Fünf Jahre von Juju ((K)eine Freundschaft für immer) ================================================================================ Kapitel 31: Zu viel Druck ------------------------- Drei Tage später wurde Kari von dem schrillen Klingeln ihres Handys geweckt. Sie brachte es kaum fertig, die Augen zu öffnen, als sie nach dem kleinen Telefon griff und den Anruf annahm. „Ja?“, brummte sie mit kratziger Stimme. „Kari!“, hörte sie die Stimme ihres Bruders so laut rufen, dass sie unwillkürlich das Handy einige Zentimeter von ihrem Ohr weg hielt. „Schrei mich doch nicht so an am frühen Morgen“, grummelte sie miesepetrig. „Früher Morgen? Es ist schon nach elf“, erwiderte Tai verdutzt. „Wann bist du denn unter die Langschläfer gegangen?“ Nach elf? Kari warf einen Blick auf den Wecker auf ihrem Schreibtisch, dessen grüne Zahlen ihr verrieten, dass Tai Recht hatte. Vielleicht hätte sie mit Davis doch nicht bis morgens um drei in der Bar sitzen und über Gott und die Welt reden sollen. „Hast du angerufen, um mich das zu fragen?“, murmelte sie statt einer Antwort. „Nein. Ich rufe dich an, um dich zu fragen, warum du mir nicht gleich erzählt hast, dass du an der Julia, oder wie die Schule heißt, aufgenommen wurdest!“, antwortete Tai vorwurfsvoll. „Juilliard. Woher weißt du das denn schon wieder?“ „Hab' gestern Abend mit Mama telefoniert. Die hat es erzählt“, erklärte er. „Ich wusste nicht, was das für eine Schule ist und hab' Mimi gefragt. Die ist bald in Ohnmacht gefallen.“ Kari seufzte. „Siehst du? Deswegen erzähle ich dir sowas nicht.“ „Jaja“, murrte Tai ungeduldig. „Am dreißigsten August ist also der Auftritt, zu dem die kommen?“ „Ja.“ „Gut. Mimi und ich werden auch da sein“, versprach er. „Super. Noch mehr Druck von außen ist genau das, was ich brauche“, sagte Kari trocken. „Wir machen doch keinen Druck. Wir feuern dich an und fiebern mit, damit alles gut geht“, widersprach Tai energisch. „Ja, genau wie Mama und Papa und Davis und Nana und Ken bisher“, grummelte Kari. Allein, wenn sie nur daran dachte, auf der Bühne zu stehen und von so vielen kritischen Augen beobachtet zu werden, wurde ihr ganz flau im Magen. Wie sollte sie das nur überstehen? Immerhin ging es dort um ihre Zukunft, um den Rest ihres Lebens. „Warum erzählst du es denen und mir nicht?“, fragte Tai empört. „Tai...“ „Jaja, schon klar. Ich hoffe nur, deinen Neffen lässt du mehr an deinem Leben teil haben als mich.“ „Meinen Neffen?“ Kari stutzte. „Seid ihr noch dabei, dem Kind nach Lust und Laune unterschiedliche Personalpronomen zu verpassen oder steht es jetzt fest?“ „Naja, ich sag' es mal so: Das letzte Ultraschallbild war ziemlich eindeutig.“ Kari stieß einen leisen Schrei aus und vermutlich war nun Tai an der Reihe, Abstand vom Telefon zu nehmen. „Oh, es wird also ein Junge! Wie schön.“ „Ja. Mimi wollte zwar ein Mädchen, aber ich habe ihr ja gleich gesagt, dass ich nur Jungs zeugen kann“, antwortete er selbstgefällig. Den Rest des Tages war Kari ganz verzückt von der Nachricht, bald einen kleinen Neffen zu haben. Das Geschlecht zu kennen machte das Baby auf irgendeine Art und Weise realer. Jetzt war es nicht mehr nur „das Baby“, sondern „der Kleine“ oder schlicht und einfach nur „er“. Der Gedanke an den Kleinen lenkte sie sogar von ihrem rasch nahe rückenden, alles entscheidenden Auftritt ab. Sie konnte es kaum erwarten, ihn im Arm zu halten. Wie ging es dann erst Tai und Mimi? Nichtsdestotrotz traf sie sich von nun an bis Ende August neben dem Training noch zwei Mal die Woche mit Nobuko, um extra zu trainieren und auch an den drei übrigen Tagen der Woche übte sie vor dem Spiegel Bewegungen. Wenn sie gerade nicht tanzte, durchforstete sie das Internet nach Bildern und