Fünf Jahre von Juju ((K)eine Freundschaft für immer) ================================================================================ Prolog: Plötzlich wieder da --------------------------- Der erste Schultag ist wahrscheinlich immer der schlimmste, grundsätzlich. Eigentlich wird da ja nie etwas Weltbewegendes gemacht, man bekommt nur die Stundenpläne, ein paar Einweisungen und dann ist es auch schon überstanden und man kann sich mental auf das kommende Schuljahr vorbereiten. Trotzdem bedeutet er doch immer der Beginn eines neuen Jahres voller Stress, Lernen und Müdigkeit. Kari ging lustlos zusammen mit Davis und Ken zum schwarzen Brett, um herauszufinden, mit wem sie dieses Jahr in eine Klasse gehen würde. Vor dem schwarzen Brett war die Hölle los. Es war laut, weil alle sich gegenseitig mitteilten, in welche Klassen sie gesteckt worden waren und es wurden entweder Freudenschreie losgelassen oder Trauermienen aufgesetzt. Davis setzte seine Ellenbogen ein und kämpfte sich nach vorn, um den Plan lesen zu können, während Kari und Ken im Hintergrund blieben. Davis war eindeutig der mit dem meisten Durchsetzungsvermögen in ihrer Gruppe, während sowohl Ken als auch Kari sich lieber zurückhielten und einlenkten, wobei Kari eher noch Widerrede gab als Ken. Sie warteten geduldig, bis sie Davis schließlich erneut entdeckten, wie er sich zu ihnen zurück kämpfte und dabei ein paar genervte Blicke zugeworfen bekam. „Mann, haben wir ein Glück“, stöhnte er, als er endlich aus der Masse hervorbrach. „Alle in einer Klasse.“ „Echt? Ist ja super“, fand Kari. Wenigstens etwas Positives in diesem letzten stressigen Schuljahr. Sie konnte es wieder mit ihren beiden besten Freunden verbringen. „Wo müssen wir denn hin?“, fragte Ken gähnend. „Raum zweihundertzehn“, antwortete Davis und ging voran. Kari eilte neben ihn und sah ihn an. „Du bist ja heute so übermütig“, stellte sie fest. „Es ist unser letzter erster Schultag“, erinnerte er sie. „Nach diesem Jahr müssen wir studieren und kommen hier nie mehr her. Da sollten wir das letzte Jahr noch genießen.“ Irgendwie hatte er ja Recht. Die Schule war zwar anstrengend und machte wenig Spaß, aber später würde es wohl noch anstrengender werden. „Wollen wir eigentlich wieder in die Fußballmannschaft?“, fragte Ken, der an Davis' anderer Seite lief. „Klar, oder willst du nicht?“, antwortete Davis und sah Ken fragend an. „Doch.“ „Und du, Kari? Gehst du wieder tanzen?“ Nun sahen beide Jungen Kari an. „Ja, ich glaube schon“, antwortete Kari, obwohl sie sich schon sicher war, dass sie wieder tanzen gehen würde. Es machte einfach zu viel Spaß. Sie entwickelten dabei Choreografien zu aktuellen Liedern und traten bei Schulfesten auf. Sie betraten ihren neuen Klassenraum. Die Sonne schien zum Fenster hinein und verbreitete Frühlingsstimmung. Davis und Ken setzten sich nebeneinander und Kari nahm hinter ihnen Platz, wie immer eigentlich. „Hey Kari“, sagte Nana hinter ihr. Diese war auch in der Tanzgruppe der Schule und Kari verstand sich gut mit ihr. Nana war wesentlich redseliger und selbstbewusster als Kari selbst, weshalb sie sie wohl manchmal beneidete. „Na, hast du noch schöne Ferien gehabt?“, fragte Kari, als sie sich zu ihr umgedreht hatte. „Ja, die Kirschblüte war wieder super“, antwortete Nana fröhlich. „Schade, dass sie schon wieder vorbei ist.“ „Ja, allerdings“, seufzte Kari. Die Kirschblüte gehörte auch zu ihren Lieblingsfesten. „Ich finde es echt toll, dass wir wieder in einer Klasse sind, Kari“, redete Nana weiter. „Oh, wirklich?“ Kari lächelte sie an und freute sich darüber. „Na klar. Dich habe ich am liebsten als Projektpartnerin“, meinte Nana zwinkernd. Kari grinste. „Das Gleiche kann ich auch von dir behaupten.“ „So!“, unterbrach eine laute Stimme das Gespräch der Mädchen. Just in diesem Moment läutete auch die Schulglocke und verkündete den Beginn der ersten Stunde. Herr Kugo hatte soeben den Raum betreten, sich neben dem Lehrertisch postiert und sah erwartungsvoll in die Klasse. Kari sah, wie Davis Ken einen genervten Blick zuwarf. Er mochte Herrn Kugo nicht, da er hohe Ansprüche hatte und niemandem gute Noten hinterher warf, jedoch war er stets ein gerechter Lehrer gewesen. „Erst mal möchte ich euch in eurem letzten Schuljahr begrüßen. Ich hoffe, ihr könnt es genießen und...“ Es klopfte an die Tür. „Ja?“ Die Tür öffnete sich und die ganze Klasse starrte neugierig zu dem Neuankömmling hinüber. Kari fragte sich, wie man schon am ersten Tag zu spät kommen konnte, doch auch sie war gespannt, wer nun noch dazustoßen würde, doch als sie den Jungen erblickte, der hereinkam, klappte ihre Kinnlade herunter. Der Junge hatte blondes, etwas unordentliches Haar, war recht groß, gut gebaut und machte einen etwas abgehetzten Eindruck. Davis drehte sich zu Kari um und sah sie verblüfft an. „Der erinnert mich irgendwie total an T.K.“ Ja, dem konnte Kari sich nur anschließen, weshalb sie geistesabwesend nickte und weiterhin den Jungen anstarrte. Das konnte nicht T.K. sein, der war doch schon vor Jahren ins Ausland gezogen. „Entschuldigen Sie bitte die Verspätung“, sagte er etwas außer Atem an Herrn Kugo gewandt, der einen überraschten Eindruck machte. Er wandte sich seinen Unterlagen zu und kramte darin herum, bis er fand, wonach er gesucht hatte. „Du bist dann wahrscheinlich...“ „Takeru Takaishi, ja.“ Kapitel 1: Ein verrückter erster Schultag ----------------------------------------- „Setz dich doch bitte da hinten auf den freien Platz, Takeru“, wies Herr Kugo ihn an und deutete natürlich auf den freien Stuhl neben Kari. Diese wandte sich demonstrativ ab und sah aus dem Fenster, während er wortlos neben ihr Platz nahm. Aus den Augenwinkeln bemerkte Kari, wie Davis sich zu T.K. umdrehte. „Du bist wieder in Japan?“, fragte er verdattert. „Und gehst jetzt auch noch in unsere Klasse?“ „Ja, wie du siehst“, antwortete T.K. leise und klang abweisend. Es war mehr als seltsam, nach fünf Jahren zum ersten Mal wieder seine Stimme zu hören. Natürlich war sie mittlerweile tief und männlich geworden. „Daisuke, drehst du dich bitte um“, rief Herr Kugo streng und warf Davis einen seiner Blicke zu, mit denen man lieber nicht angesehen werden wollte. Davis drehte sich wieder um und nuschelte eine Entschuldigung. Nach dieser ersten Stunde machte Kari sich sogleich auf den Heimweg, ohne einem von den drei Jungen auch nur ein einziges Abschiedswort zu widmen. Sie befürchtete, dass sie nun wohl die Schule wechseln musste, denn eigentlich hatte sie T.K. für immer aus dem Weg gehen wollen. „Kari, warte doch mal!“ Davis holte sie ein und lief keuchend neben ihr her. „Was ist denn los?“ „Nichts“, antwortete Kari trocken und starrte den Boden an, auf dem sie lief. „Sag mal, wusstest du, dass T.K. zurück nach Japan kommt?“, fragte er überflüssigerweise. Sie blieb stehen und sah ihn ausdruckslos an. „Davis, du weißt ganz genau, dass ich seit fünf Jahren kein einziges Wort mit ihm geredet habe.“ „Ja, sorry“, seufzte Davis und sie gingen weiter. „Ich würde ihn gerne fragen, wie es dazu kam.“ „Mach doch“, zischte Kari schlecht gelaunt. „Nein, nein, ich will es mir ja nicht mit dir verscherzen“, erwiderte er grinsend und hob abwehrend die Hände. Kari sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Glaubst du, ich werde dich hassen, wenn du mit T.K. redest?“ „Naja, man weiß ja nie“, murmelte Davis kaum verständlich und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Eine Weile liefen sie schweigend nebeneinander her, bis sie an die Kreuzung kamen, an der Davis abbiegen musste. Sie blieben stehen und er sah Kari an, als ob er etwas sagen wollte, weshalb sie seinen Blick fragend erwiderte. „Vielleicht können wir uns ja wieder mit ihm anfreunden?“, schlug er vorsichtig vor und scharrte mit den Füßen über den Boden. Kari verengte die Augen. „Nein, das geht nicht“, antwortete sie entschieden. „Zumindest für mich nicht. Du kannst ja machen, was du willst.“ „Aber das Ganze ist doch schon fünf Jahre her und...“ „Davis, das ist meine Sache!“, unterbrach Kari ihn heftig und sah ihn wütend an, sodass er zusammenzuckte und einen Schritt zurücktrat. Kari bemühte sich um einen milderen Gesichtsausdruck. „Tut mir Leid. Aber fünf Jahre kann man eben nicht einfach ungeschehen machen.“ „Ich weiß“, seufzte Davis und drehte sich um. „Bis morgen.“ Als Kari zu Hause ankam, zog sie sich die Schuhe aus und betrat das Wohnzimmer, wo ihre Mutter gerade mit Staubwischen beschäftigt war. „Na, du bist ja schon wieder da“, begrüßte Yuuko sie und sah sie an. „Ja, wir hatten doch heute nur eine Stunde“, erinnerte Kari sie und griff nach dem Telefon. „Hab ich schon wieder vergessen“, meinte Yuuko grinsend und fuhr mit dem Staubwischen fort. „Hast du vielleicht Zeit, nachher noch in den Supermarkt zu gehen und Reis zu holen? Ich habe gestern ganz vergessen, welchen zu kaufen.“ „Klar“, antwortete Kari und ging zu ihrem Zimmer. Sie hatte die Hand bereits auf der Türklinke, als Yuuko sie noch einmal aufhielt. „Ach und ein paar Möhren wären auch super.“ „Okay“, sagte Kari und öffnete ihre Zimmertür. „Ist alles okay?“ Kari spürte, wie ihre Mutter sie neugierig und mit einer Spur Besorgnis musterte. „Ja“, antwortete Kari einsilbig, ging in ihr Zimmer und schloss die Tür. Seufzend ließ sie sich auf ihr Bett fallen, suchte die Nummer heraus, die sie am häufigsten anrief, drückte auf den grünen Hörer und wartete. „Na, Schwesterchen, was gibt’s denn?“, meldete sich Tais Stimme am anderen Ende. „Woher weißt du, dass ich es bin und nicht Mama?“, fragte Kari irritiert. „Mama ruft um diese Zeit nicht an und bei dir weiß ich, dass du heute nur eine Stunde hast“, antwortete Tai und man konnte sein Grinsen praktisch hören. „Hast du denn gar keine Uni?“, fragte Kari weiter. „Hab gerade einen Freiblock. Aber weshalb rufst du denn jetzt an?“ „T.K. ist wieder da“, erzählte Kari ohne Umschweife und war gespannt auf Tais Reaktion, doch mit dem, was folgte, hatte sie nicht gerechnet. „Ah, du hast ihn also heute erst gesehen“, stellte Tai nüchtern fest und Kari runzelte die Stirn. Sie war fassungslos. „Du wusstest es?“, fragte sie empört. „Ja klar, Matt hat es mir schon vor Wochen erzählt“, antwortete Tai verwundert über ihre Reaktion. Kari wusste für einige Augenblicke nicht, was sie sagen sollte, und schwieg somit. Wie konnte ihr eigener Bruder, der wusste, was damals passiert war, sie nur hintergehen und ihr nicht Bescheid sagen? „Kari, mir war schon klar, dass dir das nicht gefallen wird, deswegen hab ich es dir nicht erzählt“, erklärte Tai und klang nun ein wenig verlegen. „Du hättest es mir ruhig sagen können, dann hätte ich mich darauf wenigstens vorbereiten können“, erwiderte sie vorwurfsvoll. Tai seufzte am anderen Ende der Leitung. „Vielleicht solltet ihr diese blöde Sache einfach vergessen. Das ist doch nun schon ewig her.“ „Hast du etwa schon mit Davis geredet?“, murrte Kari genervt. „Gerade weil es schon ewig her ist, kann ich jetzt nicht einfach so tun, als wäre alles super. Wir hatten überhaupt keinen Kontakt in der Zeit.“ „Dann wird es doch Zeit, dass sich das ändert“, meinte Tai fröhlich. „Nein, ich wollte ihn eigentlich nie wieder sehen“, sagte Kari unnachgiebig. „Kari, ich liebe dich, aber ich finde, du übertreibst“, seufzte Tai resigniert. „Ich muss jetzt auflegen. Ich treffe mich gleich mit Mimi zum Frühstücken. Sie will mir irgendwas sagen.“ „Vielleicht, dass sie schwanger von dir ist“, entgegnete Kari schnippisch. Tai lachte tonlos. „Das dauert noch, bis du Tante wirst.“ Sie legten auf und Kari beschloss, sich gleich auf den Weg in den Supermarkt zu machen. Da konnte sie sich wenigstens ein bisschen ablenken und musste nicht mehr an T.K. denken. T.K., der einfach so auftauchte und kein Wort zu ihr gesagt hatte. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, musste sie sich gestehen, dass sie deswegen verletzt war. Selbst nach all der Zeit noch. Er hätte wenigstens ein Hallo herausbringen können. Sie verließ die Wohnung, stieg die vielen Treppen hinunter zur Haustür und ging zum Supermarkt, der nur wenige Gehminuten entfernt von ihrem Wohnblock lag. Sie ging gern dorthin, da er ihr so vertraut war. Was brauchte sie noch gleich? Ach ja, Reis und Möhren. Sie steuerte auf die Gemüseabteilung zu, die sich gleich am Eingang befand, und ging zu den Möhren. Sie brauchte einige Sekunden, um sich für einen Bund zu entscheiden, der ihr gefiel und an dem keine Möhre undefinierbare Stellen hatte, und trat einen Schritt rückwärts, um zum Reis zu gehen. Allerdings hatte sich in der Zeit dicht hinter sie jemand gestellt, der anscheinend zu den Gurken wollte, die sich gleich bei den Möhren befanden, und dem sie nun auf die Füße getreten war. „Oh, Entschuldigung“, sagte sie schnell, drehte sich um und blickte direkt in T.K.s Gesicht. Erschrocken riss Kari die Augen auf. Ausgerechnet T.K.! Wohnte er etwa hier irgendwo? Vielleicht sogar im gleichen Block wie sie? Warum waren sie nur gleichzeitig in den Supermarkt gegangen? Sie hätte doch noch warten sollen. Was war das schon wieder für ein blöder Zufall. Einige Sekunden starrten sie sich direkt in die Augen. T.K.s Augen hatten noch genau die gleiche Farbe, die Kari in Erinnerung geblieben war: eine Mischung aus Himmel und Meer. Sein Blick war irgendwie sehr neutral. Man konnte nicht sagen, ob er überrascht war, Kari zu sehen, sich freute, sich ärgerte oder sonst irgendeine Emotion empfand. Kari machte schließlich auf dem Absatz kehrt, um von ihm wegzukommen und ihren Einkauf fortzsetzen. „Kein Problem“, antwortete T.K. lässig, ganz so, als hätte er es mit jemand Fremdem zu tun, als hätte nicht Kari ihn angerempelt, sondern irgendein sehr zufälliger und sehr unbekannter Supermarktbesucher, und wandte sich wieder den Gurken zu. Wieder fand Kari es sehr ungewohnt und gleichzeitig vertraut, seine Stimme zu hören. Aber wie konnte er das nur so cool daher sagen? Von wegen kein Problem. Kari hatte jetzt plötzlich eine ganze Wagenladung voller Probleme, seit er einfach in ihrem Klassenraum aufgetaucht war. Hastig wandte sie sich ab und lief geradewegs zur Kasse. Sie zahlte für die Möhren und machte sich auf den Heimweg in der Hoffnung, T.K. nicht noch einmal zu begegnen, doch der schien noch eine Weile zu brauchen. Ungefähr auf der Hälfte des Weges fiel ihr ein, dass sie den Reis ganz vergessen hatte. Das fing ja super an. Kaum sah sie T.K., brachte er schon alles durcheinander mit seinem „kein Problem“. Wütend drehte sie sich um, marschierte zurück zum Supermarkt und lief geradewegs auf das Regal zu, in dem der Reis zu finden war. Sie sah sich weder nach links noch nach rechts um, doch das hätte sie ruhig tun können, denn T.K. stand ebenfalls gerade vor dem Reisregal. Kurz überlegte sie, ob sie sich nicht verstecken und warten sollte, bis er weg war, doch dann erinnerte sie sich daran, dass sie siebzehn war. Also ging sie möglichst unauffällig an T.K. vorbei und schnappte sich eine Packung Reis, während sie ihn aus den Augenwinkeln beobachtete. Er schenkte ihr jedoch keinerlei Beachtung, was sie wieder ein wenig enttäuschend fand. Beim Bezahlen stellte sie sich extra an der anderen Kasse an, obwohl dort die Schlange länger war, doch es war ihr peinlich, noch einmal bei der gleichen Kassiererin zu zahlen. Kari schlurfte zurück zu ihrer Wohnung und war erstaunt, auf einmal ein fremdes Paar Schuhe vor der Wohnungstür zu finden. War in der halben Stunde, die sie beim Einkaufen war, etwa jemand zu Besuch gekommen? Sie schloss die Tür auf und trat in die Wohnung, wo ihr sogleich Frauenstimmen entgegen kamen. Neugierig blickte sie um die Ecke und es traf sie fast der Schlag, als sie die Besucherin sah. „Da bist du ja wieder. Schau mal, wer gerade vorbei gekommen ist“, rief Yuuko und deutete auf ihren Gast, der niemand anderes als Natsuko Takaishi war. „Natsuko ist gerade mit einer Flasche Sekt vorbeigekommen.“ „Hallo Kari. Du siehst super aus“, begrüßte Natsuko sie lächelnd. Kari stand wie erstarrt mitten im Wohnzimmer. Bevor Natsuko vor fünf Jahren mit T.K. nach Frankreich gezogen war, waren sie und Yuuko gut befreundet gewesen, da sich auch ihre Kinder jeweils sehr nahe gestanden hatten und zumindest auf Tai und Matt traf das auch heute noch zu. Sie hatten sich öfter mal auf einen Kaffee getroffen, sich gegenseitig zum Essen eingeladen – inklusive der Kinder – oder waren gemeinsam ins Kino gegangen. Kari wusste, dass auch Yuuko damals traurig über die Auswanderung gewesen war. Aber... hatte ihre eigene Mutter etwa auch gewusst, dass T.K. zurückgekommen war? „Hallo“, sagte Kari langsam. „Du hast mir gar nicht erzählt, dass T.K. heute in deine Klasse gekommen ist“, meinte Yuuko und in ihrer Stimme schwang ein vorwurfsvoller Unterton mit. „Hab ich wohl vergessen“, log Kari schulterzuckend. Vielleicht hatte ja auch Yuuko nichts von der Rückkehr gewusst. „Wie auch immer“, sagte Yuuko und wedelte mit einer Hand durch die Luft. „Willst du dich nicht zu uns setzen? Du kannst auch ein Glas Sekt trinken. Ausnahmsweise.“ Sie zwinkerte ihr zu. Offenbar war ihre Laune glänzend, ganz im Gegensatz zu Karis. „Nein, ich... ähm... muss noch Hausaufgaben machen“, stotterte Kari und ging in Richtung ihres Zimmers, nicht ohne das Telefon mitzunehmen. „Aber ihr hattet doch heute nur die Einführungsstunde“, erwiderte Yuuko skeptisch und auch Natsuko musterte sie irritiert. „Ja, tja, Herr Kugo ist eben... streng. Will keine Zeit vergeuden, hat er gesagt“, antwortete Kari schnell und verschwand in ihrem Zimmer, bevor ihr noch mehr Fragen gestellt werden konnten. Sie warf sich auf ihr Bett, wählte hastig Tais Nummer und hielt sich den Hörer ans Ohr. Es klingelte zwei mal, dann ertönte ein Piepen und Tai hatte Kari weggedrückt. „Hä?“ Kari starrte den Hörer an, als würde dort eine Begründung erscheinen, was natürlich nicht der Fall war. Ihr fiel wieder ein, dass er mit Mimi unterwegs war, doch das hielt ihn auch sonst nicht davon ab, zumindest an sein Telefon zu gehen und zu sagen, dass er zurückrief. Kari drehte sich auf den Rücken, streckte sich aus und starrte die Decke an. Spielten denn heute alle verrückt? Kapitel 2: Dancing Queen ------------------------ Normalerweise gehörte Kari zu der Sorte Schüler, die sich immer der Neuen annahmen, auf sie zu gingen, sie in ihre Gruppe integrierten und ihnen bei Fragen und Problemen zur Seite standen. Sie konnte sich gut in diese armen neuen Schüler hineinfühlen, die sich plötzlich in einer völlig neuen Umgebung befanden, niemanden kannten und vielleicht selbst zu schüchtern waren, um von sich aus Leute anzusprechen, um Anschluss zu finden. Doch bei T.K. konnte sie das nicht. Und er hatte es ohnehin nicht nötig. „Hey Kari“, begrüßte Nana sie, als sie am nächsten Morgen an ihrem Platz vorbeikam, und schenkte auch T.K. ein breites Lächeln. Aber Nana lächelte jeden an. „Guten Morgen“, antwortete Kari und drehte sich zu ihr um, als sie die Schultasche auf ihren Tisch fallen ließ und sich auf ihren Stuhl setzte. „Gut geschlafen?“ „Ach, ging so“, antwortete sie schulterzuckend. „Und bei dir? Alles okay?“ „Ja, prima. Ich freu mich schon aufs Tanzen heute“, meinte Kari. Endlich konnte sie ihre Lieblingsbeschäftigung wieder ausüben und fördern. „Ja, ich mich auch. In den Ferien komme ich einfach nicht dazu“, seufzte Nana und kramte nach und nach Bücher und Schreibblöcke aus ihrer Tasche hervor. Kari bemerkte, wie ihr Blick für eine Sekunde zu T.K. huschte. Sie grinste Kari an, woraufhin diese nur verständnislos die Stirn runzelte. Nana beugte sich vor und Kari neigte ihren Kopf zu ihr, da sie ihr offenbar etwas zuflüstern wollte. „Er ist irgendwie süß“, wisperte sie Kari ins Ohr, woraufhin diese das Gesicht verzog. „Findest du nicht?“ Kari schüttelte energisch den Kopf und drehte sich wieder um. Sie wollte mit Nana nicht über T.K. reden und außerdem fing der Unterricht gleich an. „Sag mal, T.K., was machst du eigentlich hier?“ Oh nein, Davis hatte sich umgedreht und T.K. angesprochen. Neugierig musterte er ihn von oben bis unten. „Zur Schule gehen, genauso wie du“, antwortete T.K. schulterzuckend. „Aber ich meine, warum bist du auf einmal wieder hier und nicht mehr in Frankreich?“, fragte Davis weiter, ohne den Blick von ihm abzuwenden. „Meine Mutter wollte wieder herkommen“, meinte T.K. einsilbig und ließ eindeutig durchblicken, dass er nicht daran interessiert war, darüber zu reden, doch Davis wäre nicht Davis, wenn er das bemerkt hätte. „Aber...“, setzte er zu einer weiteren Frage an, wurde aber von Herrn Kugo unterbrochen, der sich vor dem Lehrertisch aufgebaut hatte. „Daisuke, ich würde jetzt gern mit dem Unterricht beginnen.“ Kari setzte sich in der Mittagspause auf ihren Lieblingsplatz in der Mensa und wartete auf Davis und Ken, bevor sie mit dem Essen begann. Davis setzte sich wie üblich neben sie und fing an, sein Essen in sich hinein zu schaufeln. Verdutzt sah Kari ihn an. „Wo ist denn Ken?“, fragte sie verwirrt. Davis warf ihr einen merkwürdig unsicheren Blick zu und deutete mit einem Kopfnicken in eine Richtung, der Kari folgte. Ken saß am anderen Ende des Speiseraums bei T.K. „Er will Kontakt zu ihm aufbauen“, murmelte Davis erklärend und widmete sich wieder seinem Essen. Kari musste sich eingestehen, dass ihr dieser Umstand nicht passte und sie ein wenig enttäuscht von Ken war. Sie und Davis waren doch seine besten Freunde und nun saß er bei T.K. Kari wollte ja gar nicht so egoistisch denken. Das war normalerweise überhaupt nicht ihre Art, doch sie konnte aus irgendeinem Grund nicht anders. Sie begann ebenfalls zu essen, sah aber ständig möglichst unauffällig zu Ken und T.K. hinüber. Die beiden schienen sich locker zu unterhalten. Worüber sie wohl redeten? Ob T.K. Ken erzählte, weshalb genau er wieder hier war? Nach dem Essen gingen Kari und Davis nach draußen, um den Rest der Mittagspause im Freien zu verbringen. Sie suchten sich einen freien Platz auf dem kleinen Rasenstück am Rand des Schulhofs und ließen sich darauf fallen. „Willst du heute gar nicht Fußball spielen gehen?“, fragte Kari und musterte Davis neugierig. Eigentlich verbrachte er alle Hofpausen mit Fußball. „Dann wärst du ja ganz allein hier“, erwiderte Davis und wurde ein wenig rot um die Nase. Erstaunt schüttelte Kari den Kopf. „Ach Quatsch, ich bin doch nicht allein. Du kannst ruhig gehen, wenn du willst.“ „Schon gut“, erwiderte Davis und grinste. Kari lächelte und wandte ihr Gesicht der Sonne zu. Genießerisch schloss sie die Augen und atmete tief die Frühlingsluft ein. Um sie herum waren das Gerede ihrer Mitschüler und Vogelstimmen zu hören. „Du hast heute schon Tanzen, stimmt's?“, fragte Davis. „Mhm“, machte Kari und nickte. „Wie blöd, dass Fußball und Tanzen nicht mehr am gleichen Tag sind, sonst hätten wir wieder zusammen nach Hause gehen können“, meinte Davis und klang ein wenig bedauerlich. „Dann gehen wir halt an den anderen Tagen zusammen nach Hause“, erwiderte Kari locker. „Ist doch nicht schlimm.“ „Ken und T.K. kommen“, wechselte Davis plötzlich leise das Thema und Kari öffnete die Augen und wandte sich um. Sie sagte nichts, als die beiden Jungen sich ihnen näherten, sondern wandte das Gesicht wieder der Sonne zu. Eigentlich wollte sie jetzt lieber woanders hingehen, doch das hätte sicher kindisch gewirkt. Ken und T.K. setzten sich zu Davis und Kari. „Davis, erzähl doch mal. Wie geht’s dir so?“, fragte T.K. interessiert. „Ähm... ganz gut“, stammelte Davis und Kari hatte sofort seinen Gesichtsausdruck dazu vor Augen, obwohl sie ihn nicht ansah. „Und dir so?“ „Auch. Spielst du noch Fußball?“, fragte T.K. weiter. „Ja, zusammen mit Ken. Er ist der Kapitän“, antwortete Davis und klang dabei ein wenig skeptisch. Kari wusste, dass Davis eigentlich Kapitän werden wollte, doch der Trainer hatte Ken für die bessere Wahl gehalten. „Machst du jetzt bei uns deinen Schulabschluss? Bleibst du in Japan oder gehst du irgendwann wieder zurück nach Frankreich?“ T.K. zögerte eine Weile, bevor er antwortete. „Nein, ich denke, ich bleibe in Japan. Und ja, ich mache hier meinen Schulabschluss.“ „Was willst du danach machen?“, fragte Davis neugierig. „Ich bin mir noch unschlüssig“, antwortete T.K. In diesem Moment klingelte Karis Handy. Sie kramte es aus ihrer Schultasche hervor, sprang auf und entfernte sich einige Schritte von der Gruppe. Wer auch immer anrief, er hatte ein super Timing. Sie warf einen kurzen Blick auf das Display, bevor sie dran ging. „Tai!“, rief sie überrascht. „Hey. Du hast doch noch Mittagspause, oder?“, begrüßte er sie. Irgendwie klang er seltsam. „Ja“, antwortete Kari. Was wollte er? „Sorry übrigens, dass ich dich gestern weggedrückt habe. Es war gerade unpassend“, entschuldigte Tai sich. Kari hatte es schon fast wieder vergessen, doch nun wurde sie neugierig. „Unpassend?“, hakte sie nach. „Ja, du glaubst nicht, was passiert ist“, sagte er. „Mimi hat mich gestern gefragt, ob ich sie nicht heiraten will.“ „Was?!“, rief Kari entsetzt. Hatte sie gerade richtig verstanden? Mimi und Tai? Heiraten? „Ja, so hab ich auch reagiert“, seufzte Tai. „Aber... wie... meinte sie das ernst?“, fragte Kari entgeistert nach. „Irgendwie schon“, murmelte Tai. „Und was hast du geantwortet? Darf ich dich beglückwünschen?“ Kari war noch immer völlig verdattert. Das konnte doch nicht wahr sein. Sie versuchte sich gerade vorzustellen, wie Tai und Mimi gekleidet wie Braut und Bräutigam vor dem Altar standen und die Ringe tauschten. Dieses Bild war mehr als seltsam. Außerdem war er doch gerade mal zwanzig. „Nein. Ich hab ihr gesagt, ich muss da erst mal drüber nachdenken“, antwortete er und irgendwie tat er Kari Leid. Das hatte Mimi sicher nicht gut gefunden. „Und jetzt redet sie nicht mehr mit dir?“, mutmaßte Kari. „Richtig. Sie war ziemlich... verstört“, nuschelte Tai. „Ohje“, machte Kari und schüttelte den Kopf. „Aber wie kommt sie denn plötzlich darauf? Habt ihr vorher darüber geredet?“ „Nein, kein bisschen. Ich hab keine Ahnung, wie sie auf einmal darauf kam“, antwortete Tai perplex. „Vielleicht ist sie auch einfach verrückt geworden.“ „Gut möglich“, stimmte Kari zu und kicherte. „Seltsam ist es auf jeden Fall.“ In diesem Moment ertönte die Schulglocke. „Du, ich muss jetzt auflegen, der Unterricht geht weiter“, sagte sie und drückte auf den Knopf mit dem roten Hörer. Nach dem Unterricht machte sich Kari gemeinsam mit Nana auf den Weg in die Turnhalle, in der das Tanztraining stattfand. Sie gingen in eine der Umkleidekabinen für die Mädchen und ließen ihre Taschen auf den Bänken fallen. „Sag mal, warum redest du eigentlich nicht mit Takeru? Oder eher T.K., wie Davis ihn nennt“, fragte Nana und musterte Kari eindringlich. Ihr entging aber auch nichts. „Hm?“, machte Kari und sah sie verständnislos an. „Naja, ich meine, ich sitze ja hinter euch und es fällt schon irgendwie auf, dass du noch kein Wort mit ihm geredet hast. Es wirkt so, als würdest du ihn mit Absicht ignorieren“, erklärte Nana. „Du kümmerst dich doch sonst immer um alle.“ Kari zog skeptisch die Augenbrauen zusammen, doch Nana grinste nur und zuckte mit den Schultern. „Ist doch so.“ Kari seufzte und setzte sich hin, um sich umzuziehen. Sie ließ sich extra Zeit mit ihrer Antwort, weil sie nicht wusste, was sie sagen sollte. Konnte sie Nana einfach so alles erzählen? Eigentlich hatte sie dieses Kapitel ihres Lebens schon für immer abgehakt und zu ihren abgeschlossenen Akten gesteckt, doch nun wurde es ja ohnehin wieder aufgerollt, da T.K. auf einmal wieder aufgetaucht war. „Das ist ein bisschen kompliziert“, sagte sie leise und starrte auf ihre Füße, während sie die normalen Schuhe abstreifte und in ihre Gymnastikschuhe schlüpfte. „Kompliziert? Kennst du ihn etwa?“, fragte Nana verwundert. „Wollen wir vielleicht nach dem Training noch einen Kaffee trinken gehen? Dann kann ich dir das erklären, wenn du unbedingt willst“, schlug Kari vor und stand auf. Nana machte große Augen und nickte. „Scheint ja spannend zu werden.“ Sie gingen in die riesige Halle, die aus drei Feldern bestand. Vom Eingang aus gesehen links trainierte der Tanzverein von Kari und Nana. In der Mitte wärmten sich gerade einige Basketballer auf und ganz rechts befand sich der Volleyballverein der Schule. „Schau mal. Da ist er ja“, rief Nana plötzlich und deutete nicht gerade unauffällig auf jemandem auf dem Basketballfeld. Kari folgte ihrem Blick und entdeckte T.K. Er spielte also immer noch Basketball und das auch noch gleichzeitig mit ihrem Tanzverein. „Jetzt zeig da doch nicht so hin“, zischte Kari, packte Nana am Arm und zog sie hinter sich her zum Feld der Tänzerinnen. Sie kam jedoch nicht umhin, einen zweiten kurzen Blick auf T.K. zu werfen. Er dribbelte gerade den Ball und übte ein paar Ausweichmanöver. Er schien Kari überhaupt nicht gesehen zu haben. Das Tanztraining lief insgesamt alles andere als gut für Kari. Ständig hatte sie T.K. im Kopf, der auf dem Nachbarfeld durch die Gegend stürmte und Körbe warf und vergaß dabei, sich auf ihre eigenen Schritte zu konzentrieren. Warum wollte T.K. einfach nicht aus ihrem Kopf verschwinden? „Mensch, Kari, was war denn los mit dir heute?“, fragte Masami, ein Mädchen aus der zweiten Klasse, das ebenfalls im Tanzverein war. „Bist wohl noch in den Ferien, was?“ Kari machte eine schuldbewusste Miene und ihr Blick fiel auf Aya, die Oberzicke der Schule. Aya war mit Masami befreundet, die eigentlich ganz nett war, doch Aya war einfach nur furchtbar. Sie war stets damit beschäftigt, anderen zu demonstrieren, wie überlegen sie war. Sie war groß, hübsch, hatte dunkles Haar und helle, stechende Augen. Ihre Figur war wie aus einem Modekatalog und auch in der Schule war sie spitze. Im Tanzen jedoch stahl Kari ihr ständig ungewollt die Show, da Kari bei Auftritten meist diejenige war, die vorn in der Mitte stand, während Aya sich eher weiter hinten befand. Kari glaubte, dass dies der Grund war, weshalb Aya sie nicht leiden konnte und auch jetzt bedachte sie Kari mit einem abfälligen Blick. „Vielleicht wurde die selbsternannte Dancing Queen ja gestürzt“, sagte sie leise und ein selbstgefälliges Lächeln umspielte ihre Lippen. Selbsternannte Dancing Queen? Für wen hielt die sich eigentlich? Die Mädchen, die Aya immer wie dressierte Hündchen hinterherliefen, kicherten über ihren Witz. Kari verdrehte die Augen, schnappte ihre Tasche und stürmte nach draußen. „Kari, warte doch mal“, rief Nana und holte sie nach ein paar Sekunden ein. „Hör doch nicht auf die. Die kommt doch nur nicht damit klar, dass sie irgendwo mal nicht die Beste ist.“ „Ich höre doch gar nicht auf sie“, widersprach Kari energisch. Eigentlich war es ihr ja egal, was Aya von ihr hielt, doch sie fand es trotzdem furchtbar ungerecht, dass sie sie lediglich wegen des Tanzens nicht leiden konnte. „Ach, das ist ja schon wieder Takeru da vorn. Hey, Takeru!“ Erschrocken starrte Kari nach vorn und erblickte T.K., der mit Rucksack und Tasche bewaffnet vor ihnen lief und sich nun umdrehte, da sein Name gerufen wurde. Zuerst blickte er zu Nana, die ihn gerufen hatte, doch dann wandte sein Blick sich an Kari und blieb auf ihr ruhen. „Ähm, ich glaube, ich geh schon mal...“, stammelte Kari, doch Nana griff nach ihrem Arm und hinderte sie daran, wegzulaufen. Sie holten ihn ein und Nana lief gemeinsam mit Kari neben ihm her. „Ich bin Nana und bin auch in deiner Klasse“, erklärte sie fröhlich und Kari wandte angestrengt den Blick ab und tat so, als würde sie sich brennend für ihre Umgebung interessieren. „Wir haben also immer zusammen Training. Das ist echt cool.