Stille Wasser von Ixtli ================================================================================ brb --- Zum hundertsten Mal schon sah Henrik auf die große Bahnhofsuhr, deren Minutenzeiger sich seit seinem Eintreffen gerade anschickte, die zweite Runde über das Zifferblatt zu drehen. Über eine Stunde Verspätung. Das passte nicht zu Norman, dem schon ein abgerissener Knopf schlaflose Nächte bereiten konnte. Seitdem kaufte er sich nichts mehr, woran sich Knöpfe befanden, nicht einmal Bettwäsche. Henrik unterbrach seine nervöse Wanderung am Bahnsteig entlang. Er hatte Hunger. Nach drei Stunden Zugfahrt und einer Stunde Warten auf seinen Bruder, der ihn eigentlich, wie es an ihren gemeinsamen Wochenenden so üblich war, abholen wollte, hatte er sogar verdammt großen Hunger. Den winzigen Hot-Dog in dem matschigen Brötchen, den er sich am Kiosk gekauft hatte, hatte Henrik nach dem ersten misstrauischen Blick mit nur drei Bissen verschlungen und war für exakt eine viertel Stunde tatsächlich satt gewesen. Wieder wählte Henrik Normans Nummer. Sein Daumen drückte zweimal auf den grünen Hörer. Der Speicher der zuletzt gewählten Rufnummer erweiterte sich auf Neun und wie die acht Male zuvor, ging auch jetzt die Mailbox dran und predigte mit seliger Stimme, dass die gewählte Nummer zur Zeit nicht erreichbar sei. Ach was?! Henrik würgte die monotone Stimme mitten im Satz ab und schob das Smartphone in seine Hosentasche. Norman und Telefone waren wie Norman und Knöpfe. Unvereinbar. Norman, sein uncooler großer Bruder, der es so eilig gehabt hatte, von zu Hause wegzukommen, dass er nicht viel mehr als eine Tasche mit Kleidern mitgenommen hatte. Raus aus dem Kuhkaff, das er seitdem keines Blickes mehr gewürdigt hatte, und rein in die Stadt, deren Lebensfreude versprühende und Begeisterungsfunken schlagende Frohlockungen Henrik von seiner momentanen mit Taubenkot gefleckten Position heraus leider nur erahnen konnte. Seufzend ließ sich Henrik auf eine der Bänke nieder. Er beugte den Kopf in den Nacken und sah hinauf zur Glasdecke, in deren eisernem Geäst die gurrenden Verursacher der grau-weißen Anzug und Denkmäler zerstörenden Fliegerbomben hin und her tippelten. Norman war froh über seinen Auszug gewesen. Wie sehr, war Henrik so richtig klar geworden, als sich Norman erst nach über einem halben Jahr Funkstille endlich wieder gemeldet hatte. Nicht einmal die Lethargie, mit der ihre Eltern die Nachricht ihres Ältesten aufgenommen hatten, hatte Henrik erschüttern können. Es schien, als wäre ihren Eltern schlichtweg alles egal, was Norman betraf. Oder sie waren ihm böse, weil keine der Horrorvorstellungen eingetroffen waren, mit denen sie Henrik einzuschüchtern versucht hatten. Darüber, was in dem halben Jahr passiert war, hatte er nie ein Wort verloren und Henrik hatte nicht nachgefragt, weil er es seinem Bruder hatte nachfühlen können, wie es sein musste, alles hinter sich zu lassen und irgendwo neu zu beginnen. Da hatte man wahrscheinlich andere Dinge im Kopf als kleine Brüder, die sich langweilten. Es ging Norman gut, das war der Punkt. Das musste er nicht erst beteuern, man hörte es und man sah es ihm an, wovon sich Henrik kurz darauf selbst überzeugen konnte, als Norman ihn zum ersten Mal zu sich eingeladen hatte. Von da an hatte