Stille Wasser von Ixtli ================================================================================ Zwanzigtausend Fragen --------------------- "Hallo und Herzlich Willkommen! Wenn ihr kein eigenes Werkzeug habt, nehmt euch was mit. Aber bitte nur im vorgesehenen Bereich benutzen." Mit glänzenden Augen sah Henrik auf den Schraubenschlüsssel und die Schutzbrille in seinen Händen hinab, die man ihnen am Eingang des Clubs gegeben hatte. "Viel Spaß und vergesst nicht, euch ein paar Erinnerungsstücke mitzunehmen", war der letzte Ratschlag, den sie bekamen. Henrik konnte es nicht fassen - es war tatsächlich eine Abrissparty und es war nicht einmal sarkastisch gemeint. Überall liefen Leute herum und trugen entweder Werkzeug oder einen Teil der Einrichtung mit sich herum. Gerade lief jemand mit einem Clubsessel an ihnen vorbei. In vier Wochen war Neueröffnung und das hier schien wohl eine unkonventionelle Art zu sein, die Sperrmüllgebühren zu sparen. Sie folgten den stampfenden Bässen, kreischenden Elektroklängen und den weißglühenden Stroboskoplichtern, die an und aus und hin und her kreiselten, dass einem beim Zuschauen schwindelig werden konnte. ALLES MUSS RAUS! und MITNEHMEN WAS GEFÄLLT!, skandierten die großen Plakate, die den Weg zu den Bereichen säumten, in denen man nach Lust und Laune die Einrichtung rausreißen und mitnehmen durfte. So etwas gab es wohl nur in Städten, dachte Henrik staunend, was ihn wiederum darin bestärkte, Norman unbedingt fragen zu müssen, was er davon hielt, wenn er ebenfalls hierher zog. LETZTE CHANCE!, schrie das Plakat, das die gleiche giftgrüne Farbe wie ihr Flyer besaß, Henrik an. JA!, schrie es in Henrik zurück. ICH HABS KAPIERT! Henrik hielt Norman am Ärmel fest und zog ihn zu sich, damit er in dem Höllenlärm auch bloß jedes Wort verstand, was Henrik die ganze Zeit schon auf der Seele brannte. Die Frage aller Fragen, die man großen Brüdern stellen konnte, die eigenständig in der lässigsten Stadt der Welt wohnten: Kann ich 'ne Weile bei dir wohnen? "Was möchtest du trinken?", brüllte Norman Henrik ins Ohr. Nichts! Ich will bloß hier wohnen!, hätte Henrik am liebsten geantwortet. "Bauarbeiterschorle", sagte er stattdessen. "Was?" "Bier", half Denny Norman großzügig auf die Sprünge, ehe er und Henrik über Normans entgeisterten Gesichtsausdruck lachten. "Na, hast du dich ausgetobt?" Henrik nickte, als er eine dreiviertel Stunde später wieder zu Norman und Denny zurückkehrte, die beide ihren Platz an der Bar nicht verlassen hatten. Stolz präsentierte Henrik ihnen seine Ausbeute: eine mit knallrotem Plüsch bezogene etwa 40x40 cm große Wandkachel. "Schau mal, was ich dir mitgebracht habe." "Das wäre doch nicht nötig gewesen." Mit spitzen Fingern nahm Norman sein Geschenk entgegen und sah es sich von allen zerzausten Seiten an. "Wäre wirklich nicht nötig gewesen..." "Passt doch perfekt zu deinem Solarbetriebenen Wackeldackel auf der Hutablage", kam Denny Henrik zu Hilfe. Norman sah Denny strafend an, der, um nicht laut loszulachen, den Kopf von Norman wegdrehen musste und schnell einen Schluck aus seiner Flasche nahm. "Du also auch, Brutus?", zitierte Norman möglichst ernst. Denny, der vergeblich versuchte, sich zu beherrschen, lachte nun doch laut los, während Henrik vor den Beiden stand und den Kopf schüttelte. Brutus-wer? Norman hatte Humor? Und er hatte jemanden gefunden, der ihn auch noch teilte? Das waren zu viele Paradoxe an einem einzigen Tag. Henrik hob die Hand, um sich ein neues Bier zu bestellen. Gerade als der Barkeeper sich zu ihm beugte, fiel ihm Norman ins Wort und bestellte für Henrik etwas, von dem er noch nie gehört hatte. Kurz darauf hielt