“ „Ja, ich weiß nur noch nicht, ob ich im Basketballverein bleibe“, meinte T.K. „Wieso nicht? Ich habe dich spielen sehen, sah super aus“, bemerkte Nana und grinste T.K. an, der ein wenig verlegen wirkte. „Geht so“, murmelte er. „Wenn du mal Hilfe brauchst in der Schule, kannst du mich gern fragen, okay?“, bot Nana an. „Klar, danke“, antwortete T.K. „Kari und ich gehen jetzt noch einen Kaffee trinken. Wir sehen uns ja dann morgen in der Schule“, redete Nana weiter und blieb stehen, um sich von ihm zu verabschieden. Auch T.K. hielt an. „Na dann viel Spaß noch“, erwiderte er und lächelte. „Macht's gut.“ Und wieder streifte sein Blick Kari, die sofort woanders hin sah und sich schrecklich ertappt fühlte, jedoch schaute sie ihm hinterher, als er in eine andere Richtung weiterging, als die beiden Mädchen. „Mann, du musst mir unbedingt erzählen, was da los ist“, sagte Nana und bedachte Kari mit einem skeptischen Blick. Sie gingen in das Café, in dem viele Schüler ihrer Schule den Nachmittag ausklingen ließen. In einer Ecke fanden sie noch einen winzigen freien Tisch, den sie in Anspruch nehmen konnten. Sie ließen sich auf die Stühle fallen und bestellten sich jede einen Kaffee, als die Kellnerin bei ihnen auftauchte. Kari überkam eine seltsame Stimmung, während sie in diesem Café saß. Sie fühlte sich unbehaglich und wollte lieber nach Hause gehen, doch nun hatte sie Nana schon gesagt, sie würde ihr die Geschichte erzählen. Sie musste wieder darüber reden, alles noch einmal aufwärmen, über alles noch einmal nachdenken und sich wahrscheinlich wieder anhören müssen, dass sie überreagierte und lieber alles vergessen sollte. Nana saß dort auf ihrem Stuhl und wirkte wie das genaue Gegenteil von Kari. Sie hatte sich in eine bequeme Position zurück gelehnt, sah sich beiläufig im Gastraum um und wartete auf ihren Kaffee, während Kari einfach keine angenehme Sitzposition finden wollte und auf ihrem Stuhl hin und her rutschte. Als ihr Kaffee gebracht wurde, beugte Nana sich nach vorn und sah Kari neugierig an. Sie nippte an ihrem Kaffee, stützte den Kopf auf eine Hand und machte ein erwartungsvolles Gesicht. „Dann rück mal raus mit der Sprache“, sagte sie auffordernd. Auch Kari beugte sich nach vorn, legte die Unterarme auf dem Tisch ab und holte tief Luft. Kapitel 3: Was damals geschah ----------------------------- „Alles fing vor fünf Jahren an. Das heißt, eigentlich fängt alles schon viel früher an“, begann Kari zu erzählen und starrte in ihren Kaffee. „Kennst du die Teenage Wolves?“ „Klar, wer kennt die nicht?“, antwortete Nana sofort. „Hat Takeru etwa was mit denen zu tun?“ „Nun, der Sänger, Matt, ist T.K.s Bruder. Er und mein Bruder waren beste Freunde und dadurch haben auch T.K. und ich uns kennen gelernt“, antwortete Kari und wandte den Blick nicht von ihrem Kaffee ab. Sie hatte die Hände um die Tasse gelegt und wärmte sie, obwohl es heute kein kalter Tag war. „Matt ist T.K.s Bruder? Der Sänger?“ Kari sah kurz auf und schaute in Nanas verblüfftes Gesicht. Sie nickte. „Genau der.“ „Und dein Bruder... über den weiß ich gar nichts. Er heißt doch Tai, oder?“, fragte sie weiter. „Ja, aber du kennst ihn nicht. Er ist drei Jahre älter als ich und war gerade fertig mit der Oberschule, als wir hier angefangen haben“, erklärte Kari. Sie war immer traurig darüber gewesen, dass sie nie mit Tai auf eine Schule gehen konnte. Nur in der Grundschule hatte es drei Jahre lang geklappt. „Und woher kennt Tai Matt? Aus der Schule?“, fragte Nana neugierig. Kari nickte erneut. „Die haben sich in der ersten Klasse kennen gelernt und wenn sie sich gegenseitig besucht haben, um miteinander zu spielen, haben sie uns immer mitgenommen, damit wir sie nicht nerven konnten.“ Kari musste lächeln bei dieser Erinnerung. „Dann kennt ihr euch ja schon Ewigkeiten“, stellte Nana verwirrt fest. „Wie kommt es, dass ihr dann jetzt nicht mehr miteinander redet?“ „Warte, es geht ja noch weiter“, sagte Kari und seufzte. „Unsere Mütter haben sich auch durch Tai und Matt kennen gelernt und sind immer noch miteinander befreundet. Als T.K. fünf Jahre alt war, haben sich seine und Matts Eltern getrennt und er zog mit Natsuko von Odaiba weg. Deswegen sind wir am Anfang nicht auf die selbe Grundschule gegangen.“ „Ist Natsuko T.K.s Mutter?“, fragte Nana. „Ja und...“ „Und dann hattet ihr erst mal keinen Kontakt mehr?“, unterbrach Nana Kari, die sie kurz unsicher ansah. „Doch. Unsere Mütter haben sich auch öfter mal besucht und da sie wussten, dass Tai und ich uns gut mit T.K. verstehen, waren wir auch oft bei den Treffen dabei. Manchmal waren auch nur T.K. und ich da und deswegen sind wir in der Zeit gute Freunde geworden und...“ Sie machte eine Pause und kaute auf ihrer Unterlippe herum. Es fiel ihr schwer, den nächsten Satz auszusprechen. „Und was?“, hakte Nana nach, als ihr die Pause zu lang wurde. „Und ich glaube, ich habe mich irgendwann in der Zeit ein bisschen in ihn verliebt. Jedenfalls zogen Natsuko und T.K. wieder zurück nach Odaiba und wir kamen gemeinsam in die fünfte Klasse. Ich habe mich so sehr darüber gefreut“, erzählte Kari und spürte, dass ihre Wangen rot wurden. Nana machte ein verträumtes Gesicht und ihre Augen glitzerten. „Wie süß“, fand sie. „Eine unschuldige Kinderliebe.“ „Ich weiß doch gar nicht, ob er auch in mich verliebt war“, sagte Kari und schüttelte den Kopf, als wollte sie dadurch diesen Gedanken loswerden. „Jedenfalls gingen wir dann zwei Jahre in eine Klasse und haben so oft auch die Nachmittage miteinander verbracht. Und die Wochenenden. Er war einfach der beste Freund, den ich mir nur vorstellen konnte. Und ich war seine beste Freundin. Ich habe ihn immer aufgeheitert, wenn er wieder traurig war wegen der Scheidung seiner Eltern. Dann habe ich ihn zu uns nach Hause eingeladen und wir haben Tai geärgert.“ Wieder musste Kari lächeln. „Ist ja echt schön. Ich hatte nie einen männlichen besten Freund“, seufzte Nana. „Aber wie kam es denn nun, dass ihr nicht mehr miteinander redet?“ „Naja...“ Wieder machte Kari eine längere Pause und suchte nach den richtigen Worten. „Eines Tages, kurz nach Ende der sechsten Klasse, kam T.K. zu mir nach Hause und erzählte mir, dass er am nächsten Tag nach Frankreich fliegt. Ich war erst mal traurig, weil ich ihn eine Woche oder zwei oder drei nicht sehen würde. Er ist oft in Frankreich, weißt du? Seine Großeltern leben da. Und immer, wenn er dort war, habe ich mich schrecklich gelangweilt und ihn vermisst. Und ja...“ Kari holte kurz Luft. Ihr Inneres fühlte sich seltsam an, als wäre es zu groß für ihren Körper. „Ich meinte eben, dass wir uns dann halt später sehen und habe mich gewundert, warum er mir nicht schon eher gesagt hat, dass er in den Urlaub fährt. Normalerweise kündigte er das immer Wochen vorher an.“ Kari strich sich unruhig eine Haarsträhne hinter die Ohren. Nana hatte sie nicht mehr unterbrochen, sondern musterte sie nur gespannt. „Dann hat er mir eben gesagt, dass er diesmal für immer nach Frankreich fliegt.“ Kari blickte in ihren Kaffee, der mittlerweile nur noch lauwarm war. Sie trank einen Schluck und verzog das Gesicht. „Wie jetzt, er hat dir einen Tag vor seiner Abreise gesagt, dass er für immer weg geht?“, fragte Nana und starrte sie ungläubig an. „Mhm“, machte Kari und nickte. „Wie hast du reagiert?“, fragte Nana mit hochgezogenen Augenbrauen. „Ich habe es ihm erst gar nicht geglaubt und dachte, das war ein Scherz, um mich zu ärgern. Aber er ist so ernst geblieben und hat nur Tschüss gesagt und dass ich auf mich aufpassen soll. Und dass er mir schreiben will. Da habe ich gemerkt, dass er es ernst meint.“ „Wow, das ist echt... hart“, fand Nana und schüttelte gedankenverloren den Kopf. „Ich war natürlich total geschockt und traurig und habe ihn gefragt, warum er mir das einen Tag vorher sagt. Er meinte, er hätte einfach keine richtige Gelegenheit gefunden, mir das zu sagen, weil er wusste, dass ich traurig sein würde und dass er genauso traurig ist. Er wollte lieber die letzten Wochen mit mir ganz normal verbringen.“ „Oh, das ist aber... oh!“ Nana hatte die Augenbrauen kritisch zusammengezogen und schüttelte den Kopf, sodass ihr Haar hin und her schwang. „Irgendwie kann ich ihn ja verstehen, aber das war echt blöd.“ „Ja“, murmelte Kari. „Danach ist er einfach gegangen und ich habe den Rest des Tages in meinem Zimmer verbracht und nur die Wand angestarrt.“ „Kann ich verstehen“, meinte Nana mitleidig. „Hätte ich wohl auch gemacht. Aber ich glaube, ich hätte ihn auch angeschrien. Hattet ihr danach nie wieder Kontakt?“ „Doch“, antwortete Kari. „Er hat mir einen Brief geschrieben, nachdem er in Frankreich angekommen war. Darin stand, dass es ihm Leid tut, dass er mir nicht eher Bescheid gesagt hat. Er hat gefragt, wie es mir geht und was ich so mache und naja... Smalltalk eben.“ „Als ob nichts gewesen wäre?“, warf Nana ungläubig ein. „Ja, so ungefähr. Ich habe ihm nicht auf diesen Brief geantwortet und die Wochen danach ständig geheult. Ich habe mich einfach so hintergangen gefühlt. Ich glaube, unsere Freundschaft hat ihm einfach viel weniger bedeutet als mir. Für mich war er einfach eine der wichtigsten Personen in meinem Leben, während ich für ihn anscheinend nur eine nebensächliche Schulkameradin war.“ Kari sah auf und schaute in Nanas Gesicht, das so mitleidig aussah, dass sie es fast schon bereute, ihr die Geschichte mit T.K. erzählt zu haben. „Wie traurig“, sagte sie leise und sah nun ebenfalls in ihre mittlerweile leere Kaffeetasse. „Und dann hattet ihr keinen Kontakt mehr?“ „Nein“, antwortete Kari und schüttelte den Kopf. „Er hat mir immer zu meinem Geburtstag Briefe geschrieben, die ich nie aufgemacht habe.“ Sie dachte an die unterste Schublade ihres Schreibtisches zu Hause, in der sich die fünf Briefe säuberlich übereinander gestapelt befanden und noch immer darauf warteten, geöffnet zu werden. Sie hatte schon ewig nicht mehr in diese Schublade gesehen, das letzte Mal an ihrem Geburtstag, an dem sie den fünften Brief einfach dort hinein befördert hatte. An diesem Tag waren diese Briefe nichts Besonderes mehr gewesen, sondern einfach etwas, das jedes Jahr an Karis Geburtstag auftauchte und sofort missachtet in der Versenkung verschwand. Doch nun dachte sie an diese Briefe, wie sie in ihrem Schreibtisch lagen, ungelesen. Unwillkürlich fragte Kari sich, was wohl genau darin stand. „Vielleicht solltest du mal mit ihm über das Ganze reden“, schlug Nana vor, wie es auch Tai, Davis und Ken schon vorgeschlagen hatten. „Nein. Ich will nicht. Ich habe so lange gebraucht, darüber hinweg zu kommen und hatte ihn schon fast vergessen mittlerweile. Ich will nicht alles wieder aufwärmen“, widersprach Kari, genau wie sie immer widersprach. „Ich muss jetzt nur noch ein Schuljahr mit ihm überstehen, danach sehe ich ihn nie wieder.“ „Aber das ist doch traurig. Ihr wart so gut befreundet“, fand Nana. „Offensichtlich nicht so gut, wie ich dachte“, erwiderte Kari trocken. „Hast du die Briefe eigentlich noch? Die er dir an deinen Geburtstagen geschrieben hat, meine ich.“ „Mhm“, machte Kari. „Dann solltest du vielleicht zumindest die mal öffnen. Ich wäre viel zu neugierig, um sie nicht aufzumachen“, meinte Nana. Kari zuckte nur lustlos mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Was soll schon anderes drin stehen als 'Alles Gute zum Geburtstag'?“ „Das wirst du nie erfahren, wenn du sie nicht aufmachst“, antwortete Nana bestimmt. Kari warf ihr einen bedrückten Blick zu. „Ich sagte doch, ich habe mit der Sache schon abgeschlossen und will sie nicht wieder hoch holen.“ „Weshalb hast du die Briefe dann aufgehoben? Es muss dich ja doch interessieren, was drin steht, sonst hättest du sie weggeworfen. Ich glaube, du hast mit der Sache nicht so abgeschlossen, wie du behauptest.“ Nana verschränkte die Arme vor der Brust und durchbohrte Kari mit ihren Blicken, die in sich zusammensank. „Keine Ahnung“, murmelte sie nur. „Vielleicht mache ich sie irgendwann noch auf.“ Kapitel 4: Der erste Brief -------------------------- Kari saß auf dem Drehstuhl vor ihrem Schreibtisch und starrte die fünf Briefe an, die sie aus der Schublade geholt und vor sich auf der Tischplatte ausgebreitet hatte. Man sah ihnen nicht an, dass sie teilweise schon ein paar Jahre alt waren. Sie hatten nicht in der Sonne gelegen und waren auch nicht oft in die Hand genommen worden, weshalb die Briefumschläge noch immer weiß und glatt waren. Kari nahm den ältesten Brief in die Hand, den sie zu ihrem dreizehnten Geburtstag erhalten hatte, und drehte ihn hin und her. Vorn stand ihre Adresse und auf der Rückseite T.K.s, genau wie es sich gehörte. Einige Sekunden starrte sie den Brief an, bis sie kurzentschlossen den Umschlag aufriss und einen Bogen Papier herausholte, der etwas unordentlich zusammengefaltet worden war. Sie faltete ihn auseinander, legte ihn auf die Tischplatte und glättete ihn mit den Händen. Das Gesamtbild des Briefes entsprach durchaus dem Gestaltungsvermögen eines dreizehnjährigen Jungen. Einige Wörter waren durchgestrichen und neu geschrieben worden, ein paar wenige Grammatikfehler hatten sich eingeschlichen und die Schrift war krakelig, aber Kari erkannte sie wieder. Sie atmete tief durch und begann zu lesen. Hi Kari! Alles Gute zum Geburtstag! Feierst du gerade? Hast du schon Geschenke bekommen? Also eigentlich hast du ja erst in ein paar Tagen Geburtstag, aber meine Mutter meinte, ich sollte den Brief heute schon zur Post bringen, damit er rechtzeitig am Fünfundzwanzigsten ankommt. Ich weiß, dass du eigentlich nicht mehr mit mir reden willst, aber ich wollte dir trotzdem zum Geburtstag gratulieren. Vielleicht redest du ja jetzt wieder mit mir? Ich würde mich zumindest freuen... Ich komme in meiner neuen Schule ganz gut zurecht. Mittlerweile verstehe ich sogar alles und ich träume sogar schon auf Französisch! Was sagst du dazu? Erinnerst du dich eigentlich noch, wie wir letztes Jahr deinen Geburtstag gefeiert haben? Schade, dass wir ihn nicht wieder so feiern können. Also, ich höre jetzt auf zu schreiben und hoffe, dass du mir antwortest. Viele Grüße dein T.K. P.S.: Im Umschlag ist noch ein kleines Geschenk, hast du ja bestimmt schon gesehen. Kari biss sich auf die Unterlippe, als sie fertig gelesen hatte. Sie spähte in den Umschlag und holte die kleinen Gegenstände heraus, die sie vorhin schon bemerkt, aber erst einmal nicht beachtet hatte. Es waren drei Schokoladenbonbons, die Kari so liebte und die T.K. ihr jedes Mal aus seinem Urlaub in Frankreich mitgebracht hatte. Sie waren inzwischen hell angelaufen und Kari wollte sie lieber nicht essen, doch wegschmeißen wollte sie sie irgendwie auch nicht. Sie las den Brief noch einmal durch, bevor sie ihn säuberlich wieder zusammenfaltete und in den Umschlag steckte. Anscheinend hatte T.K. nicht einmal daran gedacht, dass Kari den Brief eventuell nicht lesen würde. Und er hatte vergebens auf eine Antwort gewartet. Kari verstaute die restlichen ungelesenen Briefe wieder in ihrer angestammten Schublade, doch den Brief, den sie gerade eben gelesen hatte, ließ sie auf ihrem Schreibtisch liegen. Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. Sie konnte sich gut den dreizehnjährigen T.K. vorstellen, wie er auf seinem Bett gelegen und diesen Brief geschrieben hatte. Wie seltsam es doch war, dass er ihr auch zu den folgenden Geburtstagen geschrieben hatte, obwohl sie diesen ersten Brief schon nicht beantwortet hatte. Offenbar hatte er die Hoffnung nicht aufgegeben, sie würde sich doch noch melden. Kari war eigentlich neugierig darauf, was wohl in den anderen vier Briefen stand, doch sie wollte sie jetzt nicht lesen. Es war genug T.K. für einen Tag. Es klopfte an ihrer Zimmertür. „Ja?“, rief Kari und stand auf. Susumu Yagami erschien im Türrahmen und hielt ihr den Telefonhörer entgegen. „Telefon für dich“, sagte er. „Danke“, erwiderte Kari und nahm ihm den Hörer ab, bevor er wieder aus ihrem Zimmer verschwand und die Tür hinter sich schloss. „Hallo?“ „Hey, hier ist Ken“, meldete sich die Stimme am anderen Ende der Leitung. „Oh, hallo Ken“, sagte Kari ein wenig überrascht. Ken war nicht gerade der Typ, der gern telefonierte. „Was gibt’s denn?“ „Ähm also... ich wollte dich nur fragen, ob alles okay ist?“, fragte er und klang unsicher. „Ja, wieso nicht?“, entgegnete Kari verwundert. „Naja, ich kam heute in der Pause einfach mit T.K. zu euch. Ich dachte mir, dass dir das wahrscheinlich nicht gefallen hat und es tut mir Leid. Ich wollte dich nicht verärgern oder so“, murmelte er und Kari hatte Mühe, alles zu verstehen, was er sagte. „Ach was“, meinte Kari abwinkend. „Ist schon okay. Ich bin nur von euch weg gegangen, weil Tai angerufen hatte.“ „Achso. Da bin ich ja beruhigt. Ich hatte schon Angst, du wärst jetzt böse auf mich“, seufzte Ken und klang erleichtert. „Nein, nein“, sagte Kari schnell. „Das ist doch albern. Ich weiß, dass ich mich nicht so haben sollte. Ich komme schon zurecht.“ „Okay, wie du meinst. Naja, das war alles, was ich sagen wollte, glaube ich“, antwortete Ken. „Gut. Na dann bis morgen“, verabschiedete Kari sich. „Ja, bis morgen. Schlaf gut“, hörte sie Ken noch sagen, bevor sie auflegte. Nun hatte sie ein schlechtes Gewissen. Sie konnte sich Ken gut vorstellen, wie er sich Gedanken über etwas machte, über das es sich überhaupt nicht lohnte nachzudenken. Es tat ihr Leid, dass sie ihm überhaupt Anlass dazu gegeben hatte. Kari ging in die Küche, um sich etwas zu trinken zu holen, wo sie auf ihre Mutter traf, die gerade noch dabei war, Geschirr abzutrocknen. „Was wollte Ken denn?“, fragte Yuuko und musterte sie interessiert. „Nichts weiter. Nur wegen Schule morgen“, log Kari und nahm sich ein Glas aus dem Hängeschrank über der Arbeitsfläche. „Achso“, meinte Yuuko nur. „Übrigens habe ich Natsuko und T.K. morgen zum Abendessen zu uns eingeladen. Nur, dass du Bescheid weißt.“ Sie zwinkerte ihr zu und Kari musste sich bemühen, ihren Schock zu verbergen. „Warum?“, platzte sie heraus und bereute ihre Frage sofort. „Warum? Na einfach so. Ich freue mich nur, dass sie wieder in Tokio sind“, antwortete ihre Mutter verwirrt. „Hast du denn was dagegen?“ Ihr Blick wurde skeptisch, als sie das fragte. „N-nein“, stammelte Kari. Sie würde sich wohl für den nächsten Abend woanders einquartieren müssen. Am nächsten Morgen kam Kari gerade noch rechtzeitig mit dem Läuten der Schulglocke in den Klassenraum gehetzt. Sie hatte verschlafen, weil sie in der Nacht kaum ein Auge zu bekommen hatte. Zu sehr musste sie über alles nachdenken, was gestern gewesen war. Davis drehte sich fragend zu ihr um, als sie sich auf ihren Stuhl fallen ließ und ihre Sachen aus der Tasche kramte. „Warum kommst du denn so spät?“, fragte er flüsternd und musterte sie neugierig. „Hab verschlafen“, murmelte Kari und wandte sich dem Unterrichtsgeschehen zu. Davis bekam mal wieder eine Ermahnung, weil er sich umgedreht und gequatscht hatte und der Unterricht konnte beginnen. Kari konnte sich nur schlecht konzentrieren. Sie starrte ständig aus dem Fenster und beobachtete, wie kleine Schäfchenwolken durch den Himmel zogen und Vögel am Fenster vorbei flatterten. Die Fenster waren geöffnet und die Geräusche von draußen wehten herein. Vogelgezwitscher, das Summen von Bienen, vorbeifahrende Autos. Nur nebenbei nahm sie das quietschende Geräusch der Tafelkreide und das Gerede des Lehrers wahr. Sie spürte, wie schwer ihre Lider wurden und ihr Bewusstsein immer weiter abdriftete. „Hikari, geht’s dir nicht gut?“ Die Stimme ihres Lehrers riss Kari aus dem Halbschlaf, in den sie soeben gesunken war. Sie schreckte hoch und starrte nach vorn. Alle Blicke waren auf sie gerichtet. „Ähm... nicht so richtig“, murmelte sie. „Geh besser ins Krankenzimmer“, schlug er vor. „Daisuke, begleitest du sie bitte?“ „Klar.“ Davis stand sofort auf und wandte sich zu Kari um, die ebenfalls langsam aufstand, wobei ihr Blick den von T.K. streifte. Beim Rausgehen erhaschte sie auch einen Blick auf Aya, die eine Augenbraue in die Höhe gezogen hatte und sie wie immer abwertend ansah. Sie tuschelte gerade ihrer Banknachbarin etwas zu, wobei es offensichtlich um Kari ging. Genervt wandte Kari den Blick ab und ging mit Davis nach draußen. Sie liefen den Gang entlang bis sie an die Kreuzung kamen, wo es nach links zum Krankenzimmer ging. Kari bog nach rechts ab. „Zum Krankenzimmer geht es hier lang“, meinte Davis verwirrt und blieb stehen. „Ich weiß. Aber ich gehe nach Hause“, verkündete Kari und ging einfach weiter, ohne sich umzudrehen. „Jetzt warte doch mal. Was ist denn los mit dir?“ Davis kam ihr nachgelaufen und hielt sie an der Schulter fest. „Mir geht’s halt nicht so gut. Ich hab schlecht geschlafen“, nuschelte Kari und machte sich von ihm los, um weiterzugehen. „Ist es wegen T.K.?“, fragte Davis. Kari drehte sich um und sah ihn stirnrunzelnd an. „Ich wünschte, er wäre nicht hergekommen.“ „Kari, du solltest...“ „Nein!“, rief Kari und sah ihn wütend an. „Ich will nicht wieder hören, ich sollte mit ihm reden und er ist ja ganz toll! Es ist verdammt noch mal meine Sache und es geht niemanden was an, ob ich je wieder mit ihm rede oder nicht!“ Ruckartig drehte sie sich um und eilte davon. Diesmal lief Davis ihr nicht nach. Als sie zu Hause ankam, war sie glücklicherweise allein. Ihr Vater war arbeiten, ihre Mutter vermutlich gerade noch einkaufen für das Abendessen mit T.K. und seiner Mutter. Das war theoretisch gesehen Karis beste Gelegenheit, sich einfach aus dem Staub zu machen. Schnell Sachen packen und bei Nana oder so übernachten. Aber wie sollte sie das ihrer Mutter erklären? Die würde sich ohne Zweifel Sorgen machen und sie fragen, was das sollte. Seufzend setzte Kari sich an ihren Computer und loggte sich in ihren mittlerweile verstaubten Facebookaccount ein. Sie wusste eigentlich nicht, weshalb sie auf dieser Seite überhaupt noch angemeldet war, so selten, wie sie sich einloggte. Gelangweilt überflog sie die Startseite, bis sie auf etwas stieß, das sie aufmerksam machte. „Motomiya Davis und 3 weitere Freunde sind jetzt mit Takaishi Takeru befreundet.“ Kari zog die Augenbrauen zusammen und ließ den Mauszeiger über die drei weiteren Freunde wandern. Ken, Nana und Akito, ein Junge aus ihrer Klasse, der ebenfalls im Basketballteam spielte. Na, das ging ja schnell. Kari konnte nicht widerstehen und klickte auf T.K.s Namen, woraufhin sein Profil erschien. Fast alles war auf privat gestellt und Kari konnte nur wenig einsehen. Sie musterte sein Profilbild, das schwarzweiß war und ihn von schräg hinten zeigte, wie er auf den Eiffelturm in der Ferne blickte. Wie albern. Sein Geburtsdatum zeigte den sechsundzwanzigsten November an, genau wie Kari es in Erinnerung hatte. Sein Beziehungsstatus verriet ihr, dass er Single war. Ein Wunder. Und er hatte fast zweihundert Freunde. Jaja, das waren bestimmt alles ganz enge Freunde. Kari schüttelte missbilligend den Kopf und schloss das Fenster. Diesen Hype um Facebook würde sie wohl nie verstehen können. Sie beschloss, sich noch ein wenig hinzulegen, da ihre Lider sich noch immer sehr schwer anfühlten. Ein oder zwei Stunden Schlaf konnte sie sich ruhig noch gönnen, bevor sie überlegte, wo sie den heutigen Abend verbrachte. Kapitel 5: Menschen ändern sich ------------------------------- „Kari? Hey, Kari!“ „Was?“ Erschrocken fuhr Kari hoch. Yuuko stand vor ihrem Bett und hatte sie behutsam wachgerüttelt. „Ich dachte nur, ich wecke dich lieber, falls du dich noch umziehen willst, oder so. Natsuko und T.K. kommen in einer Stunde.“ Kari riss die Augen auf und wandte den Blick auf den Wecker auf ihrem Nachttisch. Kurz nach sechs. Sie hatte allen Ernstes über vier Stunden geschlafen. Dabei kam es ihr so vor, als hätte sie eben erst die Augen geschlossen. „Oh, ich... äh...“, stammelte Kari und rieb sich die Schläfe. „Geht's dir nicht gut?“ Yuuko sah sie besorgt an. „Doch, aber...“ Mist. Jetzt konnte sie sich doch nicht mehr verkrümeln und behaupten, sie hätte das gemeinsame Abendessen vergessen. Ihrer Mutter die Wahrheit sagen wollte sie erst recht nicht. Dann hätte sie nur noch einmal alles erzählen müssen. „Schon gut. Ich helfe dir beim Kochen.“ „Prima. Vielleicht muss ich mich dann ja nicht mit meinem Essen blamieren.“ Yuuko grinste und sie gingen gemeinsam in die Küche, wo schon alles zum Kochen vorbereitet war. Kari machte sich daran, Gemüse zu schneiden und dachte währenddessen bang an den herannahenden Besuch. Dabei keimte plötzlich eine Frage in ihr auf, die sie sich noch nie gestellt hatte in den letzten fünf Jahren. „Sag mal, Mama...“, fing sie zögerlich an. „Hm?“, machte Yuuko, als Kari nicht weitersprach. „Hast du damals eigentlich gewusst, dass T.K. und seine Mutter nach Frankreich ziehen?“ Yuuko warf Kari einen Seitenblick zu. „Naja, ich habe es erst kurz vorher erfahren“, antwortete sie langsam. „Sie hatte mir zwar von Jean erzählt und dass sie überlegt, zu ihm zu ziehen, aber dass sie es wirklich tut, hat sie mir erst wenige Tage vorher erzählt.“ „Jean?“, fragte Kari verwundert. Diesen Namen hörte sie zum ersten Mal. „Ja“, sagte Yuuko und sah sie fragend an. „Hat T.K. dir denn nicht von ihm erzählt?“ „Nicht, dass ich wüsste“, erwiderte Kari zögernd. „Das war ihr Freund. Wegen ihm ist sie nach Frankreich gegangen“, erklärte Yuuko. „Und jetzt... sind sie nicht mehr zusammen?“ „Nein“, antwortete Yuuko und sah Kari verblüfft an. „Sag mal, worüber haben T.K. und du all die Jahre geredet? Hat er dir das nie erzählt?“ „Nein.“ Nicht mal den Grund für sein Weggehen hatte T.K. ihr also vor fünf Jahren verraten. Das konnte Kari kaum glauben. Ungläubig schüttelte sie den Kopf. „Habt ihr denn überhaupt mal miteinander geredet, seit er wieder hier ist?“, fragte Yuuko. „Anscheinend habt ihr ja einiges nachzuholen. Naja, damit könnt ihr heute Abend ja anfangen. Ihr verkrümelt euch ja bestimmt eh nach dem Essen, weil euch das Gequatsche eurer alten Mütter langweilt.“ Sie zwinkerte ihr fröhlich zu und schien Karis Verblüffung nur darauf zu schieben, dass sie nichts von Natsukos Freund wusste. „Warst du eigentlich sauer auf sie, dass sie dir nicht eher gesagt hat, dass sie wegzieht?“, fragte Kari nach einer Weile. Wieder warf Yuuko ihr einen verwunderten Blick zu. „Am Anfang vielleicht ein bisschen. Zumindest finde ich, sie hätte es mir eher sagen können. Aber sie ist doch meine Freundin und wir konnten ja Kontakt halten“, antwortete sie unbekümmert. „Sie wird schon ihre Gründe gehabt haben, warum sie es nicht früher erzählt hat.“ Kari stimmte diese Antwort nachdenklich. Ihrer Mutter war es also ähnlich ergangen und doch hatte sie eine völlig andere Art, mit dieser Situation umzugehen als Kari selbst. Sie freute sich einfach, dass Natsuko wieder da war und verschwendete keinen Gedanken an die Vergangenheit. Die Freundschaft war für sie wie immer, es gab keine Unterschiede, wohingegen es für Kari kein Zurück mehr gab und sie alles als zerstört betrachtete. „Kari, deckst du schon mal den Tisch, bitte?“ „Klar“, sagte Kari. Während sie Teller und Besteck auf dem Esstisch verteilte, tauchte auch Susumu Yagami auf. Er wirkte müde. Im Vorbeigehen drückte er Kari einen Kuss auf die Stirn und blieb bei Yuuko stehen. „Alles in Ordnung?“, fragte diese und sah ihren Mann besorgt an. „Ja, war nur ein bisschen stressig heute“, seufzte Susumu. „Gut, dass du es noch rechtzeitig geschafft hast. Natsuko und T.K. müssten auch jeden Moment kommen“, antwortete Yuuko nun wieder gut gelaunt. Kari musste ein Seufzen unterdrücken. Nun war es definitiv zu spät, noch die Biege zu machen. Diesen Abend würde sie jetzt durchstehen müssen, aber sie musste ja nur zum Essen bleiben. In dieser Zeit brauchte sie ja nicht mit ihm zu reden. Und hinterher konnte sie einfach behaupten, sie hätte noch mit der Schule zu tun und sich in ihr Zimmer verdrücken. In diesem Augenblick ertönte die Türklingel. „Machst du bitte auf, Kari?“, rief ihre Mutter ihr zu, die gerade in einer Pfanne rührte, die den Duft nach Angebranntem verströmte. Widerwillig ging Kari zur Tür und legte die Hand auf die Klinke, doch bevor sie sie öffnete, setzte sie ein möglichst ungezwungenes Lächeln auf. „Hallo“, begrüßte sie T.K. und seine Mutter. Dabei fiel ihr als Erstes auf, dass T.K. seine Mutter mittlerweile ein ganzes Stück überragte, doch sie achtete darauf, ihm nicht in die Augen zu schauen. „Hallo, Kari“, sagte Natsuko fröhlich und lächelte breit. „Kommt rein.“ Kari trat einen Schritt zur Seite und hielt die Tür auf. Die beiden Gäste gingen an ihr vorbei in die Wohnung und Kari nahm T.K.s Duft wahr. Sie hatte keine Ahnung, was genau so an ihm roch. Ein Deo? Ein Parfüm? Das Waschmittel? Seine Haut? Zumindest musste sie zugeben, dass der Geruch mehr als angenehm war. Unschlüssig blieb sie stehen und schloss die Tür. Yuuko begrüßte die beiden überschwänglich und fing sofort an, mit Natsuko zu plaudern. Über das Wetter, die Geschehnisse des heutigen Tages, die Arbeit. Susumu kümmerte sich darum, dass alle ein Glas Wasser bekamen. Und Kari stand immer noch verloren an der Eingangstür. Langsam, um nicht aufzufallen, schritt sie hinüber zum Esstisch und setzte sich auf den freien Platz neben T.K. „Hach, ich freue mich auf echtes japanisches Essen“, sagte Natsuko gerade. „Alle sagen immer, das Essen in Frankreich ist so gut, aber das kann ich nicht bestätigen.“ Kari konnte sich nicht vorstellen, dass das französische Essen schlechter war als das ihrer Mutter, aber sie verkniff sich einen Kommentar. „Wirklich? Also ich hätte Lust, das französische Essen mal kennen zu lernen“, meinte Yuuko und stellte die Pfanne, die immer noch unangenehmen Geruch verbreitete, auf dem Tisch ab. „Das kannst du gerne haben. Ich lade euch gern das nächste Mal ein und koche französisch“, erwiderte Natsuko zwinkernd. „Au ja, das klingt super. Für Susumu ist das nichts, oder? Aber Kari gefällt's bestimmt“, sagte Yuuko, während sie Essen auf die fünf Teller verteilte. Susumu schüttelte den Kopf und Kari zog die Augenbrauen hoch und zuckte mit den Schultern. „Mensch, Kari, du bist so still“, stellte Natsuko fest und musterte sie. „Ich... ähm... hab nur nichts zu erzählen“, stammelte Kari und begann schnell zu essen. Nach den ersten paar Bissen konnte sie nicht anders, als das Gesicht zu verziehen. Röstaroma war gar kein Ausdruck mehr für den Geschmack des Essens und versalzen war es auch noch. Unauffällig ließ Kari den Blick über die anderen am Esstisch wandern. Ihr Vater ließ sich schon lange nichts mehr anmerken und aß, als wäre es ein ganz normales Essen. War es ja irgendwie auch für die Verhältnisse ihrer Mutter. Natsuko allerdings aß recht langsam und und auch T.K. schlang nicht gerade. „Ich glaube, ein bisschen weniger Salz hätte es auch getan, oder?“, meinte Yuuko und lächelte entschuldigend in die Runde. Kari musste plötzlich kichern, sodass alle anderen sie ansahen. „Entschuldige, aber du sagst es so, als würde es sonst immer schmecken.“ Sie kicherte weiter, während Yuuko sie nur verstört ansah und schließlich seufzte. Nun grinste auch Natsuko. „Ach Yuuko, mach dir nichts draus.“ „Der Hunger treibt's rein“, murmelte Susumu und Kari prustete wieder los. Natsuko war anzusehen, dass sie sich ein Lachen verkniff. Wie T.K.s Gesicht aussah, konnte Kari nicht sehen, da sie noch immer vermied, ihn anzuschauen. Insofern war es gut, das er neben ihr saß. „Ihr seid mir schöne Gäste, alle miteinander“, nuschelte Yuuko, doch wie Kari sie kannte, war sie nicht ernsthaft gekränkt. „Sei nicht traurig. T.K. hat mich, als wir neu in Frankreich waren, auch ständig mit Matt verglichen und ich musste mir anhören, dass Matt dieses und jenes besser kocht als ich, stimmt's?