sich etwas in Henrik, der schon immer der Bequemere von ihnen beiden gewesen war, angefangen zu regen. Ganz sachte hatte es an die Tür geklopft, hinter der sich Henriks Kommandozentrale zur Steuerung seines Lebens befand. Und er hatte diese Tür aufgerissen und den Besuch davor mit offenen Armen empfangen und hereingebeten, als wären es lange vermisste Freunde, die er vor zwanzig Jahren aus den Augen verloren hatte. Und genau darüber wollte er mit Norman sprechen. Über das Ausziehen. Und darüber, wo er hin sollte, bis sich der erste Sturm gelegt hatte, den er damit heraufbeschwören würde, wenn herauskam, zu wem er wollte: zu dem einzigen Menschen in Henriks Leben, der keine tollen Sprüche drauf hatte und der sich einen Scheiß darum kümmerte, wo er auf der Coolness-Skala stand. Der einzige, der ihn noch nie belogen hatte. Der, der bisher auch nie zu spät gekommen war... "Hey, tut mir leid." Norman. Ein Schatten fiel auf Henrik, der sofort die Augen aufschlug. "Mann, wo warst du?" Henrik setzte sich auf und streckte sich ausgiebig. "Ich bin kurz vorm Verhungern." Er sah seinen Bruder vorwurfsvoll an, der ihm nervös auswich. "Hat etwas gedauert, war keine Absicht. Wo ist dein Gepäck?" Norman sah sich auf dem Bahnsteig um. "Oh... Moment... Hier unter der Bank." Henrik beugte sich vor und warf einen Blick unter die Bank, auf der er saß. Keine Tasche. Irritiert versuchte Henrik, sich auf dem Bahnsteig zu orientieren, den er eineinhalb Stunden lang wie ein Wachsoldat auf und ab geschritten war. Er hatte seine Tasche unter eine Bank gestellt. Unter eine von fünfzehn. "Ist es die hier?" Norman zog Henriks Tasche unter einer Bank schräg gegenüber hervor. "Danke." Henrik nahm die Tasche entgegen und warf sie sich über die Schulter. "Zum Glück ist dein Kopf angewachsen, was?" Die Fingerknöchel von Normans rechter Hand trafen Henriks Stirn. "He, lass das!" Unwirsch schlug Henrik Normans Hand weg, der seinem kleinen Bruder einfach mit der anderen Hand eine zweite Kopfnuss verpasste. Henrik gab Norman einen Stoß, der diesen Straucheln ließ. Einen Moment lang war Henrik irritiert, wie leicht das ging. "Was ist denn mit dir los?", lachte er seinen Bruder aus, der Mühe hatte, auf den Beinen zu bleiben. "Ist dir dein kleiner Bruder endgültig über den Kopf gewachsen?" "Du wolltest doch was essen, richtig? Und nach Hause laufen möchtest du doch auch nicht", zischelte Norman Henrik verärgert zu, der triumphierend neben ihm her stolziert, Norman nachäffte und sich plötzlich unglaublich stark fühlte. Ungehalten stieß Norman die Luft aus und überholte Henrik mit langen Schritten. Nachdenklich sah Henrik Norman nach. Wenn ihn nicht alles täuschte, war Norman bereits lange aus dem Wachstum heraus und trotzdem sah es aus, als wären ihm die Kleider zu groß geworden. Und eben, als er ihn gestoßen hatte, hatte Norman ziemlich schnell das Gleichgewicht verloren. "Hast du abgenommen?" Norman tat, als hätte er nichts gehört. "Machst du eine Diät?" "Gott, Henrik, du gehst mir schon nach fünf Minuten das erste Mal auf die Nerven." Henriks Augen verfinsterten sich. Und er hatte recht, da konnte sich Norman von ihm aus auf den Kopf stellen und die Kleine Nachtmusik rückwärts pfeifen. "Das sind mindestens zehn Kilo weniger." "Ich mache ein bisschen Sport, habe meine