Berichten über New York und die Juilliard. Je mehr sie über die Stadt und diese Schule las, desto aufgeregter wurde sie und desto mehr verspürte sie den Wunsch, sich tatsächlich diesem Abenteuer zu stellen, auch wenn es bedeutete, alles Bekannte und Vertraute hinter sich zu lassen und ein völlig neues Leben zu beginnen. Sie hoffte sehr, dass sie es schaffte und so überzeugend war, dass sie endgültig angenommen wurde. Wenn sie nicht tanzte und auch nicht das Internet durchstöberte, verbrachte sie viel Zeit mit Davis, der ihr Leid tat. Gut, dass Ferien waren und er so ganz gut Abstand von Ken und Nana nehmen konnte, um mit sich selbst und seiner Situation zurechtzukommen, bevor er mit Ken sprach. Doch mittlerweile hatte Kari ihn so weit bearbeitet, dass er bereit war, tatsächlich mit Ken über sein Problem zu reden. Er wusste nur noch nicht, wann dies geschehen sollte. Neben all diesen Dingen tüftelte sie mit Sora und Yolei einen Plan für den Junggesellinnenabschied aus, der kurz nach ihrem großen Auftritt stattfinden würde. Sie mussten auf jeden Fall etwas ohne Alkohol planen und das fanden Sora und Yolei schon schwierig genug. Drei Tage vor dem großen Auftritt, als Kari gerade in einer für Außenstehende wirklich gewöhnungsbedürftigen Pose – den Rücken so weit durchgebogen und das eine Bein so weit nach hinten hoch gestreckt, dass die Ferse fast ihren Hinterkopf berührte und sie den Fuß mit den Händen festhalten konnte – vor dem Spiegel stand, klopfte es an ihre Zimmertür. „Ja“, rief sie angestrengt, ohne ihre Pose zu wechseln und den Blick vom Spiegel abzuwenden. Das Standbein musste sie wirklich noch ein bisschen mehr strecken. „Komme ich gerade ungelegen?“ Ihr Blick flackerte zur Tür, wo T.K. stand und sie schief grinsend ansah. „T.K.“, sagte sie erfreut und löste endlich die unbequeme und wahrscheinlich auch ungesunde Körperhaltung. „Du bist wieder da.“ „Ja, schon seit vier Tagen“, antwortete er und schloss Karis Zimmertür hinter sich. Wie selbstverständlich ging er zum Schreibtischstuhl, ließ sich darauf fallen und beobachtete Kari. „Lass dich nicht stören, mach ruhig weiter.“ „Ach, schon okay. Willst du was trinken?“, fragte Kari ein wenig unentschlossen. „Nein, danke. Ich wollte auch gar nicht lange bleiben. Bitte mach weiter, du musst ja fit sein für in drei Tagen“, erwiderte er kopfschüttelnd. Kari zögerte, zuckte aber schließlich mit den Schultern und ging in einen Spagat auf dem Boden. T.K. hob die Augenbrauen, während sie den Oberkörper über ihr rechtes Bein legte. „Ich schätze, du weißt davon durch deine Mutter?“, mutmaßte Kari und versuchte, den leichten Dehnungsschmerz zu ignorieren. „Und von Aya“, ergänzte er. „Sie denkt nicht, dass sie dich nehmen, aber das konntest du dir sicher schon denken.“ Kari verdrehte die Augen. „Ja.“ „Ich glaub' schon, dass sie dich nehmen, wenn ich mir angucke, wie du deinen Körper massakrieren kannst.“ Kari lachte leicht und legte den Oberkörper auf dem linken Bein ab. „Ich hoffe einfach, dass das auch reicht.“ „Bestimmt. Du schaffst das. Ich bin eigentlich auch nur hier, um dir zu gratulieren“, erklärte er, beugte sich nach vorn und stützte die Ellbogen auf seinen Knien ab. „Danke“, sagte Kari lächelnd und richtete sich wieder auf. „Ich hätte nicht gedacht, dass sie mich überhaupt annehmen.“ „Ich schon. Ich hoffe, es ist okay, wenn ich zum Auftritt komme?“ „Ja, klar. Warum nicht?“ „Naja, es ist sicher viel Druck für dich.“ „Ach was“, log Kari abwinkend und stand auf. „Wie war's eigentlich in Frankreich?“ „Ganz cool. Ich habe ein paar Freunde getroffen und so“, antwortete er schulterzuckend. Kari hatte sofort Isabelles Foto vor Augen. Und das Foto, auf welchem er und sie abgebildet waren, wie sie Hand in Hand ins Meer rannten. „Habt ihr... habt ihr Jean gesehen?