“ Natsuko zwinkerte T.K. zu, der nur unschuldig nickte. „Man gewöhnt sich eben an alles“, sagte er scherzhaft. „Selbst an das schlechte Essen der eigenen Mutter, was?“ Sie gab ihm einen Klaps gegen die Schulter. Yuuko kicherte und aß ihren Teller leer. Dann wandte sie sich wieder an Natsuko. „Wie geht’s Matt denn eigentlich?“ „Gut“, antwortete diese. „Er ist gerade von seiner Tour durch Europa zurück.“ „Europa.“ Susumu pfiff anerkennend. „Ja. Seit letztem Jahr ist er nur noch unterwegs.“ Ihr Blick wurde wehmütig. Yuuko beobachtete sie einige Sekunden, dann stand sie auf und begann, den Tisch abzuräumen. „Kari, ihr beiden wollt doch bestimmt nicht hören, was eure Mütter so Langweiliges zu bereden haben. Geht doch in dein Zimmer“, sagte sie. „Das ist eine prima Idee. Ich werde mich auch verziehen. Die Kollegen treffen sich alle noch in einer Bar“, erklärte Susumu. „Jaja, das ist okay. Geht nur alle, dann können wir hier in Ruhe unsere Frauengespräche führen“, meinte Yuuko und wedelte mit den Händen. Susumu gab ihr einen Kuss auf die Wange, bevor er seine Schuhe anzog, seine Jacke schnappte und aus der Wohnung verschwand. „Na los, ergreift schon die Flucht“, sagte Yuuko nun zu Kari und T.K. und nickte mit dem Kopf in Richtung Karis Zimmer. „Mama, das ist wirklich nicht nötig, ich...“ „Ach, keine Widerrede.“ Sie lächelte und nahm Kari den Teller aus der Hand, den sie gerade zum Geschirrspüler hatte bringen wollen. Oh nein. Was sollte sie denn jetzt machen? Sie wollte nicht mit T.K. in ihr Zimmer gehen. Tatsächlich fielen ihr im Augenblick nur sehr wenige Dinge ein, die sie noch weniger gern tun würde. Langsam wandte sie sich um und ging voraus in ihr Zimmer. Sie hörte, wie T.K. ihr folgte. Lustlos stieß sie die Tür auf, ging hinein und ließ sich auf ihrem Schreibtischstuhl fallen. T.K. schloss leise die Zimmertür, blieb mitten im Zimmer stehen und sah sich um. „Hat sich ganz schön verändert, seit ich das letzte Mal hier war“, stellte er nüchtern fest. Kari zog die Augenbrauen hoch. Sie konnte kaum glauben, was sie da hörte. Sie befanden sich allein in ihrem Zimmer und er tat so, als wäre nie etwas gewesen. Er betrachtete die Fotocollagen, die an der Wand hingen und die Kari in stundenlanger Arbeit liebevoll gebastelt hatte. „Wie geht’s Tai so? Er studiert doch jetzt schon im fünften Semester, oder?“, fragte T.K. und drehte sich zu ihr um. „Gut“, antwortete Kari monoton. Hatte sie bisher geglaubt, die Funkstille zwischen ihr und T.K. wäre am schlimmste, musste sie dies nun revidieren. Dieses gezwungen belanglose, völlig unpersönliche Plaudern war noch schlimmer, zumindest mit dem Hintergedanken, dass sie einmal beste Freunde waren. Am liebsten würde sie ihn sofort bitten, zu gehen, um allein für sich zu sein. T.K. wandte sich wieder um und betrachtete weiter ihr Zimmer, bis er bei ihrem Bett ankam und sich darauf niederließ. Er sah ihr direkt in die Augen, bis sie den Blick abwandte, doch sie wusste nicht, wo sie hinschauen und womit sie sich beschäftigen sollte. „Geht's dir wieder besser?“, fragte er nach einer Weile. „Im Vergleich zu wann?“, rutschte es aus Kari heraus. „Heute Mittag“, antwortete T.K. trocken. Wieder sahen sie sich in die Augen, bis Kari wieder diejenige war, die den Blick abwandte. Mit zitternden Händen ordnete sie einen Stapel Papier auf ihrem Schreibtisch und hörte, dass T.K. sich vom Bett erhob. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass er sich neben ihr aufbaute und auf sie herabsah. „Vielleicht sollten wir jetzt mal reden“, sagte er langsam. „Es gibt nichts zu reden“, erwiderte Kari knapp. „Dann würdest du mich nicht ignorieren“, entgegnete er. „Mein Gott!“, rief Kari und sprang auf. „Was willst du denn jetzt genau bereden? Glaubst du, wir setzen uns jetzt fünf Minuten zusammen, plaudern über die letzten fünf Jahre und dann ist alles vergeben und vergessen?“ „Kari...“ „Nix Kari! Du sagst mir, deiner angeblich besten Freundin, einen Tag vorher Bescheid, bevor du für immer aus meinem Leben verschwindest! Oder zumindest glaubte ich, es war für immer. Und dann tauchst du auf, ohne, dass ich davon irgendwas weiß und denkst, nach einem Gespräch, das uns mehr oder weniger aufgezwungen wird, ist alles wieder in Ordnung?“ Sie schnappte nach Luft. Tränen brannten in ihren Augen. T.K. stand nur da und sah sie fest an. „Und weißt du was? Vorhin habe ich durch meine Mutter den Grund erfahren, weshalb ihr nach Frankreich gezogen seid. Nicht mal das konntest du mir sagen.“ Sie ließ sich zurück auf ihren Stuhl sinken und vergrub das Gesicht in ihren Händen. Verzweifelt versuchte sie, die Tränen zurückzuhalten, doch es gelang ihr nicht. Ihre Handflächen waren bereits nass. T.K. ging vor ihr in die Hocke. „Du hast die Briefe also nicht gelesen?“, fragte er leise. „Du bist für mich vor fünf Jahren gestorben, Takeru“, antwortete sie erstickt. T.K. nickte, stand auf und ging zur Tür. „Du hast dich verändert, Hikari“, sagte er noch und verließ dann das Zimmer. Verdutzt und mit nassen Augen starrte Kari auf die Stelle, an der er eben noch gestanden hatte. Was meinte er denn damit auf einmal? Natürlich verändert sich ein Mensch innerhalb von fünf Jahren. Wieso überraschte ihn das? Eine Weile saß Kari einfach nur da, ohne sich zu bewegen und versuchte, das soeben stattgefundene Gespräch zu verarbeiten. Anscheinend war irgendeine Sicherung in ihr durchgebrannt, anders konnte sie sich ihren Ausbruch nicht erklären. Sie bereute es, ihm das alles gesagt zu haben. Am liebsten hätte sie gar nicht mit ihm geredet und ihn einfach ein Jahr lang ignoriert, doch ihre Mütter hatten ja die prima Idee, ein gemeinsames Essen zu veranstalten. Und anscheinend sollten noch weitere folgen. Es klopfte an der Tür und fast im selben Moment wurde sie geöffnet und der Kopf ihrer Mutter erschien im Türrahmen. Ihr Blick wechselte von neugierig zu entsetzt zu besorgt. „Mein Gott, Kari, was ist denn los?“ Sie kam auf sie zu und ging vor ihr in die Hocke, wie es auch wenige Minuten vor ihr T.K. getan hatte. Kari antwortete nicht, sondern wischte sich nur mit den Händen über die feuchten Wangen. Natsuko erschien nun im Türrahmen und auch ihr Blick wechselte von neugierig zu erschrocken. „Was hat er gemacht? Der kann sich warm anziehen!“, rief sie drohend und stemmte die Hände in die Hüften. „Was ist los?“, fragte Yuuko noch einmal, ohne den Blick von Kari abzuwenden. „Mama, wir... ich...“ Was sollte sie jetzt sagen? Wenn sie ihnen die wirkliche Geschichte erzählte, würde Natsuko vermutlich nach Hause stürmen und T.K. zur Schnecke machen. Das wollte sie nicht, sie konnte sich selbst verteidigen. „Habt ihr euch gestritten?“, fragte Yuuko, eine Augenbraue in die Höhe gezogen. „Ja... ja! Es war meine Schuld. Ich hab überreagiert und ihn beleidigt und dann... ist er gegangen“, log Kari schnell. „Oh“, machte Natsuko und ließ die Arme sinken. „Du und überreagieren?“ Ungläubig schüttelte Yuuko den Kopf. „Ja, ist halt so... aus mir herausgerutscht. War dumm. Gleich morgen entschuldige ich mich bei ihm. Macht euch keinen Kopf, ja?“ Ratlos sahen die beiden Frauen sich an. „Na gut, wenn du meinst“, sagte Yuuko unschlüssig. „Aber sag mir Bescheid, wenn du doch mal jemanden brauchst, der ihm das Leben zur Hölle macht“, sagte Natsuko noch und zwinkerte ihr zu. Kari lächelte zurück und die beiden Frauen verließen das Zimmer. Sofort schnappte Kari sich ihr Handy und ließ sich aufs Bett fallen. Hastig suchte sie Tais Nummer heraus und drückte auf den grünen Knopf. „Ja?“, meldete sich die müde Stimme ihres Bruders. Im Hintergrund war alles still. „Nanu, bist du gar nicht unterwegs? Es ist Freitag Abend“, sagte Kari verwundert. „Nee, kein Bock auf nichts. Stress mit Mimi“, nuschelte er. „Ist sie etwa immer noch sauer?“ „Frag nicht.“ Er stöhnte genervt. „Was gibt’s bei dir?“ „T.K. und seine Mutter waren bis eben hier zum Abendessen. Ich war mit T.K. allein in meinem Zimmer“, erklärte Kari kurz. „Oh“, machte Tai. „Du klingt nicht gerade glücklich. Hast du geheult?“ „Ja. Ich hab ihn angeschrien. Er meinte, wir sollten mal reden und da bin ich sauer geworden.“ „Warum?“ Er klang verdutzt. „Na weil er dachte, wir könnten jetzt mal eben schnell alles klären und dann ist's wieder gut.“ „Das dachte er bestimmt nicht.“ „Jedenfalls hab ich ihn fast schon angeschrien. Alles ist wieder hochgekommen.“ Tai schwieg einige Sekunden. Dann sagte er nüchtern: „Kari, ihr solltet euch einfach mal in Ruhe aussprechen.“ „Was soll das bringen?“, fragte sie aufgebracht. „Es macht nicht rückgängig, dass er vor fünf Jahren einfach abgehauen ist.“ „Aber Reden macht es auch nicht schlimmer“, antwortete er bestimmt. „Gib ihm doch mal 'ne Chance. Ist er dir das nicht wert als dein ehemals bester Freund?“ „Sag mal, verstehst du mich denn gar nicht? ER hat MICH sitzenlassen, nicht umgedreht.“ „Aber das ist fünf Jahre her. Meinst du nicht, er bereut es vielleicht? Menschen ändern sich.“ Ja, das hatte sie heute auch schon festgestellt. Menschen ändern sich. Nun verstand sie nicht mal mehr ihr eigener Bruder. „Weißt du was, Tai? Vergiss es einfach.“ Ohne ein Abschiedswort legte sie auf. Kapitel 6: Komplimente ---------------------- In den folgenden zwei Wochen ignorierte Kari T.K. konsequent und er tat es ihr gleich. In den Pausen saß sie mit Davis und Ken zusammen, manchmal auch mit Nana. T.K. hatte sich mit ein paar Jungen aus dem Basketballteam angefreundet und auch mit den Jungen aus ihrer Klasse kam er gut klar. Sie mochten ihn alle aus irgendeinem Grund. Und was Kari besonders aufgefallen war, war Aya, die T.K. ständig hinterherrannte. Aber Kari war das egal. Sollte er doch mit dieser Tussi glücklich werden. Schwierig war es im Unterricht, vor allem in Phasen der Partnerarbeit. Dann konnten sie sich schließlich nicht einfach ignorieren, sondern waren gezwungen, zusammenzuarbeiten, da sie nebeneinander saßen. Dann jedoch sah Kari T.K. nicht einen Augenblick lang an und beschränkte ihr Gespräch auf das Allernötigste. Davis und Ken hatten zum Glück damit aufgehört, sie auf ihn anzusprechen. Sie hatte ihnen nicht erzählt, was an jenem Abend vorgefallen war, doch selbst Davis musste gemerkt haben, dass etwas passiert war. Nur Tai hatte sie davon berichtet, doch der hatte zur Zeit mit eigenen Problemen zu kämpfen. Mimi war nämlich immer noch sauer, dass er sie nicht heiraten wollte. „Mensch, Kari, jetzt lass das an. Du siehst gut aus“, sagte Nana genervt, die auf Karis Bett hockte und ihr dabei zusah, wie sie sich ständig umzog. Aber Kari war irgendwie nicht zufrieden mit ihrem Outfit für die Party am heutigen Abend. „Ich weiß nicht“, murmelte sie und drehte sich vor dem Spiegel hin und her, um sich von allen Seiten begutachten zu können. Sie trug gerade ein kurzes gemustertes Kleid mit Ärmeln und einer dunklen Strumpfhose. Aber irgendetwas fehlte ihr noch. Nana seufzte und erhob sich. Sie kramte in Karis Kleiderschrank herum, obwohl die Hälfte der Klamotten schon auf dem Teppichboden verstreut lag, zog eine Strickjacke heraus und drückte sie Kari in die Hand. „Zieh die noch drüber“, befahl sie. Dann kramte sie in ihrer eigenen Handtasche herum und holte ein paar Armbänder heraus, die sie Kari über die Hand streifte. „So.“ Kari warf erneut einen prüfenden Blick in den Spiegel. Ja, jetzt sah sie schon besser aus, fand sie. „Und was mache ich mit meinen Haaren?“, fragte sie und drehte sich zu Nana um. Diese kniff die Augen zusammen und musterte sie einen Augenblick lang. „Lass sie doch offen, so wie immer“, antwortete sie dann schulterzuckend. „Ich finde, das steht dir am besten.“ Kari betrachtete ihre Haare im Spiegel. Sie hatte sie in den letzten Jahren ein wenig wachsen lassen, sodass sie ihr jetzt über die Schulter fielen und die Leute ihr noch öfter sagten, wie ähnlich sie doch ihrer Mutter sah. „Na gut, dann lasse ich sie eben offen.“ „Und jetzt lass uns gehen. Alle anderen sind bestimmt schon da“, sagte Nana und lief zur Tür. „Jaja“, murrte Kari und ging ihr hinterher. Sie durchquerten den Wohnraum, wobei sie an Karis Eltern vorbeiliefen. Yuuko sprang auf und folgte ihnen zur Wohnungstür. „Passt auf euch auf“, sagte sie und machte wie immer ein besorgtes Gesicht. „Und geh nicht allein nach Hause, hörst du?“ „Ja“, antwortete Kari gedehnt. Mittlerweile konnte sie diese Rede schon fast mitsprechen. Ihre Eltern machten sich einfach immer viel zu viele Sorgen. „Du kannst mich auch anrufen und dann hole ich dich ab“, rief Susumu vom Sofa aus. „Papa, ich rufe dich bestimmt nicht an, nur damit du mich abholst“, entgegnete Kari kopfschüttelnd. Zu schlecht wäre ihr Gewissen, dass sie ihn aus dem Schlaf gerissen hatte, wo er doch immer so viel arbeitete und Geld für die Familie heranschaffte. „Das ist immer noch besser, als allein nach Hause zu gehen“, erwiderte Yuuko streng. „Macht euch doch nicht so viele Gedanken. Bisher bin ich doch immer heil nach Hause gekommen“, sagte Kari abwinkend. Dass sie meistens doch allein gefahren war, ließ sie allerdings unerwähnt. „Hast ja Recht“, meinte Yuuko resigniert. „Dann bis morgen. Und viel Spaß euch.“ Kari und Nana verließen die Wohnung der Yagamis und Kari seufzte. „Anstrengend.“ Nana kicherte. „Besser, als wenn sie sich nicht um dich scheren würden.“ „Da hast du allerdings Recht.“ Nur wenige U-Bahn-Stationen mussten sie fahren, bis sie an ihrem Ziel ankamen. Sie waren in einer Villengegend gelandet, der man schon beim Verlassen der U-Bahn-Station ansah, dass die Bewohner mindestens das Zehnfache von Karis Vater verdienten. Viele Häuser hier hatten ausschweifende Gärten mit hübschen Blumenbeeten und einem Blick aufs Meer. Die Straße war gepflastert und von Ahornbäumen gesäumt. Kein Mensch war unterwegs, doch in den Fenstern brannten Lichter, die verrieten, dass sich die Bewohner in ihren Häusern aufhielten. Zu einem dieser Häuser waren Kari und Nana gerade unterwegs. „Es muss hier irgendwo sein“, murmelte Nana und sah sich um. „Unglaublich, dass Masami noch nie zuvor eine Party gegeben hat, wo sie doch in so einer Hütte lebt“, meinte Kari, die sich die ganze Zeit staunend umsah. „Was glaubst du wohl, warum das so ist?“ Nana sah sie fragend an. „Ihre Eltern erlauben es ihr nicht. Aber sie sind gerade im Urlaub und deswegen schmeißt sie heimlich eine Party.“ „Darauf hätte ich auch selbst kommen können“, sagte Kari grinsend und kratzte sich am Kopf. „Schon gut. Dafür hast du ja mich“, erwiderte Nana und tätschelte ihr die Schulter. „Ah, guck mal, das ist die Straße.“ Sie deutete auf ein Schild. „Dann müssen wir jetzt nur noch die Nummer Fünf suchen“, stellte Kari fest. Nach ein paar weiteren Gehminuten hatten sie das richtige Haus gefunden. Die Musik, die zu ihnen nach draußen dröhnte, versicherte ihnen, dass es sich um das richtige Haus handeln musste. Sie passierten die Zauntür, gingen über den Weg zur Haustür und fanden einen Zettel vor, der sie aufforderte, nach hinten auf die Terrasse zu kommen. Kari und Nana sahen sich kurz an und folgten dann einem Weg hinter das Haus, wo der Lärm allmählich anschwoll. Kari wunderte sich, dass sich noch kein Nachbar über die Musik beschwert hatte. Die ersten beiden Personen, die Kari erblickte, ließen sie sich so unbehaglich fühlen, dass sie am liebsten sofort wieder gehen wollte. Auf einer Bank saßen Aya und T.K. mit Drinks in der Hand und unterhielten sich. Sie warfen Kari und Nana nur einen kurzen Blick zu, bevor sie sich wieder ihrem Gespräch widmeten. Kari zog die Augenbrauen hoch und wandte sich ab. Der Anblick des restlichen Gartens erschien ihr wesentlich angenehmer. Überall waren Laternen aufgehängt worden, sodass ein gemütliches Licht den gesamten Garten erhellte. Es gab sogar einen Pool, doch die Nächte waren noch zu kalt und die Gäste noch nicht betrunken genug, weshalb niemand badete. Die Partygäste befanden sich drinnen und draußen. Von innen dröhnte die Musik auf die Terrasse, damit auch die Freigänger etwas davon hatten. Kari schätzte die bisher anwesenden Personen auf irgendwas zwischen dreißig und vierzig Leuten, wobei aus ihrem und aus Masamis Jahrgang ungefähr gleich viele Leute anwesend waren. „Los, gehen wir erst mal Masami suchen“, beschloss Nana und ging voraus. Im Vorbeigehen grüßten sie die anderen Partygäste mehr oder weniger flüchtig und traten in das geräumige Wohnzimmer von Masamis Familie. Sie kam gerade mit zwei Flaschen in den Händen durch das Zimmer gelaufen und blieb bei Nana und Kari stehen. „Hallo“, begrüßte sie sie fröhlich. „Ich dachte schon, ihr kommt nicht mehr.“ „Kari ist nicht aus dem Knick gekommen“, erklärte Nana grinsend und Kari verdrehte die Augen. Masami kicherte nur. „Die Getränke sind alle draußen. In der Küche findet ihr noch was zu essen, wenn ihr Hunger habt“, sagte Masami und ging weiter. „Oh, ich habe Hunger“, stellte Nana fest und eilte aus dem Wohnzimmer. „Das ist ja wieder typisch“, sagte Kari und lief ihr hinterher. Es war leicht, die Küche zu finden, obwohl das Haus so groß war, doch es war der einzige Raum neben dem Wohnzimmer, in dem noch Licht brannte. Die Küche war riesig und modern. Auf einer Kochinsel in der Mitte des Raumes waren einige Snacks ausgebreitet. Der Boden war bereits voller Krümel und Masami tat Kari Leid, da sie das alles wieder sauber machen musste. „Lecker“, kommentierte Nana die Snackauswahl und schaufelte sich ein paar der Snacks auf die Hand. „Willst du gar nichts essen?“ Sie drehte sich zu Kari um, die in der Tür stehen geblieben war und den Raum betrachtete. „Nein, ich hab' doch vorhin noch was gegessen“, antwortete Kari. „Das ist doch kein Grund“, kicherte Nana und stopfte sich einen ihrer Snacks in den Mund. „Wollen wir wieder raus gehen und gucken, wer noch so da ist?“ „Na, ich bin bestimmt nicht hergekommen, um hier in der Küche mit dir zu essen“, neckte Kari sie. So verließen sie die Küche wieder und gesellten sich zu den anderen Gästen auf die Terrasse. „Hey Kari, du bist auch hier?“ Kari zuckte zusammen und drehte sich zu Ken um, der sie anlächelte. „Ja. Ich wusste nicht, dass du auch kommst“, sagte sie und musterte ihn. Er sah gut aus, aber das tat er ja immer. Er trug einen hellen Pulli und eine dunkle Jeans. „Tja, ich war auch etwas überrascht, dass Masami mich eingeladen hat“, sagte er und sah sich um, als befürchtete er, Masami könnte sie belauschen. „So?“ Kari warf Nana einen vielsagenden Blick zu. Sie beide hatten schon einmal den Verdacht gehegt, dass Masami in Ken verknallt war. Ken zuckte nur mit den Schultern und nippte an seinem Drink. „Wollt ihr auch was?“, fragte er und hielt seinen Becher in die Höhe. „Ja“, sagten Kari und Nana wie aus einem Munde. „Das gleiche wie du“, fügte Nana hinzu. Ken drückte Kari seinen Becher in die Hand und ging hinüber zu den Tischen, auf denen Getränke und Plastikbecher standen. „Wie aufmerksam von ihm“, fand Nana, die ihm hinterhersah. „So ist Ken eben“, antwortete Kari. „Nach wenigen Augenblicken kam Ken zurück und gab Kari und Nana ihre Drinks. „Ich gehe mal eben zu Kayoko“, verkündete Nana und verschwand zu einer Gruppe Mädchen. Kari probierte den Drink, den Ken ihr gebracht hatte, und stellte fest, dass er eine gute Mädchenmischung hinbekommen hatte. Süß und nicht zu sehr nach Alkohol schmeckend, wie Kari es am liebsten mochte. „Du siehst übrigens sehr hübsch aus. Willst du jemanden verführen?“, fragte Ken und lächelte amüsiert. „Nein“, erwiderte Kari schnell und bekam heiße Wangen. „Ich sehe doch aus wie immer.“ „Also ich glaube, das Kleid kenne ich noch nicht an dir“, stellte Ken fest und musterte ihr Outfit eingehend. „Das hatte ich noch nicht oft an“, stammelte Kari und zupfte mit der freien Hand am Saum ihres Kleides herum. Mit Komplimenten konnte sie nicht allzu gut umgehen. Sie wurde dann nur immer verlegen und wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. Meist war es ihr lieber, die Leute dachten sich ihren Teil nur. „Du siehst übrigens auch gut aus.“ „Ken, kommst du mal kurz?“, rief ein Junge aus dem Fußballverein, dessen Name Kari gerade nicht einfiel, und winkte Ken zu sich heran. Dieser warf Kari einen entschuldigenden Blick zu, bevor er sie stehen ließ und zu dem Jungen ging. Kari stellte sich unterdessen an die Hauswand, lehnte sich dagegen und betrachtete das Spektakel in Masamis Garten. In einer dunklen Ecke konnte ein Pärchen gerade nicht die Finger voneinander lassen. Beim näheren Hinsehen erkannte Kari die beiden. Sie waren aus der Parallelklasse und flirteten seit einigen Wochen miteinander. Offenbar hatte nun einer der beiden unter Alkoholeinfluss endlich genug Mut besessen, die Initiative zu ergreifen. Eine Weile beobachtete Kari die beiden verstohlen und gedankenverloren, bis sie plötzlich mehr spürte als sah, dass sie jemand ansah. Sie wandte den Kopf und ihr Blick fand T.K., der sie anscheinend beobachtet hatte, sich nun aber schnell wieder Aya zuwandte, da Kari ihn erwischt hatte. Unwillkürlich wurde Kari von Wehmut ergriffen. T.K. und Aya, wie sie da auf ihrer Bank saßen, sich unterhielten und lachten, als wären sie eng miteinander befreundet. Vermutlich war ihre Bindung jetzt schon wesentlich enger als die zwischen ihm und Kari. Aber das spielte keine Rolle. Es war vorbei. Sie und T.K. hatten sich nichts mehr zu sagen. „Warum so traurig?“ Kari zuckte zusammen und drehte den Kopf in die Richtung, aus der die Frage gekommen war. Neben ihr stand Shinji, ein Junge aus ihrer Klasse, der auch im Basketballteam war und mit dem sie eigentlich nicht viel zu tun hatte. „Nicht traurig, nur nachdenklich“, antwortete sie ausweichend und nippte an ihrem Getränk. „Und worüber denkst du nach?“, fragte er neugierig und lehnte sich nun ebenfalls an die Hauswand. „Über dieses und jenes“, murmelte Kari. „Du willst also nicht mit mir reden“, stellte er fest und zog die Augenbrauen hoch. Kari presste die Lippen aufeinander und wusste nicht, was sie sagen sollte, da sie diese Feststellung überrascht hatte. „Gut siehst du aus“, redete Shinji weiter. „Danke“, murmelte Kari. Schon wieder ein Kompliment. „Du bist eben erst gekommen, oder? Hab' dich vorhin noch gar nicht gesehen“, sagte er. „Mhm“, machte Kari und nippte erneut an ihrem Getränk, nur um nicht so viel sagen zu müssen. Wenn das so weiterging, war sie in einer Stunde betrunken. „Weißt du eigentlich, dass ich euch echt gern beim Tanzen zusehe? Du bewegst dich wirklich toll“, meinte er. Kari runzelte die Stirn. Was sollte das nun wieder werden? Wollte er mit ihr flirten? Sie setzte gerade zu einer Antwort an, als ihr Handy klingelte. „Entschuldige“, sagte sie rasch, entfernte sich ein paar Schritte von ihm und kramte ihr Handy aus der Handtasche hervor. „Hallo?“ „Hey, Schwesterchen“, meldete sich die Stimme ihres Bruders. „Hi. Du kommst wie gerufen“, antwortete Kari. „Wieso das denn? Brauchst du mal wieder meinen wertvollen Rat?“ Kari kicherte. „Nein, ich wurde nur gerade vollgequatscht.“ „Okay? Von wem denn?“ „Ach, so ein Typ aus meiner Klasse. Was gibt’s denn?“ „Aus deiner Klasse? Wo bist du denn gerade? Ist ja so laut im Hintergrund.“ „Bin auf Masamis Party. Ken ist auch da. Masami wohnt in einer Villa, das glaubst du nicht. Riesengroß. Und einen Pool haben sie im Garten.“ „Wow. Sag ihr, das nächste Mal will ich auch eingeladen werden.“ „Mach ich. Aber weswegen rufst du denn nun an?“ „Ach, nichts Wichtiges. Ich wollte dir nur verkünden, dass Mimi in wenigen Monaten offiziell deine Schwägerin ist.“ „WAS?“, platzte Kari heraus und machte große Augen, was Tai natürlich nicht sehen konnte. Im ersten Moment glaubte sie, sich verhört zu haben. „Echt? Das ist ja... oh, Tai! Herzlichen Glückwunsch!“ „Danke“, sagte Tai und sie konnte das Grinsen aus seiner Stimme heraushören. „Das ist echt toll. Ich freue mich für euch. Wie kam es jetzt dazu? Erzähl.“ „Ich habe ihr einen Rückantrag gemacht“, erzählte Tai. „Das Wort hast du doch gerade eben erfunden.“ „Kann sein. Jedenfalls war sie ziemlich enttäuscht darüber, dass ich nicht ja gesagt habe. Nun ja, gestern Abend habe ich ihr einen neuen Antrag gemacht.“ „Heißt das jetzt, du heiratest sie, um dich wieder mit ihr zu versöhnen?“ Kari runzelte ungläubig die Stirn. Tai lachte. „So könnte man es ausdrücken. Nein, ich heirate sie, weil ich sie liebe. Bestimmt hätte ich sie in zwei oder drei Jahren sowieso gefragt. Immerhin sind wir jetzt schon vier Jahre zusammen.“ Kari grinste. „Ich hoffe, ich bekomme bald eine Einladungskarte.“ „Ja, die bekommst du. Mimi ist seit gestern Abend am Planen. Demnächst will sie mit Sora ein Kleid kaufen gehen.“ „Oh, wie schön“, seufzte Kari träumerisch. „Naja... wie man's nimmt“, meinte Tai. „Hast du es unseren Eltern schon gesagt?“, fragte Kari. „Nein. Du solltest die Erste sein, die es erfährt“, antwortete Tai und Kari fühlte sich geschmeichelt. Mit diesem Kompliment konnte sie umgehen. „Ich bin gespannt, was sie sagen werden“, sagte sie. „Ich erst. Ich werde jetzt wieder auflegen, will dich nicht auf deiner Party stören. Grüß alle, die ich kenne. Und tu nichts, was ich nicht auch tun würde.“ „Also eigentlich hatte ich nicht vor, mich heute besinnungslos zu trinken“, scherzte Kari. „Wenn du so weiter machst, kriegst du keine Einladung, Fräulein“, drohte Tai. „Mach's gut, du Spinner.“ „Du auch, Schwesterherz.“ Mit einem breiten Lächeln auf den Lippen steckte Kari ihr Handy zurück in die Tasche. Ihr Bruder heiratete! Nach all dem Auf und Ab, das seine Beziehung in den letzten vier Jahren überstehen musste, waren sie so weit, sich das Ja-Wort zu geben. Sie freute sich so sehr für ihn, dass sie ihren Frust über T.K. vergaß. „Was ist denn mit dir los? Hast du gerade in Endorphinen gebadet?“, fragte Shinji und grinste sie an. „So ähnlich.“ Kari kicherte. „Los, lass uns was trinken.“ Für einen kurzen Moment wirkte er überrascht, ließ sich dann aber von ihr zu den Tischen ziehen, auf dem die Getränke drapiert waren. Ohne zu fragen goss sie beiden einen fruchtigen Schnaps ein und stieß mit ihm an, bevor sie ihn im Ganzen herunterschluckte. „Sag mal, Kari“, fing Shinji an und stellte seinen Becher weg, „hast du nicht Lust, mal was trinken zu gehen?“ Verwundert sah sie ihn an. „Aber wir haben doch gerade was getrunken.“ „Ich meinte, irgendwann mal. Vielleicht nächstes Wochenende oder so“, sagte Shinji. Auf einmal wirkte er ein wenig verlegen. „Achso. Klar, warum nicht?“ Sie lächelte fröhlich und goss sich den nächsten Drink ein. Erst wenige Augenblicke später wurde ihr klar, dass Shinji sie da gerade um ein Date gebeten hatte. „Ähm, ich gehe mal zu Nana.“ Sie drehte sich um und ließ ihn einfach stehen. Nana stand bei einer Gruppe Mädchen, die sich gerade unterhielten. Sie blickte auf, als Kari sich näherte. „Shinji hat hat mich gefragt, ob ich mit ihm nächstes Wochenende was trinken gehen will“, sagte Kari leise, sodass nur Nana es hören konnte. Diese machte große Augen. „Was? Echt? Und was hast du gesagt?“ Kari zuckte mit den Schultern. „Ich glaube, ich gehe hin. Vielleicht wird es ja ganz gut. Er ist ja nett.“ „Du musst mir unbedingt erzählen, wie es war. Ach, jetzt wo du hier bist“, sie sah sich suchend um, „los, lass uns mal zu Ken gehen.“ Sie hakte sich bei Kari unter und zog sie mit sich mit zu Ken. Kari war verwirrt. Was hatte sie denn jetzt mit Ken zu tun? Sie hätte doch auch allein gehen können. Sie blieben bei Ken stehen und Nana schob Kari ein Stück nach vorn. Ken sah sie fragend an. „Na, was gibt’s?“, fragte er. „Keine Ahnung“, antwortete Kari und sah Nana stirnrunzelnd an. „Wie geht’s dir denn so? Ich wusste gar nicht, dass du auch hier bist“, plapperte Nana los und grinste Ken an. „Wie schön, dass Wochenende ist, oder? Diese Woche war besonders stressig.“ „Ähm... ja, stimmt“, murmelte Ken und warf Kari einen irritierten Blick zu. „Und wie war euer Spiel heute? Ihr habt doch gegen diese eine Schule da gespielt.“ Kari wandte sich von den beiden ab, noch immer ein wenig verwirrt. Erst jetzt fiel ihr auf, dass T.K. auch bei der Gruppe stand, Aya war jedoch nirgends zu sehen. Er schien gemerkt zu haben, dass sie ihn ansah, denn er fing ihren Blick auf und starrte zurück, sodass Kari sich schnell wieder abwandte. Was für ein lächerliches Spiel. Sie fühlte sich wie eine Dreizehnjährige. Sie entfernte sich von der Gruppe und beschloss, das Badezimmer aufzusuchen. Es dauerte eine Weile, ehe sie in dem riesigen Erdgeschoss den richtigen Raum erwischte, doch als sie näher trat, hörte sie Geräusche. Es klang, als ob jemand weinte. Ohne nachzudenken klopfte Kari an die Tür und lauschte auf eine Antwort. Das Weinen verstummte, stattdessen hörte sie Schritte, der Riegel wurde gedreht und die Tür ging auf. Zu Karis Überraschung blickte sie direkt Aya in das verweinte Gesicht. Diese wirkte ebenso überrascht, Kari hier anzutreffen, allerdings schien es für sie keine freudige Überraschung zu sein. „Was willst du, Yagami?“, schnappte sie. „Ich muss aufs Klo?“, antwortete Kari, die von Ayas Tonfall augenblicklich genervt war. Diese verdrehte die Augen und drängte sich an ihr vorbei aus dem Badezimmer. Kari sah ihr unschlüssig hinterher. „Was ist denn los?“, fragte sie, nun doch ein wenig mitleidiger. Wer weinte, der war nach Karis Auffassung sehr verstört wegen irgendetwas. Oder irgendwem. „Geht dich einen Dreck an“, antwortete Aya, ohne sich umzudrehen. Kari runzelte die Stirn. Ob T.K. sie wohl zum Weinen gebracht hatte? Als Kari wieder auf der Terrasse war und Aya suchte, stand diese wieder bei T.K., Ken und den anderen Leuten aus der Gruppe und tat so, als wäre nichts gewesen, doch als sie bemerkte, dass Kari sie ansah, warf sie ihr einen feindseligen Blick zu. Kopfschüttelnd gesellte Kari sich wieder zu Nana, behielt ihre Entdeckung aber für sich. Unterdessen plauderte Nana noch immer mit Ken und machte keine Anstalten, Kari in das Gespräch einzubeziehen. Somit setzte sie sich einfach samt ihres Getränks auf einen Stuhl, beobachtete die Gäste und dachte über Aya nach. Sie hatte sie noch nie weinen oder überhaupt unglücklich gesehen. Warum sollte sie auch einen Grund haben, unglücklich zu sein? Sie hatte doch alles, was man sich wünschen konnte. Schönheit, Intelligenz, super Noten und, soweit Kari wusste, auch noch reiche Eltern, genau wie Masami. Und bei den Jungs war sie auch noch beliebt. Was also konnte so jemanden zum Weinen bringen? Kari schüttelte unwirsch den Kopf. Wahrscheinlich hatte sie nur irgendwelche Luxusprobleme. Vielleicht war ihr superteurer Laptop kaputt. Oder sie hatte ihr schickes Kleid bekleckert. Oder ihr Daddy hatte plötzlich beschlossen, ihr doch kein neues Auto zu kaufen. Kari kicherte bei dieser Vorstellung. Solche Probleme hätte sie auch gern. Stattdessen bestand ihr größtes Problem derzeit darin, ihrem ehemals bestem Freund aus dem Weg zu gehen, der sie einfach so vor fünf Jahren verlassen hatte. „Du bist ja schon wieder allein.“ Kari zuckte zusammen und entdeckte erneut Shinji. Herrje, was hatte er nur auf einmal? In der Schule konnte man die Wörter, die sie miteinander gewechselt hatten, an einer Hand abzählen und hier suchte er ständig ihre Nähe. Sie zuckte nur mit den Schultern. „Sag mal, willst du vielleicht meine Begleitung für den Frühlingsball sein?