Fünf Jahre von Juju ((K)eine Freundschaft für immer) ================================================================================ Kapitel 70: Zusammen in Paris ----------------------------- „Und hier bin ich zur Schule gegangen, im lycée Eugène Delacroix“, erklärte T.K. und deutete mit ausgestrecktem Arm auf einen umzäunten Schulcampus, an dem sie gerade vorbeiliefen. Interessiert blieb Kari stehen und musterte das graue Hauptgebäude. Sie stellte sich T.K. vor, wie er hier von Klassenraum zu Klassenraum ging, auf seinem Stuhl saß und dem Unterrichtsgeschehen folgte, die Pause mit seinen Freunden verbrachte und den ganzen Tag nur Französisch redete. Ein Leben, in dem Kari keinen Anteil hatte. „Ist komisch, wieder hier zu sein.“ Nun musterte sie ihn, wie er dort stand, die Hände in den Taschen seiner Shorts vergraben und mit einem seltsamen Gesichtsausdruck das Gebäude anstarrend. Woran er wohl gerade dachte? „Hattet ihr hier auch so etwas wie Clubs nach dem Unterricht?“, fragte Kari. „Ja. Nicht so viele wie in Japan, aber ein paar gab es. Zum Beispiel eine Theatergruppe, eine Foto-AG, eine Gruppe für die Schülerzeitung, Computerclub... sowas eben“, antwortete er und zuckte mit den Schultern. „Warst du auch in einem Club?“, fragte sie weiter. Er schüttelte den Kopf. „Ich habe Basketball gespielt, aber nicht hier. Das war in einem Verein. Komm, ich zeige dir die Turnhalle, wo das war.“   Zur Mittagszeit waren sie in Drancy, einem kleinen Vorort von Paris, angekommen und waren zu T.K.s Großeltern gegangen, die sie mehr als herzlich willkommen geheißen hatten. Beide sprachen relativ gut Japanisch und so konnte auch Kari sich gut mit ihnen unterhalten. Sie waren noch genauso nett, wie Kari sie von ganz früher in Erinnerung gehabt hatte. Das letzte Mal hatte sie sie zwar erst am Tag von Matts Beerdigung gesehen, doch zu diesem Zeitpunkt hatte es natürlich keine Gelegenheit gegeben, sich mit ihnen zu unterhalten. Nun jedoch machten sie T.K. und Kari unmissverständlich klar, wie sehr sie sich über den Besuch freuten und behandelten sie wie Prinz und Prinzessin. Den Nachmittag hatte T.K. damit verbracht, Kari die kleine Stadt zu zeigen und ihr alle möglichen wichtigen Orte seiner Zeit hier zu erklären. Sie hatte seine Schule gesehen, das Haus, in dem er mit seiner Mutter und Jean gewohnt hatte, den Park, in dem er nachmittags viel Zeit verbracht hatte, das Lieblingsrestaurant seiner Mutter, seine liebste Eisdiele, ein paar Läden zum Einkaufen und außerdem hatte sie viele Geschichten und Gerüchte über alle möglichen Einwohner gehört. Es war, als hätte T.K. sie auf eine Zeitreise geschickt und ihr fünf Jahre seines Lebens an nur einem Nachmittag erzählt. Nun hatte sie eine bessere Vorstellung dessen, was er in der Zeit so getrieben hatte, in der sie keinen Kontakt gehabt hatten. Zum Abendessen wurden sie von T.K.s Großmutter bekocht und gingen anschließend völlig erschöpft von der langen Reise und dem ersten anstrengenden Tag früh ins Bett.   