Märchenwunder von Lluvia (Märchen mal anders) ================================================================================ Rapunzel - Part II ------------------ Als Helen am nächsten Tag Schulschuss hatte war sie ganz hibbelig auf dem Heimweg. Würde Rapunzel tatsächlich wiederkommen? Nicht, dass er sie vergaß! Aber ihre Angst war unbegründet, als ihr Tor in Sichtweite kam sah sie bereits jemanden daran lehnen. Und auch, wenn dieser jemand schwarze Haare hatte, welche er nach hinten gebunden trug, erkannte sie ihn an seinem Gesicht. Mit den tollen, smaragdgrünen Augen! „Rapunzel!“, rief sie fröhlich und rannte die letzten Meter zu ihm als er sie anlächelte. „Hallo Helen“, grüßte er. „Ich hoffe es geht dir gut?“ Sie nickte eifrig. „Wunderbar. Willst du deine Tasche abstellen? Dann können wir reden.“ „Ist gut!“ Schnell lief sie zum Haus, wo sie ihre Tasche abstellte und ihrer Mutter erkläre, dass sie noch einmal kurz rausgehen würde. „In Ordnung, aber sei vorsichtig. Und bleib in der Nähe.“ „Ja Mama!“ Und schon war sie wieder bei Rapunzel, welcher sie lächelnd beobachtet hatte. „Ich wusste, dass du kein ima...imigärer Freund bist!“ „Hm?“, fragte er etwas verwirrt. „Als ich Mama gestern von dir erzählt hab hat sie gesagt du wärst ein... imigärer Freund!“ Rapunzel blinzelte. „Imaginärer Freund?“ „Ja, genau das!“ Helen nickte eifrig. „Was ist das...?“ Er lachte leise. „Ein imaginärer Freund ist eine Person, die du dir selbst ausgedacht hast.“ Ihre Augen weiteten sich. „Aber ich hab dich nicht ausgedacht!“ „Ich weiß, keine Sorge.“ „Gut...“ Sie schmollte noch ein wenig - wieso glaubte ihr ihre Mutter nicht? Er war doch da! - bevor sie den Kopf schüttelte. „Egal, können wir anfangen?“ Rapunzel nickte. „Natürlich. Wollen wir uns setzen?“ „Okay!“, rief Helen, ihre Frustration vergessend, und kletterte auf ihren Zaun, wo sie sich auf einen der breiten Pfosten setzte. Ohne Schulranzen war das nämlich gar nicht so schwer. Schließlich saß sie sicher und starrte Rapunzel, der nun fast auf einer Augenhöhe mit ihr war, erwartungsvoll an. Er lachte leise. „Also gut, Zeit für eine kleine Geschichte.“ Er räusperte sich, bevor er in einer wunderbaren Erzählerstimme fortfuhr. „Es war einmal ein junger Mann, dessen Eltern bevorzugt Rapunzel-Glockenblumen in ihrem Garten wachsen ließen. Deswegen hatte seine Mutter entschieden ihn 'Rapunzel' zu nennen, ganz nach ihrer Lieblingspflanze. Der Junge wuchs wohlbehütet auf und nichts deutete drauf hin, dass er nicht bald den Hof seines Vaters würde übernehmen können, auf dem er immer fleißig half. Eines Tages allerdings - er war gerade wie so oft mit seinem Vater im Dorf um Dinge zu kaufen, die sie zum Leben benötigten - traf er dort auf eine junge Frau. Sie hatte Rapunzel schon häufiger im Dorf beobachtet, aber nun hatte sie zum ersten mal den Mut gefasst ihn anzusprechen, denn sie hatte sich in ihn verliebt und wollte es ihm sagen. Er allerdings wies sie ab, hatte er sie doch vorher nie bemerkt und kannte sie gar nicht. Die junge Frau jedoch war wie besessen von ihm, hielt seine Abweisung für einen Scherz. Und da sie nicht nur jung und hübsch, sondern auch eine Hexe war nutzte sie ihre Zauberkräfte um Rapunzel in der folgenden Nacht zu entführen und in einen abgelegenen Turm zu sperren. Dort gab sie ihm einen Liebestrank, auf dass er nur noch Augen für sie haben würde, und einen Trank, durch welchen Rapunzel sein Haar nun nach Belieben würde färben, wachsen lassen und kontrollieren können, sodass der Turm keinen Eingang abgesehen von einem kleinen Fenster ganz oben benötigte. Zwei Jahre vergingen, in denen die beiden scheinbar glücklich zusammen lebten. Rapunzel