“ Kari zog die Augenbrauen hoch und sah ihn an. Frühlingsball? Den hatte sie ja komplett vergessen. Ihre Schule schloss jedes Jahr am Samstag die Golden Week mit einem Frühlingsball ab. Sie war die letzten zwei Jahre ohne feste Begleitung, sondern immer gemeinsam mit Davis und Ken dorthin gegangen. „Ähm, ja, also... warum fragst du gerade mich?“, fragte Kari und kratzte sich verlegen am Kopf. „Hm naja“, machte Shinji und zögerte eine Weile, bevor er weitersprach. „Ehrlich gesagt finde ich dich ganz süß und würde dich gern mal kennen lernen. In der Schule bekommt man von dir immer nicht so viel mit.“ Er grinste sie verlegen an und Kari spürte, dass sie rot wurde. „Ich hab halt nicht so viel zu sagen“, stammelte sie zu ihrer Verteidigung. „Schon okay, das sollte keine Kritik sein“, antwortete Shinji und hob abwehrend die Hände. „Was ist nun? Willst du mit mir hingehen?“ „Ähm... okay“, sagte Kari zögerlich. So ganz sicher war sie sich nicht, aber dass sie mit ihm dorthin ging, hieß ja nicht, dass sie die ganze Zeit nur mit ihm tanzen durfte und neben ihm sitzen musste. „Super, freut mich.“ Shinjis Augen leuchteten vor Begeisterung und Kari fragte sich, ob er sie schon länger beobachtet hatte. Sie lächelte, blickte sich um und wieder fand sie T.K. Es war, als würde er ihre Blicke irgendwie magnetisch anziehen. „Wie findest du den Neuen so?“, fragte Shinji, der anscheinend mitbekommen hatte, dass sie ihn ansah. „Keine Ahnung. Hab nichts mit ihm zu tun.“ Das entsprach zumindest teilweise der Wahrheit. „Echt nicht? Aber er sitzt doch neben dir.“ „Du weißt doch, ich rede nicht so viel“, antwortete sie. T.K. stand immer noch in der Gruppe und redete mit Aya. Diese sah ihn viel zu oft an, berührte ihn am Arm, lachte übertrieben und fuhr sich ständig durch die langen Haare. „Er hat ja anscheinend schon ein paar enge Freunde gefunden“, bemerkte Shinji, der die beiden ebenfalls beobachtete. „Sieht so aus“, meinte Kari trocken und stand von ihrem Stuhl auf. „Weißt du, ich werde jetzt nach Hause gehen. Muss ja morgen fit sein für den Auftritt und so.“ Shinji sah sie überrascht an. „Okay? Was für ein Auftritt?“ „Bei uns im Theater in Odaiba ist morgen Tanztag. Wir treten da auf“, erklärte sie ihm kurz angebunden. „Achso? Um wie viel Uhr denn?“ Kari sah ihn skeptisch an. Wollte er etwa kommen und sich den Auftritt ansehen? „Um vier beginnt es.“ „Vielleicht schaue ich ja mal vorbei, wenn ich Lust habe.“ Sie nickte nur und suchte Nana. Schnell fand sie sie und verabschiedete sich von ihr. „Warum willst du schon gehen? Gefällt es dir nicht?“, fragte sie überrascht. „Ich habe einfach keine Lust mehr“, murmelte Kari und nickte kaum merklich Richtung T.K. Nana stieß einen lauten Seufzer aus und schüttelte den Kopf. „Du hast ein echtes Problem, meine Liebe. Vielleicht solltest du mal über professionelle Hilfe nachdenken.“ „Wie bitte?“ Kari starrte ihre Freundin entgeistert an. Der Rest der Gruppe, in der sich noch immer Ken, T.K. und Aya befanden, interessierten sich nun auch teilweise für ihr Gespräch, sodass Nana Kari am Arm packte und sich ein paar Schritte von ihnen entfernte. „Kari, T.K. scheint echt in Ordnung zu sein. Du musst einfach mal mit ihm reden und dann klärt sich das bestimmt.“ „Oh, wirklich? Rede weiter, diesen Satz habe ich erst tausendmal gehört“, entgegnete Kari sarkastisch und zog die Augenbrauen zusammen. „Weil es die Wahrheit ist“, sagte Nana ruhig und verschränkte die Arme vor der Brust. „Echt, Kari, ich verstehe dich einfach nicht. Das bist nicht du.“ „Und wer soll das bitte sonst sein?“ „Was weiß ich. Wahrscheinlich eine pubertierende Dreizehnjährige, die noch in deinem Kopf steckt, obwohl sie schon längst verschwunden sein sollte.“ Kari starrte sie gekränkt an. So etwas hatte sie von Nana am allerwenigsten erwartet. Eigentlich hatte sie sich mehr Mitgefühl für ihre Situation erhofft, aber offenbar hatte sich nun selbst Nana auf die andere Seite geschlagen. „Tschüss“, sagte sie kalt, drehte sich um und ging in Richtung Gartentor davon. „Er hat übrigens gesagt, dass du hübsch aussiehst!“, rief Nana ihr hinterher, doch Kari ignorierte sie. Kapitel 7: Der zweite Brief --------------------------- Obwohl sie die Party ziemlich zeitig verlassen hatte, war sie erst nach Mitternacht zu Hause. Ihre Eltern waren schon ins Bett gegangen und so schlich Kari auf Zehenspitzen in ihr Zimmer. Dass T.K. angeblich gesagt hatte, dass sie hübsch aussah, war die ganze Zeit in ihrem Kopf herumgeschwirrt. Es ärgerte sie ungemein, dass alle auf T.K.s Seite standen, obwohl dieser „der Böse“ war und nicht sie. Warum wollte sie einfach niemand verstehen? Missmutig ließ sie sich auf den Stuhl fallen und zog die unterste Schreibtischschublade auf. Da waren sie, die fünf Briefe, von denen vier immer noch geschlossen waren. Langsam suchte sie den zweiten heraus. Eigentlich wollte sie ihn ja nicht lesen, aber es war nachts und sie war angetrunken, da konnte man seine Meinung schon mal ändern. Vielleicht hätte sie einfach schlafen gehen sollen, dann würde sie nicht auf solche Gedanken kommen. Mit einem Finger öffnete sie den Brief, indem sie in die Lasche fuhr und das Papier aufriss. Diesmal befanden sich keine Süßigkeiten in dem Umschlag, dafür aber zwei Bögen Papier. Kari faltete sie auseinander. Die Schrift wirkte nicht gerade liebevoll, sondern krakelig und als hätte T.K. versucht, alles möglichst schnell aufzuschreiben. Hallo Kari, du tickst nicht mehr ganz richtig, oder? Im Ernst? Ich meine, warum ignorierst du meine Briefe? Das Ganze ist jetzt fast zwei Jahre her und von dir kommt einfach keine Antwort. Ich habe überlegt, ob ich dir einfach noch mehr schreibe, aber ich fand, du bist an der Reihe, dich zu melden. Da ich nicht einen Brief und auch keine E-Mail von dir bekommen habe, gehe ich davon aus, dass du immer noch sauer bist. Wie kannst du nur so stur sein? Seit wann bist du überhaupt so nachtragend? Was soll das? Davis verzeihst du immer alles, was er anstellt und das auch noch, obwohl du oft gesagt hast, dass er dich nervt. Und bei mir, deinem angeblich besten Freund? Ich mache einmal was falsch und höre nie wieder etwas von dir. Ehrlich, ich glaube, unsere Freundschaft hat dir nie sonderlich viel bedeutet. Aber weißt du was? Kari legte das erste Blatt beiseite und las auf dem nächsten Blatt weiter. Auf Freunde wie dich kann ich eh verzichten. Ehrlich gesagt bin ich froh, dass ich weggezogen bin, so hast du wenigstens mal dein wahres Gesicht gezeigt. Wer weiß, was irgendwann passiert wäre, wenn ich dageblieben wäre. Hier in Paris mit neuen Freunden geht es mir sowieso viel besser als in Japan. Das wird jetzt das Letzte sein, was du von mir hörst. Ich wünsche dir noch ein schönes Leben. T.K. P.S.: Alles Gute Eine ganze Weile starrte Kari auf die beiden Bögen, bevor sie dazu fähig war, sich wieder zu bewegen. Unordentlich faltete sie den Brief wieder zusammen und stopfte ihn zurück in den Umschlag. Wie hatte T.K. nur so einen Brief schreiben können? Was war in ihn gefahren? Das sah ihm gar nicht ähnlich. Er musste sehr wütend darüber gewesen sein, dass sie sich nicht gemeldet hatte, aber offenbar konnte man diese Aktion auf seine Pubertät schieben, denn immerhin war er gerade mal vierzehn Jahre alt gewesen, als er diesen Brief schrieb. Anscheinend waren seine Hormone mit ihm durchgegangen. Außerdem konnte sie nicht wissen, ob er vielleicht zusätzlich noch schulische oder familiäre Probleme hatte. Wer wusste das schon. Trotz allem musste Kari sich eingestehen, dass sie seine Worte verletzten. Wer weiß, wie sie reagiert hätte, wenn sie den Brief an dem Tag gelesen hätte, an dem er angekommen war. Wahrscheinlich wäre sie wütend geworden oder hätte angefangen zu heulen. Auf jeden Fall hätte es ihren Geburtstag versaut. Sie warf den Brief in die unterste Schreibtischschublade zurück und ging schlafen. In der Nacht träumte sie von T.K. und Aya, wie sie zusammen auf die Hochzeit von Tai und Mimi kamen. Niemand wunderte sich darüber, dass T.K. einfach ein fremdes Mädchen mitbrachte. Sie waren ein glückliches Pärchen und jeder mochte Aya, als wäre sie das liebe Mädchen von nebenan. Kari selbst wurde seltsamerweise von allen gefragt, warum Nana nicht dabei war und ob sie sich gestritten hätten. Als Kari aus dem Schlaf fuhr, war sie so verärgert, dass es eine Weile dauerte, bis sie wieder einschlafen konnte. Sie dachte über sich selbst nach. Alle waren der Meinung, dass sie mit T.K. reden sollte, ihm eine Chance geben sollte, seinen Fehler wiedergutzumachen. Sogar mit Nana hatte sie sich nun schon deswegen gestritten. Sollte sie vielleicht auf die anderen hören? Sollte sie auf T.K. zugehen, das erste Mal in fünf Jahren und sich anhören, was er zu sagen hatte? Vielleicht sollte sie ihren verletzten Stolz überwinden. Er war doch mal ihr bester Freund gewesen. Sie rieb sich die Augen, kletterte aus ihrem warmen Bett und schaltete den Computer ein. Geistesabwesend starrte sie auf den Monitor und wartete, bis sie den Internetbrowser öffnen konnte. Sie loggte sich in ihren Facebook-Account ein und überflog die Startseite. Nichts Weltbewegendes. Ein paar Leute hatten gepostet, dass sie heute Nacht auf Masamis Party gingen. Kari gab „Takeru Takaishi“ in die Personensuche ein und klickte T.K. an. Sie betrachtete sein Profil, das so wenig von ihm preisgab. Sie wollte sehen, welche Fotos er noch hochgeladen hatte, doch das ging nicht. Nur für Freunde. Freunde. Auf einmal erinnerte Kari sich an früher zurück, wie sie mit ihm im Sandkasten gespielt hatte. Wie sie Fußball gespielt hatten. Auf Bäume geklettert waren. Gemeinsam Hausaufgaben gemacht hatten. Zusammen beim Mittagessen im Speiseraum der Schule gesessen hatten. Sich mit Davis und Ken angefreundet hatten. Wie sie sich in ihn verguckt hatte. Und jetzt dieser Brief. Eine einsame Träne rollte über Karis Wange und ehe sie etwas dagegen unternehmen konnte, hatte sie mit einem einzigen Klick eine Freundschaftsanfrage an Takeru Takaishi gesendet. Kapitel 8: Facebook-Smalltalk ----------------------------- Als Kari am nächsten Tag die Umkleidekabinen des Theaters betrat, in dem ihre Tanzgruppe auftrat, lief sie als erstes zu Nana. Die Diskussion, die sie mit ihr hatte, war ihr einfach nicht aus dem Kopf gegangen und sie fand mittlerweile, dass sie sich unfair ihr gegenüber verhalten hatte, auch wenn sie einiges kränkte, was Nana zu ihr gesagt hatte. „Hallo“, begrüßte sie sie ein wenig verlegen. Nana saß auf der Bank vor dem Kleiderhaken und war gerade dabei, ihre Schuhe auszuziehen. Anscheinend war sie auch gerade erst gekommen. „Hey“, erwiderte sie Karis Gruß und sah sie flüchtig an. Kari setzte sich neben sie und zog ebenfalls ihr Schuhe aus. Sie setzte gerade dazu an, den gestrigen Streit anzusprechen, als Nana das Wort ergriff. „Tut mir Leid, dass ich gesagt habe, du brauchst professionelle Hilfe“, sagte sie und lächelte schief. „Das war nicht so gemeint.“ „Vergiss es“, antwortete Kari abwinkend. „Ich hätte ja auch nicht so reagieren müssen.“ Nana zuckte mit den Schultern. „Den Rest nehme ich übrigens nicht zurück. Ich finde immer noch, dass du dich falsch verhältst, aber das weißt du ja.“ Kari seufzte, während sie sich umzog. „Ich habe ihm gestern Nacht noch eine Freundschaftsanfrage auf Facebook geschickt.“ „Na wow“, sagte Nana sarkastisch. „Wenn das mal nicht bedeutet, dass ihr jetzt wieder beste Freunde seid.“ „Jetzt sag' doch sowas nicht. Für mich war das ein großer Schritt“, erwiderte Kari. „Ich weiß.“ Nana tätschelte ihr den Arm. „Hat er sie denn schon angenommen?“ „Nein.“ Kari hatte fast den ganzen bisherigen Tag auf Facebook verbracht, was ihr nun ziemlich peinlich war. Ständig hatte sie nachgeschaut, ob T.K. inzwischen ihre Anfrage bestätigt hatte, doch es hatte sich nichts getan. Vielleicht hatte er sie ja auch schon abgelehnt. Kari zog ihre Gymnastikschuhe an, stand auf und streckte sich. Sie konnte sich ein Gähnen nicht verkneifen. Auch Nana stand auf. Wie immer halfen sie sich gegenseitig dabei, ihre Haare so festzustecken, dass keine Strähnen während des Auftritts herausrutschen konnten. „Habe ich gestern eigentlich noch irgendwas verpasst?“, fragte Kari, als sie gerade die gefühlt hundertste Haarklammer in Nanas glänzend schwarzem Haar befestigte. Es bedurfte immer einer ganzen Wagenladung von Haarklammern, um ihren Pony zu bändigen. Anschließend sprühte sie Nanas Kopf mit Haarspray ein. „Nö. War nicht mehr so viel los“, antwortete Nana. Ihre Hände tasteten prüfend ihren Kopf ab. „Hallo“, rief Masami, die an ihnen vorbeihastete. Verwirrt blickten Kari und Nana ihr nach. Sie warf ihre Tasche auf den Boden und begann, sich in Lichtgeschwindigkeit umzuziehen. Auch Aya beobachtete sie mit gerunzelter Stirn. „Wieso kommst du so spät?“, fragte sie. „Hab' so lang geschlafen und dann habe ich noch ewig aufgeräumt“, murmelte Masami. Unter ihren Augen befanden sich dunkle Ringe, die ihren Schlafmangel verrieten. „Tja, du wolltest ja nicht, dass irgendjemand kommt und dir hilft“, meinte Aya und verschränkte die Arme vor der Brust. „Hab' die Arbeit unterschätzt“, gab Masami zu und band eilig ihre Haare zusammen, die nun überall Beulen bildeten. „Kommen denn deine Eltern eigentlich heute zuschauen?“ „Nein, wie immer“, antwortete Aya und wirkte zerknirscht. „In fünf Minuten müsst ihr raus“, meldete sich plötzlich die Stimme der Trainerin, die in der Umkleidekabine erschienen war. „Beeilt euch.“ Kari, Nana und drei der anderen Mädchen gingen schon einmal vor, um vom Rand der Bühne aus zuzusehen, wie die vorige Gruppe tanzte. Auch sie kamen von einer Oberschule und man konnte sie fast als Rivalen von Karis Oberschule betiteln. Kari selbst fand die Tänze, die sie auf die Beine stellten, nicht schön. Die Mädchen waren kaum bekleidet und wackelten in ihren Choreografien viel zu oft mit dem Hintern. Dabei strahlten sie über das ganze Gesicht, als wollten sie das gesamte Publikum verführen. Es hieß, in dieser Tanzgruppe durften nur Mädchen teilnehmen, die maximal fünfundfünfzig Kilo wogen und zudem eine bestimmte Körpergröße nicht unterschritten. „Nuttig“, kommentierte Nana und hob abfällig eine Augenbraue. „Ich würde lieber gar nicht tanzen, als bei denen mitzumachen.“ Mit viel Zwinkern und Hüftschwingen machten die Mädchen ihre Abschlusspose, bevor der Vorhang sich senkte. Dann liefen sie alle an Kari und den anderen vorbei in die Umkleidekabine, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Nana schüttelte den Kopf. Kari, Nana und die restlichen Mädchen aus ihrer Tanzgruppe liefen auf die Bühne und stellten sich in ihrer Anfangspose auf. Masami kam gerade noch rechtzeitig, bevor der Vorhang sich wieder hob und den Blick auf sie freigab. Kari stand wie immer ganz vorn und ließ den Blick schnell über das Publikum wandern. Der Saal war ziemlich voll und so konnte sie Shinji nicht entdecken. Sie fragte sich, ob er hier wirklich irgendwo saß oder schon wieder vergessen hatte, dass er kommen wollte. Die Musik setzte ein und damit auch der Tanz. Es würde der Letzte für diese Veranstaltung sein, was eine Ehre für den Tanzclub der Odaiba-Oberschule war, denn die Besten tanzten immer zu Beginn und zum Ende. Sie führten heute einen schnellen Tanz auf, der viele Sprünge und Drehungen enthielt. Wochenlang hatten sie hierfür trainiert, denn heute war die Premiere dieses Tanzes. Kari hatte viel Spaß dabei, auch wenn es anstrengend war, sich an alle Schritte zu erinnern und sie korrekt auszuführen. Sie musste ihren ganzen Körper anspannen und sollte dabei aber locker und unbeschwert aussehen, doch meist gelang es ihr ziemlich gut. Sie hatte zu Hause vor dem großen Spiegel in ihrem Zimmer viel für diesen Tanz geübt, bis die einzelnen Bewegungen ihrer Meinung nach nahezu perfekt waren. Sie streckte ihre Füße, schwang ihre Hüften, vollführte schnelle Drehungen, breitete die Arme aus, legte bei einem Sprung mitten in der Luft für den Bruchteil einer Sekunde einen Spagat hin und ging schließlich in ihre Abschlusspose. Der Applaus war laut und lang. Das Publikum sah tatsächlich begeistert aus und einige jubelten sogar. Kari lächelte, verbeugte sich gemeinsam mit ihrer Gruppe und ging von der Bühne. „Das war total toll. Alles ist so gut gelaufen“, schwärmte Nana und strahlte über das ganze Gesicht. Auch die Trainerin kam in die Umkleidekabine und sprach Lobe und Kritiken aus, während alle sich wieder anzogen. „Ach, Kari, kommst du bitte kurz zu mir, wenn du fertig bist?“ Mit diesen Worten verließ sie die Umkleidekabine und ließ Kari verdutzt zurück. Nana sah sie fragend an. „Was, glaubst du, will sie?“ „Keine Ahnung“, antwortete Kari ratlos. Schnell packte sie ihre Sachen ein und verließ die Umkleidekabine. Sie hatte wirklich keine Ahnung, was die Trainerin wohl von ihr wollte. Sie hatte ihr doch schon ein Feedback zu ihrer Leistung gegeben und das war gut gewesen. Sie verließ das Theatergebäude und erblickte ihre Trainerin, wie sie an den Wand gelehnt dort stand und auf Kari wartete. „Was wolltest du?“, fragte Kari. „Sag mal“, fing Nobuko an und musterte sie nachdenklich, „weißt du eigentlich schon, was du nach der Schule machen willst?“ „Nein“, sagte Kari verwirrt. „Vielleicht möchte ich Grundschullehrerin werden.“ „Hm“, machte Nobuko und runzelte die Stirn. „Ich könnte mir nämlich sehr gut vorstellen, dass du es an einer Sportschule weit bringen könntest. Hast du mal darüber nachgedacht, auf eine Sportschule zu gehen?“ Karis Augen weiteten sich und ihr Mund klappte vor Überraschung auf. Nein, darüber hatte sie noch nie nachgedacht. So etwas wurde doch nur wirklich talentierten Sportlern vorgeschlagen, die mit ihrer Sportart ihren Lebensunterhalt verdienen könnten. Für so jemanden hatte Kari sich nie gehalten. Sie wusste, dass sie gut im Tanzen war, aber sie fand sich nie überdurchschnittlich. „Anscheinend nicht“, meinte Nobuko lächelnd. „Weißt du, nach den Sommerferien kommen immer Talentsucher von anderen Schulen zu uns und schauen sich um. Ich denke, du hast eine reelle Chance, Aufmerksamkeit auf dich zu ziehen. Ich finde es wirklich großartig, wie gut du die Bewegungen ausführst und wie beweglich du bist. Vielleicht solltest du einmal darüber nachdenken, eine Sportschule zu besuchen.“ Nobuko lächelte vielsagend, drehte sich um und ging. Kari blieb irritiert zurück und brauchte einige Sekunden, bevor sie sich wieder bewegen konnte. Nana war neben ihr aufgetaucht und starrte sie an. „Was ist passiert? Geht's dir gut?“ Kari erzählte ihr, was Nobuko ihr eben gesagt hatte und sie reagierte ganz ähnlich wie Kari selbst. „Wow, das ist echt großartig“, fand sie. „Das solltest du dir wirklich mal überlegen. So etwas bekommt nicht jeder zu hören.“ „Ja, ich weiß, aber...“ „Hey, Kari.“ Kari und Nana zuckten zusammen und drehten sich zu Shinji um, der anscheinend soeben das Theatergebäude verlassen hatte. „Hi“, erwiderten sie seine Begrüßung und Kari konnte Nanas Gedanken fast hören. „Ihr wart echt super“, lobte er sie, sah dabei aber besonders Kari an. „Danke“, erwiderte sie lächelnd und machte sich langsam auf den Weg zur Busstation. „Seid ihr denn gestern gut nach Hause gekommen?“, fragte Shinji weiter und Kari fühlte sich fast schon genervt. Eigentlich hatte sie gerade keine wirkliche Lust, sich mit ihm zu unterhalten. „Klar“, antwortete Nana. „Mich fängt sowieso niemand weg.“ Kari kicherte. „Ich hoffe, der Bus kommt rechtzeitig. Ich will unbedingt nach Hause und duschen“, sagte sie extra laut, sodass Shinji nicht noch auf die Idee kam, mit ihr Kaffee trinken zu gehen. „Oh ja, ich auch“, stimmte Nana ihr zu und tastete ihren Kopf ab. „Meine Haare sind total verklebt.“ „Habt ihr in der Golden Week irgendwas Besonderes vor?“, fragte Shinji. „Also ich fahre mit meinen Eltern zu meinen Großeltern aufs Land“, antwortete Kari und war froh, das sagen zu können. „Und du, Nana?“, fragte Shinji. „Ich hab' nichts Tolles vor“, sagte Nana und klang ein wenig deprimiert. „Da geht es dir wie mir“, meinte Shinji und nickte. „Aber das mit dem Frühlingsball steht noch, oder Kari?“ „Hm? Ja, also... ja“, stammelte Kari. „Alles klar. Dann sehen wir uns also spätestens da“, sagte er, zwinkerte ihr zu und verließ die beiden Mädchen. „Der ist irgendwie ziemlich aufdringlich“, stellte Nana fest, als er außer Hörweite war. „Ja“, seufzte Kari. „Ich weiß gar nicht, warum er sich auf einmal für mich interessiert. Er kennt mich doch schon seit zwei Jahren.“ „Vielleicht ist er ja schüchtern“, überlegte Nana und grinste. Sie stiegen in den Bus ein und verbrachten die Busfahrt damit, zu überlegen, was sie überhaupt von Shinji wussten und warum er sich plötzlich für Kari interessierte. Dabei stellte Nana wilde Theorien auf, die Kari nur kopfschüttelnd abtun konnte. Als ihre Haltestelle durchgesagt wurde, verabschiedete sie sich von Nana und sprang aus dem Bus. Zu Hause war außer ihr niemand. Ihre Eltern waren von einem Kollegen ihres Vaters zum Abendessen eingeladen worden und würden sicher vor Einbruch der Nacht nicht zurückkommen. An solchen Abenden stellte Kari die Musik immer laut und tanzte dabei durch die Wohnung. Sie fühlte sich nämlich meist nicht besonders wohl, wenn sie abends allein zu Hause war. Sie schaltete überall die Lichter an und ging unter die Dusche, um sich den Schweiß und das Haarspray abzuwaschen. Anschließend packte sie erneut die Neugier und sie schaltete ihren Computer ein, um sich auf Facebook einzuloggen. Ungeduldig hibbelte sie auf ihrem Stuhl herum und wartete, dass die Seite sich endlich fertig aufbaute. Die Symbole oben links zeigten ihr, dass etwas an ihren Kontakten neu war und sie eine Nachricht bekommen hatte. „Takeru Takaishi hat deine Freundschaftsanfrage bestätigt“ stand dort. Kari riss die Augen auf und ihr Herz machte einen nervösen Sprung. Sie wusste nicht, ob sie eher damit gerechnet hatte oder damit, dass er ablehnte. Beides hätte sie nervös gemacht. Sie klickte auf sein Profil und las es durch. Er hatte angegeben, wann er Geburtstag hatte, auf welche Schule er ging, dass er Single war und in welcher Stadt er wohnte. Kari klickte auf sein Profilbild, was sie noch nicht machen konnte, als sie noch nicht mit ihm befreundet war. Nun sah sie die Kommentare zu dem Bild. Achtundfünfzig Leuten gefiel sein Profilfoto und ein paar hatten auch etwas dazu geschrieben. Ein Mädchen hatte nur ein Herz gepostet, der Rest der Kommentare war französisch. Kari klickte weiter. Das nächste Profilbild zeigte ihn mit einem Mädchen. Beide lächelten fröhlich in die Kamera. Das gleiche Mädchen, das bei dem ersten Foto nur ein Herz gepostet hatte, hatte hier etwas auf Französisch geschrieben. Ihr Name war Isabelle und sie war offenbar diejenige, mit der T.K. dort abgebildet war. Sie hatte glänzendes, lockiges blondes Haar und helle grüne Augen und überhaupt sah sie wie jemand aus, die alle um den Finger wickeln konnte. Kari schnaubte missbilligend und klickte weiter. Das nächste Foto zeigte T.K. beim Basketballspielen, aber weitere Profilfotos gab es nicht. Kari runzelte die Stirn und klickte sich durch die Fotos, auf denen er verlinkt worden war. Das waren hauptsächlich Partyfotos und es fiel auf, dass er oft von einer Horde Mädchen umgeben war. Kari schüttelte den Kopf und warf einen Blick auf seine Pinnwand. Er hatte viele Einträge dort, wovon aber fast alle auf Französisch waren. Kari seufzte etwas enttäuscht und erinnerte sich daran, dass sie ja noch eine Nachricht bekommen hatte. Sie klickte auf das Symbol und ihr blieb fast das Herz stehen, als sie sah, dass die Nachricht von T.K. war. hey, du warst toll heute Kari starrte die Nachricht an und spürte ihre Wangen heiß werden. Wie gut, dass sie gerade niemand sehen konnte. Was sollte sie darauf antworten? Sollte sie überhaupt etwas antworten? Aber dank neuester Technik wusste er ja ohnehin, dass sie seine Nachricht gesehen hatte. danke Das war schlicht und unverfänglich und drückte aus, was sie sagen wollte. Sie wollte das Fenster schon wieder schließen als dort die Worte „Takeru schreibt etwas“ erschienen. Bang starrte Kari diese drei Worte an. Die laute Musik, die sie normalerweise mitsang oder zumindest dazu tanzte, nahm sie jetzt kaum wahr. was machst du heute noch? Verwirrt starrte Kari den Satz an. Wollte er jetzt Smalltalk betreiben? keine ahnung mich gruseln, weil meine eltern nicht zu hause sind deswegen musst du dich doch nicht gruseln „Tz“, machte Kari und zog die Augenbrauen zusammen. Als ob ihr das helfen würde. und was machst du heute noch? weiß ich auch noch nicht einen Film schauen oder so okay Bei ihrer Antwort darauf kam Kari sich blöd vor. Aber was sollte sie auch sonst schreiben außer „okay“? Sie fühlte sich unwohl dabei, so mit T.K. zu schreiben, als wäre alles in Ordnung. fahrt ihr zur golden week noch zu deinen großeltern? Überrascht zog Kari die Augenbrauen hoch. Das hatte er sich also gemerkt. ja, das hat sich nicht geändert und was machst du? ich weiß es noch nicht vielleicht kommt matt uns besuchen hab ihn schon ewig nicht mehr gesehen ich tai auch nicht ich gehe jetzt raus aus facebook grüß matt von mir, falls du ihn siehst Und ohne T.K.s Antwort abzuwarten, klickte Kari auf das rote X in der rechten oberen Ecke und schaltete ihren Computer wieder aus. Genug Konversation mit T.K. für den heutigen Tag, wenn nicht sogar für die nächsten Wochen. Bestimmt griff sie zum Telefon. Sie wollte den heutigen Abend nicht allein verbringen. Kapitel 9: Mädelsabend mit Davis und Ken ---------------------------------------- „Wie lief eigentlich euer Auftritt heute?“, fragte Davis. Er, Kari und Ken saßen im Wohnzimmer auf der Couch, hatten den Fernseher laufen und plauderten bei Chips und Bier. „War echt super. Haben viel Applaus bekommen“, antwortete Kari. „Vielleicht sollte ich es mir doch mal ansehen kommen. Scheint sich ja zu lohnen“, sagte Davis grinsend. „Hat auch wieder diese eine Mädchengruppe getanzt, die immer nichts an hat?“ „Ja, klar. Die sind fast immer dabei“, antwortete Kari mit abfälligem Ton. „Ich glaube, dann muss ich erst recht mal zuschauen kommen“, kommentierte Davis und lachte. Kari verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf. Typisch Davis. „Ach, sagt mal“, fing sie dann an und sah abwechselnd von Davis zu Ken. „Was wisst ihr eigentlich so über Shinji? Wisst ihr überhaupt was über ihn?“ „Naja, er hängt immer mit Toshiyo und so 'rum“, meinte Ken nachdenklich und nippte an seinem Bier. „Also ich mag ihn nicht“, verkündete Davis. „Er wirkt immer so großkotzig.“ „Großkotzig?“, hakte Kari nach. So hätte sie ihn nicht beschrieben. Zumindest nicht so, wie sie ihn bisher kannte. Er war zwar aufdringlich, wirkte aber doch irgendwie ganz nett. Davis zuckte mit den Schultern. „Ja, irgendwie schon. Hat immer eine große Klappe, aber so viel habe ich mit ihm auch nicht zu tun.“ „Er ist im Basketballverein“, fügte Ken hinzu und lehnte sich auf der Couch zurück. „Aber warum fragst du eigentlich?“ „Er hat mich auf Nanas Party angesprochen und lässt mich jetzt nicht mehr in Ruhe. Er will unbedingt zum Frühlingsball mit mir gehen“, erzählte Kari seufzend. „Aber ich kenne ihn eigentlich kaum.“ „Seit wann interessiert er sich denn für dich?“, fragte Davis und hob eine Augenbraue. „Keine Ahnung. Das verstehe ich eben auch nicht. Ich wusste nicht mal, dass er überhaupt wusste, dass es mich gibt“, antwortete Kari ratlos. „Vielleicht hat er sich ja die ganze Zeit schon für dich interessiert und du hast es gar nicht gemerkt“, überlegte Ken. „Ach, warum denn?“, spottete Kari. „Ich bin doch so unscheinbar neben den ganzen anderen Mädels aus unserem Jahrgang.“ Davis und Ken musterten sie mit gerunzelter Stirn. „Was meinst du?“, fragte Ken. „Weißt du denn gar nicht, wie hübsch du bist?“, fragte Davis. Hübsch? Warum fingen sie jetzt auf einmal damit an? „Aber es gibt in unserem Jahrgang Mädchen wie Aya. Die fallen doch viel mehr auf und mich bemerkt doch neben denen keiner“, murmelte Kari und sprach damit etwas aus, was ihr durch den Kopf ging, seit sie auf die Oberschule gekommen war. So sehr Aya Kari auch manchmal auf die Nerven ging, sie war einfach bildhübsch, hatte eine vorzeigbare Oberweite und geschwungene Hüften. Ihre Haare waren leicht gelockt und glänzend schwarz. Neben ihr war Kari klein, dünn und unscheinbar. Ihre eigenen Haare waren nicht so dicht wie die von Aya und außerdem glatt. Aya stellte sie einfach komplett in den Schatten. Und da war sie nicht die Einzige. Es gab viele Mädchen in ihrem Jahrgang, die hübsch waren und eine tolle Figur hatten, aber Kari zählte sich selbst nicht dazu. „Sei doch nicht so bescheiden“, rief Davis fröhlich und verpasste ihr einen derben Klaps auf die Schulter. „Wir bemerken dich auf jeden Fall.“ „Und am Samstag sind außerdem noch so einige auf dich aufmerksam geworden, glaub mir“, meinte Ken geheimnisvoll lächelnd. Kari spürte, dass ihre Wangen rot wurden. „Wenn ihr meint.“ „Ich kann Shinji gut verstehen, dass er hinter dir her ist“, sagte Davis und nickte bekräftigend. Das konnte Kari sich gut vorstellen. Immerhin war er eine Zeit lang in sie verliebt gewesen, hatte dies doch zum Glück irgendwann aufgegeben, als ihm klar wurde, dass sie einfach nichts für ihn empfand. „Wie findest du ihn denn?“, fragte Ken und sah Kari interessiert an. „Ich weiß nicht. Ich kenne ihn ja nicht wirklich, aber zumindest hat er auf mich bisher nicht großkotzig gewirkt, sondern eigentlich ganz nett. Ich glaube, ich werde mit ihm zum Frühlingsball gehen“, antwortete Kari. „Das heißt ja dann, dass wir dich dieses Jahr gar nicht fragen können“, wurde Davis auf einmal klar und er machte große Augen. Die letzten beiden Jahre waren sie nämlich immer gemeinsam auf den Ball gegangen, während Ken immer genug Angebote von Mädchen bekam, die unbedingt mit ihm dorthin gehen wollten. Kari kicherte. „Nein, tut mir Leid. Du musst dir wohl eine andere suchen, Davis.“ „Ken, mit wem gehst du eigentlich?“, fragte Davis nun und sah Ken an. „Du willst mich jetzt aber nicht fragen, ob ich deine Begleitung sein will, oder?“ Misstrauisch musterte Ken Davis und Kari lachte. „Dann wärt ihr am nächsten Tag auf jeden Fall DAS Gesprächsthema“, sagte sie. „Nein, Mann. Keine Angst“, murrte Davis und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich weiß auch noch nicht, mit wem ich gehe. Vielleicht frage ich Nana mal“, verkündete Ken schließlich und Davis und Kari sahen ihn gleichzeitig mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Du willst Nana fragen?“, fragte Davis verblüfft. „Ja, warum nicht? Sie ist doch eigentlich ganz süß“, erwiderte er schulterzuckend. Kari lächelte in sich hinein. Irgendwie glaubte sie, dass Nana sich darüber sehr freuen würde. „Puh, wen soll ich denn fragen? Vielleicht versuche ich es mal mit Rin“, überlegte Davis und machte ein nachdenkliches Gesicht. „Rin? Ich wusste nicht, dass du mit ihr zu tun hast“, sagte Kari überrascht. Rin war in der Parallelklasse und hatte künstlerisch einiges drauf. Sie entwarf oft Werbeplakate, wenn es darum ging, für Theateraufführungen oder ähnliches Werbung zu machen. Allerdings wirkte sie immer sehr zurückgezogen. „Hab ich nicht“, entgegnete Davis. „Aber ich kann sie ja trotzdem mal fragen.