor die Füße zu werfen, damit sie sich ab jetzt selbst um den Scheiß kümmerten. Das letzte, was er noch tun würde, wäre, die Wohnungsschlüssel beim Hausverwalter abzugeben. Was der mit den Möbeln machte, war Henrik egal. Er fand, dass er seine Pflicht getan hatte. Er durfte gehen. Und komm bloß nicht mehr zurück!     Hör auf zu flennen, ermahnte sich Henrik zwei Stunden später selbst. Wie kann man nur flennen, wenn man 'ne Tür aufsperrt? Du bist echt das Letzte... Jetzt mach dir mal 'nen Kakao und iss was. Wie wär's mit 'nem Honigbrötchen? Gut, dass du die Möbel nicht rausgestellt hast. Stell dir mal vor, du müsstest die jetzt alle wieder nach oben tragen. Was für eine Schande. Mit zitternden Händen räumte Henrik den immer noch leise vor sich hin brummenden Kühlschrank ein. Die kleine Lampe darin schien ab jetzt auf eine Packung Milch, Butter und Eier. Honig und Marmelade kamen samt einem Päckchen Brötchen zum Aufbacken in den leeren Vorratsschrank, der jetzt nicht mehr ganz so leer aussah. Er hatte sogar an Mülltüten gedacht, die er sorgfältig in den Schrank unter der Spüle räumte, ganz so, als wäre er schon ewig verantwortungsvoller Mieter einer Wohnung und nicht erst seit zweieinhalb Stunden. Ganz genau, du bist ab jetzt selbst für alles verantwortlich, Holzkopf. Abgesehen davon, dass er nach seinem ungeplanten kleinen Einkauf nun nicht mehr viel Geld bei sich hatte, hatte er immerhin eine Wohnung, die bereits im Voraus für das kommende halbe Jahr bezahlt war. Von Norman. Und vermutlich auch von Denny, der garantiert mit in der Sache hing. Zumindest deutete das die letzte Nachricht an, die er Henrik geschickt hatte, und die jetzt endlich einen Sinn ergab: Nächstes Mal bleibst du länger. Im Prinzip war es das gleiche, was Norman zu ihm gesagt hatte und bis jetzt hatte er sich nichts großartig darunter vorstellen können; nach Normans Tod war es sogar mehr als absurd gewesen, aber Denny hatte recht behalten. Henriks Knie wurden langsam weich und seine Augen schimmerten schon wieder verdächtig feucht. Aber er lachte. Mann, wie er sich darauf freute, ihren Eltern die wunderbare Nachricht zu überbringen. Die würden ausflippen!     So leise es ging zog Leo die Tür hinter sich zu. René war gerade am Duschen und das Letzte, was Leo jetzt ertragen konnte, waren weitere Fragen von ihm. Er würde sicher nicht zu Dennys Beerdigung gehen, die morgen stattfinden sollte. Das hatte er René mindestens fünf Mal gesagt. Bei den letzten beiden Male sogar garniert mit Tipps, wo er sich diese verdammte Beerdigung gefälligst hinstecken sollte. Er konnte auf Dennys Familie verzichten. Und auf den scheiß Sarg. Und erst recht auf die Tränen und die Blicke. Er wollte nichts davon sehen oder hören. Nicht einmal Marie, die in einer halben Stunde hier auftauchen wollte, um mit René zu Normans Beisetzung zu fahren. Anscheinend hatten sie ihn gut genug gekannt, um jetzt dorthin zu fahren. Im Gegensatz zu Leo, der scheinbar nicht einmal Denny gut genug gekannt hatte... Leos Finger flog flink über das Display seines Handys. Bei der Nummer von dem Typen, den er auf Renés Geburtstagsparty kennengelernt hatte, blieb er hängen. Er hatte sich tatsächlich als Nummer-2-Mann in Leos Kontakte eingetragen. Und jetzt gab es noch nicht einmal mehr einen Nummer-1-Mann. Leo lachte trocken auf. Ohne den grünen Hörer neben seinem neuesten Kontakt gedrückt zu haben, ließ er sein Handy zurück in seine Hosentasche gleiten und machte sich auf den Weg zur nächsten S-Bahn-Haltestelle.   "Leonid, wie schön, dass du hier bist!" Leo beugte sich zu seiner Mutter hinab, die ihm die Tür geöffnet hatte, und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Hinter ihr bellte Bonny, die sich nach elf Jahren noch immer nicht entschieden hatte, ob sie Leo mochte oder nicht. Der kleine Malteser wuselte möglichst dicht um Leos Beine, der die Wohnung betrat, und knurrte den jungen Mann an, während sie gleichzeitig mit dem Schwanz wedelte. "Teppichratte", säuselte Leo dem Hund so nett er konnte zu, der prompt damit begann, sich kläffend im Kreis zu drehen. "Beschwer' dich nicht, wenn er dich wieder beißt", tadelte Leos Mutter. "Keine Angst, ich beiße sie nicht mehr." Leo nahm Bonny auf den Arm, die nun knurrend die Zähne zeigte, nur um im nächsten Augenblick Leos Kinn abzulecken. "Ja, du kleine Töle, du weißt, dass ich Frauen mit Temperament mag, nicht wahr?" "Hast du Hunger?", rief Leos Mutter aus der Küche. "Nein, danke." Mit Bonny auf dem Arm warf Leo einen schnellen Blick ins Wohnzimmer. "Wo ist Papa?" "Vorstellungsgespräch", kam die Antwort. "Das fünfte in dieser Woche..." Leo sah seine Mutter verständnisvoll an, die ihn am Ellenbogen packte, und in ein angrenzendes Zimmer führte.   "Braucht ihr irgendwas?" Leo setzte sich auf den Stuhl, der neben dem Schreibtisch seiner Mutter stand. Nur knapp entging er der Hand seiner Mutter, die nach seinem Kopf schlug. Nicht, dass sie ihn tatsächlich geschlagen hätte, aber alleine diese Geste reichte schon aus, dass er Bescheid wusste. Er lachte. Genau wie seine Mutter, die ihn nun in den Arm nahm. "Wir haben alles, keine Sorge." Sie drückte Leo noch einmal schnell an sich und nahm dann auf dem Stuhl Platz, der vor dem Schreibtisch stand. Ihre Hand griff nach ihrer Brille, die auf einer Büste von Virginia Woolf ihren Platz hatte. Leo achtete auf jede Bewegung, die seine Mutter tat. Er liebte seine Mutter. Und er liebte das Arbeitszimmer seiner Mutter, das wie eine räumliche Erweiterung all dessen war, was seine Mutter verkörperte. Dieser lichtdurchflutete Raum mit den riesigen Altbaufenstern war schon immer sein Rückzugsort gewesen, seit er denken konnte. Hier zwischen den zuckenden Lichtflecken, die die Sonne durch die Blätterkrone der Kastanie vor dem Fenster ins Zimmer warf, hatte er schon so manchen Tag verbracht. Als Kind meistens mit seinem Spielzeug auf dem Boden, während seine Mutter am Schreibtisch saß und Schulhefte kontrollierte. Später dann war er an viel zu vielen verkaterten Morgen auf der Recamiere aufgewacht, die an einer Wand zwischen zwei hohen Bücherregalen stand. Und immer hatte ein Glas Wasser daneben gestanden, wenn er seine geschwollenen Augenlider geöffnet und gleich darauf wieder geschlossen hatte, weil der Restalkohol in seinem Kopf noch eine After-Show-Party feierte. Das schien alles schon so ewig her zu sein, noch lange bevor er Denny kennengelernt hatte. Lange bevor das alles zur Katastrophe geworden war. Leo seufzte, ohne den Blick seiner Mutter zu bemerken, die ihren Sohn aufmerksam beobachtete.   