bekam täglich zum Frühstück etwas von dem Liebestrank und die Hexe verließ den Turm nur noch ein Wochenende im Monat um einzukaufen, an dem sie Rapunzel vorsichtshalber magisch daran hinderte, den Turm zu verlassen. Eines Tages jedoch wurde Rapunzel sehr krank. Er bekam hohes Fieber und ihm war oft sehr übel. Als die Hexe den Turm verließ um Zutaten für einen Heiltrank zu kaufen, vergaß sie einmal den Liebestrank. Rapunzel kam dadurch wieder zur Besinnung, erinnerte sich aber noch gut an die vergangene Zeit. Daher beschloss er, vorerst so zu tun als sei er wirklich in die Hexe verliebt, damit sie ihm keinen weiteren Liebestrank gab während er einen Fluchtweg suchte. Zwei Monate später war es dann endlich so weit. An einem Wochenende an dem die Hexe nicht da war erschien ein Prinz am Fuße des Turmes und begehrte Einlass, da er sich verlaufen hatte. Rapunzel, der dem Prinzen zum Verwechseln ähnlich sah, sah hier seine Chance und half dem Adligen den Turm zu erklimmen. Oben angekommen bot er dem Prinzen eine wunderschöne Dame zur Frau, wenn dieser nur so tun könne als hieße er Rapunzel, oder würde zumindest so genannt werden wollen. Der Prinz, ein sehr eitler Bursche, aber nicht sonderlich klug, willigte ein und als die Hexe zurückkehrte bemerkte sie den Tausch nicht. Der Prinz allerdings verliebte sich in sie und so konnte Rapunzel guten Gewissens bei Nacht aus dem Turm entkommen. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute und Rapunzel erzählt anderen von den wahren Geschehnissen in dem Turm, welcher inzwischen aber nicht mehr steht, da an dessen Stelle nun das Haus einer wunderbaren Zuhörerin steht.“ Helen war sprachlos. Das war tatsächlich eine ganz andere Geschichte als die, die sie von ihrer Mutter immer erzählt bekommen hatte. Aber Rapunzel hatte sie mit so viel Emotionen vorgetragen – vor allem den Teil im Turm – dass sie gar nicht anders konnte als ihm zu glauben. Das erklärte auch, wieso er am Vortag vor ihrem Hause gestanden hatte. Zu sehen, dass der Turm verschwunden war, war sicher eine Erleichterung... Nur... „Ähm... weißt du was aus dem Prinzen und der Hexe geworden ist?“, fragte sie nach kurzem Zögern. Rapunzel legte sich einen Zeigefinger ans Kinn, wie um nachzudenken. „Hmm... Ich glaube der Prinz hat sie irgendwann mit auf sein Schloss genommen und geheiratet. Der Turm wurde jedenfalls abgerissen wie du sehen kannst.“ Helen nickte nachdenklich. Die Geschichte war wirklich interessant, aber auch traurig. Und gar nicht so, wie die Märchen ihrer Mutter, die eigentlich immer damit endeten, dass die Bösen ihre gerechte Strafe bekamen. Nicht den Prinzen. Aber dennoch... „Du bist ein toller Geschichtenerzähler, weißt du?“, erklärte sie nach kurzem Schweigen. Rapunzel lächelte. „Vielen Dank. Und wer weiß, vielleicht findet du ja jemanden, dem du die Geschichte weitererzählen kannst. Auch wenn ich schon sehr froh darüber bin, dass du mir glaubst.“ Sein Lächeln war so warm, dass Helen sogar ein wenig rot wurde. „Ich werd es weitererzählen, ganz bestimmt!“ „Na dann...“ Rapunzel machte eine Handbewegung, als wolle er ihr über den Kopf streichen, stoppte dann aber doch Millimeter davor und zog seine Hand zurück. Stattdessen sah er in den Himmel, mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck. „Nun, Helen... Ich fürchte es wird so langsam Zeit für mich aufzubrechen. Irgendwelche letzten Fragen?“ „Wo gehst du hin?“, fragte Helen sogleich, da ihr diese Frag als erstes einfiel als Rapunzel davon sprach zu gehen. Er lächelte nun erneut. „Das weiß ich noch nicht. Ich reise viel durch die Gegend, meist einfach wohin mich meine Füße tragen.“ „...Kommst du wieder...?