“ „Da bin ich ja mal gespannt“, meinte Ken. Kapitel 10: Eine gar nicht so goldene Golden Week ------------------------------------------------- Müde saß Kari auf ihrem Stammplatz hinter dem Beifahrer und beobachtete die vorüberziehende Landschaft. Weil sie mindestens sechs Stunden Fahrt vor sich hatten, waren sie und ihre Eltern schon früh morgens losgefahren, um nicht erst abends anzukommen. Kari freute sich auf die vier Tage, die sie bei ihren Großeltern auf dem Land verbrachten. Man kam endlich dazu, etwas mit der Familie zu unternehmen und somit hatte Kari auch einmal etwas von ihrem Vater, der unter der Woche von morgens bis abends arbeitete und am Wochenende häufig mit Kollegen oder seinem Chef unterwegs war. Außerdem wohnten ihre Großeltern in einem großen Haus mit viel Platz und einem schönen Garten. Kari hoffte, dass sie sich während der kommenden vier Tage ein wenig von den ereignisreichen ersten Schulwochen erholen und sich von nervenden Gedanken befreien konnte. „Nanu? Wem gehört denn das Auto?“, fragte Yuuko, als sie gerade auf die Einfahrt zum Haus ihrer Großeltern eingebogen waren. Auch Kari fiel nun das dort parkende Auto auf, das sie nicht kannte. „Keine Ahnung. Vielleicht haben sie Besuch?“, meinte Susumu und stellte das Auto der Yagamis hinter diesem ab. „Wen kennen sie denn aus Tokio?“, fragte Yuuko und sah ihren Mann an. „Weiß nicht.“ Er zuckte mit den Schultern und stellte das Auto ab. Die drei stiegen aus und Kari streckte sich erst einmal ausgiebig, um ihre Gelenke nach der langen Fahrt wieder in Schwung zu bekommen. Anschließend holten sie ihre Taschen aus dem Kofferraum und gingen zum Haus. Die Tür wurde schwungvoll geöffnet, nachdem sie auf den Klingelknopf gedrückt hatten und Karis Großmutter Kokoro begrüßte sie mit einem Lächeln. Aus dem Wohnzimmer waren Stimmen zu hören. „Wen habt ihr denn zu Besuch?“, fragte Susumu seine Mutter, nachdem er sie umarmt hatte. „Werdet ihr ja gleich sehen“, antwortete sie geheimnisvoll lächelnd und ging den drei Yagamis voran ins Wohnzimmer. Dort angekommen blieb Kari der Mund offen stehen. „Tai!“, schrie sie, rannte auf ihn zu und flog ihm in die Arme. Doch er war nicht allein gekommen. Er hatte Mimi und sogar deren Eltern dabei, die nun aufstanden. Ihnen gehörte also das fremde Auto in der Einfahrt. Tai grinste seine Schwester an, nachdem er sie losgelassen hatte. „Überrascht?“ „Ja“, rief Kari strahlend. „Ich freue mich so, dass du hier bist.“ Seit er studierte, hatte er es kein einziges Mal geschafft, während der Golden Week mit zu ihren Großeltern zu kommen, weil er zu oft irgendetwas für sein Studium erledigen musste in der Zeit. Kari umarmte auch Mimi, die wie immer bildhübsch aussah, und verbeugte sich höflich vor deren Eltern Keisuke und Satoe. Es war nicht zu übersehen, dass die beiden sich etwas unwohl fühlten und nicht so ganz wussten, wie ihnen geschah, doch Kari vermutete, da ging es ihren Eltern nicht anders. Sie selbst konnte sich den Grund für dieses Zusammentreffen aber sehr wohl denken und lächelte. Als alle sich begrüßt hatten und nun ein wenig verloren herumstanden, servierte Kokoro Tee und bat alle, an dem niedrigen Tisch Platz zu nehmen. „Ich würde euch ja anbieten, raus in den Garten zu gehen, aber ich habe das Gefühl, es fängt demnächst an zu regnen“, erklärte sie und schenkte Tee in kleine Tassen ein. „Meinst du? Aber die Sonne scheint doch“, erwiderte Susumu mit einem kritischen Blick aus dem großen Fenster. „Ich bin mir ziemlich sicher“, bekräftigte Kokoro und nippte an ihrem Tee. „Du kennst doch deine Mutter. Was das Wetter angeht, ist sie so etwas wie eine Hellseherin“, warf Karis Großvater Haru ein. „Wirklich? Das ist aber sehr interessant. So eine Fähigkeit hätte ich auch gern“, meinte Satoe und musterte Kokoro interessiert. „Das konnte sie schon immer, aber ihr Geheimnis teilt sie mit niemandem“, meinte Haru lachend. „Wie schade“, seufzte Satoe enttäuscht. „Mama“, murmelte Mimi vorwurfsvoll. „Ich kann es niemandem erklären, tut mir Leid“, sagte Kokoro und lächelte entschuldigend. „Aber vielleicht wollen die beiden jungen Herrschaften uns nun endlich den Grund für dieses Zusammentreffen erklären. Das ist doch jetzt wirklich spannender als meine Wetterweisheit.“ „Ach, ihr habt das also hier auf die Beine gestellt“, sagte Yuuko. Nun richteten alle die Blicke gespannt auf Tai und Mimi, die nebeneinander saßen und einen verlegenen Blick tauschten. Mimi gab Tai einen kaum merklichen Stoß mit dem Ellbogen. „Ähm... also“, fing er an zu stottern. „Wir haben das hier arrangiert, weil wir euch etwas mitteilen wollten.“ „Um Himmels willen“, rutschte es Yuuko heraus. Sie sah Tai mit hochgezogenen Augenbrauen an und Kari würde gern wissen, was sie gerade dachte. Satoe riss die Augen weit auf und starrte Mimi über den Tisch hinweg an. Keisuke war die Kinnlade heruntergeklappt, während Susumo keine Miene verzog. Anders hatte Kari es von ihrem Vater auch nicht erwartet. Karis Großeltern wirkten dagegen recht entspannt und Kari fragte sich, ob sie schon wussten, wie die Dinge standen. Ihre Eltern und die von Mimi malten sich sicher gerade die schrecklichsten Dinge aus. „Also... wir sind ja jetzt schon eine ganze Weile zusammen“, sprach Tai weiter und kratzte sich am Kopf. „Und da dachten wir... naja... wir könnten vielleicht...“ „Wir werden heiraten!“, platzte Mimi heraus und sah Tai vorwurfsvoll an. „Mein Gott, wenn man dir was überlässt.“ Für einige Sekunden war es ganz still im Raum. Dann fingen alle gleichzeitig an zu reden. „Heiraten? Ist das euer Ernst?“ „Was? Wann? Wo? Warum?“ „Seid ihr nicht noch ein bisschen jung?“ „Oh, Mimi!“ Satoe war unvermittelt in Tränen ausgebrochen, um den Tisch herum gerannt und hatte die Arme um ihre Tochter geworfen. „Ich kann es nicht fassen. Unsere Kleine will tatsächlich heiraten. Hast du das gehört, Keisuke?“ Keisuke schniefte und wischte sich kurz mit dem Handrücken über die Augen. „Bin ja nicht taub.“ „Mama“, seufzte Mimi und wirkte peinlich berührt. „Hast du dir das auch wirklich gut überlegt?“, fragte Susumu und musterte Tai skeptisch. „Sonst würde er das doch nicht machen, Papa“, nahm Kari ihren Bruder in Schutz und tätschelte ihrem Vater den Arm. „Sag mal, wusstest du das etwa schon, Kari?“, fragte Yuuko und durchbohrte Kari mit ihrem Blick. „Erst seit ein paar Tagen“, antwortete Kari beruhigend. „Ich freue mich für dich, Tai“, sagte Kokoro mit warmem Lächeln und legte eine Hand auf Tais Hand. „Ich habe damals auch schon mit zwanzig geheiratet.“ „Ich bin sogar schon einundzwanzig“, erinnerte Tai sie. „Aber das waren doch damals noch andere Zeiten“, meinte Yuuko unsicher, ohne auf Tais Einwand einzugehen. „Ja. Du bist ja noch nicht einmal mit dem Studium fertig“, fügte Susumu nachdenklich hinzu. „Könntet ihr euch jetzt vielleicht mal für ihn freuen?“, fragte Kari und sah ihre Eltern streng an. „Ich glaube nicht, dass er jetzt eure ganzen Einwände und Befürchtungen hören wollte.“ Tai warf Kari einen dankbaren Blick zu. Yuuko zögerte ein paar Sekunden, dann stand sie jedoch auf, ging hinüber zu Tai und schloss ihn in die Arme. „Ich freue mich für dich.“ „Danke“, sagte Tai lächelnd. Er sah tatsächlich ein wenig erleichtert aus. „Jedenfalls“, sagte Mimi laut, während sie noch immer versuchte, sich von ihrer Mutter zu befreien, „haben wir uns gedacht, ihr solltet euch mal ein wenig kennen lernen, bevor wir heiraten.“ „Das ist eine gute Idee“, sagte Yuuko lächelnd, die ihren Sohn inzwischen wieder losgelassen hatte, und blickte hinüber zu Satoe. „Das finde ich ganz hervorragend. Die jungen Leute werden heutzutage wirklich schnell erwachsen, findest du nicht auch?“, sagte Kokoro und wandte sich an ihren Mann, der zögerlich nickte. „Das sollten wir heute Abend mit einem Festmahl feiern“, fuhr Kokoro zufrieden lächelnd fort, doch in diesem Moment räusperte Keisuke Tachikawa sich und stand auf. Sein Blick wirkte ein wenig verkniffen und er hatte die Lippen aufeinandergepresst. Alle verstummten und wandten sich ihm zu. „Ich glaube nicht, dass ich dieser Hochzeit zustimmen kann“, sagte er schließlich laut. Erneut wurde es ganz still im Raum. Kari runzelte die Stirn und sah fragend zu Tai, dessen Blick auf Mimi gerichtet war. Diese starrte entgeistert ihren Vater an. „Papa, was...“ „Mimi, ich denke nicht, dass du schon bereit bist“, unterbrach er sie. „Vielleicht sollten wir jetzt besser wieder nach Hause fahren.“ Noch immer sagte keiner etwas und Kari fragte sich, ob sie das wirklich alles gerade richtig verstanden hatte. Keisuke, der seine Tochter über alles liebte, wollte nicht, dass sie heiratete, weil er fand, sie wäre noch nicht dazu bereit? „Schatz...“, setzte Satoe kleinlaut an. „Papa, was soll denn das?“, fragte Mimi. Inzwischen sah sie wütend aus. „Tut mir Leid, Liebes. Aber du solltest wirklich noch nicht heiraten“, antwortete Keisuke ausweichend. „Und jetzt lasst uns zurück nach Tokio fahren.“ „Nein! Das kannst du nicht machen!“, rief Mimi und sprang auf. „Doch, ich kann. Ich bin dein Vater und ich verbiete dir, zu heiraten“, sagte Keisuke entschlossen und marschierte steif aus dem Raum. Tais Mund stand offen und er sah aus, als hätte ihn soeben jemand über den Tod eines Familienmitglieds unterrichtet. Kari drehte sich zu ihrem Vater und musste fast lachen, als sie bemerkte, dass ihre Mutter sich zur gleichen Zeit an Susumu wenden wollte. „Susumu! Na los!“, zischte Yuuko und Kari wusste, was sie damit meinte, denn sie selbst hatte ihrem Vater das Gleiche sagen wollen. Susumu nickte, stand auf und lief Keisuke hinterher. Mimi war in der Zwischenzeit in Tränen ausgebrochen und schimpfte vor sich hin. „Was ist sein Problem? Was soll das? Ist er durchgedreht?“, schniefte sie und nahm von ihrer Mutter, die ebenfalls weinte, ein Taschentuch entgegen. „Wieso sollte ich noch nicht bereit sein zum Heiraten?“ „Ruhig, Liebes“, murmelte Satoe mit erstickter Stimme und streichelte Mimis Kopf. „Was macht Papa?“, fragte Tai, der endlich aus seiner Starre erwacht war, und sah Yuuko und Kari an. „Er versucht, Herrn Tachikawa aufzuhalten“, antwortete Yuuko. Kokoro seufzte tief. „Ich hole mal den Sake.“ Mit diesen Worten verließ sie das Wohnzimmer, gefolgt von Haru. „So habe ich mir das nicht vorgestellt“, schluchzte Mimi aufgelöst. Tai setzte sich neben sie und streichelte ihren Rücken. „Vielleicht sollten wir doch einfach später heiraten?“, schlug er vorsichtig vor. „Nein!“, rief Mimi sofort. „Das kommt nicht in Frage. Ich lasse mir hier doch nicht sagen, ich wäre noch nicht bereit!“ „Aber es ist doch besser so, bevor es noch Streit gibt“, erwiderte Tai ruhig mit einem Seitenblick auf Satoe, die zustimmend nickte. „Ich will aber nicht warten, okay?“, fuhr Mimi ihn an. „Ich bin fast zwanzig. Ich kann also machen, was ich will.“ „Schätzchen, du solltest nicht gegen den Willen deines Vaters heiraten“, sagte Satoe leise und zog sie ein wenig fester an sich. Susumu und Haru Yagami hatten Keisuke doch noch überreden können, nicht sofort abzureisen, sondern wenigstens noch die Nacht bei Karis Großeltern zu verbringen. Anschließend hatten sich die Frauen inklusive Kari und Mimi um das Abendessen gekümmert, wobei Mimi jedoch sehr schweigsam gewesen war. Kari und die drei anderen Frauen hatten ständig versucht, sie irgendwie aufzuheitern und von dem Problem abzulenken, doch Mimis Miene hatte sich nicht aufgehellt. Nach dem Abendessen hatten sie alle gemeinsam im Wohnzimmer gesessen und viel Alkohol getrunken. Das Thema Hochzeit wurde gemieden und so hatten sich vor allem Karis und Mimis Väter gut unterhalten, auch wenn ihre Zungen irgendwann schwer wurden. Die Gemüter hatten sich zumindest etwas beruhigt, auch wenn Mimi den ganzen Abend stumm mit einem Glas Rotwein in der Hand verbracht hatte. Es musste tief in der Nacht sein, als Kari mit einem mörderischen Durst aufwachte. Auch sie hatte Wein getrunken, mehr als sie gewohnt war. Mit schwirrendem Kopf kroch sie aus ihrem Bett und ging in die Küche, um sich ein Glas Wasser zu holen. Zu ihrer Überraschung saß Mimi dort auf einem Stuhl am Fenster. „Mimi?“ Die Angesprochene zuckte zusammen und drehte sich um. „Kari.“ „Geht's dir gut?“, fragte Kari, füllte ein Glas mit Leitungswasser und setzte sich auf den Stuhl neben Mimi. „Ehrlich gesagt nein“, antwortete Mimi leise und starrte wieder aus dem Fenster. „Vielleicht schafft es mein Vater ja noch, deinen zu überreden“, meinte Kari aufmunternd. Mimi zuckte mit den Schultern, ohne Kari anzusehen. „Und wenn er ihn nicht überreden kann... so schlimm ist das doch eigentlich gar nicht, oder?“, redete Kari weiter. „Ich meine, ihr seid noch so jung. Und in ein paar Jahren hat dein Vater bestimmt keine Zweifel mehr und freut sich, dass du heiraten willst.“ „Willst du wissen, warum mein Vater eigentlich gegen die Hochzeit ist?“, fragte Mimi. „Hm?“ Verwirrt beobachtete Kari ihre vielleicht baldige Schwägerin. „Was meinst du damit?“ „Mein Vater mag Tai nicht besonders“, sagte Mimi tonlos. „Was?“ Verdattert hob Kari eine Augenbraue. „Er hat es mir zwar nicht persönlich gesagt, aber ich habe gehört, wie meine Eltern über Tai gesprochen haben“, erzählte Mimi. „Aus irgendeinem Grund hält er Tai für sprunghaft. Er glaubt nicht, dass Tai in mir wirklich eine dauerhafte Partnerin sieht, sondern nur einen Zeitvertreib. Und er denkt, dass ich das irgendwann auch erkenne und ihn dann verlasse.“ Kari spürte, wie ihr die Gesichtszüge entgleisten. Sie konnte kaum glauben, was Mimi ihr da erzählte. Jemand hielt ihren Bruder für einen Macho? „A-aber...“, stotterte sie. Sie fühlte sich fast schon persönlich angegriffen durch diese Meinung über Tai. „Wie kommt dein Vater bloß darauf?“ Mimi winkte mürrisch ab. „Ich glaube, das hätte er über jeden gesagt, mit dem ich zusammen bin. Ich denke, er kann sich einfach niemanden vorstellen, der gut genug für mich ist.“ Kari schwieg. Es erschien ihr durchaus möglich, dass Mimis Vater wirklich so dachte, nach allem, was sie über Mimi und ihre Eltern wusste. „Aber... wenn er das wirklich denkt, dann ist es doch erst recht besser, wenn ihr mit der Hochzeit noch wartet. Dann kann dein Vater Tai besser kennen lernen und ist nicht mehr gegen ihn“, sagte sie. „Ich kann nicht warten!“, rief Mimi und funkelte Kari an. Plötzlich standen Tränen in ihren Augen, wie Kari überrascht feststellte. „Es ist doch sowieso schon zu spät.“ Nun völlig perplex tätschelte Kari ihr den Rücken und wartete, bis sie sich ein wenig beruhigt hatte. Mimi schluchzte und wischte sich mit dem Handrücken über Augen und Nase. „Was ist denn zu spät?“, fragte sie nach einer Weile vorsichtig. „Ich bin schwanger, Kari“, platzte Mimi heraus. Kari riss die Augen auf und hätte fast ihr Wasserglas fallen lassen. „Schwanger?“, hauchte sie entsetzt. Mimi nickte. „Wir haben nicht aufgepasst und dann ist es passiert.“ „Oh. Das ist... oh.“ Für einige Sekunden hing Kari ihren eigenen Gedanken nach. Ihr Bruder wurde Vater. Wie oft sie diesen Satz auch in ihren Gedanken wiederholte, er schien keinen Sinn zu ergeben. Außerdem hatte sie sowohl Tai als auch Mimi für vernünftig genug gehalten, sich selbst von einer ungewollten Schwangerschaft zu verschonen. „Was sagt Tai denn dazu?“, fragte Kari, doch Mimis Zögern war ihr Antwort genug. „Er weiß es also nicht.“ „Nein.“ „Und deine Eltern wissen es auch nicht“, schlussfolgerte Kari. „Nein.“ Seufzend fuhr Kari sich mit der freien Hand durch die Haare. Da steckte Mimi in einer wirklich schwierigen Situation und Kari hatte keine Ahnung, wie sie da wieder herauskommen sollte. „Vielleicht solltest du deinen Eltern erst mal alles erzählen und...“ „Nein!“ Alarmiert starrte Mimi Kari an. „Bitte versprich mir, dass du das niemandem erzählst.“ „Okay“, willigte Kari ein. „Danke“, sagte Mimi und schien ein wenig beruhigt. „Aber warum willst du es niemandem erzählen? Deine Eltern würden dir doch sicher helfen.“ „Was soll mein Vater denn dazu sagen? Er mag Tai nicht und dann bin ich schwanger von ihm. Ein uneheliches Kind. Sex vor der Ehe.“ Mimi raufte sich die Haare. „Wenn ich Tai heirate, dann bringe ich zumindest kein uneheliches Kind zur Welt. Aber sicher wird mein Vater mich dafür hassen, dass ich vor der Hochzeit Sex hatte und auch noch so dumm war, schwanger zu werden.“ „Er wird dich doch nicht hassen. Er liebt dich doch“, widersprach Kari und bemühte sich um einen aufmunternden Tonfall. „Er ist ein streng gläubiger Christ. Ganz sicher wird er mich hassen für das, was ich der Familie angetan habe“, murmelte Mimi resigniert. „Das kann ich mir nicht vorstellen“, meinte Kari überzeugt. „Nach dem ersten Schock freut er sich ganz sicher über das Kind. Aber“, kurz zögerte sie, sodass Mimi fragend aufsah, „warum verheimlichst du es Tai?“ „Ich will es ihm ja gar nicht verheimlichen“, nuschelte Mimi. „Ich habe nur noch nicht die richtige Gelegenheit gehabt, es ihm zu sagen.“ Kari nickte verständnisvoll und versuchte sich vorzustellen, wie Mimi sich im Moment fühlen musste. Etwas zu verheimlichen, was doch so bedeutungsvoll für ihr Leben war, war sicher sehr schwer und dann war es auch noch etwas, wobei sie Hilfe und Unterstützung brauchte. Mit gesenktem Blick schüttelte Mimi den Kopf. „Ich muss Tai unbedingt so schnell wie möglich heiraten.“ Am nächsten Morgen war Keisuke Tachikawa so verkatert, dass er sich nicht in der Lage fühlte, nach Hause zu fahren. Er klagte über Kopfschmerzen und Übelkeit und Satoe und Mimi war es äußerst peinlich, dass er am Abend zuvor so viel getrunken hatte. Doch auch Karis Vater fühlte sich nicht sonderlich wohl und so herrschte beim Frühstück allgemeine Katerstimmung. Nach dem Frühstück beschlossen alle bis auf Karis Großeltern, spazieren zu gehen. Yuuko bestand darauf, Mimis Eltern die Gegend zu zeigen und Susumu sollte ihnen alles erklären, was er wusste. Mimi hatte Karis Blicke gemieden und sich nichts anmerken lassen, was Kari bewunderte. An ihrer Stelle hätte Kari wohl komplett die Nerven verloren und jeder würde ihr sofort anmerken, dass etwas nicht stimmte. Nun musste Kari jedoch versuchen, vor Tai zu verbergen, was sie wusste. Allerdings war ihr schleierhaft, warum Mimi ihn noch nicht einweihen wollte. Immerhin war es sein Kind, was da gerade in Mimis Bauch ihr Leben auf den Kopf stellte. Sie waren gerade ein paar Minuten unterwegs, als Tai Kari am Arm fasste und sich mit ihr ein Stück zurückfallen ließ. „So. Jetzt erzähl mal. Wie läuft es mit T.K.?“, fragte er und sah sie interessiert an. „Hä?“ Verlegen wandte Kari den Blick ab. „Ach, da läuft nichts.“ „Sag nicht, ihr schweigt euch immer noch an“, erwiderte Tai seufzend. „Ich habe ihm auf Facebook eine Freundschaftsanfrage geschickt“, murmelte Kari und kannte die Reaktion ihres Bruders schon, bevor sie den Satz beendet hatte. „Was?“ Er lachte laut, sodass Mimi sich mit fragendem Blick zu ihnen umdrehte. „Ihr Kinder heutzutage und Facebook. Und jetzt ist alles wieder Friede, Freude, Eierkuchen?“ „Idiot“, zischte Kari. „Nein, wir haben kurz geschrieben, aber das war es auch schon.“ „Na, das klingt ja mal nach einem kleinen Fortschritt. Wenn das so weitergeht, grüßt ihr euch in zehn Jahren vielleicht wieder“, spottete Tai. „Mach dich ruhig lustig“, murrte Kari. „Er hat über mich gesagt, dass ich hübsch aussah an dem Partyabend. Und er fand mich bei unserem Auftritt toll.“ „Du siehst immer hübsch aus, Schwesterherz“, sagte Tai grinsend. „Und dass du toll tanzen kannst, habe ich dir auch schon hundert Mal gesagt.“ Kari schwieg und starrte auf den Boden, während sie langsam weitergingen. „Kari, ihr solltet noch mal miteinander über alles reden“, meinte Tai nun ernst. „Ich weiß doch, dass du dich nicht gern streitest. Das passt nicht zu dir. Man muss auch vergeben können und das kannst du, das weiß ich.“ „Das ist alles nicht so leicht, wie du es dir vorstellst“, antwortete Kari. „Wieso nicht?“, fragte Tai verdutzt. „Du gehst hin, redest mit ihm und fertig. Zufällig weiß ich, dass T.K. dich sehr vermisst hat, also wird er sich drüber freuen, auch wenn du ihn letztens rausgeschmissen hast.“ Sie blieben stehen, da auch die anderen stehen geblieben waren und einen Schrein im Wald bewunderten, über den Susumu gerade etwas erklärte. Kari hörte nicht zu. Ihre Gedanken waren nun dank Tai wieder bei T.K. Sein Gesicht tauchte vor ihrem inneren Auge auf und gleich dazu das von Aya, wie sie weinte. Sie wollte jetzt nicht über die beiden nachdenken und war froh, als die anderen endlich weitergingen und sie ihr Gespräch mit Tai fortsetzen konnte. „Jetzt erzähl du mir mal lieber, wie du Mimi den Heiratsantrag gemacht hast“, forderte sie ihn auf und sah ihn gespannt an. Er stieß ein hüstelndes Lachen aus. „Das war bei unserem Fallschirmsprung. Während des Flugs nach unten habe ich sie gefragt und dann sind wir unten mitten in einem riesigen Herz aus Rosenblüten gelandet.“ Kari riss die Augen auf und starrte ihn an. „Fallschirmsprung?“ Nun lachte er. „War nur ein Witz. Was erwartest du? Ich habe sie zum Essen in ihr Lieblingsrestaurant eingeladen und habe sie dann gefragt.“ „Das mit dem Fallschirmsprung finde ich aufregender“, sagte Kari grinsend. „Und wann wollt ihr heiraten?“ Tai zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Mimi will unbedingt dieses Jahr noch heiraten, im August oder September. Aber ich finde das zu früh. Wir schaffen es nie, bis dahin alles zu organisieren.“ „Ich höre ständig meinen Namen.“ Tai und Kari blickten nach vorn. Mimi war stehen geblieben und wartete mit verschränkten Armen auf sie. „Ich erzähle Kari gerade, was für eine nervige Person du bist“, sagte Tai grinsend, legte aber einen Arm um ihre Schultern, als er bei ihr ankam. „Und dass du unbedingt dieses Jahr noch heiraten willst.“ „Ich dachte, wir hätten uns schon darauf geeinigt, dass wir spätestens im September heiraten“, erwiderte Mimi. „Du hast dich mit dir selbst darauf geeinigt“, murrte Tai. „Tai, bitte“, sagte Mimi fast schon flehend und sah ihn an. Tai seufzte ergeben. „Ja, Prinzessin. Wie Sie wünschen. Aber dann beschwer' dich nicht, wenn wir nicht deine Traumlocation bekommen, weil das zu kurzfristig ist.“ Mimi machte große Augen. „Dann steht es jetzt also fest? Wir heiraten im September?“ „Wenn dein Vater irgendwann noch zustimmen sollte“, sagte Tai trocken. „Es ist mir egal, ob er zustimmt. Soll er mich halt aus der Familie werfen. Ich werde heiraten“, antwortete Mimi kühl. „Dann hasst er aber nicht nur dich, sondern auch mich“, gab Tai zu bedenken. „Soll er doch“, sagte Mimi trotzig. Tai blieb stehen. „Herr Gott, Mimi! Ich will nicht, dass du dich wegen mir mit deiner Familie überwirfst. Entweder dein Vater stimmt der Hochzeit zu oder wir warten noch.“ „Ich will nicht warten!“, widersprach Mimi heftig. „Es ist mir egal, was mein Vater dazu sagt. Es ist mein Leben und ich bin erwachsen und kann machen, was ich will.“ „Und ich kann auch machen, was ich will. Und deswegen heirate ich dich nicht, solange dein Vater nicht zustimmt“, entgegnete Tai und sein Tonfall verdeutlichte, dass das Thema für ihn damit beendet war. Das spürte auch Mimi, denn sie warf ihm einen letzten düsteren Blick zu und ging wieder nach vorn zu ihren Eltern. „Tai...“, fing Kari an, doch er unterbrach sie. „Ich werde morgen mit Herrn Tachikawa reden.“ Kapitel 11: Unsicherheit ------------------------ Kari war gerade dabei, mit ihrer Mutter und ihrer Großmutter das Geschirr vom Abendessen abzuwaschen, als Yuuko das Thema der diesjährigen Golden Week erneut ansprach. „Kari, was hältst du denn eigentlich davon, dass Tai heiraten will?“ „Ähm...“, machte sie und suchte nach den richtigen Worten, was ihr angesichts der herrschenden Umstände schwer fiel. „Ich denke, er tut das Richtige.“ „Meinst du? Also ich weiß nicht so richtig, was ich davon halten soll. Das war ein ziemlicher Schock gestern“, gestand Yuuko und stellte einen weiteren abgetrockneten Teller auf den Stapel. „Tai war doch immer so wild und...“ „Du vergisst, dass er kein Kind mehr ist. Du solltest ihn so sehen, wie er jetzt ist: ein junger Mann, der fast einen Studienabschluss hat“, unterbrach Kokoro sie. „Er ist nicht mehr der kleine Chaot, der Fensterscheiben mit dem Fußball zerschmettert und sein Zimmer gern mal wie ein Schlachtfeld zurücklässt.“ Lächelnd erinnerte Kari sich daran, wie früher bei Besuchen bei ihren Großeltern ständig Fensterscheiben zu Bruch gegangen waren. Und jedes Mal hatte Tai eine andere Ausrede gefunden. „Ich halte ihn durchaus für verantwortungsbewusst und reif genug, zu heiraten“, schloss Kokoro. Yuuko jedoch wirkte nicht überzeugt. Sie presste die Lippen aufeinander und trocknete akribisch Schüsseln ab. „Mach dir nicht so viele Sorgen, Mama“, sagte Kari in aufmunterndem Tonfall. Sie war froh, dass ihre Mutter noch nichts von dem Kind wusste, denn sonst hätte sie jetzt wohl die Nerven verloren, wenn sie wegen der Hochzeit schon so beunruhigt war. „Kari, du hast aber nicht vor, schon zu heiraten, oder?“, fragte Yuuko auf einmal und sah Kari erwartungsvoll an. „Mama, zum Heiraten braucht man erst mal jemanden, der mitmacht“, antwortete Kari mürrisch und schüttelte den Kopf. Yuuko sah erleichtert aus und Kokoro lächelte amüsiert. „Was ist denn mit diesem süßen Jungen von damals? Wie hieß er noch? Takeru?“ Kari starrte auf das Besteck, das sie gerade abtrocknete und tat so, als würde ihr diese Bemerkung nichts ausmachen. Dabei war es ihr äußerst peinlich, dass ihre Großmutter das so einfach in Gegenwart ihrer Mutter sagte. „Ich weiß noch, wie du gesagt hast, du willst ihn später mal heiraten“, fuhr Kokoro fort und bekam einen verträumten Blick, als würde sie in Erinnerungen schwelgen. „Ach, das ist doch schon so lange her“, sagte Yuuko zu Karis Überraschung. Eigentlich hatte sie eher erwartet, dass sie in das Gerede über die Vergangenheit einstieg. „Ich hoffe übrigens, dass Susumu Herrn Tachikawa überzeugen kann.“ „Überzeugen?“, fragte Kari und sah ihre Mutter an, dankbar über den Themenwechsel. „Na Mimi die Hochzeit zu erlauben“, antwortete Yuuko. Verwirrt runzelte Kari die Stirn. „Hast du nicht eben noch gesagt, dass du Tai noch für zu jung zum Heiraten hältst?“ „Ja, schon“, räumte Yuuko ein. „Aber wenn es sein Wunsch ist. Ich würde es ihm niemals verbieten wollen. Und die arme Mimi war gestern so aufgelöst.“ „Kein Wunder“, meinte Kokoro. „Und Papa versucht jetzt, Herrn Tachikawa zu überreden?“, hakte Kari nach. Yuuko nickte, stellte eine weitere Schüssel ab und hängte das Geschirrtuch über eine Stuhllehne. „Er versucht, sich mit ihm anzufreunden und ihn zu überzeugen, dass Tai perfekt zu Mimi passt.“ Kari lächelte. Sie war begeistert davon, dass ihr Vater sich so sehr für Tai und dessen Wünsche einsetzte, obwohl er selbst nicht vollkommen überzeugt von der Hochzeit war. Sie drückte ihm innerlich die Daumen, dass er es schaffte und ihn bis zum nächsten Tag davon überzeugen konnte, dass Tai der Richtige für Mimi war. Tais Unbehagen war am nächsten Morgen beim Frühstück deutlich zu spüren. Er aß seine Portion nicht auf, was Yuuko dazu veranlasste, ihm besorgte Blicke zuzuwerfen. Karis Vater hatte am gestrigen Abend erneut einige Flaschen Bier zusammen mit Herrn Tachikawa getrunken und sich viel mit ihm unterhalten. Auch Tai und sein Großvater hatten sich zu den beiden gesellt und sich bemüht, eine gute Stimmung aufrecht zu erhalten. Karis und Mimis Mütter hingegen hatten bei Wein zusammengesessen und Fotoalben angeschaut. Kokoro war zeitig schlafen gegangen und Kari und Mimi hatten sich in eine Ecke verzogen und geplaudert. Dabei hatte Mimi immer wieder mit bangem Blick zu den Männern hinüber gesehen, als hoffte sie, an deren Gesichtern ablesen zu können, ob die Heirat nun stattfand oder nicht. „Wir werden uns jetzt auf den Weg nach Tokio machen“, verkündete Keisuke Tachikawa nach dem Frühstück. Mimi und Satoe sahen ihn stirnrunzelnd an, widersprachen aber nicht. „Oh, bitte bleiben Sie doch noch. Zum Abendessen gibt es heute selbst geangelten Fisch von meinem Mann. Den dürfen Sie sich nicht entgehen lassen“, sagte Kokoro und zwinkerte Haru zu. „Frau Yagami, ich weiß Ihre Gastfreundschaft wirklich sehr zu schätzen, aber es geht nicht. Es war ohnehin so geplant, dass wir nur zwei Nächte bleiben“, erwiderte Keisuke entschuldigend. „Nun denn, Reisende soll man nicht aufhalten“, sagte Kokoro gelassen und machte sich daran, das Frühstücksgeschirr zurück in die Küche zu bringen. Die Yagamis halfen ihr, während die Tachikawas nach oben gingen, um ihre Sachen zu packen. Tai stellte die Schüsseln ab, die er getragen hatte, und kratzte sich unsicher am Kopf. „Ich sehe mal, ob ich beim Tragen helfen kann.“ Mit diesen Worten verschwand er aus der Küche. Kari biss sich auf die Unterlippe und sah ihm nach. Sie drückte ihm die Daumen, dass er es schaffte, Herrn Tachikawa zu überreden. Sie war so sehr in Gedanken, dass sie mehrmals fast Geschirr fallen ließ, weshalb sie sich dazu entschied, die Küche zu verlassen und niemandem im Weg herumzustehen. Bei einem Blick auf ihr Handy stellte sie fest, dass sie eine SMS von Nana bekommen hatte. Oh mein Gott, du glaubst nicht, was gerade passiert ist! Kari zog die Augenbrauen hoch. Sie wollte natürlich wissen, was passiert war, doch erst einmal hieß es, sich von den Tachikawas zu verabschieden. Tai und Herr Tachikawa, die mit Taschen beladen die Treppe herunterkamen, lenkten ihren Blick von ihrem Handy ab und erinnerten Kari schnell wieder an ihre eigentlichen Gedanken. Sie versuchte, in Tais Körperhaltung zu lesen, ob sich schon etwas ergeben hatte, konnte aber nichts erkennen. Mimi und ihre Mutter kamen nun ebenfalls nach unten und blieben im Flur stehen. Kari ging in die Küche, um den anderen Bescheid zu geben, dass die Tachikawas jetzt abreisten. Alle gingen in den Flur und verabschiedeten sich von Mimi und ihrer Mutter. Kari umarmte Mimi und hielt sie für einige Sekunden fest. „Wenn du jemanden zum Reden brauchst, du kannst mich jederzeit anrufen.“ Mimi ließ sie los und nickte. „Danke, Kari.“ „Wo bleiben denn Tai und Keisuke?“, fragte Satoe und ging nach draußen. Die beiden standen am Auto der Tachikawas und hatten augenscheinlich gerade ein Gespräch beendet. Kari zog die Augenbrauen hoch, als sie auf das Haus zukamen. Tai zwinkerte Mimi kaum merklich zu. Wenige Minuten später waren die Tachikawas abgereist und Kari wandte sich gespannt an Tai. „Und?“ Tai seufzte. „Er hat gesagt, er will es sich in den nächsten Tagen überlegen. Aber eigentlich klang er ganz positiv.“ Kari lächelte erleichtert und umarmte ihn. „Das ist doch super.“ „Das werden wir sehen“, erwiderte Tai. Eilig suchte Kari Nana aus ihren Kontakten heraus und drückte auf die grüne Taste. Ungeduldig wartete sie, bis Nana endlich abnahm. „Ich dachte schon, du rufst nie an“, begrüßte Nana sie. „Entschuldige. Hier ist einiges los. Also, was ist denn nun passiert?“ „Rate mal, wen ich vorhin getroffen habe“, forderte Nana sie auf und Aufregung schwang in ihrer Stimme mit. „T.K.?“, fragte Kari. Es war der erste Name, der ihr eingefallen war. Nana brauchte eine Weile, um zu antworten. „T.K.? Kari, du hast echt ein Problem. Ich erzähle dir, dass ich jemanden getroffen habe und du denkst sofort an ihn. Du solltest endlich mit ihm reden.“ Ein wenig beleidigt zog Kari eine Schnute, was Nana natürlich nicht sehen konnte. „Ich habe letztens mit ihm auf Facebook geschrieben.“ „Oh, wirklich?“, fragte Nana überrascht. „Das hätte ich nicht gedacht.“ „Ist ja jetzt auch egal“, erwiderte Kari hastig. „Wen hast du denn nun getroffen?“ „Ken“, antwortete Nana. „Oh“, machte Kari, gespannt, was Ken gemacht hatte. „Ja. Ich war gerade einkaufen und dann sah ich ihn und er sah mich und ich dachte, wir grüßen uns einfach und gehen weiter. Aber nein, er ist stehen geblieben und dann bin ich natürlich auch stehen geblieben. Dann haben wir so ein bisschen Smalltalk gemacht. Weißt schon, was machst du hier und wie verbringst du deine Ferien und so weiter. Und dann... und dann...