Fünf Jahre von Juju ((K)eine Freundschaft für immer) ================================================================================ Kapitel 64: Zwölf minus eins ---------------------------- Es war am Abend vor der Beerdigung, als Kari bei Tai und Mimi klingelte. Sie war zu ihnen gekommen, um ihnen dabei zu helfen, ein paar Snacks für den morgigen Tag vorzubereiten. Die ehemalige Gruppe hatte vereinbart, sich nach der Beerdigung bei Tai und Mimi zu versammeln und gemeinsam Matt zu gedenken. Es war Mimi, die ihr die Tür öffnete. Sie sah müde aus, ansonsten aber ganz normal. „Hey“, sagte sie leicht lächelnd und umarmte Kari. „Ich bin froh, dass du da bist.“ Kari folgte ihr in die Wohnküche, wo Tai gerade mit Kaito auf dem Arm am Fenster stand und hinausstarrte. Sie ging zu ihrem Bruder, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wange, woraufhin er zusammenzuckte, als hätte er sie jetzt erst bemerkt. „Hi“, murmelte er, ohne eine Gefühlsregung zu zeigen. Kaitos winziger Kopf lag an seiner Schulter, Tais im Gegensatz dazu riesige Hand schützend auf seinen Hinterkopf gelegt. Seine großen dunklen Augen fixierten Kari, die ihm über den Haarflaum streichelte. „Wie geht’s dir?“, fragte sie an Tai gewandt. Ohne den Blick vom Fenster abzuwenden, schüttelte er den Kopf. Unsicher sah Kari zu Mimi, die ihren Blick vielsagend erwiderte. Gemeinsam gingen die beiden Mädchen in die Küche, während Tai scheinbar völlig in Trance am Fenster stehen blieb. „Es ist schrecklich, oder?“, sagte Mimi mit einem besorgten Blick auf Tai. „Ich komme momentan überhaupt nicht an ihn ran. Manchmal weiß ich nicht, ob er mich überhaupt hört.“ „Er sieht furchtbar aus“, stimmte Kari ihr nicht weniger besorgt zu. Immerhin ging es hier um ihren Bruder, der nicht mehr er selbst war. Und sie fühlte sich schuldig. „Aber er verbringt ganz viel Zeit mit Kaito. Eigentlich habe ich ihn gerade nur zum Stillen. Ansonsten hat Tai ihn auf dem Arm, geht mit ihm spazieren oder beobachtet ihn beim Schlafen. Er übernimmt auch das Wickeln und Baden komplett allein. Ich glaube, das hilft ihm“, erzählte Mimi. „Und wie geht’s dir damit?“, fragte Kari und musterte nun Mimi. Auf ihren Schultern ruhte derzeit eine große Last. Ihr Mann hatte seinen besten Freund verloren, sie hatte ein kleines Baby, um das sie sich kümmern musste, einen Haushalt, den sie schmeißen musste und außerdem bereitete sie sich ganz nebenbei wieder auf die Uni vor. Ab April wollte sie ihr Studium wieder aufnehmen, nachdem sie nun ein Semester ausgesetzt hatte. „Es ist schon okay“, antwortete sie schulterzuckend. „Ich hätte manchmal auch gern ein bisschen mehr Zeit mit Kaito, aber ich weiß, dass Tai das gerade mehr braucht.“ Kari nahm ihre Hand und drückte sie. „Wenn du mal jemanden zum Reden brauchst, kannst du mich jederzeit anrufen.“ „Danke“, antwortete sie lächelnd. „Und wie geht es T.K.?“ Betroffen presste Kari die Lippen aufeinander und senkte den Blick. „Keine Ahnung. Ich habe ihn noch nicht wieder gesehen und auf meine SMS antwortet er kaum.“ „Ohje“, seufzte Mimi und tätschelte Kari die Schulter. „Glaubst du, ich sollte versuchen, ihn irgendwie aufzuheitern? Einfach bei ihm vorbeischauen oder sowas?