Am nächsten Tag wollte T.K. Kari Paris zeigen, worauf sie sich wahnsinnig freute. Vor lauter Aufregung und wahrscheinlich auch wegen des Jetlags war sie schon um sechs wach und konnte nicht mehr einschlafen. Um acht brachen sie nach einem kurzen Frühstück auf und verbrachten den Tag damit, bei schönstem Wetter kreuz und quer durch die Innenstadt zu laufen. T.K. zeigte ihr verschiedene Sehenswürdigkeiten wie die Notre-Dame, die Sacré-Coeur, die Champs-Élysée, den Triumphbogen, verschiedene kleine Straßen und Gassen und zu guter Letzt natürlich auch den Eiffelturm. Der Himmel strahlte allmählich in den schönsten Gelb-, Rosa- und Lilatönen, als sie ganz oben auf der letzten Plattform ankamen. Mit wackeligen Knien ging Kari so weit an das Geländer heran, wie sie nur konnte. Der Wind pfiff ihr um die Ohren und ließ ihre Haare wild um ihren Kopf fliegen, als sie die Hände am Geländer abstützte und in die Ferne blickte. „Oh mein Gott, das ist unglaublich!“, rief sie überwältigt von der Aussicht, die sich ihr bot. Es wirkte, als könnte sie ganz Frankreich sehen, wie es in der Abenddämmerung in goldenes Licht getaucht vor ihr lag und nur darauf wartete, dass sie jeden Winkel erkundete. Sie unternahm einen erfolglosen Versuch, sich die herumfliegenden Haarsträhnen hinter das Ohr zu klemmen und wandte den Blick zu T.K., der sie ansah. Auch seine Haare wurden gerade völlig zerzaust. „Schön, oder? Wir haben echt Glück mit dem Wetter“, meinte er lächelnd. „Total schön.“ Sie schlang die Arme um seinen Oberkörper und drückte sich an ihn, woraufhin er einen Arm um ihre Schultern legte. „Danke für diesen Tag.“ Er erwiderte nichts, sondern blickte schweigend mit ihr gemeinsam in die Ferne. Beide genossen sie den Ausblick und den Moment, nicht daran denkend, was nach dieser Reise passierte. Sie waren vollkommen im Hier und Jetzt. Dann machte Kari sich von ihm los, legte die Hände an seine Wangen und küsste ihn stürmisch. Dabei konnte sie deutlich die Haarsträhne spüren, die sich irgendwie zwischen ihre Lippen gemogelt hatte und den Kuss störte. Kari ließ ihn wieder los und grinste. „Einmal auf dem Eiffelturm rumknutschen: abgehakt.“ Er grinste und drückte ihr noch einen weiteren Kuss auf die Lippen. „Was steht noch so auf deiner To-Do-Liste? Rummachen in Versailles?“ „Woher weißt du das?“, fragte Kari scherzhaft. „Gut geraten. Da fahren wir morgen hin.“ Kari machte große Augen. „Was, im Ernst?“ „Klar. Wir können nicht fünf Tage nur in Paris bleiben, das wird zu langweilig“, antwortete T.K. und zuckte mit den Schultern. „Wow, ein echtes europäisches Schloss“, staunte Kari und vor ihrem inneren Auge erschienen riesige Gemälde, Marmorfußböden, ausladende Kamine, goldene Verzierungen an jeder Ecke, Tanzsäle, Schlafkammern mit Stoff an den Wänden, Gärten mit Heckenskulpturen... „Ich weiß nur nicht, ob der gute Ludwig so begeistert davon gewesen wäre, dass Touristen in seinem Schloss rummachen“, unterbrach T.K. ihre Gedankengänge. Kari kicherte. „Bestimmt hat er das selbst immer gemacht.