“ Irgendwie schien es Helen nämlich, als würde er mit 'Aufbruch' nicht nur 'für heute' meinen. „Hast du sonst noch fragen zu meiner Geschichte?“ Keine Antwort. Etwas, was Erwachsene Helens Erfahrung nach nur taten, wenn sie entweder selbst nichts zu sagen wussten oder es eh eine negative Antwort gewesen wäre. Sie hoffte auf ersteres. „Ähm... Wie alt bist du eigentlich? Die Märchen gibt es doch schon ewig...!“, fragte sie schließlich doch noch. Rapunzel lächelte mysteriös. „Dann kannst du dir ja vorstellen wie alt ich bin. Aber am Anfang der Geschichte war ich gerade achtzehn geworden. Ich sehe also immer noch aus wie frische Zwanzig!“ Er zwinkerte ihr zu. Sie blinzelte erstaunt. „Wirklich? Wie machst du das?“ „Nun, einer der wenigen Vorteile als Märchenfigur würde ich sagen. Aber gut, noch eine Frage?“ „...Nur eine noch...“, murmelte Helen, ein wenig traurig darüber, dass Rapunzel bald gehen würde und ein wenig nervös ob ihrer Frage. „Ähm... könntest du mir deine Magie mal zeigen...? Das du deine Haar e verändern kannst...? Also wenn du nicht willst ist das auch okay, ich wollte nur-!“ Sie stoppte als Rapunzel eine Hand hob. „Keine Sorge, ich zeig sie dir gern. Das einzige an diesem Fiasko was ich irgendwie lieb gewonnen habe.“ Er lächelte sie einmal mehr an, bevor er die Augen schloss und ein konzentriertes Gesicht machte. Plötzlich wurden seine schwarzen Haare immer länger und länger. Sie wuchsen so schnell, dass Helen es problemlos mit den Augen verfolgen konnte, immer weiter, bis sie trotz des Pferdeschwanzes beinahe den Boden erreichten. Außerdem wurden sie heller, bis sie komplett weiß waren. Helens Augen weiteten sich, als sich die Haare plötzlich teilten, je an einer Seite an Rapunzel vorbei glitten und sich rechts und links von ihr über den Zaun legten. Die rechte Hälfte färbte sich türkis, die linke pink. „Wow...“, war das einzige, was ihr einfiel. Es gab Magie und Zauberei also doch wirklich! Sie konnte es kaum erwarten ihren Klassenkameraden davon zu erzählen! „Es hat schon etwas, das muss ich zugeben. So viel Haar funktioniert zum Beispiel hervorragend als dritte – und manchmal sogar vierte – Hand.“ Rapunzels Haar wurde nun wieder dunkler und kürzer, sodass er seine alte Frisur nach einem kurzen Moment wieder hatte. Er verbeugte sich tief als Helen begeistert zu klatschen begann. „Danke, danke. Freut mich, dass es dir gefallen hat.“ Er richtete sich wieder auf. „Aber ich fürchte dennoch, dass ich dich nun verlassen muss. Die Welt ruft mich, ich wollte vor meiner Weiterreise nur noch einmal an den Ort zurückkehren an dem alles begann... Und dass ich jemanden wie dich hier gefunden habe freut mich umso mehr. Ich hoffe wir sehen uns wieder, Helen. Aber bis dahin: Lebewohl. Wachse zu einer wunderbaren jungen Frau heran, hörst du? Und immer dran denken: Halte dich von Hexen fern, auch wenn sie dich mögen!“ Während seinen Worten waren Helen kleine Tränen in die Augen gestiegen. Aber sie verstand, dass er weiter musste, weshalb sie nichts dazu sagte. Sie lächelte nur, trotz ihrer feuchten Augen. „Ist gut...! Sei vorsichtig und hab viel Spaß auf deiner Reise!“ „keine Sorge!“, erwiderte Rapunzel. „Den werde ich haben.“ Er ging rückwärts den Weg, den Helen vorher gekommen war und hob einen Arm zum Winken. Helen tat es ihm gleich und winkte, bis er um eine Ecke bog und aus ihrem Sichtfeld verschwunden war. Sie wartete noch etwas, bevor sie schließlich vom Zaun sprang und langsam ins Haus lief. Ihre Mutter würde ihr vermutlich nie glauben was sie da gerade erlebt hatte... Aber eines wusste sie: Sie würde Rapunzel nie vergessen! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)