“ Mimi machte ein nachdenkliches Gesicht und schwieg einige Sekunden, bevor sie antwortete. „Nein, das glaube ich nicht. Vielleicht braucht er einfach ein bisschen Zeit allein. Bestimmt kommt er zu dir, wenn er Hilfe möchte.“ Zögerlich nickte Kari. Sie wusste, dass T.K. niemand war, der gern über seine Gefühle und Probleme sprach, das musste sie respektieren, auch wenn sie der Meinung war, er sollte darüber reden. Zwingen wollte sie ihn jedoch nicht. „Sollten wir nicht langsam mal mit den Snacks anfangen? Sonst sitzen wir bis heute Nacht.“ Erneut seufzte Mimi. „Du hast Recht. Ich glaube zwar nicht, dass irgendjemand von uns morgen Hunger haben wird, aber man weiß ja nie.“ „Es wird sicher schlimm morgen.“ „Das denke ich auch. Ich habe richtig Angst, hinzugehen“, murmelte Mimi und rieb sich die Oberarme, als würde sie frieren. „Ich auch“, gestand Kari nickend. „Was macht ihr mit Kaito?“ „Meine Eltern nehmen ihn bis morgen Nachmittag.“ In diesem Moment schien Tai endlich aus seiner Starre zu erwachen. Wortlos kam er zu den Mädchen herüber und reichte den kleinen Kaito an Mimi weiter. „Alles okay?“, fragte Mimi, als sie Kaito sicher im Arm hielt. „Muss nur mal kurz raus“, erwiderte er dumpf und schon wenige Sekunden später fiel die Wohnungstür ins Schloss. Sprachlos hatten Mimi und Kari ihm hinterhergesehen und tauschten nun einen betretenen Blick.   Die Beerdigung war das wohl schrecklichste Ereignis, dem Kari bisher beigewohnt hatte. Noch nie in ihrem Leben hatte sie so viele weinende Menschen auf einmal gesehen. Am schlimmsten war es jedoch, ihre Freunde zu sehen. T.K. hatte sich während der Beerdigung nicht in ihrer Nähe aufgehalten. Er war bei seiner Familie geblieben. Kari hatte bei Tai, Mimi und den anderen gestanden. Sie hatte Tai nicht ein einziges Mal ansehen können. Aus den Augenwinkeln hatte sie mitbekommen, wie er sich immer wieder über die Augen gewischt hatte. Wann hatte er bloß zum letzten Mal geweint? Das musste Ewigkeiten her sein. Auch Sora war, nachdem man sie über Matts Tod in Kenntnis gesetzt hatte, aus Italien angereist, um die Beerdigung zu besuchen. Sie war ein Wrack. Mitten in der Rede des Bestatters, der von Matts ereignisreichem und viel zu kurzem Leben erzählte, war sie plötzlich zusammengebrochen und musste weggetragen werden. Nun, da die Beerdigung vorbei war, saßen sie alle bei Tai und Mimi in der Wohnung. Nur sie, ohne Familie und ohne Partner. Und ohne Matt. Der Tisch war hübsch gedeckt und es sah fast so aus, als würde hier eine Geburtstagsparty gefeiert werden. Snacks und Getränke waren auf dem Tisch verteilt, Servietten und Kerzen, Teller, Gläser und Besteck. Doch wie Mimi schon am Tag zuvor vorausgesehen hatte, rührte niemand das Essen an. Kari saß zwischen T.K. und Davis. Davis drückte gelegentlich beruhigend ihre Hand. Sie und T.K. waren den Rest der Woche nicht in der Schule erschienen, sondern wurden gezwungen, mit Seelsorgern zu reden und ihre Erlebnisse zu verarbeiten. Kari wollte jedoch nicht darüber reden. Es war alles zu viel für sie. Sie wollte sich am liebsten in ihrem Bett unter ihrer Decke verkriechen und nie wieder herauskommen. Heute befand