“   Am späten Abend kehrten sie endlich völlig erschöpft von dem langen Tag in das Haus von T.K.s Großeltern zurück. Sie gingen ins Wohnzimmer, um die beiden älteren Leute zu begrüßen, die sicher wissen wollten, was sie so den ganzen Tag getrieben hatten, doch sie waren nicht allein im Wohnzimmer. Bei ihnen saß ein hübsches Mädchen mit gelockten blonden Haaren, großen Augen und dem Gesicht einer Puppe. Sie drehte sich zu ihnen um und Kari erkannte sie sofort als Isabelle wieder. Ihr stockte der Atem, während das Mädchen einen spitzen Schrei ausstieß, aufsprang und auf T.K. zurannte. Völlig perplex beobachtete Kari, wie sie ihm in die Arme flog, ihn auf beide Wangen küsste und er sie fest an sich drückte. Langsam ging Kari einen Schritt rückwärts, fühlte sie sich doch nicht zugehörig zu dieser Szene. Sie war der Störfaktor in dieser für Außenstehende rührenden Wiedervereinigung. Warum hatten sich die beiden nur getrennt? Sie wirkten so vertraut, wie sie nun anfingen, angeregt miteinander zu plaudern, natürlich auf Französisch, sodass Kari kein Wort verstehen konnte. Sie warf einen unsicheren Blick auf T.K.s Großeltern, die aufgestanden waren und die Szene lächelnd beobachteten. Kari war nicht nach Lächeln zumute. Wer sich so freute, seine Ex wiederzusehen, der... Sie hörte T.K. ihren Namen nennen und bemerkte, wie er auf sie deutete. Isabelle hatte sich nun an sie gewandt und musterte sie mit ihren grünen Augen. „Hi“, sagte sie strahlend und entblößte dabei ihre schneeweißen Zähne. „Kari, das ist Isabelle. Ich glaube, ihr kennt euch noch nicht“, stellte T.K. das Mädchen nun vor und bestätigte damit Karis Vermutung. „Hi“, erwiderte Kari ihren Gruß und zwang sich zu einem Lächeln. Warum zur Hölle hing seine Ex bei seinen Großeltern herum? Sie mussten sich ja sehr nahe gestanden haben... Etwas widerwillig ließ Kari sich mit T.K. und Isabelle bei seinen Großeltern nieder. Die vier unterhielten sich angeregt auf Französisch und lachten viel. Hin und wieder versuchte T.K.s Oma, Kari in das Gespräch einzubinden oder fragte sie über ihren Tag aus, doch die meiste Zeit sprachen sie alle vier Französisch, sodass Kari andauernd gelangweilt auf die Uhr sah und beobachtete, wie die Zeit verrannte. Sie war hundemüde von dem langen Tag. Gegen ein Uhr legte sie eine Hand auf T.K.s Arm, um seine Aufmerksamkeit zu bekommen, und sah ihn an. „Ich gehe schon mal schlafen, okay?“ „Ich komme auch gleich“, sagte er leise und nickte. Kari machte sich im Badezimmer bettfertig und ging dann in ihr gemeinsames Zimmer. Obwohl sie sich so sehr über Isabelle und T.K. ärgerte, schlief sie fast sofort ein, als ihr Kopf in dem weichen Kissen versank. Sie war einfach zu müde, jedoch verschaffte ihr die Wiedervereinigung von T.K. mit seiner Ex-Freundin wirre Träume. Sie erwischte die beiden beim Rumknutschen und T.K. erklärte ihr auf Französisch, dass das nichts zu bedeuten hatte und er das immer so mit seinen Ex-Freundinnen machte. Auch Aya tauchte in diesem Traum auf. Sie wartete darauf, dass T.K. endlich sie küsste, während Kari tief verletzt auf die Knie sank. Kari wachte auf, als jemand ihr Zimmer betrat. Ein kurzer Blick auf ihr Handy neben sich verriet ihr, dass es schon fast drei Uhr war. Von wegen „ich komme auch gleich“. „Du bist ja noch wach“, sagte er leise, als er neben ihr unter die Decke schlüpfte. Ihre Augen waren geschlossen, doch sie spürte, wie er sich über sie beugte, sich dicht an sie presste, fühlte seinen Atem auf ihrer Haut, als er seine Lippen auf ihre Wange legte. Sie hatte ihm den Rücken zugedreht und machte keine Anstalten, sich zu ihm umzudrehen. Sie wollte schlafen und nicht weiter über ihn und Isabelle nachdenken. Er schien jedoch andere Pläne zu haben. Seine Lippen ruhten noch immer auf ihrer Wange, verteilten nun federleichte Küsse. Seine Hand kämpfte sich unter der Decke zu ihrem Körper und blieb erst auf ihrer Hüfte liegen, bevor sie unter ihr T-Shirt wanderte. Ehe er jedoch intimer werden konnte, griff Kari nach seiner Hand und zog sie wieder zurück. „Alles okay?