Ernährung umgestellt. Wo ist das Problem?" "Das Problem läuft zwei Meter vor mir her und hat wortwörtlich keinen Hintern mehr in seiner Hose", grummelte Henrik beleidigt und betrachtete sich die verdächtig um die Beine flatternde Jeans seines ohnehin nie besonders kräftig gewesenen Bruders. Welche Sportart bescherte einem eine Silhouette, mit der man sich hinter einem Laternenmast verstecken konnte? Und überhaupt – Ernährungsumstellung? "Auf was hast du deine Ernährung denn umgestellt? Auf Photosynthese?" Norman drehte sich so schnell zu Henrik um, dass der erschrocken innehielt. "Schön, du Klugscheißer, du hast die Wahl", Normans Zeigefinger bohrte sich in Henriks Brustbein und seine Stimme klang drohend, "entweder hältst du ab sofort deine Klappe darüber, wieviel ich wiege oder ich setze dich in den nächsten Zug zurück. Was ist dir lieber?" "Das ist aber eine ganz schön beschissene Wahl", begann Henrik aufmüpfig, ehe er sich unter Normans grimmigen Blicken selbst unterbrach. Normans Augen scannten jeden Zentimeter in Henriks Gesicht ab, der seine Lippen fest zusammengekniffen hatte. Ein Wort und er flippte aus, dachte Henrik geknickt. "Freut mich, dass du dich fürs Hierbleiben entschieden hast. Bist du noch hungrig?" Eine in Normans Augen unglaubliche Menge gebratener Nudeln später war Henrik endlich satt und sie hatten es ohne Unterbrechung bis zu Normans winziger 1-Zimmer-Wohnung geschafft. Henrik ließ seine Tasche auf Normans Bett fallen und sich selbst gleich daneben. "Und was machen wir jetzt?" "Ich gehe duschen", sagte Norman und öffnete den schmalen Kleiderschrank. Er nahm frische Kleidung heraus und warf sie neben Henriks Kopf auf das Bett. "Wie unterhaltsam..." Henrik gähnte demonstrativ. Norman versuchte, ihn zu ignorieren. Was nicht leicht war. "Auf dem Tisch", Norman nickte in die entsprechende Richtung. "Lies es dir durch." Und dann war er auch schon zur Zimmertür hinaus verschwunden. Schwerfällig erhob sich Henrik von dem viel zu bequemen Bett. Er beugte sich gerade so weit vor, dass er mit den Fingerspitzen den giftgrünen Flyer erreichen konnte, der vor ihm auf dem niedrigen quadratischen Tisch lag. WRECK THE HALLS lautete die Überschrift in Großbuchstaben, von denen jeder einzelne ein einstürzendes Gebäude darstellen sollte. Was zur Hölle war eine Abrissparty? Musste man dort arbeiten, um einen Drink zu bekommen? War das gefährlich? So richtig mit Mörtel im Bier und Rostbröseln im Vodka? Klang gut. Gedankenverloren faltete Henrik den grünen Zettel und warf ihn zurück auf den Tisch. Als Norman zwanzig Minuten später wieder erschien, saß Henrik noch immer auf dem Bett und tippte eifrig auf der Tastatur des kleinen Netbook herum, das vor ihm auf der Bettdecke stand. "Du kannst gehen, das Bad ist frei." Norman stopfte seine getragene Kleidung in einen Hocker, der gleichzeitig als Wäschekorb diente. "Kein Bedarf, ich bin schon fertig." Mit in die Hüften gestützten Händen sah Norman auf Henrik hinab, der ihm schon keine Beachtung mehr schenkte und weiter auf die Tastatur eindrosch. "Was machst du da?" "Ich habe dir einen Messenger installiert." Stolz drehte Henrik das Netbook so herum, dass Norman einen Blick auf den Bildschirm werfen konnte. Mitten auf dem Display prangte ein geöffnetes Fenster, in welchem sich