“, fragte sie langsam und ging zu ihrem Nachttisch. „Nein“, antwortete T.K. sofort in einem so kühlen Tonfall, dass Kari von weiteren Fragen in diese Richtung absah. Sie holte aus der Nachttischschublade die Kette heraus, die sie im letzten Brief gefunden hatte und ging zu T.K. Sein Gesichtsausdruck wirkte auf einmal etwas abweisend. „Danke übrigens hierfür. Ich habe mich sehr gefreut. Das ist ein tolles Geschenk“, sagte sie ein wenig verlegen und ließ die Kette vor seiner Nase baumeln. Seine Gesichtszüge entspannten sich, wurden weicher und wieder freundlicher. „Gern.“ Er nahm ihr die Kette aus der Hand, stand auf und bedeutete ihr mit einer Kopfbewegung sich umzudrehen. Kari folgte dem und ließ sich von ihm die Kette um den Hals legen. Dabei berührten seine Finger ihren Nacken und bewirkten, dass sich die feinen Härchen dort aufstellten. Schnell drehte sie sich wieder um und sah ihn an. „Steht dir gut“, sagte er. Kari lächelte und hoffte, dass sie nicht rot wurde. „Sie hätte mir übrigens auch gefallen, wenn ich nicht mehr tanzen würde.“ „Trotzdem ist es so besser“, meinte er. „Ich gehe jetzt besser wieder, damit du in Ruhe weiter trainieren kannst.“ „Du musst nicht gehen“, antwortete Kari und stellte fest, dass sie tatsächlich nichts dagegen hätte, wenn er noch länger bleiben würde. „Ich will nicht schuld sein, wenn du nicht ordentlich vorbereitet bist“, erwiderte er. Sie nickte und brachte ihn zur Tür, wo er sich die Schuhe anzog. „Wir sehen uns spätestens in drei Tagen“, verabschiedete er sich. „Ja, okay. Ach und T.K.?“ „Hm?“ Er sah sie fragend an. „Schön, dass du wieder da bist“, sagte sie ehrlich und wurde noch verlegener. Er erwiderte nichts, sondern lächelte nur. Falls ihn ihre Aussage irgendwie verwirrte oder überraschte, ließ er es sich nicht anmerken. Dann ging er. Kari trainierte noch bis zum Abend und war am Ende völlig erschöpft. Sie hatte sich gedehnt und viele der einzelnen Bewegungsabläufe vor dem Spiegel geübt. Je öfter sie sich beobachtete, desto sicherer war sie sich, dass sie keine Chance hatte. Sie konnte kaum Können vorweisen. Zwar tanzte sie seit der ersten Klasse regelmäßig und trainierte seit einigen Jahren drei Mal in der Woche, doch was war das schon gegen jemanden, der eine Sportschule besuchte und jeden Tag mehrere Stunden tanzte? Höchstwahrscheinlich waren alle anderen Bewerber um Längen besser als sie. Aber nun war es ohnehin zu spät. Wenn sie ihr absagten, dann sagten sie eben ab. Sicher gab es auch in Japan Schulen, auf denen sie Tanz studieren konnte. Plötzlich platzte ihre Mutter zur Tür herein. „Willst du nicht langsam mal aufhören?“, fragte sie und musterte sie mit einer hochgezogenen Augenbraue. „Du musst doch schon fast tot sein. Außerdem ist Ken hier.“ Erst bei Kens Namen reagierte Kari und drehte sich um. Yuuko war wieder gegangen und dafür hatte Ken nun ihr Zimmer betreten. „Störe ich?“, fragte er, genau wie T.K. „Nein, nein“, antwortete Kari. „Wie du gehört hast, hat meine Erziehungsberechtigte sowieso gerade befunden, dass ich aufhören soll.“ „Das habe ich gehört“, murrte Yuuko vom Flur aus. Kari schloss ihre Zimmertür und wandte sich wieder an Ken. „Trainierst du fleißig für deinen großen Auftritt?“, fragte er und musterte ihr Outfit. Leggins und T-Shirt. „Ja“, seufzte Kari. „Aber ich sollte wirklich langsam aufhören.“ Erst jetzt merkte sie, wie erschöpft sie tatsächlich war. Ken erwiderte nichts, sondern stand etwas unschlüssig in ihrem Zimmer herum. „Setz dich doch“, forderte Kari ihn auf und deutete auf ihren Schreibtischstuhl. Er ging der Aufforderung nach und setzte sich. „Möchtest du was trinken? Oder was essen? Ich kann dir Selleriekuchen von meiner Mutter anbieten, wenn dir der Sinn nach Nervenkitzel steht.