“, theatralische Pause, „hat er mich gefragt, ob ich schon eine Begleitung für den Frühlingsball habe!“ Kari kicherte. „Dann hat er dich also tatsächlich gefragt.“ „Hä?“, machte Nana irritiert. „Du wusstest es schon?“ „Ja, er hat mir letztens erzählt, dass er vielleicht dich fragen will“, erklärte Kari grinsend. „Oh. Ähm... hat er noch was über mich gesagt?“ „Nein, keine Angst“, beruhigte Kari sie. „Okay“, stammelte Nana. „Mann, ich kann den Frühlingsball kaum noch erwarten. Lass uns uns am Freitag treffen und schauen, was wir anziehen, ja? Vielleicht muss ich mir noch ein Kleid kaufen. Und oh, wie soll ich mir die Haare machen?“ Kari lachte. „Ich weiß noch nicht, wann ich Freitag wieder da bin, aber ich kann dir ja kurz vorher schreiben und dann kommst du zu mir, okay?“ „Das klingt nach einem Plan“, sagte Nana und klang zufrieden. „Dann musst du mir auch erzählen, warum bei dir so viel los ist.“ „Mach' ich. Dann also bis morgen.“ „Bis morgen.“ Die gesamte Familie versuchte an diesem Tag, möglichst wenig über die anstehende Hochzeit zu reden, sondern suchten angestrengt nach anderen Themen wie Studium, Schule und Arbeit. Den Nachmittag verbrachten Tai und Kari im Garten auf einer Bank in der Sonne. Kari hatte sich gegen Tai gelehnt und beobachtete die verschieden farbigen Kois, die friedlich im Teich neben der Bank schwammen und ab und zu die Mäuler aus dem Wasser hielten. „Hast du eigentlich mal wieder was von Sora gehört?“, fragte Kari nach einigen Minuten des Schweigens. „Ja, sie schreibt mir und Mimi regelmäßig. Letztens hat ihr wohl irgendeine Marke ein paar entworfene Kleidungsstücke abgekauft“, antwortete Tai. „Echt? Was denn für eine Marke?“, fragte Kari verblüfft und sah ihn neugierig an. „Keine Ahnung, Mann. Da musst du Mimi fragen, ich merk' mir sowas nicht.“ „Es freut mich für sie, dass es so gut läuft in Mailand. Das hat sie sich wirklich verdient bei der ganzen Arbeit.“ „Ja, allerdings. An Weihnachten kommt sie wohl das nächste Mal nach Japan.“ „Wow. Ich könnte nicht so lang von zu Hause wegbleiben.“ Kari kam der Ratschlag ihrer Trainerin wieder in den Kopf. Sollte sie tatsächlich eine Tanzkarriere nach der Schule einschlagen, dann wäre sie wohl auch viel unterwegs und hätte keine Zeit mehr, oft nach Hause zu kommen. „Und wie geht’s Matt?“ „Keine Ahnung. Von dem habe ich schon eine Weile nichts gehört. Er müsste demnächst nach Japan zurückkommen. Vielleicht ist er auch schon wieder da“, antwortete Tai und kratzte sich am Kopf. „T.K. hat mir geschrieben, dass er ihn schon lange nicht mehr gesehen hat“, erzählte Kari. „Die beiden sind doch zerstritten, oder?“ Erneut wandte Kari den Blick von den Kois ab und sah ihren Bruder verwirrt an. „Ach so? Weshalb?“ „Keine Ahnung, hat er mir nicht erzählt“, antwortete Tai schulterzuckend. „Wie geht es eigentlich Davis und Ken?“ „Die leben noch“, antwortete Kari und lächelte, als sie an die beiden dachte. Sie freute sich schon, sie am Samstag wiederzusehen. „Na, ein Glück“, kommentierte Tai. Kari kicherte. „Sie fragen auch öfter mal nach dir.“ „Das will ich ihnen auch geraten haben. Und was macht dein lieber T.K. so?“ Kari runzelte die Stirn, doch Tai grinste nur spöttisch. „In Zukunft möchte ich auch darauf eine fachkundige Antwort haben, ist das klar, Fräulein Ich-rede-fünf-Jahre-lang-kein-Wort-mit-meinem-besten-Freund Yagami?“ „Ach, sei doch still“, murrte Kari und betrachtete wieder die Kois. „Vielleicht lese ich morgen den dritten Brief, wenn ich zu Hause bin.“ „Den dritten Brief?“, hakte Tai nach. „Naja, er hat mir doch zu jedem Geburtstag einen Brief geschrieben“, erklärte Kari langsam. „Und die hast du nicht geöffnet“, schlussfolgerte Tai. „Mhm“, machte Kari. „Aber weggeschmissen hast du sie auch nicht.“ „Genau.“ Er gab ein leises Stöhnen von sich und fasste sich mit einer Hand an die Stirn, als würden ihre Antworten ihm Kopfschmerzen bereiten. Kari boxte ihn in die Seite. „Hör auf damit.“ „Ich sag' doch gar nichts.“ Er grinste unschuldig. „Deine Geste kannst du dir aber auch sparen. Ich weiß auch so, was du von mir hältst“, zischte Kari und verschränkte die Arme vor der Brust. „Nicht von dir“, erwiderte Tai nüchtern. „Nur von deiner Sturheit in dieser Geschichte.“ „Warum sind nur alle auf T.K.s Seite?“, murmelte Kari genervt. „Ich wusste nicht, dass es Seiten gibt.“ Er sah sie stirnrunzelnd an. „Gibt es auch Fanartikel? Ich hätte gern ein Team-T.K.-Shirt.“ „Du bist doof“, erwiderte Kari und stand auf. Sie hockte sich dicht an den Teich und hielt vorsichtig die Fingerspitze ins Wasser. Sofort schwammen einige der leuchtenden Koi auf sie zu und musterten neugierig ihren Finger als hofften sie, er wäre etwas Essbares. „Ich hoffe, ich bekomme dann demnächst eine Hochzeitseinladung“, sagte Kari in Tais Richtung. „Falls ich Mimis Vater überreden kann, dann ja“, antwortete Tai müde. Als Kari sich umdrehte, sah sie, dass er sich auf der Bank ausgestreckt hatte und das Gesicht mit geschlossenen Augen in die Sonne reckte. Seine Hände ruhten auf seinem Bauch, seine Füße auf der Armlehne. Nur die senkrechte Falte auf seiner Stirn verriet, dass ihn etwas belastete. Kapitel 12: Der dritte Brief ---------------------------- Kari, Tai und ihre Eltern reisten am nächsten Morgen nach einem zeitigen Frühstück ab. Glücklicherweise verlief die Fahrt ohne Komplikationen und so konnten sie Tai am frühen Nachmittag vor seinem Studentenzimmer absetzen. Kari war traurig, sich schon wieder von ihm verabschieden zu müssen, denn es würde wohl eine Weile dauern, bis sie ihn wiedersah. Demnächst standen bei ihm die Klausuren an und das hieß für ihn lernen bis zum Erbrechen. Als sie eine Stunde später zu Hause ankamen, wartete Nana schon mit ein paar Tüten beladen vor dem Haus und grinste sie an. „Na? Wie war's?“, fragte sie, als sie wenig später in Karis Zimmer auf dem Boden saßen, umgeben von Kleidern. „Schön, aber auch anstrengend“, seufzte Kari und hielt ein rotes Kleid mit Trägern hoch. „Anstrengend? Wieso das?“, fragte Nana stirnrunzelnd. „Naja, mein Bruder will heiraten und...“ „Was? Dein Bruder will heiraten?“ Nana machte große Augen. „Ich dachte, er ist nur drei Jahre älter als du.“ „Ist er ja auch. Jedenfalls waren er und seine Freundin und deren Eltern auch bei meinen Großeltern und da haben sie die Bombe platzen lassen“, erzählte Kari. „Und der Vater seiner Freundin ist gegen die Hochzeit.“ „Oh“, machte Nana mitleidig. „Und jetzt heiraten sie doch nicht?“ „Nicht, bevor Tai nicht die Zustimmung von Mimis Vater hat“, sagte Kari kopfschüttelnd. „Hm“, machte Nana und legte die Stirn in Falten. Einige Sekunden sagte sie nichts. „Ich glaube, ich würde einfach trotzdem heiraten. Tais Freundin ist doch volljährig, oder? Dann kann sie doch ohnehin machen, was sie will.“ „Aber Tai will nicht, dass Mimi sich seinetwegen mit ihrer Familie streitet. Oh mein Gott, dieses Kleid ist aber nicht dein Ernst, oder?“ Kari war aufgestanden und hatte sich das rote Kleid an den Oberkörper gehalten. Es war so kurz, dass es wohl gerade so ihren Hintern bedecken würde und sah obendrein auch noch verdammt eng aus. Nana war ob des plötzlichen Themenwechsels einen Augenblick verwirrt, fing sich aber schnell wieder. „Klar ist das mein Ernst. Probier' es doch mal an. Du bist doch dünn, du kannst es tragen.“ Kari schnaubte, legte aber schnell ihre aktuellen Sachen ab und zog das Kleid an. Sie musterte sich vor dem großen Spiegel an der Wand. „Es steht dir total gut!“, rief Nana und nickte eifrig. „Nein“, sagte Kari entschieden und musste schon das erste Mal am Saum des Kleides ziehen, weil es sonst einen Teil ihres Pos freigeben würde. „Darin sehe ich doch aus wie eine Nutte.“ „Quatsch. Du siehst heiß darin aus“, meinte Nana überzeugt. „Wäre ich Shinji, würde ich dich sofort in mein Bett zerren.“ „Nana!“, rief Kari empört und Nana lachte. „Das versucht er doch morgen bestimmt. Darauf würde ich wetten“, sagte sie. „Oh, meinst du wirklich?“ Kari sah ihre Freundin unsicher an. Sie hatte doch noch nie... „Ich glaube schon“, meinte Nana nun ein wenig ernster. „Und du brauchst nicht gleich rot zu werden.“ „Tz, das soll er mal versuchen“, murrte Kari und wandte sich ab. Sie zog das Kleid wieder aus und griff ein grünes. Bevor sie es anzog, ging sie zu ihrem Kleiderschrank und zog die wenigen Kleider heraus, die sie in den letzten Jahren gesammelt hatte. Davon waren gerade mal zwei gut genug, sie morgen anzuziehen. Sie warf sie auf den Kleiderstapel und Nana griff sogleich danach, während Kari das grüne Kleid anzog. „Das ist aber hübsch. Das habe ich noch nie an dir gesehen“, sagte Nana bewundernd und hielt sich Karis nachtblaues Kleid an den Körper. „Das ist mir auch ein bisschen zu groß“, erwiderte Kari. „Versuch' es doch mal.“ Während Nana also das blaue Kleid anprobierte, betrachtete Kari ihr Spiegelbild. „Grün steht dir nicht“, kommentierte Nana. „Finde ich auch“, stimmte Kari ihr zu und zog es wieder aus. Anschließend betrachtete sie Nana in dem blauen Kleid. „Dir passt es wie angegossen. Sieht super aus.“ „Findest du?“ Nana drehte sich vor dem großen Spiegel hin und her. „Ich glaube, dann werde ich es anziehen, wenn ich darf.“ „Klar darfst du.“ Nana grinste zufrieden und schlüpfte wieder in ihre alten Klamotten, während Kari immer noch kein Kleid gefunden hatte. „Wie wäre es denn mit dem? Ich glaube, die Farbe steht dir super gut“, schlug Nana vor und zog ein hellrosafarbenes Ballonkleid aus dem Haufen heraus. Zweifelnd begutachtete Kari das Kleid, probierte es aber doch an. „Das musst du nehmen. Das ist ja fast noch besser als das rote“, sagte Nana und beobachtete, wie Kari ihr Spiegelbild musterte. Das Kleid hatte keine Träger und war in der Taille zusammengerafft. Es ging Kari bis zur Mitte der Oberschenkel. „Findest du? Aber darin sehe ich so unschuldig aus“, erwiderte Kari kritisch. „Du bist doch auch die Unschuld in Person.“ Nana grinste sie an. Kari stutzte und sah sie mit gerunzelter Stirn an. Sicher hatte Nana das nur sehr beiläufig gesagt, doch irgendwie fühlte Kari sich von diesem Kommentar getroffen. „Meinst du echt?“ „Ja, Kari. Du bist doch immer so süß und ruhig und lieb zu jedem außer Takeru.“ Nana achtete kaum auf das, was sie sagte, sondern ging um Kari herum und betrachtete das Kleid. „Ist wie für dich gemacht.“ Kari jedoch war noch immer verwirrt von Nanas Aussage über ihre Unschuld. War sie denn wirklich so ein zahmes Lamm? Eine graue Maus? Ein ruhiges, zurückhaltendes, liebes Mädchen? Sahen andere sie auch so? Am frühen Abend war Nana mit Karis Kleid im Gepäck wieder gegangen. Das rosafarbene Kleid hing nun über Karis Schreibtischstuhl und wartete darauf, von ihr getragen zu werden und ihr Wesen zu unterstreichen. Es schien förmlich „Unschuld“ zu schreien. Missmutig schaltete Kari ihren Computer an und loggte sich in ihren Facebook-Account. Ihr Herz machte einen Aussetzer, als ihr das kleine Symbol oben links verkündete, dass sie eine Nachricht erhalten hatte. In der Erwartung gleich etwas von T.K. zu lesen, klickte sie auf das Symbol, doch die Nachricht war von Shinji. Kari war fast schon ein wenig enttäuscht. hey kari, wie geht’s dir? soll ich dich morgen vor dem ball abholen kommen? :) Darauf wusste Kari auch keine wirkliche Antwort. Sollte er sie abholen kommen? Lieber nicht, sie musste morgen ohnehin schon viel Zeit mit ihm verbringen. danke, aber das brauchst du nicht. wir treffen uns dann einfach in der schule Sie schickte die Nachricht ab und überflog dann ihre Startseite. Dort war jedoch nichts weiter Spannendes außer ein paar abgeschriebener Zitate und „Eis essen mit xyz“-Verkündungen. Wieder einmal mehr fragte Kari sich, warum die Leute dachten, das würde alle so sehr interessieren, dass sie es im Internet erzählen mussten. Sie schaltete ihren Computer wieder aus und kramte in der untersten Schreibtischschublade nach den Briefen. Zwei waren nun schon geöffnet. Sie fischte den dritten heraus und öffnete ihn entlang der Umschlagkante mit einem Stift. Bei den anderen beiden Briefen war sie noch ziemlich aufgeregt, bevor sie sie gelesen hatte, doch nun war es fast schon zu einer Gewohnheit geworden. Da waren eben noch Briefe, die gelesen werden mussten. Sie zog die Papierbögen heraus und faltete sie auseinander. Hi Kari, alles Gute zu deinem 15. Geburtstag! Ja, ich schreibe dir immer noch. Ich hoffe, der Brief kommt pünktlich am 25. an, sodass du ihn gleich lesen kannst. Falls du ihn überhaupt liest. Ich hoffe, es geht dir gut und du machst dir heute einen schönen Tag, kriegst viele Geschenke, leckeren Kuchen und ein paar Geburtstagslieder. Ich würde ja auch für dich singen, aber wie du weißt, bin ich nicht so der Sänger. Ich glaube, ich habe in dem Brief vom letzten Jahr ein paar ziemlich miese Sachen geschrieben. Das heißt, ich kann mich eigentlich an fast jedes Wort erinnern. Ich bereue, was ich geschrieben habe. Echt jetzt. Es tut mir Leid. Ich war in dem Moment einfach so sauer auf dich und darauf, dass du mir nicht schreibst, dass ich dir unbedingt die Meinung sagen musste. Ich weiß, das ist keine Entschuldigung dafür, dass ich gleich so fies geworden bin, aber vielleicht eine Erklärung? Jedenfalls war es nicht so gemeint. Ich war natürlich nicht froh, dass ich aus Japan weggezogen bin, auch wenn ich das geschrieben habe. Obwohl ich jetzt schon seit drei Jahren nichts mehr von dir gehört habe, fehlst du mir irgendwie immer noch. Und Japan fehlt mir auch. Ich meine, hier in Paris ist es ziemlich cool und ich habe mich gut eingelebt. Ich brauche echt lange, diesen Brief hier zu schreiben, weil mir manche Wörter nur noch auf Französisch und nicht mehr auf Japanisch einfallen. Und viele Leute kennen gelernt habe ich auch. Aber es ist trotzdem nicht so wie Japan. Und eine zweite Kari habe ich auch noch nicht gefunden. Ich hoffe, dass du mir trotzdem noch irgendwann schreibst. Und ich hoffe, der Brief kommt überhaupt an. Vielleicht wohnt ihr ja gar nicht mehr da, wo ihr immer gewohnt habt. Viele Grüße T.K. P.S.: Im Brief ist noch ein klitzekleines Geschenk. Kari seufzte leise und legte den Brief weg, um den Umschlag in die Hand zu nehmen. Darin befand sich noch eine Postkarte aus Paris und... ein Armband. Es war ein schwarzes Lederbändchen mit einem winzigen Anhänger in Form des gallischen Hahns in den Farben der französischen Nationalflagge. Kari betrachtete es eingehend, bevor sie es sich um ihr Handgelenk band. Den Brief verstaute sie sorgfältig wieder in der Schublade und lehnte sich auf ihrem Schreibtischstuhl zurück. Dieser Brief hatte sie irgendwie berührt. Kapitel 13: Der Frühlingsball ----------------------------- Susumu hatte darauf bestanden, Kari mit dem Auto zum Ball zu fahren und eigentlich wollte er sie auch unbedingt wieder abholen, doch das war Kari zu blöd. Immerhin war sie kein Kind mehr und konnte sehr wohl nachts allein mit öffentlichen Verkehrsmitteln nach Hause fahren. Und wenn sie das nicht wollte, war sie immer noch dazu in der Lage, sich ein Taxi zu rufen. Oder rufen zu lassen. Je nachdem, in welchem Zustand sie sich am Ende des Abends befand. „Tschüss, Papa. Und danke fürs Fahren“, sagte Kari und stieg aus dem Auto. „Kein Problem. Viel Spaß“, antwortete ihr Vater, bevor Kari die Tür zuschlug und langsam in Richtung Turnhalle ging. Sie hatte sich für cremefarbene Pumps zu dem rosafarbenen Kleid entschieden und bereute jetzt schon, dass sie keine Ballerinas angezogen hatte. Sicher sah sie aus wie eine Idiotin, wie sie den Weg entlang stakste. Einige andere aufgetakelte Schüler liefen an ihr vorbei, kümmerten sich aber nicht um sie, weshalb Kari hoffte, dass sie nicht komplett bescheuert aussah. Schon von weitem konnte Kari das große Banner mit der Aufschrift „Frühlingsball 2009“ erkennen, das über dem Eingang der Turnhalle prangte. Die gläsernen Eingangstüren selbst waren mit bunten Papierblumen beklebt und am Rand entdeckte sie Shinji, der gerade mit einem anderen Jungen aus dem Basketballverein redete. Anscheinend hatte er auf sie gewartet, denn als er sie entdeckte, wandte er sich von seinem Gesprächspartner ab und sah sie an. „Da bist du ja. Du siehst echt toll aus“, begrüßte er sie und musterte sie von oben bis unten. „Danke, du auch“, erwiderte Kari. Shinji trug eine schwarze Hose, ein weißes Hemd und ein graues Jackett. Er lächelte, bot Kari den Arm an und sie gingen zusammen nach drinnen. Vorher allerdings mussten sie die beiden Türsteher passieren, die ihnen verschiedenfarbige Bändchen um die Handgelenke klebten. Wie jedes Jahr hatte sich die große Turnhalle für den Frühlingsball völlig verändert. Der gesamte Boden war mit Teppichen beklebt worden, um den Belag zu schützen. Zwei Drittel der Halle wurden von Tischen und Stühlen eingenommen, um Sitzgelegenheiten für die Gäste zu bieten. Am Rand befanden sich zwei Bars, die die Gäste mit Getränken versorgen sollten. Ein paar Kellner waren schon dabei, durch die Halle zu laufen und Bestellungen aufzunehmen. An den Wänden und auf den Tischen befanden sich bunte Girlanden, Luftschlangen und Papierblumen. Von der Decke baumelten Lampions, deren gedämmtes Licht später für die richtige Atmosphäre sorgen würde. An einem Stirnende der Halle befand sich eine Bühne für den DJ und seine Ausrüstung und direkt davor war die Tanzfläche, die momentan noch vollkommen leer war. Kari hielt Ausschau nach Nana, Ken oder Davis, konnte aber keinen von ihnen entdecken. Sie war noch relativ früh dran. „Ist es okay für dich, wenn wir uns zu meinen Kumpels vom Basketball setzen?“, fragte Shinji, steuerte aber schon auf den Tisch zu, den er meinte. „Ähm... klar“, antwortete Kari ein wenig enttäuscht. Dieser Tisch war dann sicher schon komplett reserviert und sie würde nicht mit ihren Freunden zusammensitzen, sondern mit einem Haufen Basketballer und deren Begleitungen. Zwei Jungen und drei Mädchen waren schon da. Sie gingen alle fünf in die Parallelklasse und Kari hatte nichts mit ihnen zu tun. Sie und Shinji begrüßten sie freundlich und setzten sich dann nebeneinander an den Tisch. Shinji begann sogleich ein Gespräch mit den beiden Jungen und so fühlte Kari sich ein wenig verloren, da auch die drei Mädchen miteinander tuschelten. Sie sah sich um, auf der Suche nach jemandem, mit dem sie eng genug in Kontakt stand, um zu ihm zu gehen, fand jedoch noch niemanden. An den anderen Tischen saßen ein paar Leute, doch es war noch nicht einmal die Hälfte der Plätze besetzt. Eine Kellnerin kam zu ihnen und fragte sie, was sie trinken wollten. „Ich hätte gern eine Cola mit Wodka“, sagte Kari. Die Kellnerin sah sie schief an und deutete auf ihr Handgelenk. „Sorry, Alkohol nur für Volljährige.“ „Okay, dann nehme ich eine Cola“, sagte Kari kleinlaut und hoffte, die Situation hatte niemand mitbekommen. Shinji bestellte sich ein Bier und die Kellnerin ging wieder. Kari betrachtete sein Bändchen. Es war grün und ihres war rot. „Ich bestell' dir nachher was Alkoholisches“, sagte er und zwinkerte ihr zu. „Schon gut“, murmelte Kari. „Ich frage mich, warum sie überhaupt diese Unterscheidung machen. Die wenigsten sind doch schon achtzehn.“ „Aber die, die es sind, sollen halt ihren Spaß haben“, erwiderte Shinji grinsend. „Außerdem kommen ja auch ein paar Lehrer und vielleicht auch Eltern.“ „Stimmt ja.“ Shinji wandte sich wieder von ihr ab und redete weiter mit seinen Kumpels. In diesem Moment stießen zu Karis Überraschung T.K. und Aya zu ihnen. Wie hatte sie nur vergessen können, dass T.K. ja auch unter die Basketballkumpels fiel? Obwohl er noch recht neu war, begrüßten ihn die Jungs fröhlich mit einem Handschlag und wirkten, als wären sie schon lange mit ihm befreundet. Den Mädchen inklusive Kari gab er die Hand und lächelte ihnen flüchtig zu. Aya hingegen hatte für keins der Mädchen am Tisch ein Lächeln übrig, sondern hing nur an T.K.s Arm, als wäre sie dort festgeklebt. Sie trug ein nachtblaues Kleid und T.K. passend dazu ein blaues Hemd und eine graue Hose. Die beiden setzten sich an Shinjis andere Seite. Karis Cola wurde gebracht und sie trank einen Schluck, nur um etwas zu tun zu haben, während sie dort saß und nichts tat. Shinji und sein Gesprächspartner unterhielten sich darüber, wie sie die Golden Week verbracht hatten, doch Kari konnte diesem Gespräch nicht viel abgewinnen. Die Mädchen waren auch nicht viel besser. Sie beobachteten die Leute, die ankamen, und kommentierten deren Outfit. „Und schon wieder eine mit einem roten Kleid. Rot ist so langweilig“, sagte Naru gerade. „Immer noch besser als schwarz“, meinte Yuri. „Sagt mal, habt ihr eigentlich auch gehört, dass es heute einen Überraschungsact geben soll?“, fragte Izumi und Kari horchte auf. „Ja, aber ich glaube, das ist nur ein Gerücht“, antwortete Yuri. „Und wenn nicht, dann ist es garantiert irgendwas Langweiliges. Ich meine, irgendeinen tollen Act kann sich doch keiner leisten“, erwiderte Naru abwinkend. „Oh, seht mal, das Kleid steht ihr aber gut.“ Kari hatte gar nichts von einem Überraschungsact mitbekommen, aber auch sie hatte keine Idee, was das sein konnte. Sie wandte sich um und wollte Shinji danach fragen, doch der war immer noch in ein Gespräch vertieft und schien nicht einmal zu bemerken, dass sie ihn ansah. Kari seufzte frustriert und sah sich um. Da entdeckte sie Nana, Ken, Davis und Rin, die gerade hereinkamen. Sie sprang auf und lief zu ihnen hinüber, wobei sie mehrmals umknickte. „Oh, hey, Kari!“, rief Nana, als sie sie sah. Kari begrüßte die drei mit einer Umarmung und lächelte Rin an, die ein wenig schüchtern neben Davis stand. „Du siehst toll aus, Nana“, lobte Kari ihre Freundin, die sich ein wenig verlegen eine Haarsträhne hinter das Ohr strich. Sie hatte die Haare diesmal offen gelassen, sodass sie ihr in sanften Wellen über die Schultern fielen. „Danke, du auch. Wie hast du deine Haare gemacht? Mit dem Lockenstab?“, fragte Nana. „Ja, das hat meine Mutter gemacht“, antwortete Kari. Dass sie jetzt einen roten Striemen auf der Stirn hatte, weil ihre Mutter sie verbrannt hatte, erwähnte sie nicht. Sie war froh, dass sie diese Stelle mit ihrem Haar verdeckten konnte. „Langweilig“, kommentierte Davis das Gespräch und sah sich um. „Wo sitzt du denn, Kari? Ist da noch Platz?“ Kari schüttelte bedauernd den Kopf. „Ich sitze bei den Basketballern.“ „Oh, okay. Dann setzen wir uns jetzt einfach da vorn hin“, bestimmte Davis und steuerte auf einen Tisch zu, an dem es noch einige freie Plätze gab. Rin und Ken folgten ihm. „Er sieht so gut aus“, flüsterte Nana Kari zu. „Wer? Ken?“, fragte Kari verwirrt. „Ja, wer denn sonst?“ Verträumt sah sie ihm hinterher. Kari kicherte nur. „Ich bin gespannt, was der heutige Abend bringt.“ Kari nickte nur langsam. „Wo wir gerade davon reden: Hast du etwas von einem Überraschungsact gehört?“ Nana sah sie erstaunt an. „Wer hat das nicht?“ „Ich zum Beispiel. Ich habe es nur gerade von Izumi aufgeschnappt“, antwortete Kari ein wenig verlegen, da sie anscheinend schon wieder mit einem Tunnelblick durch die Welt gegangen war. „Du wusstest das echt nicht? Mann, das Gerücht hätte ich dir auch sagen können“, meinte Nana grinsend. „Aber ob das stimmt und was der Überraschungsact sein soll, weiß ich leider auch nicht.“ „Wenn alle das erzählen, muss ja was dran sein“, überlegte Kari laut. Nana nickte zustimmend. „Ich gehe jetzt mal auf meinen Platz neben Ken.“ Ihre Augen leuchteten, als sie sich zum Gehen umwandte. Auch Kari ging zurück zu ihrem Platz, allerdings nicht ganz so voller Vorfreude. Eine halbe Stunde später waren die meisten Plätze besetzt und die Musik wurde lauter gedreht. Alle schienen darauf zu warten, dass sich endlich ein mutiges Paar zuerst auf die Tanzfläche traute. Kari warf einen Blick auf Davis und die anderen. Nana schien unverfänglich mit Ken zu plaudern, während Davis und Rin einander offenbar nicht viel zu sagen hatten. Davis sah gelangweilt aus und Rin unterhielt sich mit einem anderen Mädchen am Tisch. Kari fragte sich, warum er sie nicht einfach in ein Gespräch verwickelte. Das fiel ihm doch sonst auch nicht sonderlich schwer. Ob da schon irgendetwas vorgefallen war? Kari wandte sich wieder ab und nippte gedankenverloren an ihrer Cola. „Willst du auch tanzen gehen?“ Kari drehte sich zu Shinji, der sie fragend ansah. Sie hatte gar nicht mitbekommen, dass sich mittlerweile doch einige Paare zur Tanzfläche begeben hatten und ihre Tanzkünste zum Besten gaben. „Klar, warum nicht?“, antwortete Kari und stand auf. Gemeinsam mit Shinji ging sie auf die Tanzfläche, platzierte die linke Hand auf seiner Schulter und die rechte in seiner Hand. Sie begannen, zum Takt der Musik Discofox zu tanzen, wobei Kari jedoch sofort merkte, dass Shinji anscheinend kein Taktgefühl hatte. Er bewegte sich zu schnell und zerrte sie mit sich mit. Als er Karis Blick auffing, grinste er und vollführte eine Drehung. Kari lächelte müde und passte sich einfach an seinen Rhythmus an. Sie nutzte seine übermäßig vielen Drehungen dazu, die anderen Tanzpaare zu beobachten. Sie konnte Ken und Nana sehen, die viel Spaß zu haben schienen. Nana machte ein fröhliches Gesicht und Ken drückte sie fest an sich. Davis und Rin tanzten ebenfalls, doch Davis wirkte nicht glücklicher als vor wenigen Minuten. Auch T.K. und Aya konnte Kari entdecken. Sie tanzten gut. Offenbar hatte T.K. mehr Rhythmusgefühl im Blut als Shinji. Kari bemühte sich, die beiden nicht mehr zu beachten. Sie und Shinji blieben noch einige weitere Lieder auf der Tanzfläche und obwohl sich der Takt der Lieder änderte, änderte Shinji seine Tanzgeschwindigkeit nicht. Ein paar Mal kamen sie aus dem Takt, weil es Kari schwer fiel, sich an ihn anzupassen. Nach einer Weile gingen sie zurück zu ihrem Tisch. Shinji entschuldigte sich mit den Worten, er würde ihnen etwas zu trinken holen. Kari setzte sich schon einmal hin und beobachtete die Paare auf der Tanzfläche. Wie jedes Jahr staunte sie darüber, wie manch einer tanzen konnte, dem man das im Alltag nicht zugetraut hatte. Shinji kam zurück und stellte ein Glas Cola vor ihr auf den Tisch. „Danke. Wie viel kriegst du?“, fragte sie und griff nach ihrer Handtasche. „Nichts, du bist eingeladen“, antwortete er lächelnd. „Ähm... okay, danke“, sagte Kari ein wenig unbehaglich. Sie trank einen Schluck Cola und war überrascht, nicht den üblichen, süßen Geschmack wahrzunehmen, sondern noch einen etwas bitteren Beigeschmack. Da war ein ordentlicher Schuss Wodka drin. Shinji grinste. „Sag' einfach Bescheid, wenn du noch mehr willst. Ich bestell' dir alles.“ Kari nickte, wusste jedoch jetzt schon, dass sie das Angebot lieber nicht annehmen sollte. „Übrigens siehst du heute richtig süß aus“, meinte Shinji beiläufig und lächelte. „Süß?“, fragte Kari und sah ihn an. „Ja. So unschuldig, aber so siehst du ja irgendwie immer aus“, antwortete Shinji schulterzuckend. Kari zog die Augenbrauen hoch und trank einen großen Schluck von ihrer Wodkacola. Vielleicht sollte sie das Angebot doch annehmen und beweisen, dass sie kein Unschuldslamm war, sondern auch anders konnte. „Wenn die Kellnerin das nächste Mal wiederkommt, kannst du mir gleich noch eine bestellen“, sagte sie und versuchte, möglichst cool zu klingen. Anschließend trank sie das Glas in einem Zug leer, stand auf und ging entschlossen hinüber zu Nana, die sie fragend ansah. „Los, wir gehen tanzen“, sagte Kari bestimmt, ergriff Nanas Hand und zog sie mit sich mit zur Tanzfläche. „Geht's dir gut?“, fragte Nana skeptisch. „Klar. Ich hab' nur Lust zu tanzen“, antwortete Kari und begann, die Tanzfläche unsicher zu machen, sodass die Leute um sie herum ein wenig Abstand nehmen mussten und ihr mürrische Blicke zuwarfen. Nana lächelte und sah aus, als würde sie sich für Kari schämen, doch sie tanzte mit. Nach einer halben Stunde ging Kari zurück zu ihrem Platz, wo eine neue Wodkacola auf sie wartete. Diesmal leerte sie das ganze Glas in einem Zug und tippte Shinji auf die Schulter, der sie noch nicht bemerkt hatte. Er drehte sich zu ihr um. „Wozu brauchst du eigentlich eine Partnerin, wenn du eh nur quatschst, hm?“, fragte sie keck und sah ihn an. „Sorry, ich wollte dich nicht vernachlässigen“, sagte er grinsend und stand auf. Sie gingen zur Tanzfläche und diesmal war Kari diejenige, die führte. Sie wirbelte durch die Gegend, drehte sich, zerrte Shinji mit sich, sang die Musik mit. „Vielleicht sollte ich dir doch keinen Alkohol mehr bestellen“, meinte Shinji lachend, doch Kari schüttelte den Kopf. „Dann macht's ja keinen Spaß mehr.“ Je länger sie tanzte, desto mehr spürte sie die Wirkung des Alkohols. Allmählich fühlte es sich an, als würde sich in ihrem Kopf ein Nebel ausbreiten. Ihre Laune steigerte sich und sie merkte trotz der hohen Schuhe nicht, dass ihre Füße eigentlich weh taten und sie schon eine Blase hatte. Nach einer Weile entschuldigte Shinji sich und sie gingen sich wieder hinsetzen. Kari nutzte die Pause und ging hinüber zu Nana und den Jungs. Schon wieder waren Nana und Ken in ein Gespräch vertieft, doch sie unterbrachen es, als sie Kari bemerkten. „Na, ihr Turteltauben?“ Sie ließ sich neben Ken auf einen Stuhl fallen. Nana lief rot an und warf ihr einen wütenden Blick zu. „Sag mal, hast du was getrunken?“, fragte Ken und hob eine Augenbraue. „Nur ein bisschen“, antwortete Kari grinsend. „Nicht der Rede wert.“ „Bestellt Shinji dir etwa Alkohol?“, fragte Nana stirnrunzelnd. „Ich glaube, ich sollte ihn auch mal fragen.“ „Mach das“, erwiderte Kari fröhlich. „Das macht er bestimmt gern. Er ist eigentlich ganz nett, wisst ihr? Und er ist auch gar nicht mehr so aufdringlich.“ Nana warf einen skeptischen Blick hinüber zu Shinji und Ken zuckte nur mit den Schultern. „Wenn du meinst.“ „Was ist eigentlich mit Davis los?“, fragte Kari mit einem Blick auf ihren Freund, der gelangweilt mit verschränkten Armen und finsterer Miene auf seinem Stuhl herumlungerte. Rin war nicht mehr da. „Ich weiß es auch nicht. Ich hab' ihn schon gefragt, aber er meint, es ist alles okay“, antwortete Ken ratlos. „Vielleicht will Rin nicht mit ihm tanzen?“, überlegte Nana. „Ich glaube eher, Davis will nicht tanzen“, sagte Ken lachend. „Das wäre doch gelacht“, meinte Kari und stand entschlossen auf. Sie ging zu Davis, streckte die Hand aus und sah ihn auffordernd an. „Was ist?“, fragte er, ohne sich zu bewegen. „Los, wir tanzen“, bestimmte Kari. „Keine Lust“, murmelte Davis abweisend, doch Kari griff einfach nach seiner Hand und zog ihn hoch. „Na komm schon. Warum hast du so schlechte Laune? Das ist unser letzter Frühlingsball“, sagte sie fröhlich und zog ihn mit sich zur Tanzfläche. „Und wenn schon. Außerdem kann ich nicht tanzen“, murrte er kein Stück besser gelaunt. „Macht nichts. Ich führe“, erwiderte Kari, brachte sie beide in Position und begann zu tanzen. Davis war steif wie ein Brett und Kari musste sich richtig anstrengen, ihn durch die Gegend zu ziehen und zu schieben. Er trat ihr immer wieder auf die Füße, doch das bekam sie kaum mit. „Was ist los mit dir, Davis? Warum bist du so schlecht drauf?“, fragte sie und musterte ihn neugierig. Er zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung.“ „Hat Rin dich gegen einen anderen eingetauscht?“, fragte Kari weiter. „Ich glaube schon. Aber das kann ich ihr nicht verübeln“, murmelte Davis niedergeschlagen. „Hast du sie vergrault? Was ist denn passiert?“ „Nichts ist passiert. Jetzt hör' auf, mich auszufragen. Du bist ja schlimmer als Herr Kugo.“ Kari kicherte. „Ich will doch nur, dass es dir gut geht. Bist du unglücklich verliebt, oder was?