Auf dem Schreibtisch lag ein Stapel Schulhefte, von denen das oberste aufgeschlagen war. Leo betrachtete sich die wenigen Korrekturen mit roter Tinte. Darunter stand wie immer die Note und ein zweizeiliger persönlicher Text. Seine Mutter tat es immer noch. Schon seit er sich erinnern konnte, schrieb sie unter jede korrigierte Arbeit ein paar Sätze, die sich an den jeweiligen Schüler richteten. Und es war immer etwas motivierendes, was ihre Schüler scheinbar auch zu schätzen wussten, wie man an den wenigen Korrekturen sehen konnte, die nötig waren. Sachte strich Leo über das weiße Fell des Hundes, der auf seinem Schoß eingeschlafen war. René hatte ihm noch immer nicht verraten, woher genau er Norman kannte. Leo schätzte, dass er das auch nicht so schnell vorhatte. Irgendwo war ein Haken. Das leise Scharren von vier Stuhlbeinen auf Parkett ließ Leo aufsehen. Erschrocken stellte er fest, dass seine Mutter mit dem Korrigieren aller Arbeiten fertig war, ohne dass er es bewusst mitbekommen hatte. "Entschuldige, ich war wohl kurz in Gedanken." Bonny blinzelte ihn träge an, als Leo sich erhob und den Hund auf dem Boden absetzte. Er folgte seiner Mutter in die Küche und schwang sich auf die Arbeitsplatte. Bonny tapste zu ihrer Wasserschüssel und trank geräuschvoll daraus. "Möchtest du einen Tee?" Leo verdrehte die Augen. "Jetzt fängst du auch noch damit an..." Er dachte an die Tasse Tee, die ihm René in der Nacht nach Dennys Tod ans Bett gestellt hatte. Scheinbar machte Tee alles besser. Nur Tote weckte er nicht auf. "Dann warte wenigstens, bis meiner fertig ist." Seine Mutter füllte ihren alten roten Teekessel mit Wasser und stellte ihn auf den Herd. Die Gasflamme zuckte auf und schmiegte sich lodernd an den Boden des Kessels.   "Denny ist tot", sagte Leo. Unbeeindruckt nahm seine Mutter eine Porzellankanne vom Regal über dem Herd. Sie stellte sie neben Leo auf die Arbeitsfläche und streckte sich nach einer bunten Blechdose, in der sie den Tee aufbewahrte. "Denny ist tot und ich bin daran schuld", fügte Leo abgeklärt hinzu. Seine Mutter kippte den losen Tee in einen langen silbernen Filter aus Metall, den sie in die Kanne hing. Aus der Spitze des Teekessels stiegen Kringel aus Wasserdampf empor. Kurz darauf begann das Wasser blubbernd zu kochen und aus den Wasserdampfkringeln wurde eine stetige Säule, die nach oben stieg und sich in der Abzugshaube verlor. "Ich musste komischerweise noch kein einziges mal deswegen weinen." Leo sah mit schiefgelegtem Kopf seiner Mutter zu, die das kochende Wasser aus dem Kessel in die Teekanne goss. Sie platzierte die Kanne mitsamt zwei Tassen, einer Zuckerdose und einer kleinen Kanne Sahne auf einem Tablett und brachte alles zum Küchentisch hinüber. Leo glitt von der Arbeitsplatte und setzte sich zu seiner Mutter an den Küchentisch. "Eigentlich denke ich, dass ich hätte tot sein sollen." Leo erwiderte den Blick seiner Mutter, der forschend auf ihm ruhte. Sie streckte die Hand nach ihm aus und strich sachte über seine Wange. "Du bist heute so still, Leonid, was ist los?" Sie klang besorgt. Kein Wunder. Er wäre es auch. Vor allem da er wusste, dass das einzige mal, dass er Dennys Tod und seine eigene Schuld daran erwähnt hatte, in seinen eigenen Gedanken stattgefunden hatte. Unhörbar für seine Mutter und all die anderen, aber immer und immer wieder in Endlosschleife in seinem Kopf, seit er an jenem Abend über das Dach nach unten geblickt hatte. "Nichts, alles okay."   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)