“ Ken grinste. „Nein, danke. Ich verzichte.“ „Eine weise Entscheidung“, kommentierte Kari und ließ sich auf ihr Bett fallen. „Also, was gibt’s? Ist alles in Ordnung?“ „Ehrlich gesagt nein“, antwortete Ken und sein Gesicht wurde wieder ernst. Augenblicklich war Kari in Alarmbereitschaft. „Oh, was ist los? Geht's dir gut? Ist was mit Nana? Hat sich jemand verletzt?“ „Nein, nein“, antwortete Ken und hob abwehrend die Hände. „Entschuldige, ich wollte dich nicht gleich so beunruhigen. Es geht um Davis.“ „Ah.“ Kari beruhigte sich und sah ihn abwartend an. Hatten sie etwa doch endlich miteinander geredet? Aber warum sollte Ken dann jetzt zu ihr kommen? Wollte er ihr etwa offenbaren, dass er doch schwul war und jetzt nicht wusste, wie er mit Nana Schluss machen sollte? Hoffentlich nicht! „Naja, ich wollte dich eigentlich fragen, ob... ob du weißt, was mit ihm los ist“, erklärte Ken langsam. „Mit mir will er einfach nicht reden. Egal, ob ich es in der Schule versuche oder beim Training oder ihn anrufe. Er geht mir einfach immer aus dem Weg. Und ich dachte, wenn ich wüsste, was los ist, könnte ich ihn vielleicht gezielter ansprechen, sodass er nicht gleich wieder abhaut.“ „Oh“, machte Kari und bekam ziemliches Mitleid mit Ken. Er sah ziemlich geknickt aus. Davis fehlte ihm offenbar sehr und er wusste nicht einmal, was er angestellt hatte, dass er nicht mehr mit ihm redete. Aber wie sollte sie ihm jetzt nur helfen? Sie konnte ja schlecht Davis' Geheimnis ausplaudern. „Ken, ich... das... das kann ich dir nicht sagen.“ „Aber du weißt es?“, hakte Ken nach. „Naja... ja, schon.“ Er nickte und sah sie durchdringend an, als versuchte er, ihre Gedanken zu lesen. Kari wich seinem Blick aus. Der war ja fast schon schlimmer als T.K. „Kannst du mir wenigstens sagen, ob er in Nana verliebt ist? Ist es das, was ihn fertig macht?“, fragte er nun mit flehendem Blick. „Nein, ist es nicht“, antwortete Kari knapp. Ken sah sie schief an. „Nicht? Ich war mir sicher, das wäre das Problem.“ Er runzelte die Stirn und schien angestrengt nachzudenken. „Ich wüsste nicht, was es sonst sein könnte.“ „Darauf kommst du wahrscheinlich auch nicht“, sagte Kari wahrheitsgemäß. Immerhin war es wirklich kein Problem, mit dem man rechnete, wenn man Davis kannte. „Na super“, murmelte Ken und ließ den Kopf hängen. „Das klingt nicht gerade so, als könnte ich ihm irgendwie helfen.“ Kari nickte. Helfen konnte er ihm nicht, außer, er wurde plötzlich homosexuell. „Es tut mir echt Leid, Ken, aber ich kann's dir nicht sagen, auch wenn ich es vielleicht gern tun würde“, sagte Kari und sah ihn bedauernd an. „Ist schon okay. Es ist nur... egal, wie sehr ich auch darüber nachdenke, mir fällt nichts ein, was ich so falsch gemacht haben könnte, dass er mir so aus dem Weg geht“, antwortete Ken ratlos. „Vielleicht ist er ja doch sauer, weil ich Kapitän der Mannschaft bin und nicht er.“ „Nein“, erwiderte Kari. „Damit kann er umgehen.“ Ken nickte. Ob er ihr wirklich glaubte, wusste Kari nicht. „Glaubst du, er wird mir irgendwann sagen, was los ist?“, fragte er nach einigen Augenblicken. „Keine Ahnung. Ich hoffe es“, antwortete Kari. Sie redeten noch eine Weile ungezwungen miteinander über alles Mögliche, bevor Ken sich schließlich wieder verabschiedete. Nachdenklich sah Kari ihm hinterher, als er durch den Hausflur zu den Treppen ging. Sie würde ihm so gern erzählen, was Davis' Problem war, doch sie wollte sich nicht einmischen. Davis hatte es ihr im Vertrauen erzählt und sie konnte es nicht einfach weiter tratschen, auch wenn sie es gern wollte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)