“, flüsterte er und streifte mit seinem Atem ihr Ohr, was eine wohlige Gänsehaut in ihrem Nacken verursachte. „Nein“, murmelte Kari wahrheitsgemäß. „Was ist los?“ Seine Hand streichelte über ihren Arm. „Liegt es daran, dass wir so viel Französisch geredet haben? Entschuldige, ich verspreche, das war nur heute. Wir hatten einfach so viel aufzuholen, weil wir uns schon ewig nicht mehr gesehen haben und sie hat einfach...“ „Einen bleibenden Eindruck hinterlassen?“, beendete Kari unaufgefordert seinen Satz und drehte sich zu ihm um. Er zögerte einen Augenblick. „Das habe ich nicht sagen wollen.“ „Was denn dann? Dass du sie so sehr geliebt hast und sie immer einen besonderen Platz in deinem Herzen haben wird?“, fragte Kari schnippisch. „Mann, wieso übernachtest du nicht gleich bei ihr, wenn ihr eh schon die ganze Nacht redet?“ Er zog seine Hand zurück und Kari spürte, wie er sich aufsetzte. „Sag' mal, was soll das?“ „Das Gleiche könnte ich dich fragen“, erwiderte Kari und setzte sich ebenfalls auf, um ihn anzusehen. Der Mond schien zum Fenster herein und tauchte das Zimmer und sie beide in ein kühles, silbriges Licht. „Jetzt sind wir weit weg von Aya und du hast die Nächste.“ „Ich hab' die... sag' mal, spinnst du?“, fuhr er sie an und Kari schreckte zurück. „Isabelle ist meine Cousine! Ich dachte, du wüsstest das.“ Kari klappte der Mund auf und mit weit aufgerissenen Augen starrte sie ihn an. Seine Cousine? „A-aber ich hab' sie auf Facebook gesehen. Die Fotos mit ihr und die Herzen und... und... ich dachte, sie wäre...“ „Mein Gott, wir standen uns ziemlich nahe, okay? Sie war so etwas wie meine beste Freundin. Sie wusste, was bei uns zu Hause los war. Ich konnte immer mit ihr reden. Sie war einfach immer da und hat getan, was sie konnte. Ist es verboten, mich zu freuen, so jemanden wiederzusehen? Und warum überhaupt bringst du Aya wieder zur Sprache? Ich dachte, wir hätten das geklärt.“ „Ich... oh Mann“, nuschelte Kari und ließ den Kopf hängen. „Jetzt fühle ich mich wie eine komplette Idiotin.“ „Mann, Kari!“ Er packte sie etwas grob an den Schultern und zwang sie in eine liegende Position. Sich dicht über sie beugend sah er sie an. „Wann hörst du endlich auf damit? Warum vertraust du mir nicht?“ „Ich vertraue dir doch“, erwiderte Kari kleinlaut. „Und warum denkst du dann jedes Mal, wenn ich mit einem anderen Mädchen rede, dass da irgendwas läuft?“ Sie presste die Lippen aufeinander, hielt seinem bohrenden Blick aber stand. „Ich habe einfach so viel Angst davor, dich zu verlieren. Obwohl wir sowieso nur noch zwei Wochen haben.“ Schweigend sahen sie sich an. Das einzige Geräusch, das Kari hören konnte, waren ihre und seine Atemzüge. Schließlich überwand er die letzten Zentimeter Abstand zwischen ihnen und küsste sie zärtlich. Noch immer hatte er diese umwerfende Wirkung auf Kari, löste ein wildes Kribbeln in ihrer Magengegend aus, beschleunigte ihren Herzschlag, ließ ihre Knie weich werden. Ob es ihm wohl genauso ging? Er verstärkte das Feuerwerk in ihrem Inneren, als seine Hand in ihre Pyjamahose glitt. Diesmal ließ sie sich auf seine Annäherungsversuche nur allzu gern ein.   