Henrik ein Glas mit einer pinkfarbenen Flüssigkeit in seiner Hand. "Wow, ich bin beeindruckt", witzelte Henrik. "Aber warum gibt es dazu kein Papierschirmchen?" "Probier erst mal." Henrik sah seinen Bruder an, als wäre er dem Wahnsinn verfallen. Weil Denny ihm aber ebenfalls ermutigend zunickte, trank Henrik tatsächlich einen Schluck des Bonbonfarbenen Cocktails und hätte ihn fast wieder ausgespuckt. So ähnlich musste Lava schmecken. "Ich glaube, ich habe mir meine Speiseröhre verätzt", krächzte Henrik heiser, nachdem die Hitze in seiner Kehle soweit abgeklungen war, dass er wieder Luft holen konnte. Jetzt wusste er, warum kein Schirmchen zum Cocktail geliefert wurde – es hätte sich in dieser Flüssigkeit schlichtweg aufgelöst. "Was ist das für ein Zeug?" Norman grinste breit. "Es heißt Rrroar." "Ja, so fühlte es sich auch an..." Henrik biss sich probehalber leicht auf die Zunge, die sich seltsam taub anfühlte. "Wann geht das wieder weg?" "Mit dem nächsten Schluck." Denny prostete Henrik zu, der das pinkfarbene Unschuldslamm mit dem verteufelten Geschmack, misstrauisch beäugte. Das Rrroar machte seinem Namen alle Ehre, aber nach einiger Überwindung hatte es Henrik irgendwann bezwungen. Denny hatte recht behalten. Nach dem zweiten Schluck merkte man nichts mehr von dem pelzigen Gefühl auf der Zunge. Man merkte eigentlich gar nichts mehr, als hätte man seinen Mundraum mit einem Narkotikum ausgespült. Und dann spendierte ihm Denny ein Getränk, von dem Henrik zuerst nicht wusste, ob er sich damit über ihn lustig machen wollte. Es nannte sich Meeeow und war das genaue Gegenteil des Rrroar. Wie es direkt schmeckte, ahnte Henrik nicht einmal, weil sich seine Mundhöhle noch immer anfühlte als wäre etwas beim Feuerspucken schief gegangen, aber statt eines Brennens hinterließ das Meeeow nun eine wohltuende Kühle, die Henriks in Aufruhr geratenen Geschmackssinn wieder besänftigte. "Die beiden gehören zusammen", erklärte ihm Denny. "Offensichtlich. Ich frage mich nur, warum mir Norman das nicht gesagt hat." Henrik warf seinem Bruder, der sich zu einer anderen Gruppe gesellt und ihnen den Rücken zugedreht hatte, einen giftigen Blick zu. Er bestellte sich eine Cola und wandte sich Denny zu, der neben ihm stand und ihn belustigt musterte. Scheinbar konzentriert zupfte Henrik das Flaschenetikett in länglichen Streifen ab. "Wie lange kennt ihr euch überhaupt schon?" Dennys Blicke gingen unwillkürlich zu Norman hinüber, der in diesem Moment irgendwo in der Menschenmenge verschwand. "Anderthalb Jahre", antwortete Denny schließlich. Trotz einiger Promille schaltete Henrik sofort. Vor anderthalb Jahren war Norman hierher gezogen und davon war er das erste halbe Jahr für seine Familie völlig unerreichbar gewesen. Für Denny, den er seit der Zeit, in der sie wieder Kontakt hatten, nicht einmal erwähnt hatte, scheinbar nicht. Denny schien Henriks Gedanken an dessen niedergeschlagenem Gesichtsausdruck abgelesen zu haben. Er beugte sich zu Henrik hinüber, damit der ihn besser verstehen konnte. "Er hat mir zuerst auch nichts über euch erzählt." Euch? Henrik versetzte diese Bezeichnung einen weiteren Schlag in die Magengrube. So weit hatte sich Norman also von seiner Familie entfernt, dass er, gleich nachdem er die Haustür hinter sich geschlossen hatte, sich nicht mehr als Teil davon sah. Bei seinen Eltern konnte er das ja noch verstehen – aber auch seinem kleinen Bruder gegenüber? Denny bemerkte seinen Fehler. "Von dir hat er mir ziemlich früh erzählt und von da an warst du sein einziges Thema." "Klar." Henrik lächelte schief. "Doch", beharrte Denny. "Ich glaube, ich weiß so ziemlich alles über dich." Er bedeutete