“ Ein wenig getroffen sah Davis sie an, wandte jedoch den Blick schnell wieder ab. „Ähm... nein.“ Kari machte große Augen. „Wer ist es?“ „Niemand!“, widersprach Davis, lief aber rot an. „Rin? Ach nein, dann hättest du sie ja nicht links liegen lassen“, überlegte Kari laut. Davis antwortete nicht. „Vielleicht Nana? Oh mein Gott, es ist Nana, oder?“ Erwartungsvoll sah Kari ihn an. Er öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen, tat es jedoch nicht. „Oh und jetzt ist sie die Tanzpartnerin von deinem besten Kumpel.“ Kari sah ihn mitleidig an. „Kari... sieh mal, sie bauen was auf.“ „Was?“ Verwirrt folgte Kari seinem Blick. Tatsächlich, auf der Bühne wurden Instrumente aufgebaut. „Oh, wer da wohl kommt? Dann scheint das mit dem Überraschungsact also zu stimmen.“ „Überraschungsact?“, fragte Davis irritiert. Kari sah ihn verblüfft an und musste dann lachen. Anscheinend war sie doch nicht die Einzige, die davon nichts mitbekommen hatte. Als das Lied zu Ende war, bestand Davis darauf, sich wieder hinzusetzen. Kari ging zurück zu ihrem eigenen Platz. Shinji war gerade nicht da, aber auf ihrem Platz stand eine neue Wodkacola. Kari kippte sie eilig hinunter. Das ganze Tanzen hatte ihr Durst gemacht. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, wie jemand auf den Platz neben ihr rutschte. Sie drehte sich um und erkannte, dass es T.K. war. Aya konnte sie nirgends entdecken. Kari erstarrte und fühlte sich gleich nur noch halb so selbstsicher wie vor einer Sekunde und das trotz des Alkohols. „Wie war's bei deinen Großeltern?“, fragte er beiläufig. „Ähm... ja, ganz gut. Tai war auch da“, antwortete sie. „Echt? Wie geht’s ihm?“ „Gut.“ Die ganze Heirats- und Babygeschichte ging ihn schließlich nichts an. „Und was hast du so gemacht?“ „Nichts weiter. Meinen Vater besucht, ein paar Leute getroffen, sowas.“ Ein paar Leute getroffen. Wenn da mal nicht Aya dabei war. „Weißt du zufällig, was der Überraschungsact ist?“, fragte Kari, nur um irgendetwas mit ihm zu bereden. „Nein, keine Ahnung. Vielleicht eine Band, wenn sie schon Instrumente aufbauen“, antwortete T.K. und zuckte mit den Schultern. „Mich überrascht es, dass es überhaupt einen gibt. Die letzten Jahre gab es keinen, weißt du?“, sagte Kari. T.K. nickte nur. Dann deutete er überrascht auf etwas an ihrem Handgelenk. „Das kenne ich doch irgendwoher.“ Kari folgte seinem Blick und entdeckte das Armbändchen aus dem Brief. Sie hatte es halb mit Absicht, halb aus Versehen dran gelassen. Eigentlich wollte sie nicht, dass T.K. sie damit sah, doch sie hatte es auch nicht ablegen wollen. Schnell legte sie die Hand um ihr Handgelenk, um das Armband zu verdecken und lief rot an. „Wo ist Aya eigentlich?“ T.K. sah sie schief an. „Draußen. Frische Luft schnappen.“ Einige Sekunden sagte keiner etwas von ihnen, bis Kari das Gespräch wieder aufnahm. Das Schweigen war ihr einfach unangenehm, erst recht jetzt nach der Sache mit dem Armband. „Bist du eigentlich froh, wieder in Tokio zu sein? Oder wärst du lieber in Paris geblieben?“, fragte sie. Allmählich kam sie sich blöd vor. „Beides irgendwie. Paris war schön, aber hier ist es auch schön. Es ist nur ein bisschen schwer, in der Schule mitzukommen“, antwortete er. „Warum habt ihr nicht noch ein Jahr gewartet, bis ihr wieder herkommt?“, fragte Kari. „Warum seid ihr überhaupt zurückgekommen?“ T.K.s Blick verfinsterte sich, als hätte sie irgendetwas Gemeines zu ihm gesagt. „Es war dringend nötig. Es gab ein paar... Probleme.“ „Was für Probleme denn?“, hakte Kari nach und erst da wurde ihr klar, dass sie wahrscheinlich ziemlich neugierig wirkte und sich vielleicht etwas zurückhalten sollte. „Entschuldige, du brauchst es mir nicht erzählen.“ „Nein, schon gut. Der...“ „Hier, Kari“, unterbrach Shinji ihn, der plötzlich an Karis anderer Seite aufgetaucht war und sich setzte. Er hatte einen Tequila vor ihr abgestellt und sich selbst auch einen mitgebracht. Dazu hatte er ihr noch eine neue Wodkacola bestellt. „Danke“, sagte Kari und lächelte ihn an. Sofort fühlte sie sich wieder selbstsicherer. Sie und Shinji kippten den Tequila hinunter, der fürchterlich in der Kehle brannte, sodass Kari gleich einen Schluck von ihrer Wodkacola nehmen musste. „Puh.“ Sie fasste sich an die Stirn. „Besorgt er dir etwa die ganze Zeit Alkohol?“, fragte T.K. mit einem abfälligen Blick auf Shinji. „Ja, ich selbst bekomme ja keinen“, antwortete Kari schulterzuckend und grinste. „Aber lass' dich nicht abfüllen“, murmelte T.K., sodass nur sie es verstehen konnte. „Entschuldige mal“, erwiderte Kari empört. „Ich kann ja wohl selbst entscheiden, wie viel ich trinke, klar? Ich brauche keinen Aufpasser.“ Sie drehte sich zu Shinji und stand auf. „Los, lass uns tanzen.“ Ohne T.K. noch eines weiteren Blickes zu würdigen, ging sie mit Shinji auf die Tanzfläche und tanzte. Dabei warf sie ab und an einen Blick auf T.K., der sich zu Ken und Davis gesetzt hatte. Ausgelassen tanzte sie mit Shinji und merkte gar nicht, wie die Zeit verging. Plötzlich wurde die Musik ausgeschaltet und die Tänzer hielten inne. Einige beschwerten sich lautstark und verlangten nach Musik, doch ein Junge aus der Parallelklasse, der den Ball organisiert hatte, trat auf die Bühne hinter das Mikrofon, das aufgestellt worden war. „Gleich gibt’s wieder Musik“, beschwichtigte er die Menge. „Und zwar ganz Besondere. Das hier ist nämlich der letzte Frühlingsball für die zwölften Klassen, wie ihr ja wisst. Und da haben wir uns was Besonderes überlegt. Viele von euch haben ja gehört, dass es einen Überraschungsact gibt.“ Künstlerische Pause. Ein Raunen ging durch die Menge. „Aber ich denke mal, niemand weiß, was genau das ist. Ihr seht ja, dass Instrumente aufgebaut worden sind. Und zwar für eine gewisse Band. Für eine ganz spezielle Band. Sie haben sich freundlicherweise bereit erklärt, hier für uns heute aufzutreten.“ Wieder ließ er eine dramatische Pause, bevor er feierlich einen Arm ausstreckte und tief Luft holte. Kapitel 14: Alkohol, du böser Geist ----------------------------------- „Hier sind die Teenage Wolves!“ Kari stieß einen Schrei aus, der jedoch im Geschrei der Leute um sie herum unterging. Und tatsächlich kamen im nächsten Moment die Teenage Wolves inklusive Matt auf die Bühne. Das Geschrei und Gejubel wurde noch lauter und Kari war kurz davor, sich die Ohren zuzuhalten, während sie mit offenem Mund auf die Bühne starrte. Auf der Tanzfläche war es nun gewaltig eng geworden und viele versuchten noch, möglichst nahe an die Band heranzukommen, um sie aus der Nähe zu bewundern. Jedes Mitglied positionierte sich an seinem Instrument. Matt hängte sich die E-Gitarre um und trat an das Mikrofon heran. Er stellte es auf die richtige Höhe ein, bevor er einen Blick über die Menge schweifen ließ. Allmählich flaute das Gekreische ab und alle starrten gebannt auf Matt. „Hi“, sagte er lächelnd und erneut ging das Geschrei los. „Oh mein Gott! Ich fasse es nicht! Sie sind es wirklich!“ Nana stand plötzlich neben Kari und sah aus, als würde sie gleich anfangen zu heulen. „Ich sehe sie tatsächlich live!“ „Ich kann es auch gerade nicht fassen“, gestand Kari. „Was finden denn nur alle an denen?“, fragte Shinji, der die Band mit gehobenen Augenbrauen beobachtete. „Sie sind heiß“, antwortete Nana. Der Lärm legte sich wieder ein wenig, sodass Matt weiter reden konnte. Kari musterte ihn. Er hatte sich nicht sehr verändert in den letzten Jahren. Sein blondes Haar war noch immer fast schulterlang und fiel ihm ins Gesicht. Er trug ein dunkles T-Shirt und Jeans, wie der Rest der Band. Eventuell waren seine Schultern ein klein wenig breiter geworden, dennoch hatte er insgesamt eine sehr schlanke Statur wie eh und je. „Wir freuen uns, heute Abend hier sein zu dürfen. Es ist mir eine Ehre, an meiner alten Schule noch mal einen Frühlingsball miterleben zu dürfen und...“ Er konnte nicht weiter sprechen, denn erneut brach die Menge in Gekreische aus. Ein paar Mädchen aus den zehnten Klassen hatten sogar angefangen zu weinen und lagen sich gegenseitig in den Armen. „Ich glaube, wir fangen einfach an“, beschloss Matt grinsend und gab seinem Schlagzeuger ein Zeichen, der den Takt vorgab und somit den ersten Song eröffnete. Auf der Tanzfläche ging ein wildes Getümmel los. Alle wollten zu der Rockmusik tanzen, doch keiner hatte Platz, um sich auch nur umzudrehen. „Das ist so cool! Endlich ist auf dieser Schule mal was los!“, schrie Nana gegen den Lärm der Musik und des Gekreisches. Sie und Kari grölten die Lieder mit, während Shinji sich verkrümelt hatte. Offenbar hatte es ihn doch zu sehr genervt, dass die Tanzfläche plötzlich so voll war. Eine Stunde lang spielten die Teenage Wolves. Eine Stunde war es auf der Tanzfläche so voll, dass man sich nicht bewegen konnte. Eine Stunde schrien die Fans sich die Seele aus dem Leib. Dann war der Auftritt vorbei. Die Teenage Wolves gaben noch eine Zugabe und bedankten sich dann für die Aufmerksamkeit, doch sie verkündeten zum Vergnügen der Mädchen, dass sie auf dem Ball bleiben würden. „Glaubst du, ich kann mal mit ihnen reden?“, fragte Nana und sah Kari aufgeregt an. „Bestimmt werden sie jetzt belagert, aber versuchen kannst du es ja“, antwortete Kari lachend. Sie gingen zurück und Kari setzte sich auf ihren Platz. Sie trank ihre Wodkacola aus und da stand schon eine neue für sie bereit. Und ein neuer Tequila. „Ich glaube, du willst mich wirklich abfüllen“, sagte Kari lachend und griff nach dem Tequila. „Prost“, meinte Shinji nur grinsend und sie stießen an, bevor sie tranken. Allmählich wurde Kari ziemlich schwindelig und seltsam im Kopf. Als sie aufstand, um noch einmal hinüber zu Davis und Ken zu gehen, musste sie sich an ihrer Stuhllehne festhalten, um nicht umzufallen. Die meisten Gäste hatten sich um die Bandmitglieder versammelt, fragten nach Fotos, Autogrammen oder wollten mit ihnen ins Gespräch kommen. Ken und Davis gehörten nicht dazu. Sie saßen nebeneinander an ihrem Tisch und redeten, als Kari zu ihnen stieß. „Hey“, sagte Kari laut und ließ sich auf einen Stuhl neben Ken fallen, wobei sie sich den Ellbogen an der Tischkante stieß. Die beiden sahen sie verblüfft an. „Du solltest aufhören, zu trinken“, sagte Davis. „Ach was. Ich hab' mich unter Kontrolle“, antwortete Kari abwinkend, merkte aber, wie schwer ihre Zunge geworden war. „Was sagt ihr dazu, dass Matt hier ist?“ „Ziemlich cool. Vielleicht erwischen wir ihn ja heute auch noch mal, dann können wir quatschen“, antwortete Ken. „Ich wusste gar nicht, dass er überhaupt in Japan ist“, warf Davis ein. „Ich auch nicht“, sagte Kari kichernd. „Ich glaube, ich gehe gleich mal zu ihm.“ Sie stand wieder auf und schwankte auf Matt zu, der umgeben von einer Mädchenschar an einem der Tische saß und Autogramme verteilte, Hände schüttelte und Fotos machte. „Matt! Hey, Matt!“, rief Kari seinen Namen und winkte wild. Die Mädchen beachteten sie nicht, doch Matt blickte auf und musterte sie kurz stirnrunzelnd, bevor sein Blick sich erhellte. „Kari?“ Er schrieb ein Autogramm fertig und stand dann auf. Kari drängte sich zwischen den Mädchen durch und fiel ihm um den Hals. Er drückte sie fest an sich und alle um sie herum fingen an zu tuscheln. „Du wirst ja immer hübscher“, sagte er, nachdem er sie wieder losgelassen hatte und sah sie an. „Ich hatte gehofft, dich hier zu treffen.“ „Ich nicht“, erwiderte Kari und lachte. „Aber ich freue mich.“ „Ist mein Brüderchen auch hier?“, fragte er und sah sich um. „Ja. Ich weiß zwar nicht, wo genau, aber irgendwo hier ist er. Und Davis und Ken sind auch da. Die wollen auch noch mit dir quatschen“, lallte Kari und grinste ihn an. „Du bist ja total betrunken“, murmelte Matt kopfschüttelnd. „Shinji bestellt mir Alkohol“, antwortete Kari und nickte. „Aber ich bin gar nicht betrunken. Nur ein bisschen angeheitert.“ Matt hob die Augenbrauen. „Ah ja. Kannst du mir vielleicht sagen, wo T.K. sein könnte?“ „Klar, komm mit. Wir suchen ihn“, erwiderte Kari und griff nach seiner Hand. Sie zog ihn mit sich mit zu Davis und Ken, die aufstanden und Matt mit einem Handschlag begrüßten. „Hey Matt! Ewig nicht mehr gesehen“, sagte Davis und wirkte nun wieder ein wenig besser gelaunt.“ „Toller Auftritt“, sagte Ken. „Danke“, erwiderte Matt lächelnd. „Habt ihr eine Ahnung, wo T.K. ist? Und warum Kari so voll ist?“ „Ich hab' doch schon gesagt, dass ich nicht betrunken bin“, protestierte Kari. „T.K. ist vorhin raus gegangen, glaub ich“, antwortete Davis. „Dann gehe ich ihn mal suchen“, verkündete Matt. „Warte, ich komm' mit!“, rief Kari aufgeregt. „Ich hole nur noch schnell mein Getränk.“ Sie ging mehr oder weniger geradewegs auf ihren Tisch zu, schnappte ihr Glas und ging zurück zu Matt. Shinji folgte ihr. „Kari, wo willst du hin?“, fragte er. „T.K. suchen“, antwortete sie, stolperte und verschüttete dabei etwas von ihrer Wodkacola. „Soll ich das für dich tragen?“, fragte Shinji und nahm ihr das Glas aus der Hand, ohne ihre Antwort abzuwarten. „Ist vielleicht besser. Bin ein bisschen tollpatschig manchmal, weißt du?“, murmelte Kari. Matt musterte erst sie und dann Shinji mit schiefem Blick, bevor sie sich auf den Weg nach draußen machten. Als Kari das zweite Mal stolperte, schlang Shinji einen Arm um ihre Taille und stützte sie. „Ich kann alleine laufen“, murrte Kari, doch er ließ sie nicht los. Draußen standen einige der Schüler zusammen und plauderten und lachten, verfielen aber sofort in ein Tuscheln, als sie Matt erkannten und beobachteten ihn neugierig. Der Mond schien silbrig hell und tauchte sie gemeinsam mit dem Licht aus der Turnhalle in einen warmen Schein. Die Luft war frisch und angenehm, denn spätestens seit dem Konzert der Teenage Wolves war es in der Halle ziemlich heiß geworden. Kari atmete tief ein, nahm Shinji das Glas aus der Hand und trank einen Schluck. „Du solltest lieber nichts mehr trinken“, kommentierte Matt. „Danke, aber ich bin alt genug, um das selbst zu entscheiden“, nuschelte Kari und ärgerte sich darüber, dass Matt versuchte, sie zu bevormunden. Offenbar hielt sie jeder noch für das kleine Mädchen von damals, das beschützt werden musste. Sie sahen sich um und schließlich war es Shinji, der T.K. entdeckte. Er stand dort ein wenig abseits mit finsterem Blick gegen die Wand gelehnt. Aya stand neben ihm. „Wir haben ihn gefunden!“, rief Kari fröhlich und marschierte auf ihn zu. T.K. und Aya blickten auf, als sie bemerkten, dass die drei geradewegs zu ihnen kamen. „T.K.“, sagte Matt lächelnd, als sie stehen blieben. „Matt“, erwiderte T.K., sah aber nicht halb so glücklich aus wie Matt. „Kennt ihr euch?“, fragte Shinji verblüfft. „Flüchtig“, antwortete Matt mit sarkastischem Grinsen. „Er ist mein Bruder“, murmelte T.K. abweisend. Kari kicherte, woraufhin sein Blick sie streifte. „Wir müssen reden“, sagte Matt an T.K. gewandt. „Ich denke nicht, dass wir das müssen“, erwiderte dieser kühl. „Du kannst mit mir reden, Matt“, warf Kari ein und trank ihr Glas aus. „Wie viel hast du getrunken, Yagami?“, fragte Aya und hob eine Augenbraue. Kari winkte lässig ab. „Nicht viel. Nur ein bisschen.“ „Hör mal, ich habe dafür gesorgt, dass wir heute hier spielen, damit ich mit dir reden kann. Ich wusste, dass du damit nicht rechnest und mir nicht wieder aus dem Weg gehen kannst. Also lass uns reden.“ Mit einem flehenden Ausdruck in den Augen sah Matt T.K. an, der sich jedoch abwandte. „Es gibt nichts zu reden, klar?“ Shinji sah Kari fragend an und auch Aya sah verwirrt aus. Kari hatte ebenfalls keine Ahnung, wovon die beiden da redeten. „Es gibt eine Menge zu reden und du solltest endlich mal deinen Sturkopf überwinden und diese Sache aus der Welt schaffen“, erwiderte Matt. „Lass mich einfach in Ruhe, okay?“, fuhr T.K. ihn an. Aya legte beruhigend eine Hand auf seinen Arm und Kari warf ihr einen bösen Blick zu. Matt erwiderte noch etwas, doch Kari verstand es nicht, weil Shinji sich an sie wandte. „Lass uns wieder reingehen und noch was trinken.“ „Tja, ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist“, murmelte Kari. Sie sah alles nur noch ziemlich verschwommen und in ihrem Kopf herrschte dichter Nebel. „Ach, nach einem Drink geht’s dir besser“, meinte Shinji aufmunternd und nahm ihre Hand. „Hey du, warte mal“, hielt Matt ihn auf. Er hatte eine Hand auf Shinjis Schulter gelegt, woraufhin dieser sich umdrehte und ihn ansah. „Du bestellst ihr keinen Alkohol mehr, kapiert?“ „Sagt wer?“ Shinji erwiderte seinen Blick herausfordernd. „Ich, hörst du nicht zu?“ „Ach, und wer bist du, dass du mir vorschreibst, wie viel ich trinken darf?“, fuhr Kari ihn nun an und verschränkte die Arme vor der Brust. „Shinji, hör auf mit dem Scheiß“, mischte T.K. sich nun ein. „Warum denn? Wenn sie will, ist das ihre Entscheidung“, erwiderte Shinji locker. „Sie kriegt einen Riesenärger, wenn einer von den Lehrern das mitkriegt“, widersprach T.K. wütend. „Das weiß sie doch. Also, wo ist das Problem? Komm, wir gehen, Kari.“ Shinji legte einen Arm um Karis Taille und wollte sie wegführen, doch Kari blieb stehen. „Warte mal. Erst muss ich hier noch was klarstellen“, verkündete sie und nun waren alle Blicke auf sie gerichtet. „Ich habe es satt, dass immer alle meinen, mich bevormunden zu müssen. Du und du und Tai, ihr wart schon immer so. Aber wisst ihr was? Falls es euch entgangen ist, ich bin siebzehn und nicht acht. Ich bin kein unschuldiges zartes Lämmchen, auf das man aufpassen muss, sondern kann auf mich selbst aufpassen, klar? Merkt euch das endlich mal und sucht euch wen anders, den...“ Sie schaffte es gerade noch, sich umzudrehen, bevor sie sich auf den Rasen übergab. „Oh, ähm...“ Shinji streichelte ihr den Rücken, während sie würgte und hustete. „Okay, das reicht. Ich bring' sie nach Hause“, beschloss Matt. „Nein, nein, ich mach' das schon“, sagte Shinji eilig. „Du?“, rief T.K. „Vergiss es.“ „Nein, Mann. Ich bring' sie wirklich nach Hause, klar? Das bin ich ihr doch schuldig“, widersprach Shinji. „Ich fahre sie“, beharrte Matt. Kari wischte sich mit dem Handrücken Mund und Nase ab und drehte sich um. Sie blinzelte ein paar mal in der Hoffnung, ihr Blick würde sich dadurch schärfen. „Wollt ihr schon wieder über mich bestimmen? Ich gehe mit Shinji und fertig. Los.“ Matt seufzte genervt. „Wehe, du machst irgendein krummes Ding.“ T.K. starrte Shinji nur an, als würde er ihn am liebsten auf der Stelle töten wollen und ging Kari damit auf die Nerven. Aya kicherte nur hinter vorgehaltener Hand über Kari. „Kümmert euch um euren eigenen Kram!“, fauchte sie die Brüder an und drehte sich um. Shinji musste sie stützen, sonst wäre sie umgefallen. Langsam und wackelig machten sie sich auf den Weg und ließen die anderen drei zurück. „Die gehen mir so auf die Nerven. Immer bevormunden sie mich.“ „Ich wusste gar nicht, dass du T.K. schon länger kennst. Und dass du den Sänger von den Teenage Wolves kennst. Und dass du einen Bruder hast“, meinte Shinji, während sie gemeinsam auf dem Bürgersteig den Weg nach Hause gingen. „Kennen? Matt war sowas wie mein zweiter großer Bruder. Und T.K. war mein bester Freund. War...“, nuschelte Kari. „Aha. Und was ist dann passiert? Ihr wirkt nicht gerade wie Freunde“, sagte Shinji neugierig und Kari wusste innerlich, dass ihn das nichts anging. Doch sie hatte zu viel getrunken. „Dann wurde er ein Idiot und zog einfach nach Paris ohne mir Bescheid zu sagen“, lallte sie und wurde wütend, als sie wieder daran dachte. „Das klingt, als wäre er wirklich ein Idiot“, kommentierte Shinji. „Und was für einer“, erwiderte Kari. „Ich wollte ihn eigentlich nie wiedersehen. Und dann kommt er plötzlich wieder zurück und tut so, als wäre nichts passiert. Dieser Blödmann!“ „Ja, also echt. Wer sowas einem Mädchen wie dir antut, muss nicht mehr ganz sauber sein.“ „Der Meinung bin ich auch, weil... einem Mädchen wie mir?“ Verwirrt sah sie ihn an, wobei sie stehen blieb und fast wieder das Gleichgewicht verlor. „Ja, du bist was ganz Besonderes“, sagte Shinji leise und strich ihr mit der freien Hand eine Haarsträhne hinters Ohr. „Heißt das, du findest mich nicht unschuldig?“, fragte sie. „Doch, aber gerade das macht dich doch so besonders.“ Sie gingen weiter und Kari seufzte laut. Wie um Himmelswillen sollte sie nur beweisen, dass sie kein unschuldiges, niedliches Mädchen war, sondern dass mehr in ihr steckte? Shinji schloss die Haustür auf und sie gingen gemeinsam nach oben. Erst, als er die Wohnungstür hinter sich geschlossen hatte, fiel Kari auf, dass das gar nicht ihre Wohnung war. „Hey, hier wohne ich doch gar nicht“, sagte sie laut und verschränkte die Arme vor der Brust. „Psst.“ Shinji legte einen Zeigefinger auf die Lippen. „Nicht so laut. Bis zu mir war es kürzer. Du kannst einfach hier schlafen und morgen bringe ich dich nach Hause, okay?“ „Ähm...“ Kurz dachte Kari an ihre Eltern, die sich wahrscheinlich Sorgen machen würden, wenn sie nicht nach Hause kam. Doch dann zuckte sie mit den Schultern. Sie würde einfach ganz früh aufstehen und zu Hause sein, bevor die beiden wach waren. „Okay.“ Sie schlüpfte aus ihren Schuhen und folgte Shinji durch die Wohnung in sein Zimmer. „Oh, dein Bett ist aber groß“, stellte Kari begeistert fest und ging hinüber zum Bett. Sie warf sich darauf und verspürte sofort eine tiefe Müdigkeit. „Darf ich gleich hier liegen bleiben? Ich glaube, ich kann jetzt eh nicht mehr aufstehen.“ Shinji lächelte, kam zu ihr und setzte sich auf die Bettkante. „Klar kannst du gleich liegen bleiben.“ Und dann beugte er sich hinunter und küsste ihren Hals. Ein wenig erschrocken zuckte Kari zusammen, weil sie damit nicht gerechnet hatte. Was sollte das hier werden? Wollte er sie etwa flachlegen? Und wenn schon. Nur unschuldige Mädchen würden sich jetzt wehren. Kapitel 15: Hangover -------------------- Langsam schlug Kari die Augen auf und fühlte sich im ersten Moment ganz gut, mal davon abgesehen, dass sie nicht wusste, wo sie war. Doch während sie versuchte, das Zimmer einer Person zuzuordnen, bemerkte sie, wie sich ein dumpfer Schmerz in ihrem Kopf ausbreitete und ein bedrückendes Gefühl ihren Magen beschlich. Stöhnend setzte sie sich auf und alles drehte sich, sodass sie sich wieder hinlegte. Da fiel ihr auf, dass sie nicht allein im Bett lag. Sie presste sich eine Hand auf den Mund, um einen Schrei zu unterdrücken. „Oh mein Gott“, hauchte sie und setzte sich trotz des Schwindels wieder auf. Neben ihr lag Shinji. Aber wieso? Warum lag sie hier neben ihm in seinem Bett? Sie schob die Decke von sich und erkannte, dass sie nackt war. Schnell bedeckte sie sich wieder und hob mit spitzen Fingern die Decke über Shinji an. Auch nackt. Einige Sekunden blieb sie regungslos sitzen und versuchte, zu verarbeiten, was sie gerade entdeckt hatte. Sie kam sich selbst vor, als wäre sie versteinert. Dann fasste sie einen Entschluss. Sie musste so schnell wie möglich raus hier. Sie sprang aus dem Bett und musste sich für einige Sekunden auf den Boden hocken, bis das Schwindelgefühl so weit abflaute, dass sie gehen konnte. Dann streifte sie sich ihre Klamotten vom vorigen Abend über, die auf dem Boden verstreut lagen, schnappte ihre Handtasche und schlich aus dem Zimmer. Sie hatte keine Ahnung, wie spät es war, doch offenbar war es noch sehr früh, denn sie begegnete glücklicherweise niemandem in der Wohnung. Sie schlüpfte in ihre Schuhe und wollte losrennen, doch brach fast zusammen vor Schmerz. Sie hatte auf jeder Ferse je eine große Blase und beide waren schon aufgeplatzt. Kari biss die Zähne zusammen und ging aus der Wohnung, doch auf der Treppe gab sie auf und zog die Schuhe aus. Musste sie halt barfuß gehen. Dämliche Pumps. Unten angekommen musste sie sich in einen Mülleimer übergeben. Ihr war unheimlich schlecht. Schwer atmend wartete sie einige Minuten vor dem Mülleimer, bevor sie schließlich weiterging. Auf dem Weg nach Hause überlegte sie fieberhaft, was genau eigentlich passiert war und musste feststellen, dass sie sich nicht an den Zeitpunkt erinnern konnte, als sie mit Shinji nach Hause gegangen war. Das Letzte, woran sie sich erinnern konnte, war, wie sie mit Nana vor der Bühne gestanden und zu den Liedern der Teenage Wolves getanzt hatte. Sie fasste sich an den Kopf. Hatte sie jetzt wirklich mit Shinji geschlafen? Sie war doch noch Jungfrau gewesen. Das konnte doch nicht sein. Vielleicht gab es einen anderen vernünftigen Grund dafür, dass sie beide nackt im gleichen Bett gelegen hatten, doch noch während Kari das dachte, wurde ihr klar, dass es dafür keinen vernünftigen Grund geben konnte. Höchstwahrscheinlich hatten sie sich nicht einfach nur nackt ins Bett gelegt und waren eingeschlafen. Die Leute, die an ihr vorbeikamen, musterten sie mit hochgezogenen Augenbrauen und Kari wollte gar nicht wissen, wie sie aussah. Sie hatte sich noch nicht im Spiegel angesehen, doch sicher war schon allein die Tatsache, dass sie barfuß mit ihren Schuhen in der Hand durch die Straßen lief einen Blick wert. Sie war noch nie so froh gewesen, endlich zu Hause zu sein. Hoffentlich schliefen ihre Eltern auch noch. So leise sie konnte schloss sie die Wohnungstür auf und trat ein. „Kari!“ Sofort standen ihre Eltern im Flur. Kari stöhnte leise und ließ die Tür ins Schloss fallen. „Wo warst du denn?“, rief ihre Mutter mit einer Mischung aus Ärger, Sorge und Erleichterung. „Wir haben uns solche Sorgen gemacht. Wir dachten schon, dir ist was Schlimmes passiert.“ „Wie siehst du denn überhaupt aus?“, fragte Susumu und hob eine Augenbraue. Langsam drehte Kari sich zu dem Flurspiegel um und erschrak vor sich selbst. Ihre Locken von gestern Abend waren platt gelegen und standen in alle Richtungen ab. Die Wimperntusche war verschmiert und befand sich nun um ihre Augen herum verteilt. Ihr Gesicht war rot gefleckt. Das rosafarbene Kleid hing schief, war mit undefinierbaren Flecken übersät und gab zu viel ihrer Brust frei. Sie sah aus wie eine cracksüchtige Prostituierte. Sie wandte sich wieder an ihre Eltern, die sie wütend, entsetzt und besorgt ansahen. „Ich... ich hab' bei Nana geschlafen“, log sie. „Hast du das, ja?“, hakte ihre Mutter nach. Allmählich schien das Entsetzen zu weichen und ihrer Wut mehr Platz zu bieten. „Und bei Nana gibt es kein Telefon? Und der Akku deines Handys war natürlich leer? Und der von Nanas auch?“ „Wir haben versucht, dich anzurufen“, fügte ihr Vater mit strengem Blick hinzu. „Außerdem habe ich dir gesagt, du sollst mich anrufen, wenn du nicht weißt, wie du nach Hause kommst.“ Kari spürte ein bedrückendes Gefühl in ihrem Hals. Schnell rannte sie an ihren Eltern vorbei ins Badezimmer und übergab sich erneut. Als sie wieder aufstand, beobachteten ihre Eltern sie vom Türrahmen aus. „Was um alles in der Welt hast du gestern gemacht?“, polterte Susumu. „Und wo warst du heute Nacht?“, fragte Yuuko wütend. „Ich... ich hab' wohl ein bisschen zu viel getrunken“, murmelte Kari mit belegter Stimme. „Das ist nicht zu übersehen“, zischte Susumu. „Ich habe bei einem Jungen aus meiner Klasse geschlafen“, gab Kari schließlich zu. Ihre Eltern holten schon Luft, um sie zusammenzustauchen, doch sie redete schnell weiter. „Er wohnt gleich neben der Schule und mir ging es nicht so gut und dann hat er mich bei sich schlafen lassen.“ „Aber warum hast du nicht Bescheid gesagt?“, fragte Yuuko schnell, bevor Susumu etwas zu der Übernachtung bei einem Jungen sagen konnte. „Ich hab's vergessen“, nuschelte Kari mit gesenktem Blick. „Und warum bist du nicht an dein Handy gegangen?“, bohrte Yuuko weiter. „Ich hab's nicht gehört. Hab' bestimmt schon geschlafen.“ Susumu seufzte, schüttelte den Kopf und ging. Ihre Mutter dagegen starrte sie durchdringend an, sodass Kari sich geröntgt fühlte. Es kam ihr so vor, als würde sie schrumpfen. „Ich hätte nicht gedacht, dass ich mir mal um dich Sorgen machen muss“, sagte sie nun ein wenig ruhiger. „Tut mir Leid“, murmelte Kari. „Ehrlich.“ Yuuko nickte mit mürrischem Blick, drehte sich um und schloss die Tür, sodass Kari nun allein war. Langsam zog sie sich aus und stieg in die Dusche. Die heiße Dusche hatte gut getan, doch Kari fühlte sich noch immer dreckig. Bei dem Gedanken, morgen in die Schule gehen zu müssen, wurde ihr ganz anders. Hatte sie sich auf der Party sehr daneben benommen? Sie warf sich auf ihr Bett und griff nach ihrem Handy. Dreiundzwanzig Anrufe in Abwesenheit. Fünf SMS. Sie ging zuerst die Anrufe durch, die hauptsächlich von ihren Eltern kamen, doch auch Tai, Nana, Davis, Ken und eine unbekannte Nummer waren dabei. Die SMS hatten im Grunde auch alle den gleichen Inhalt. Wo bist du? Wir machen uns Sorgen um dich. Melde dich. - Von ihrer Mutter. Du bist jetzt nicht ernsthaft mit zu Shinji gegangen, oder? - Von Nana. Mama und Papa haben angerufen. Ist alles okay bei dir? - Von Tai. Wenn du Hilfe brauchst, dann rufst du mich an, ja? Ich kann Shinji für dich verprügeln. - Von Davis. Ruf mich an, wenn du das liest. - Nochmal von Nana. Und diese war von heute Morgen. Kari hielt es für eine gute Idee, mit Nana zu reden und sie zu fragen, was genau gestern Abend passiert war. Vielleicht konnte sie ihr erklären, ob sie sich blöd verhalten hatte. Sie suchte Nana aus ihrer Kontaktliste heraus und drückte auf die grüne Taste. Es klingelte ein paar Mal, doch dann nahm Nana ab. „Kari?“, fragte sie aufgeregt. „Ja, ich bin's.“ „Mein Gott.“ Nana seufzte. „Ich habe mir echt schon Sorgen um dich gemacht. Warst du wirklich bei Shinji?“ „Ja, war ich“, murmelte Kari müde. „Wie bist du auf die Idee gekommen? Warum bist du nicht nach Hause gegangen, sondern zu ihm?“, fragte Nana und klang vorwurfsvoll. „Ich... ich weiß es nicht, ehrlich. Das Letzte, woran ich mich erinnern kann, ist wie du und ich auf der Tanzfläche standen und zu den Liedern der Teenage Wolves getanzt haben.“ „Was? Oh Gott. Wie viel hast du denn getrunken?“ „Anscheinend zu viel. Was haben wir danach gemacht?“ „Ähm... lass mich überlegen. Wir sind kurz auf unsere Plätze gegangen und dann wolltest du zu Matt. Und dann habe ich dich nicht mehr gesehen. Irgendwann kam nur Takeru wieder rein. Sah ganz schön wütend aus. Er meinte dann zu Davis und Ken, dass du mit Shinji weggegangen bist. Das fand ich seltsam“, berichtete Nana. Kari versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Anscheinend war sie also mit Matt und T.K. rausgegangen. Was hatte sie da nur geritten? Und vor allem, was hatte sie mit ihnen draußen gemacht, bevor sie mit Shinji weggegangen war? Sie konnte sich einfach nicht erinnern. „Bist du noch dran?“, fragte Nana. „Ja. Du weißt also nicht, was ich draußen gemacht habe?“ „Keine Ahnung. Wie gesagt, Takeru kam irgendwann wütend wieder rein. Vielleicht habt ihr euch gestritten?“ „Puh, ich hoffe nicht.“ „Warum fragst du nicht einfach Shinji? Der erzählt dir bestimmt auch, was du draußen gemacht hast. Anscheinend war er ja dann irgendwann dabei.“ „Das geht nicht. Ich... du darfst das jetzt niemandem sagen, okay?“ „Okay?“ Nana klang verwirrt. „Ich glaube, ich habe mit ihm geschlafen.“ „Was?!“ Entsetzen war aus Nanas Stimme herauszuhören. „Nicht dein Ernst!“ „Doch, ich bin heute Morgen neben ihm aufgewacht und wir waren beide nackt“, erklärte Kari langsam. Nana brauchte eine Weile, bevor sie antwortete. „Okay. Das ist... wow.“ „Ich habe keine Lust, ihn zu fragen, wenn ich ehrlich bin“, sagte Kari trocken und rieb sich die Stirn. Sie konnte immer noch nicht glauben, was sie da getan hatte. „Tja, dann... ähm... musst du eben mal Takeru oder den heißen Matt fragen“, sagte Nana. „Wenn die mit dir draußen waren, können sie dir vielleicht erzählen, warum du mit Shinji mitgegangen bist.