Den nächsten Tag verbrachten sie in dem umwerfend schönen Schloss Versailles und seinem atemberaubenden Schlossgarten. Kari hätte am liebsten jede noch so winzige Kleinigkeit der für sie so fremdartigen Umgebung fotografiert. Sie konnte ihre Digitalkamera kaum aus der Hand legen, so sehr faszinierte sie das alles. Im Schloss gab es sogar einen Audioguide auf Japanisch, sodass sie völlig in die Welt Ludwigs des XIV. versunken durch die Räume ging, sich die alten Geschichten anhörte und versuchte, jeden Eindruck in sich einzusaugen. Auf der Rückfahrt nach Drancy plapperte sie wie ein Wasserfall über alles, was sie gesehen und gehört hatte, sodass T.K. sich schon über sie lustig machte. Doch sie musste einfach über ihre Erfahrungen sprechen. Sie hatte das Gefühl, sie würde sonst platzen. Den darauffolgenden Tag ließen sie ein wenig ruhiger angehen. Sie schliefen morgens lang, frühstückten in Ruhe mit T.K.s Großeltern und fuhren anschließend nach Paris. Kari ließ sich von T.K. die besten Shoppingcenter und Einkaufsstraßen zeigen und sie schlenderten gemütlich durch die Läden. Kari konnte nicht widerstehen, sich das ein oder andere neue Teil zuzulegen. Man konnte schließlich nicht in Paris Urlaub machen, ohne shoppen zu gehen. T.K. erwies sich als geduldige Shoppingbegleitung und gab sein Bestes, ihr ein guter Berater zu sein. Wann immer sie sich nicht sicher war, ob sie etwas kaufen sollte und seine Meinung dazu wissen wollte, musterte er sie einige Sekunden lang und versuchte anschließend, ihr eine objektive Meinung mitzuteilen. Kari teilte diese Meinung nicht immer, wusste es jedoch zu schätzen, dass er sich Mühe gab. Sie probierte gerade ein gepunktetes Sommerkleid an und zog den Vorhang auf, um sich ihm zu präsentieren. Er lehnte etwas gelangweilt an einer Säule und musterte sie von oben bis unten. „Und?“, fragte sie und sah ihn erwartungsvoll an. „Sieht gut aus. Die Farbe ist... passt gut zum Sommer“, antwortete er und kratzte sich im Nacken. Kari grinste und er fing ihren Blick auf. „Was?“, fragte er verunsichert. „Du bist echt süß, weißt du das?“ „Wieso?“ Er hob eine Augenbraue. „Schon gut.“ Sie kicherte und zog den Vorhang wieder zu, um sich umzuziehen. Für diesen Abend hatte T.K. einen Tisch im le joyeux citron gebucht, Karis Geburtstagsgeschenk. Gegen acht betraten sie das gemütlich anmutende Restaurant, in dem die Tische rund und mit weißen Tischdecken versehen waren. Auf jedem Tisch befanden sich Stoffservietten, Teller, Besteck und Weingläser und der durchschnittliche Gast war hübscher angezogen als Kari und T.K., die beide Jeans trugen. „Ich fühle mich ein bisschen underdressed“, murmelte Kari ihm zu, als gerade ein Kellner sie ansprach. T.K. unterhielt sich kurz mit ihm und anschließend wurden sie zu ihrem Tisch geleitet und bekamen die Speisekarten und eine Weinkarte. Zu Karis Überraschung schlug T.K. zuerst die Weinkarte auf. „So, worauf hast du Lust? Weiß oder rot?“ „Hä? Dir ist schon klar, dass wir noch keinen Wein bestellen können?