Henrik, sich noch näher zu ihm zu beugen. Denny schwieg eine Weile, in der er zu überlegen schien. Als er endlich zu sprechen anfing, verstand Henrik trotz des Trubels um sie herum alles, was Denny sagte. Und jedes einzelne Wort davon hatte die zehnfache Wirkung eines einzigen Rrroar. Henrik war plötzlich wieder Vier und saß in seinem Kinderzimmer, das er sich mit Norman geteilt hatte, auf dem Bett. Er hörte Normans dumpfen Herzschlag auf seinem rechten Ohr und sein eigenes rauschendes Blut auf dem linken, das Norman mit seiner Hand zudeckte. Irgendwo hinter diesen ganzen Geräuschen brüllten sich ihre Eltern an. Seine Hände gruben sich haltsuchend in den Pullover seines Bruders, der neben ihm auf dem Bett saß, den jüngeren Henrik im Arm hatte und ihm die Ohren zuhielt, damit er nicht mitanhören musste, was sich ihre Eltern alles an den Kopf warfen, seien es Worte oder Gegenstände. Denny, der schon längst zu erzählen aufgehört hatte, betrachtete sich den abwesend schweigenden Henrik genau. Vielleicht war es doch nicht das optimalste Gesprächsthema gewesen, für das er sich entschieden hatte, aber jetzt waren sie schon einmal dabei. "Weißt du, wie oft er schon unterwegs war, um dich zu bitten, zu Hause auszuziehen und zu ihm zu kommen?" Henriks Kopf schnellte zu Denny hinüber. Seine Augen schimmerten glasig, was an dem Zigarettenrauch, dem Alkohol oder der Tatsache liegen mochte, dass er an so etwas noch nie gedachte hatte. Henrik musste sich beherrschen, um nicht gleich aufzuspringen, Norman zu suchen, ihn am Kragen zu packen und zu fragen, warum zur Hölle er nicht genau das getan hatte. "Wusste ich nicht", antwortete Henrik schließlich mit schwerer Zunge und noch viel schwererem Herzen. Er wollte Denny noch viel mehr fragen. Er wollte alles wissen, worüber Norman nie mit ihm sprach. Er wollte auf jede seiner zwanzigtausend Fragen mindestens zwanzigtausend Antworten haben. Henrik öffnete gerade den Mund, um irgendwas zu fragen, was ihm in diesem Augenblick unglaublich wichtig erschien, als Norman wieder auftauchte, ihm einen brüderlich groben, aber nicht weniger liebevoll gemeinten Schlag gegen den Hinterkopf verpasste und Henrik sich dabei Cola über die Hose schüttete. Vergessen waren die Zwanzigtausend. Norman legte seinen Arm um Dennys Schultern und gab ihm einen Kuss. Henrik stellte seine Cola auf dem Tresen ab und erhob sich von seinem Sitzplatz. "Ihr braucht unbedingt noch eine Plüschkachel", verkündete er tatendurstig und schnappte sich seine gegen den Schraubenschlüssel eingetauschte Spachtel. "Bloß nicht", widersprach Norman entsetzt, doch Henrik war schon auf und davon. Er sah Denny strafend an. "War das deine Idee?" "Dein Bruder eben." Denny zuckte mit den Schultern und lachte über Norman. Umständlich kroch Henrik auf die Rückbank in Normans Auto. Er legte die beiden Plüschkacheln auf die Hutablage und platzierte den Wackeldackel sorgfältig in die Mitte darauf. "So", murmelte er nach getaner Arbeit zufrieden und schnallte sich an. Dass Norman losfuhr, merkte er schon nicht mehr, so schnell schlief Henrik ein. Er erwachte erst wieder als der Motor erstarb. "Bin gleich wieder hier", sagte Norman zu Henrik, der sich ausgiebig streckte. "Rühr dich nicht vom Fleck." "Er ist doch keine Fünf", wurde Norman prompt von Denny gerügt, der sich zwischen den Vordersitzen etwas nach hinten lehnte und Henrik die Hand entgegenstreckte, wie der es bei ihrer ersten Begegnung getan hatte. Er lächelte Henrik an. "Hat mich gefreut, dich endlich mal getroffen zu haben." "Danke gleichfalls." Henrik sah zu, wie Norman und Denny das Auto verließen. Er quetschte sich zwischen den beiden Sitzen nach vorne