zwei sich anschauende Smileys miteinander unterhielten, in dem sie sich gegenseitig wellenförmige Linien zuschickten. Darunter war ein leeres Eingabefeld. "Danke – brauche ich nicht", murmelte Norman unbeeindruckt. "Und ob du den brauchst", widersprach Henrik eifrig. "Ich bin übrigens der Erste in der Liste." "Welche Liste?" "Die Kontaktliste." Henrik sah Norman an, als käme er geradewegs aus einem vergangenen Jahrhundert. "Ich stehe unter H." "H wie Henrik? Wie originell." Henrik lächelte milde. "Nein, H wie herzallerliebster Bruder, den du in Zukunft mindestens alle zwei Tage mal nudgest." "Den ich was?" "Anstupst. Von wo hinter dem Mond kommst du eigentlich her?" "Du spinnst..." Norman konnte sich das Grinsen nicht verkneifen. Er nahm Henrik das Netbook weg, ehe er noch mehr unverständliche Sachen damit anstellen konnte, und klappte es zu. "Los, zieh dich um, wir gehen jetzt." "Ich bin umgezogen", erklärte Henrik und deutete auf seinen Oberkörper. Statt eines blauen T-Shirts trug er nun ein schwarzes. "Hauptsache, wir können endlich los." "Wie ist die Adresse?" "Moment." Henrik kramte in seiner Jackentasche nach dem giftgrünen Flyer. "Die Adresse-" Papier knisterte. "Die -ähm- Adresse ist-" Es raschelte. Norman bremste das Auto vor einem Zebrastreifen ab, um die wartenden Fußgänger über die Straße zu lassen. Ungeduldig sah er zu seinem Bruder hinüber, der den zu einem Papierboot gefalteten Flyer mühselig auseinander zupfte. "Was hast du mit dem Zettel gemacht?" "Mir war langweilig." Endlich hatte es Henrik geschafft, das Papier zu entfalten. Er las Norman die Adresse vor, verglich sie einem der Straßenschilder, an dem sie gerade vorüber fuhren, und blickte seinen Bruder ratlos an. "Sind wir hier nicht falsch?" "Wir müssen noch jemanden abholen", klärte Norman Henrik auf. "Oh", begann Henrik und nickte verstehend. "Dann hättest du ja schon zwei Leute in deiner Kontaktliste." "Fang bloß nicht wieder damit an." Henrik lachte schadenfroh. "Und wer ist es?", setzte er versöhnlicher hinzu. "Das kannst du ihn gleich selbst fragen." Das Auto kam in zweiter Reihe zum Stehen und Norman hupte einmal kurz. Ein junger Mann, der mit einer Schulter gegen das Schaufenster eines Second Hand-Ladens lehnte, hob den Blick von seinem Handy und winkte ihnen zu, als er das Auto erkannte. Er löste sich von seinem Platz und schlenderte in aller Seelenruhe zum Auto, das zum Ärger der übrigen Verkehrsteilnehmer die rechte Fahrspur blockierte. Henrik konnte nicht anders als dem Fremden, der gerade die Tür hinter Norman öffnete, neugierig entgegen zu starren. "Atmen nicht vergessen", erinnerte ihn Norman amüsiert. "Hallo", begrüßte der Fremde sie mit einem breiten Lächeln, als er auf die Rückbank sank. "Das ist Denny", stellte Norman den jungen Mann vor, der Henrik freundlich zunickte. "Und der Stummfisch hier neben mir ist mein kleiner Bruder Henrik." "Kleiner Bruder ist gut, ich bin einen Kopf größer als er." "Einen halben!", protestierte Norman verstimmt. Artig gab Henrik Denny die Hand, die dieser, wenn auch etwas erstaunt über diese förmliche Höflichkeit, schüttelte. Henrik sah von Denny zu Norman hin, der wohl darauf wartete, wie Henrik nun reagierte. "Siehst du, dafür gibt es Messenger..." Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)