“ Er lächelte sie verschmitzt über den Rand der Weinkarte hinweg an. „In Frankreich darf man ab achtzehn Alkohol trinken, meine Liebe. Das heißt, wir können uns ganz legal abschießen, zum ersten Mal in unserem Leben. Also, weiß oder rot?“ Kari machte große Augen. Hatte er wirklich vor, sich zu betrinken? Sie mussten irgendwie noch nach Hause kommen. „Ähm... rot?“ „Alles klar.“ Er tat, als hätte er Ahnung von den Weinsorten, die er daraufhin vorlas und Kari musste lachen. „Wie wäre es mit einem Pinot Noir für die besonders fruchtige Note? Oder einem Merlot für den süßlichen Abgang? Oder vielleicht doch lieber ein Garonnet, wenn du es herber möchtest?“ „Du bist ein Spinner“, erwiderte Kari lachend. „Nimm einfach den Billigsten.“ „Wie die Dame wünscht.“ Er schlug die Weinkarte zu und griff nach seiner Speisekarte. Die nächsten zehn Minuten brachte er damit zu, ihr die einzelnen Gerichte zu übersetzen und als der Kellner zurückkam, um ihre Bestellung aufzunehmen, bestellte sie sich Coq au vin, genau wie T.K. Das Gericht kannte sie zwar schon, doch nun konnte sie vergleichen, ob sie einen Unterschied zwischen dem im Restaurant und dem von T.K. ausmachen konnte. „Also“, sagte T.K. und hob sein Weinglas, „auf uns.“ Auch Kari hob ihr Glas und stieß es sanft gegen seines, bevor sie daran nippte. Ihr erster legaler Alkohol in der Öffentlichkeit. Sie fühlte sich fast schon alt. „Ganz schön trocken“, meinte sie. T.K. sah sie einige Sekunden nachdenklich an. „Hm. Ich würde sagen leicht nussig. Mild im Abgang. Dezenter Geschmack von Honig.“ Wieder musste Kari lachen. „Hör auf, so einen Müll zu reden, oder ich lass' dich hier im Weinkeller.“ „Dann kann ich meine Fähigkeiten als Sommelier wenigstens ausbauen“, erwiderte er schulterzuckend. „Und deine Fähigkeiten als Spinner.“ „Nicht so frech, Yagami. Sonst werden wir sehen, wer hier wen wo zurücklässt.“ Er lächelte verwegen. „Würdest du mich tatsächlich nachts mitten in Paris allein lassen?“, fragte sie und stützte den Kopf auf den Händen ab. „Ich könnte einem Vergewaltiger zum Opfer fallen.“ „Tja, dann musst du eben schnell rennen“, sagte er gespielt gleichgültig. „Das kann ich nicht, wenn du mich vorher abfüllst“, grummelte Kari und hob eine Augenbraue. „Dann wäre ich an deiner Stelle lieber nicht so vorlaut.“ Nun stützte auch er die Ellbogen auf dem Tisch ab und sah ihr in die Augen. Kari seufzte und wandte den Blick ab, zu sehr fühlte sie sich schon wieder durchbohrt. „Ich kann es irgendwie nicht glauben, dass ich gerade wirklich in Paris bin. Das kommt mir so unwirklich vor.“ „Ich kann auch nicht glauben, dass ich echt mit dir hier bin“, sagte er kopfschüttelnd. Vor fast einem Jahr hatten sie sich zum ersten Mal geküsst, doch selbst zu diesem Zeitpunkt war es Kari noch unmöglich erschienen, mit ihm eines Tages Paris zu bereisen. So viel hatte sich in dieser Zeit geändert. Am Ende des Abends waren sie tatsächlich beide ziemlich angetrunken, als sie nach Hause fuhren. Der Wein war Kari ordentlich zu Kopf gestiegen und sie hatte Mühe, alles um sich herum zu realisieren. Sie wankten beide ein klein wenig beim Gehen, machten alberne Witze, über die sie sich halbtot lachten und knipsten gefühlt einhundert fragwürdige Selfies. Es war mehr als angenehm, wenigstens für diese wenigen Stunden im Hier und Jetzt zu leben und nicht an morgen denken zu müssen.   