sie sich das erste Mal seit jenem schrecklichen Tag wieder mit T.K. in einem Raum. Sein Blick war starr und man konnte sehen, dass er nicht geweint hatte. Kari wusste nicht, ob er überhaupt realisiert hatte, dass sein Bruder nicht mehr da war. Alle anderen hingegen hatten rot geweinte Augen, schnäuzten sich hin und wieder und schluchzten leise vor sich hin. Noch nie hatten sie ein solches Treffen abgehalten und würden es hoffentlich so bald auch nicht wieder tun. „Warum ist das Leben so ein Arschloch?“, durchbrach Izzy schließlich die Stille und riss damit alle aus ihren Gedanken. Köpfe hoben sich und Blicke wandten sich ihm zu. „Ich meine, warum erwischt es immer zuerst diejenigen, die es am wenigsten verdient haben?“ „Weil irgendwelche anderen Arschlöcher es so wollen“, entgegnete Davis mit finsterer Miene. „Der Typ hatte 'ne verdammte Waffe! Und er wollte Kari töten!“ „Wollte er nicht“, murmelte Kari und nun wandten sich alle an sie. „Ich glaube, er wollte T.K. nur Angst machen. Ich glaube nicht, dass er tatsächlich vorhatte, auf jemanden zu schießen. Dafür war er zu erschrocken, als er...“ Sie konnte den Satz nicht beenden, doch die anderen verstanden sie auch so. „Aber das macht die Sache doch nicht besser“, schluchze Yolei vom anderen Ende des Tisches. „Er hätte nie mit einer Pistole bei euch aufkreuzen dürfen. Und er hätte erst recht nie schießen dürfen. Matt war doch vollkommen unbewaffnet, habt ihr erzählt.“ Kari nickte nur langsam. „Ich hoffe, er bekommt eine gerechte Strafe“, murmelte Cody. „Ich hoffe, er kommt nie wieder aus dem Gefängnis heraus“, rief Yolei und tupfte sich die Augen mit einem Taschentuch ab. „Leute, hey“, mischte sich Joe ein. „Wir sind doch hier, um über Matt zu reden, oder nicht? Lasst uns doch nicht über diesen... Menschen nachdenken.“ Daraufhin schwiegen wieder alle, doch Kari vermutete, dass ihm im Stillen jeder Recht gab. Jean war es nicht wert, dass sie auch nur einen Gedanken an ihn verschwendeten. „Wie wäre es“, begann Mimi, die unaufhörlich Soras Rücken streichelte, „wenn jetzt mal jeder sagt, was er an Matt mag?“ Sie machte eine kurze Pause. „Gemocht hat.“ „Er hat immer versucht, anderen zu helfen“, antwortete Cody sofort. „Ich erinnere mich noch an damals, als wir uns kennen gelernt haben. Ich hatte ein paar Probleme mit T.K. und er hat sich die Zeit genommen, mir zu helfen, ihn besser zu verstehen.“ „Und er hat immer ehrlich seine Meinung gesagt“, fügte Davis hinzu. „Ich weiß noch, wie T.K. und ich in der Grundschule andauernd aneinandergeraten sind. Er hat uns immer auf den Teppich geholt und uns klargemacht, wie dumm das war.“ „Er war einfach megacool“, schniefte Yolei. Alle sahen sie verwundert an. „Was denn? Ich fand ihn einfach cool mit seiner Band und seiner Musik und wie er auf der Bühne stand. Das war toll.“ „Ja, er hat sich nie von anderen reinreden lassen“, mischte sich nun auch Joe in die Erinnerungen ein. „Er hat immer sein eigenes Ding durchgezogen, ganz egal, was andere dazu gesagt haben. Das habe ich schon immer an ihm bewundert.“ „Und er hatte so viel Talent“, sagte Izzy leise. „Das klingt komisch, aber jemand, der künstlerisch so wenig begabt ist wie ich, kann das nur bewundern. Ich meine, er konnte drei Instrumente spielen, singen und Lieder schreiben.