und ließ sich auf den Beifahrersitz fallen. Dann griff er nach dem Rückspiegel und drehte ihn so zu sich, dass er Norman und Denny darin sehen konnte, die auf dem Bürgersteig neben einer Bushaltestelle standen und sich miteinander unterhielten. "Wir sehen uns morgen, ja?" Norman beugte den Kopf zu Denny hinab und küsste sachte dessen Stirn, die trotz der warmen Temperaturen mit einem dünnen kalten Film bedeckt war. "Um wie viel Uhr ist der Termin?" "Um Zwei." Dennys Blicke gingen unwillkürlich zu Normans Auto hinüber, wo sie Henriks schattenhafte Konturen auf dem Beifahrersitz erkennen konnten. "Er versteht das." "Muss er aber nicht; ich schaffe das alleine." Denny versuchte seiner Stimme einen festen Klang zu verleihen, was Norman mit einem kaum merklichen Kopfschütteln quittierte. "Ich bin um halb Zwei hier, okay?" "Gut", erwiderte Denny. Er lächelte erschöpft. "Viel Spaß noch euch beiden." Norman verzog das Gesicht leidvoll. "Ja, Hurra. Was für ein Spaß, dass ich meinen angetrunkenen Bruder die Treppe hoch tragen darf. Hoffentlich übergibt er sich nicht wieder auf die Badematte." "Daran bist du selbst schuld." Zwei Scheinwerfer krochen um die Straßenecke und hielten auf das Acrylglashäuschen zu, neben dem Norman und Denny standen. "Bis morgen." "Warum fährt er mit dem Bus?", war die erste Frage, die Henrik seinem Bruder stellte, als der auf den Fahrersitz glitt. Norman ließ die Frage unbeantwortet. "Sag zu Hause nichts davon." "Wovon?", wollte Henrik geistesabwesend wissen, als er in der gleichen Sekunde verstand. Er sah wieder in den Rückspiegel, der ihm noch immer zugewandt war und schwieg. Das Davon stieg gerade in den haltenden Bus ein, der sich gleich darauf schnaufend in Bewegung setzte. Denny winkte ihnen zu, als der Bus mit ihm an Normans Auto vorüber fuhr und Henrik hob automatisch die Hand und winkte zurück. "Ich glaube nicht, dass es sie interessiert." Der Bus verschwand aus seinem Sichtfeld und Henriks Blicke schweiften von der Straße zu seinem Bruder hinüber, der ihn abwartend beobachtete. Normans Augen wirkten wie zwei tiefe, dunkle Seen, deren Oberfläche bei Henriks letztem Satz leicht in Bewegung versetzt worden waren. "Das weiß ich und es ist mir auch egal", sagte Norman leise. Er machte sich nicht einmal die Mühe, seine Lüge glaubhaft klingen zu lassen. Henrik sah in die Richtung, in die der Bus mit Denny gefahren war. Wem wollte Norman hier was vormachen? Sich selbst oder seinem Bruder? "Du sollst nur keinen Stress bekommen, sonst nichts." "Bekomme ich nicht", versicherte Henrik Norman, dessen Mund sich zu einem Lächeln bog, das so schnell wieder verschwand, wie es erschienen war. "Dann lass es auch dabei", fügte Norman hinzu. Er drehte den Rückspiegel zu sich und startete das Auto. "Anschnallen", wies er Henrik knapp an, der ihm prompt mit Dennys vorletztem mit ihm gewechselten Satz antwortete. "Ich bin keine Fünf!" Norman grinste schwach, ganz so, wie man kleine Brüder eben belächelte, wenn sie von etwas völlig überzeugt waren, obwohl es von vorneherein zu nichts als zum Scheitern verurteilt war. "Denk dran, wenn du morgen früh mit einem Kater aufwachst." Und denke daran, wenn ich dir sagen muss, dass sich die versprochene Woche auf nur zwei Tage verkürzt, ergänzte Norman seinen Rat in Gedanken. "Der Kater kann mich mal", tönte Henrik überheblich und kurbelte im gleichen Moment das Fenster auf. "Henrik!", schrie Norman entsetzt auf und hätte dem Jüngeren, der sich während der Fahrt aus dem geöffneten Fenster beugte, am liebsten eine ordentliche Kopfnuss verpasst. "Na wenigstens war es nicht die Badematte..." Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)