Die letzten beiden Tage in Paris nutzten sie dazu, sich Sehenswürdigkeiten anzusehen, die Kari noch nicht gesehen hatte. Sie besuchten verschiedene Museen, berühmte Straßen, Kirchen, behagliche Cafés, machten eine Bootstour auf der Seine und spazierten durch die Stadt. Kari konnte sich kaum satt sehen. Paris war so anders als Tokio. Sie würde aus den ganzen Fotos, die sie geknipst hatte, ein Fotobuch basteln. Oder eine Collage. Oder beides. Sie genossen die letzten Sonnenstrahlen des Tages im Park auf der Wiese sitzend. Sie hatten sich ein ruhiges Fleckchen gesucht, an dem keine Menschen vorbeikamen, um das Zusammensein genießen zu können. „Die Zeit hier verging so schnell. Es kommt mir vor, als wären wir erst gestern angekommen“, seufzte Kari ein wenig wehmütig. „Wirklich? Mir kommt es irgendwie vor, als wären wir drei Wochen hier gewesen und nicht nur fünf Tage“, erwiderte T.K. Kari lächelte. „Wir haben echt viel gesehen. Du solltest über eine Karriere als Reiseleiter nachdenken.“ „Hm.“ T.K. ließ sich nach hinten fallen, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und sah in den blauen Himmel. „Vielleicht schreibe ich Reiseführer und gründe ein Unternehmen, das Reisen in der ganzen Welt anbietet. Und dann werde ich Millionär.“ Kari kicherte, drehte sich um und sah auf ihn herab. „Was für ein bescheidener Traum. Und was wird aus den Kriminalromanen? Und aus den ganzen Leuten, die du interviewen und deren Geschichten du aufschreiben wolltest?“ „Das mit den Geschichten verschiedener Leute kann man ja mit dem Reisen verbinden. Und die Kriminalromane schreibe ich, wenn ich gerade keine Lust aufs Reisen habe“, erwiderte er grinsend. „Okay. Und ich werde in den Bücherregalen dieser Welt Ausschau nach deinen Romanen halten“, versprach Kari lächelnd. „Brauchst du nicht. Ich schicke dir immer eine signierte Sonderausgabe zu, sobald es etwas Neues gibt“, sagte er schulterzuckend. „Wie großzügig“, meinte Kari spöttisch und legte sich neben ihn auf den Bauch. Sie stützte sich mit den Ellbogen ab. „So bin ich“, erwiderte er lässig und schloss die Augen. Für einige Minuten genossen sie einfach die Stille des Abends. Kari strich T.K. gedankenverloren über die Stirn und spielte mit seinem goldenen Haar, das im Licht der untergehenden Sonne fast schon ein wenig rötlich wirkte. Seine Augen waren noch immer geschlossen und er sah fast ein bisschen so aus, als würde er schlafen. Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen. „Takeru?“ Er schlug die Augen auf und sah sie fragend an. „Vielen Dank für diese schöne Woche. Ich glaube, es war die Schönste meines Lebens“, murmelte Kari lächelnd. „War mir ein Vergnügen“, erwiderte er. „Wie schade, dass unser erster gemeinsamer Urlaub auch unser letzter ist“, sagte Kari leise. Ihr Lächeln war verblasst. T.K. erwiderte nichts, sondern wandte den Blick von ihr ab und richtete ihn wieder auf den Himmel über ihnen. „Glaubst du, ich mache das Richtige?“, fragte Kari nach einigen weiteren Sekunden der Stille. Er zögerte eine Weile, bevor er antwortete. „Es ist dein Traum.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)