“ „Ich weiß noch, wie er schon in der Schule immer alle Mädchen um den Finger gewickelt hat. Er hätte jede haben können“, warf Mimi ein und stützte den Kopf auf der freien Hand ab. „Allein schon sein Äußeres hat sie alle verrückt gemacht.“ „Er hat sich immer um Kontakt bemüht“ sagte Ken nun, der bisher geschwiegen hatte. „Ich hatte nie viel mit ihm zu tun, aber trotzdem hat er mir hin und wieder eine Mail geschrieben und mich gefragt, wie es mir so geht und was ich so mache. Er hat den Kontakt immer gehalten, obwohl er so viel um die Ohren hatte.“ „Ja, Freundschaften haben ihm schon immer alles bedeutet“, sagte Tai mit heiserer Stimme. Er war kaum zu verstehen. Sein Blick war starr, seine Augen verquollen. „Manchmal habe ich Ewigkeiten nichts von ihm gehört und dachte, wir hätten uns einfach verändert und die Freundschaft wäre nicht mehr so, wie sie mal war. Aber jedes Mal kam er plötzlich wieder zurück und es war, als hätten wir uns erst gestern das letzte Mal gesehen. Ich glaube, er ist der einzige Mensch, der... der wirklich alles über mich weiß.“ Er senkte den Blick, seine Haare verdeckten seine Augen und Kari sah, wie er sich auf die Unterlippe biss. Er kämpfte mit den Tränen. „Er war...“, begann Sora mit weinerlicher Stimme. „Er war einfach... ich... ich habe überlegt, Fabio zu verlassen. Seinetwegen.“ Auch sie senkte den Blick und begann wieder zu schluchzen. Mimi schlang die Arme um sie, während alle anderen ein wenig verwirrt dreinsahen. Kari erinnerte sich wieder an das Gespräch zwischen Matt und Sora, das sie an Weihnachten belauscht hatte. Zuvor hatte sie gedacht, dass der One-Night-Stand zwischen den beiden tatsächlich von Soras Seite aus nur ein dummer Ausrutscher gewesen war. Doch ganz offensichtlich hatte sie noch Gefühle für Matt gehegt, irgendwo tief versteckt in einem dunklen Winkel ihres Herzens. Vermutlich hatten sie die ganze Zeit dort geschlummert und nur darauf gewartet, wieder zu erwachen. Vielleicht hatten Matt und Sora ja zu diesen Pärchen gehört, die füreinander bestimmt waren, die nur mit dem jeweils anderen tatsächlich für immer glücklich werden konnten. Diese Tatsache musste Matts Tod für Sora unerträglich machen. Falls es stimmte, wie sollte sie jemals über seinen Tod hinwegkommen? Obwohl wahrscheinlich bis auf Kari, Mimi und Tai niemand wirklich verstand, was Sora da gesagt hatte, fragte keiner nach. Stattdessen richteten sich die Blicke aller nun unauffällig auf T.K., der bisher geschwiegen hatte und nicht den Eindruck machte, als wäre er geistig anwesend. Kari griff vorsichtig nach seiner Hand, doch er erwiderte ihren Händedruck nicht. „Ich...“, fing er an, als er bemerkte, dass alle ihn erwartungsvoll ansahen. Für ein paar Sekunden zögerte er und die Spannung im Raum schien sich zu erhöhen, doch dann stand er auf. „Entschuldigt mich. Ich gehe jetzt besser.“ Niemand lief ihm hinterher oder versuchte, ihn aufzuhalten, als er aus der Wohnung ging. Nicht einmal Kari, die hilflos auf ihrem Stuhl saß und ihm hinterhersah. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)