“ Kari kam plötzlich ein Gedanke. „Oh, ich hoffe, Matt hat es nicht Tai erzählt!“ „Dazu hatte er doch noch gar keine Zeit, oder?“, erwiderte Nana irritiert. „Bestimmt weiß es niemand außer dir und Shinji und Matt und Takeru.“ „Als ob das nicht eh schon zu viele wären. Wann bist du denn nach Hause gegangen?“ „Ich war um drei zu Hause, glaube ich. Oder halb vier. Und weißt du was? Ken hat mich nach Hause gebracht.“ Ihre Stimme war ganz weich geworden. Kari lächelte trotz der miesen Gesamtsituation. „Ist ja toll. Lief denn was?“ „Nein, nein!“, antwortete Nana eilig. „Wir haben uns nur umarmt zum Abschied. Und er hat gesagt, dass er es schön fand, dass ich mit ihm zum Ball gegangen bin.“ Kari konnte sich Nanas verträumtes Gesicht in diesem Moment sehr gut vorstellen und freute sich für sie. „Ist doch super.“ Sie nahm sich vor, auch Ken mal zu fragen, wie er den Abend mit Nana fand. „Ja“, seufzte Nana glücklich. „Ach und vielleicht solltest du mal bei Facebook gucken. Vielleicht gibt es irgendwelche witzigen Fotos, die dir was von gestern Abend erzählen.“ „Oh Gott nein“, antwortete Kari entsetzt. An Facebook hatte sie noch gar nicht gedacht, doch es war gut möglich, dass dort schon irgendwelche Fotos und Kommentare gelandet waren. Andererseits konnte sie dort T.K. oder Matt erreichen. Nana kicherte. „Na gut, ich muss jetzt mal Schluss machen. Wir sehen uns morgen in der Schule. Und wehe du schwänzt.“ „Ich schwänze nicht“, grummelte Kari. „Bis morgen.“ Sie legte auf und blieb einige Minuten reglos auf ihrem Bett liegen. Gedankenverloren starrte sie an die Decke und versuchte erneut, sich an etwas zu erinnern. Schließlich setzte sie sich trotz besseren Wissens an den Computer und loggte sich in ihren Facebook-Account. Die Neugier war einfach stärker als die Vernunft. Gleich der erste Beitrag auf ihrer Startseite war von einem Mädchen aus ihrer Klasse, das ein paar Fotos vom Frühlingsball hochgeladen hatte. Kari klickte sich durch die Bilder, konnte sich glücklicherweise aber nur ab und zu im Hintergrund entdecken. Meist sah sie zwar nicht vorteilhaft, aber auch nicht besoffen aus. Ein paar weitere Leute hatten einzelne Fotos hochgeladen, doch auch dort fand Kari sich wenn überhaupt nur im Hintergrund. Einige hatten gepostet, wie super sie den Ball fanden und dass die Teenage Wolves in Wirklichkeit ja ach so süß waren, doch das interessierte Kari alles nicht. Ein Beitrag ließ sie dann aber doch stutzen. Er war von Shinji. Done. ;) Done? Was hatte das denn zu bedeuten? Und dann noch dieser blöde Smiley dahinter. Vielleicht meinte er damit ja nur, dass der Frühlingsball überstanden war, doch in ihrer Brust breitete sich ein seltsam bedrückendes Gefühl aus. Das hatte doch hoffentlich nichts mit ihr zu tun? Ein Chatfenster war aufgeploppt. Ken hatte sie angeschrieben. Mensch, Kari, ich wusste ja gar nicht, dass du es mit Shinji so ernst meinst ;) Wieso? T.K. hat gestern erzählt, dass er dich nach Hause bringt, aber er ist komischerweise nicht wiedergekommen :D Er wollte mich nach Hause bringen?! Hä? Ja, dachte ich zumindest Er hat mich nicht nach Hause gebracht, sondern zu sich Okay? Und dann bist du doch allein nach Hause gegangen? Ich hab bei ihm geschlafen... Es dauerte eine Weile, bis Ken antwortete. Tja, dann lies dir noch mal meinen ersten Satz durch ;) Das ist nicht witzig :( Ich kann mich an nichts erinnern Wie? An gar nichts? Naja zumindest nicht daran, dass ich mit Shinji nach Hause gegangen bin... Achso. Also T.K. kam nur irgendwann rein und hat erzählt, dass Shinji dich nach Hause bringt. Er sah irgendwie nicht so zufrieden aus... Das hat Nana mir auch schon erzählt Na das ist ja seltsam. Vielleicht musst du T.K. mal fragen Nein!!! Ich frage ihn bestimmt nicht nach den Erlebnissen, an die ich mich nicht erinnern kann, als ich betrunken war :D Aber dann hättet ihr mal was zu reden. Und on ist er auch gerade Kari warf einen Blick auf die Liste, die ihr zeigte, welcher ihrer Kontakte gerade online war. Und tatsächlich war T.K. auch unter ihnen, doch sie dachte nicht daran, ihn anzuschreiben. Wer wusste schon, was sie draußen mit ihm geredet hatte. Ich mache jetzt lieber den Computer wieder aus. Mach's gut. Wir sehen uns morgen in der Schule Ohne noch eine Antwort abzuwarten schaltete sie den Computer wieder aus. Sie konnte es jetzt schon kaum erwarten, dass der morgige Schultag endlich vorbei war. Kapitel 16: Ein dummes Schaf ---------------------------- Als Kari am nächsten Morgen übermüdet in den Klassenraum kam, sahen alle sie an. Manche tuschelten plötzlich aufgeregt miteinander, einige wandten sich aber auch einfach nur wieder ihren Gesprächspartnern zu. Stirnrunzelnd ging Kari zu ihrem Platz zwischen T.K. und dem Fenster, lächelte Nana flüchtig zu und setzte sich. „Hey“, murmelte sie an T.K. gewandt und erntete einen etwas überraschten Blick von ihm. Erst da wurde ihr klar, dass es das erste Mal war, dass sie ihn begrüßte, wenn sie sich neben ihn setzte. „Hi“, erwiderte er ihren Gruß. Etwas verlegen wandte Kari sich ab und blätterte in ihrem Hefter. Sie tat so, als würde sie sich etwas durchlesen, konnte sich jedoch nicht konzentrieren, weil sie das Gefühl hatte, er würde sie anstarren. „Na, bist du wieder nüchtern?“ Davis hatte sich umgedreht und grinste sie an. Sie warf ihm einen finsteren Blick zu. „Und du bist anscheinend wieder gut gelaunt.“ Plötzlich fiel ihr wieder ein, dass sie ja erraten hatte, dass Davis in Nana verknallt war. Sie machte große Augen, drehte sich kurz zu Nana um, die ihren Blick verwirrt erwiderte, und sah wieder Davis an. Er zuckte nur mit den Schultern. Auch Ken hatte sich nun umgedreht. „Und? Hast du inzwischen rausgekriegt, was in deiner Erinnerungslücke passiert ist?“, fragte er zwinkernd. „Erinnerungslücke?“, fragte Davis und aus den Augenwinkeln sah Kari, dass auch T.K. hellhörig wurde. Beschämt vergrub sie das Gesicht in den Händen. „Ja, ich weiß nicht mehr, was passiert ist, nachdem Matt aufgetreten ist. Und jetzt hört auf, darüber zu reden“, nuschelte sie. „Echt nicht?“, hakte Davis nach und musterte sie skeptisch. „Soll ich's dir nachher erzählen?“, mischte T.K. sich ein. „Nein! Können wir jetzt bitte das Thema wechseln?“ „Mir kannst du's erzählen, T.K.“, antwortete Davis und machte ein neugieriges Gesicht. „Davis!“, zischte Kari. „Wenn sie nicht will, erzähl' ich es auch nicht“, meinte T.K. nüchtern. „Es wissen eh schon alle“, mischte sich Nana von hinten ein. Nun drehten sich alle zu ihr um und sahen sie erstaunt an. „Aya hat es erzählt.“ Kari stöhnte und ließ den Kopf auf die Tischplatte sinken. „Also ich weiß es noch nicht“, sagte Davis und klang fast ein wenig gekränkt. „Was war denn los?“ Nana zuckte geheimnisvoll mit den Schultern und T.K. sah Aya mit einem seltsamen Blick an. Erst in der Mittagspause fand Kari Zeit, sich mit Nana zu unterhalten. Sie stieß zu ihr, Davis und Ken und alle drei musterten sie neugierig. „Erzähl' schon. Was ist passiert?“, drängte Davis sie. „Also Aya hat erzählt, dass Matt und T.K. sich wohl draußen gestritten haben. Matt wollte mit T.K. reden, aber T.K. wollte nicht“, erzählte Nana. „Sie haben sich gestritten?“, fragte Kari verwundert. Dann fiel ihr ein, dass sie ja schon einmal gehört hatte, dass die Brüder aus irgendeinem Grund zerstritten waren. „Weshalb haben sie gestritten?“, fragte Davis. „Keine Ahnung. Das wusste Aya nicht“, antwortete Nana. „Und irgendwann hat Kari beide angeschrien und sich übergeben.“ „WAS?“, rief Kari entsetzt, sodass einige der umstehenden Schüler sich zu ihr umdrehten. „Oh Gott.“ Davis klopfte Kari auf die Schulter und grinste. „Schade, dass ich nicht dabei war. Das hätte ich gern miterlebt.“ „Davis“, murmelte Ken und schüttelte den Kopf. „Und dann hat Shinji gesagt, er bringt dich jetzt nach Hause. Matt und Takeru waren dagegen, aber dann hast du sie wohl noch mal angeschrien und bist mit ihm mitgegangen“, schloss Nana ihre Erzählung. „Ganz schön viel Geschrei für Kari“, stellte Ken fest und hob eine Augenbraue. „Ja, das passt irgendwie nicht“, stimmte Davis zu und verschränkte die Arme vor der Brust. „Und Aya hat natürlich auch gesagt, dass du ganz schön peinlich warst, aber darauf brauchst du nichts geben. Das weißt du ja“, erzählte Nana. Kari hatte die Stirn gerunzelt und überlegte. Matt und T.K. hatten sich also gestritten, worüber, wusste keiner. Und Kari hatte die beiden angeblich angeschrien und sich übergeben, woraufhin Shinji sie nach Hause gebracht hatte. Oder so getan hatte als ob. Auch jetzt, da sie in etwa wusste, was passiert war, konnte sie sich nicht erinnern, nicht einmal verschwommen. „Nanu, was ist denn da los?“, fragte Nana plötzlich. Kari drehte sich um. Ein Stück von ihnen entfernt hatte sich eine Menschentraube gebildet. Ein paar Schreie waren zu hören und man konnte Gerangel sehen. „Und ich dachte, wir wären langsam raus aus dem Alter der Schulhofprügeleien“, murmelte Kari und wollte sich wieder an Nana wenden, doch wurde von Davis aufgehalten. „Hey, das ist doch T.K.!“, rief dieser und rannte schon los. Unschlüssig gingen Kari, Ken und Nana hinterher und staunten nicht schlecht über das Geschehen. Es handelte sich tatsächlich um T.K., der sich auf dem Boden mit Shinji prügelte, Fausthieben auswich, selbst welche verteilte, zur Seite geworfen wurde. Aya stand daneben und versuchte, die beiden aufzuhalten, hatte jedoch keinen Erfolg. „Sind die verrückt geworden? Warum macht denn keiner was?“, rief Nana. Als hätten sie nur auf ihr Stichwort gewartet, gingen plötzlich drei der Basketballjungs dazwischen und zerrten die beiden mühevoll auseinander. „Hör endlich auf, diese scheiß Fotos zu verteilen!“, rief T.K. wütend. Seine Unterlippe war aufgeplatzt und Blut tropfte auf das Hemd seiner Uniform, das deutlich mitgenommen aussah. „Halt die Klappe! Was kümmert dich das überhaupt?“, polterte Shinji und starrte ihn feindselig an. Aus seiner Nase schoss Blut, das er immer wieder mit der Hand wegwischte. Auch seinem Hemd sah man die Strapazen der Prügelei an. „Moriya! Takaishi! Was ist hier los?“ Der Schuldirektor Herr Hirai war erschienen und starrte sie an. „In mein Büro, alle beide!“ Shinji und T.K. machten sich von den Jungs los, die sie festgehalten hatten, und folgten Herrn Hirai ins Schulgebäude. Die Schüler, die die Prügelei beobachtet hatten, steckten die Köpfe zusammen und tuschelten. Kari und die drei anderen warfen sich nur ratlose Blicke zu. „Er muss im Ernst einen Aufsatz darüber schreiben, warum Gewalt keine Lösung ist? Mann, ist das bescheuert“, sagte Nana und schüttelte den Kopf. Sie und Kari hatten gerade die Umkleidekabine der Mädchen betreten, stellten ihre Taschen ab und setzten sich auf die Bank. Die anderen Mädchen warfen ihnen verstohlene Blicke zu, doch Nana kümmerte sich gar nicht darum. Kari jedoch entging das nicht. „Ja, hat er zumindest Davis erzählt“, antwortete sie. „Das klingt nach einer Strafe für Zehnjährige und nicht für Abschlussklässler“, meinte Nana. „Und mich würde mal interessieren, was für Fotos Shinji verteilt.“ Kari nickte beklommen und holte ihre Tanzsachen aus der Tasche. Sie hoffte inständig, dass diese Fotos und Shinjis Facebookstatus nichts mit ihr zu tun hatten. Sie und Nana zogen sich um, banden sich die Haare zusammen und gingen in die Turnhalle. Ein paar der Basketballjungs dribbelten gerade ein paar Bälle durch die Gegend und unter ihnen war auch T.K. Sein Gesichtsausdruck schrie nur so nach mieser Laune. Auch Shinji war schon da, doch er wirkte wie immer. Kari starrte ihn an. Sie wusste selbst nicht so recht, was sie sich erwartete, doch immerhin hatte er in den letzten Tagen und sogar Wochen reges Interesse an ihr gezeigt und allem Anschein nach mit ihr geschlafen. Daher erwartete sie eigentlich, dass er zu ihr kam, um mit ihr zu reden. Oder sie wenigstens zu begrüßen. Oder irgendwas. Doch er fing ihren Blick auf, lächelte flüchtig und wandte sich wieder seinem Spielpartner zu. „Na, das nenne ich mal Aufmerksamkeit“, spottete Nana, die ihn beobachtet hatte. „Du glaubst also auch, er müsste irgendeine Reaktion zeigen?“, fragte Kari und drehte sich zu ihr um. „Ja, irgendwie schon. Er ist dir doch in den letzten Wochen kaum noch von der Seite gewichen“, antwortete Nana laut, die Hände in die Hüften gestemmt und Shinji kritisch beobachtend. „Man sollte meinen, er würde etwas mit dir bereden wollen. Geh' du doch mal zu ihm.“ „Was soll ich ihm denn sagen? 'Hallo, wie geht’s dir? Übrigens, du hast mich entjungfert. Wollen wir drüber reden oder lassen wir das einfach unkommentiert?'“ „Mein Gott, Yagami, wie naiv bist du eigentlich?“ Kari erstarrte. Es war Aya, die offensichtlich ihr Gespräch belauscht hatte. Sie baute sich vor ihr auf und musterte sie geringschätzig. „Glaubst du wirklich, dass Shinji das mit dir ernst gemeint hat? Du kannst einem aber auch echt Leid tun“, sagte sie abfällig. „Was geht dich das eigentlich an?“, murrte Kari und wandte sich von ihr ab. „Ich glaube, mittlerweile geht es die halbe Schule etwas an, bei den ganzen Fotos von dir“, antwortete sie. Es fühlte sich an, als würde ihr das Herz in die Hose rutschen. Ihre Beine wurden ganz schwer. „Fotos?“ Aya hob eine Augenbraue. „Sag nicht, du hast es noch nicht gesehen? Aber wahrscheinlich warst du gerade mit anderen Dingen beschäftigt, als Shinji das Foto gemacht hat.“ Sie lachte spöttisch und ging. Kari war der Mund aufgeklappt. Fassungslos versuchte sie zu verarbeiten, was sie gerade gehört hatte. Von was für Fotos hatte Aya da geredet? Was hatte Shinji für Fotos von ihr aufgenommen? Und warum kannte die jeder? Auf Facebook hatte sie keins gefunden. „Was labert die denn?“, fragte Nana verwirrt. Kari antwortete nicht, sondern drehte sich um und ging schnurstracks hinüber zu Shinji. Er blickte auf, als er sie kommen sah und hielt den orangefarbenen Gummiball fest. Auch ein paar der anderen Jungs blieben stehen und beobachteten sie. „Kann ich dich mal kurz sprechen?“, fragte sie mit zusammengebissenen Zähnen. „Schieß' los“, sagte Shinji schulterzuckend. „Nicht hier“, murmelte Kari. Sie gingen an den Rand der Turnhalle zu den Bänken und Kari achtete darauf, dass niemand in Hörweite war, obwohl ihr bewusst war, dass sie ohnehin nicht unbeobachtet blieben. „Aya sagt, du hast Fotos von mir gemacht und anscheinend haben ein paar Leute diese Fotos“, eröffnete Kari das Gespräch ohne Umschweife. „Ach, die Fotos“, erwiderte Shinji, als würde er sich erst jetzt wieder daran erinnern, dass er Fotos von ihr geknipst hatte. „Die sollten gar nicht so viele kriegen.“ „Bitte was? Was sind denn das für Fotos? Und warum gibst du sie irgendwelchen Leuten?“, fragte Kari empört. Sie war sich allerdings nicht sicher, ob sie wirklich wissen wollte, um was für Fotos es sich handelte. „Ich hab' eben ein paar Fotos von uns gemacht an unserem Abend und sie Shun und Nintaro geschickt. Dass die das weitergeschickt haben, ist eben ein bisschen blöd, aber kann man jetzt eh nicht mehr ändern“, antwortete Shinji locker. Kari starrte ihn entgeistert an und konnte nicht glauben, dass er darüber redete, als wäre es etwas vollkommen Alltägliches. „Was?! Warum?“ „Mann, es war 'ne Wette. Sorry, aber danke. Jetzt hab' ich gewonnen.“ Er grinste, während Kari immer mehr die Fassung verlor. Ihr Mund stand offen und sie wollte etwas erwidern, doch sie wusste nicht, was. Eine Wette. Fotos von ihr, die an ihre Mitschüler geschickt worden waren. Was war hier nur los? „Was war eine Wette?“, fragte sie schließlich, als Shinji schon wieder gehen wollte. „Die Nacht. Warum bist du so komisch? War doch klar, dass es nur ein One-Night-Stand ist“, sagte Shinji und sah sie schief an. „Sorry noch mal. Aber ich konnte dir nicht vorher von der Wette erzählen, sonst hätte ich verloren.“ Mit diesen Worten ging er zurück aufs Spielfeld und überließ Kari ihren eigenen Gedanken. Eine Wette. Sie war zum Gegenstand einer Wette zwischen Shinji, Shun und Nintaro geworden. Eine Wette, bei der es anscheinend darum gegangen war, mit ihr zu schlafen. Er hatte sie schamlos ausgenutzt. Zuerst hatte er so getan, als wäre er an ihr interessiert und Kari hatte das auch noch geglaubt, auch wenn es ihr seltsam vorgekommen war und sie sich nicht wirklich für ihn interessiert hatte. Und dann hatte er sie am Frühlingsballabend abgefüllt und mit zu sich nach Hause genommen, hatte Fotos von ihr geschossen und sie an Shun und Nintaro geschickt. Wie konnte sie nur so dumm sein? Aya hatte Recht. Sie war wirklich total naiv. Wie hatte er nur so mit ihr spielen können, ohne dass sie etwas davon mitbekommen hatte? Spätestens als er ihr ein Getränk nach dem anderen bestellt hatte, hätte sie misstrauisch werden müssen. Aber sie war wohl zu beschäftigt damit gewesen, nicht wie ein unschuldiges Lamm dazustehen. Und nun war sie ein dummes Schaf. Sie drehte sich um und rannte aus der Halle in die Umkleidekabine. Eilig stopfte sie ihre Schuluniform in die Tasche, wechselte noch die Schuhe und lief aus dem Gebäude. Kapitel 17: Arschlöcher und Mauerblümchen ----------------------------------------- Ihr kamen die Tränen, doch sie wollte nicht weinen. Schließlich war sie selbst schuld an dieser Misere. Mit zusammengebissenen Zähnen schluckte sie die Tränen herunter und blinzelte heftig, um das brennende Gefühl in ihren Augen loszuwerden. So schnell sie konnte, lief sie nach Hause, um sich in ihrem Zimmer zu verkriechen. Sie hoffte inständig, dass ihre Mutter nicht da war, um nichts erklären zu müssen. Momentan war sie ohnehin nicht gut auf Kari zu sprechen nach der Sache von Samstag. Diesmal hatte Kari allerdings Glück. Vermutlich war ihre Mutter gerade einkaufen oder beim Sport. Unachtsam streifte sie ihre Schuhe ab und lief in ihr Zimmer, die Tür lautstark hinter sich zuknallend. Die Tasche wurde in eine Zimmerecke befördert und Kari warf sich aufs Bett. Sie presste das Gesicht ins Kopfkissen und versuchte immer noch, nicht zu heulen. Stattdessen versuchte sie, darüber nachzudenken, was sie an dieser Sache überhaupt am meisten störte. Ihre verlorene Jungfräulichkeit? Dass Shinji sie abgefüllt und flachgelegt hatte? Die Wette? Oder etwa sie selbst, die allen beweisen wollte, dass sie nicht nur das nette, schüchterne Mädchen von nebenan war? Kari hatte keine Ahnung, wie lange sie dort mit dem Kopf im Kissen gelegen hatte. Jedenfalls ließ die Türklingel sie zusammenzucken und sich aufsetzen. Wer sollte das sein? Sie wollte jetzt nicht so von irgendjemandem gesehen werden. Andererseits war es vielleicht ihre Mutter, die wieder einmal den Hausschlüssel vergessen hatte. Schwerfällig kletterte Kari aus dem Bett und ging zur Tür. Ohne vorher durch den Spion zu blicken öffnete sie. Und ärgerte sich, dass sie nicht doch vorher nachgesehen hatte. „T.K.“, murmelte sie überrascht. Er stand da in seiner Schuluniform, die Hände in den Hosentaschen und die Sporttasche über der Schulter. „Kann ich reinkommen?“, fragte er, während Kari ihn nur anstarrte. Sie brauchte eine Weile, um zu reagieren. Außerdem war sie sich nicht sicher, ob sie ihn wirklich hereinlassen wollte. Eigentlich hatte sie keine Lust, jetzt mit ihm zu reden. Fragend hob er die Augenbrauen, sodass Kari schließlich doch zur Seite trat und er hereinkommen konnte. Bestimmt ging er an ihr vorbei, zog sich die Schuhe aus und marschierte schnurstracks in ihr Zimmer. Kari folgte ihm unschlüssig. „Warum bist du hier?“, fragte sie, als er auf ihrem Bett Platz nahm. „Ich wollte sehen, wie's dir geht. Du warst so plötzlich weg, nachdem du mit Shinji... gesprochen hast“, antwortete er und sah sie durchdringend an, sodass sie den Blick abwandte. „Gut geht’s mir. Alles super“, log Kari. Sie spielte mit ihren Fingern und stand noch immer verloren in der Mitte ihres Zimmers herum. „Was machst du denn eigentlich schon hier? Ihr müsstet doch noch Training haben.“ T.K. zuckte mit den Schultern, streckte die Beine aus und ließ den Blick durch ihr Zimmer schweifen. „Vielleicht bin ich rausgeflogen.“ „Warum?“, fragte Kari verwirrt. „Ist doch egal“, murmelte er. Dann durchbohrte er sie wieder mit seinem Blick. „Er ist ein Arschloch. Hätte ich von der Wette gewusst, hätte ich verhindert, dass er... dass du zu ihm nach Hause gehst.“ Resigniert ließ Kari den Kopf hängen und setzte sich nun neben T.K. auf die Bettkante. „Es wissen also alle davon?“ „Er hat vor den Basketballern damit angegeben, dass er diese blöde Wette gewonnen hat“, erklärte T.K. mit finsterer Miene. „Und Fotos von mir hat er auch herumgeschickt, nicht wahr?“, fragte Kari leise. „Mhm“, machte T.K., ohne sie anzusehen. Kari seufzte und starrte auf ihre Füße. Sie würde wohl die Schule wechseln müssen, aber es war ja ohnehin das letzte Schuljahr für sie. „Tut mir Leid“, sagte T.K. plötzlich und Kari sah ihn überrascht an. „Was? Wieso?“, fragte sie. Er zuckte mit den Schultern. „Ich habe das Gefühl, ich hätte es verhindern können, wenn ich Samstag Abend hartnäckiger gewesen wäre. Ich hatte echt keine Ahnung, dass er sowas abzieht.“ „Nun hör' aber auf. Das war doch nicht deine Schuld, sondern ganz allein meine. Aya hat erzählt, ich habe dich und Matt angeschrien. Da wäre ich mir auch nicht nachgelaufen an eurer Stelle“, widersprach Kari ihm. T.K. biss sich auf die Unterlippe und schüttelte unwirsch den Kopf, als wollte er einen unangenehmen Gedanken vertreiben. „Weshalb kümmert dich das überhaupt? Also ich meine, das könnte dir doch egal sein“, sagte Kari und musterte ihn von der Seite. Dabei fiel ihr wieder einmal auf, wie erwachsen er mittlerweile geworden war und wie anders sie ihn in Erinnerung hatte. Er lächelte müde. „Keine Ahnung. Vielleicht stecke ich noch ein bisschen in der Vergangenheit. Vielleicht würde es mich aber auch dann nicht in Ruhe lassen, wenn ich dich nicht schon ewig kennen würde.“ Kari runzelte die Stirn. Was redete er da? „Kari, ich weiß, dass es für dich unverzeihlich ist, was vor fünf Jahren passiert ist, aber deswegen kann ich trotzdem versuchen, das wieder gutzumachen“, erklärte er. Sie sahen sich in die Augen und Kari wurde die Situation langsam unangenehm. Das Gesprächsthema gefiel ihr fast noch weniger als das davor und nun auch noch dieser Blickkontakt. Sie musste sich bemühen, nicht vor Erleichterung zu seufzen, als die Türklingel diesen Moment unterbrach. Schnell sprang sie auf und lief zur Tür. Das war jetzt bestimmt ihre Mutter. Schwungvoll riss sie die Tür auf, doch dort stand nicht Yuuko, sondern Nana. „Kari!“, rief sie und warf ohne Vorwarnung die Arme um sie. „Ich hab' das mit der Wette erfahren. Tut mir echt Leid. Deswegen bist du abgehauen, oder?“ „Ähm... ja, also...“, murmelte Kari, als Nana sie endlich wieder losließ und an ihr vorbei in die Wohnung marschierte. „Du glaubst nicht, was noch passiert ist. Takeru hat... oh, hallo, Takeru!“ T.K. war im Flur erschienen und hatte Nana nur durch sein Auftauchen zum Schweigen gebracht. Mit fragendem Blick drehte sie sich zu Kari um. „Entschuldige. Ich wusste nicht... ich wollte nicht stören“, stammelte sie. „Schon gut. Ich wollte sowieso gerade gehen“, erwiderte er abwinkend, schlüpfte in seine Schuhe, lächelte Kari flüchtig an und verschwand aus der Wohnung. Perplex betrachtete Kari die Tür, die gerade hinter ihm ins Schloss gefallen war. „Was wollte er hier?“, fragte Nana. „Keine Ahnung“, antwortete Kari ratlos und schüttelte langsam den Kopf. Dann drehte sie sich zu Nana um. „Und was willst du hier?“ „Oh, das hätte ich ja fast schon wieder vergessen. Komm mit, vielleicht ist es besser, wenn du dich hinsetzt“, rief sie aufgeregt und ging voraus in Karis Zimmer. Sie setzte sich auf den Platz, auf dem T.K. bis vor wenigen Minuten noch gesessen hatte und wartete, bis Kari neben ihr saß. „Takeru ist rausgeflogen!“, eröffnete sie das Gespräch und machte große Augen. „Ich weiß. Das hat er mir auch schon erzählt“, sagte Kari unbeeindruckt. „Hat er dir auch gesagt, warum?“ „Nein, er meinte, es wäre egal.“ Auf Nanas Lippen schlich sich ein breites Lächeln, sodass Kari etwas mulmig zumute wurde und sie unwillkürlich ein paar Zentimeter von ihr weg rutschte. „Er hat Shinji die Nase gebrochen!“, platzte sie heraus. Ihre Augen funkelten euphorisch. „Was?“, rief Kari verblüfft. „Im Ernst? Oh mein Gott.“ „Ja! Als du rausgerannt bist, ist Takeru zu ihm gegangen. Dann gab's einen kurzen Streit, hab nicht alles verstanden, und zack“, sie ließ ihre Faust durch die Luft wirbeln, „lag Shinji am Boden.“ Kari schlug sich eine Hand vor den Mund. „Autsch. Das hat sicher weh getan.“ „Davon kann man ausgehen, ja. Der Trainer hat Takeru rausgeschmissen, aber ich glaube, er wollte sowieso gehen. Und Shun hat Shinji ins Krankenhaus gebracht. Also ich weiß natürlich nicht, ob seine Nase wirklich gebrochen ist, aber er hat gejammert und geblutet wie verrückt.“ Sie kicherte. „Das war vielleicht ein Spektakel.“ Kari saß nur mit offenem Mund dort auf ihrem Bett und versuchte, sich die Szene vorzustellen. Es war ihr, als könnte sie das Knacken hören, mit dem Shinjis Nase zu Bruch gegangen war. „Was ist denn los? Du sagst ja gar nichts“, fragte Nana irritiert und musterte sie erwartungsvoll. „Wieso hat er das gemacht?“ Diese Frage richtete sie mehr an sich selbst als an Nana. „Was sollte das?“ „Wer? Takeru oder Shinji?“ Nana machte ein verwirrtes Gesicht. „Takeru. Wieso hat er ihm eine reingehauen? Sie haben sich doch heute auf dem Schulhof schon geprügelt“, sagte Kari stirnrunzelnd. „Also wenn du mich fragst, ich glaube, er hat's für dich gemacht“, antwortete Nana bestimmt. „Ich meine, er sah ziemlich wütend aus, nachdem du rausgegangen bist. Und heute auf dem Schulhof schien er ja auch echt sauer.“ „Ja, ich weiß, dass ihn das mit der Wette stört und er Shinji nicht leiden kann. Aber warum um Himmelswillen mischt er sich da so ein? Ich meine, das ist doch kein Grund sich zu prügeln. Er tut ja geradezu so, als wäre er Teil der Wette gewesen“, erklärte Kari. „Du klingst, als würdest du es nicht ziemlich cool finden, dass sich jemand für dich geprügelt hat“, meinte Nana und hob eine Augenbraue. „Finde ich ja auch nicht“, erwiderte Kari mit finsterer Miene. „Ich bin auch wütend auf Shinji, weil er mich verwettet hat, aber deswegen möchte ich trotzdem nicht, dass er verletzt wird. Außerdem geht T.K. das gar nichts an. Ich kann mich auch selbst verteidigen. Ich brauche niemanden, der sich für mich prügelt.“ Nana sah sie an, als wäre sie ein Alien. „Weißt du, ich glaube, du bist die einzige Frau auf dieser Welt, die so denkt. Freu' dich doch, dass er sich so um dich sorgt und dass ihm die Sache so nahe geht, obwohl du seit fünf Jahren nicht mit ihm geredet hast.“ „Nein, ich freue mich nicht! Das ist einfach kein Grund, jemanden zu verletzen. Und eine gebrochene Nase ist auf jeden Fall eine Verletzung“, begehrte Kari auf. „Boah, Kari!“, rief Nana ungeduldig. „Das sagst du nur, weil du nicht weißt, worum es bei der Wette ging. Zufälligerweise warst du nicht das einzige Mädchen, das da mit hineingezogen wurde.“ „Worum ging es denn?“, fragte Kari, obwohl sie es eigentlich gar nicht wissen wollte. „Shinji, Shun und Nintaro haben darum gewettet, wer es als erstes schafft, mit einem Mauerblümchen aus der Schule zu schlafen“, antwortete Nana. „Mit einem Mauerblümchen?“, fragte Kari langsam. „Nimm das jetzt bitte nicht so ernst. Du bist kein Mauerblümchen. Die spinnen einfach nur“, sagte Nana unwirsch. „Und Shinji hat sich mich ausgesucht?“, fragte Kari weiter, ohne auf ihre Antwort einzugehen. „Ja und Shun hat sich Emi aus der Parallelklasse ausgesucht und Nintaro Kimiko aus der elften Klasse“, antwortete Nana. Kari überlegte, wer genau Emi und Kimiko waren, was eigentlich schon alles über diese beiden Mädchen aussagte. Mit keiner von beiden hatte sie je ein Wort gewechselt und sie waren ihr auch nie irgendwo aufgefallen. Emi war im letzten Schuljahr auch im Tanzverein gewesen, doch sie hatte eigentlich nie etwas gesagt und war auch nicht besonders gut im Tanzen gewesen. „Darauf brauchst du nichts geben, Kari. Die drei sind einfach nur nicht mehr ganz dicht“, sagte Nana nachdrücklich. Kari zuckte mit den Schultern. Was sie gerade erfahren hatte, bestätigte nur das, was sie ohnehin schon von sich dachte. Und anscheinend dachten alle anderen auch so über sie. „Ist beim Training irgendwas Besonderes passiert?“, wechselte sie schließlich das Thema und tat möglichst gleichgültig. „Ähm... nein, nichts weiter. Ich hab' dich entschuldigt. Und Nobuko hat noch einmal erzählt, dass nach den Sommerferien die Talentsucher der Sportschulen zu uns kommen und gesagt, wir sollen uns überlegen, ob wir uns bewerben wollen“, erzählte Nana. Ach ja, die Sportschulen. Das brachte Kari wieder auf andere Gedanken. Wenn sie gut genug war, würde sie vielleicht an einer Schule im Ausland aufgenommen werden. In Russland zum Beispiel. Oder England. Oder den USA. Das war alles sehr weit weg, doch dort kannte sie niemand. Sie könnte diesen ganzen Mist hier vergessen und noch einmal neu anfangen. Einfach alles hinter sich lassen. Diese Vorstellung erschien ihr gerade sehr verlockend. „Alles okay? Du siehst so nachdenklich aus“, unterbrach Nana ihre Gedanken. „Nein, alles in Ordnung“, murmelte Kari. „Ich glaube nur, dass ich mich gern im Ausland bewerben möchte.“ „Was? Wirklich?“, fragte Nana überrascht. „Dafür musst du richtig gut sein. Ich meine, du bist super, aber es ist echt hart an diesen Schulen.“ „Ja, schon. Aber ich stelle es mir toll vor, das Tanzen zu meinem Beruf zu machen.“ „Du hast dann vorgeschriebene Ernährungspläne. Und jeden Tag Training. Du wirst keinen Mann finden, weil du keine Zeit hast, jemanden kennen zu lernen und die Männer an deiner Schule alle schwul sind.“ „Damit kann ich leben“, antwortete Kari. Sie war ohnehin kein großer Esser, das Training machte ihr Spaß, sie war ehrgeizig und Männer brauchte sie auch keine. Sie hatte ja immer noch Tai und Davis und Ken, die sie sicher ab und zu sehen würde. Das reichte ihr. Mehr Männer brauchte sie in ihrem Leben nicht. „Ich glaube, das werde ich mal ins Auge fassen.“ Kapitel 18: Selbstlosigkeit --------------------------- In Gedanken versunken stand Kari am Herd und kümmerte sich um das Abendessen für die Familie. Susumu war noch vor ihrer Mutter nach Hause gekommen, was äußerst seltsam war. Er hatte Kari gefragt, wo Yuuko steckte, doch die wusste es ebenso wenig. „Was ist nur los mit den Frauen in dieser Familie? Warum könnt ihr nie mal Bescheid sagen?“, hatte er sich beschwert und ihr Zimmer wieder verlassen. „Montag ist sie doch oft beim Sport. Vielleicht dauert es ein bisschen länger und sie kommt gleich nach Hause“, sagte Kari in einem Versuch, ihren Vater zu beruhigen, der durchs Wohnzimmer tigerte und ständig aus dem Fenster spähte. „Ich hoffe nur, ihr ist nichts passiert“, murmelte Susumu. „Bestimmt nicht.“ Doch auch Kari machte sich langsam Sorgen. Um sich und auch ihren Vater ein wenig abzulenken, beschloss sie, ihm von ihrem neuen Plan zu erzählen. „Du Papa, ich hab' mir was überlegt.“ „Hm?“, machte er, ohne sie anzusehen. „Vielleicht möchte ich nach der Schule ins Ausland gehen. Auf eine Tanzschule. Meine Trainerin Nobuko hat mir das vorgeschlagen.“ „Was? Wie lange denn?“, fragte er verwirrt, war nun jedoch offensichtlich abgelenkt. „Naja, für eine Weile. Ich möchte vielleicht das Tanzen zu meinem Beruf machen“, antwortete Kari und drehte sich um, um ihren Vater anzusehen. Dieser hob skeptisch eine Augenbraue. „Ich dachte, du möchtest was mit Kindern machen.“ „Nein, ich glaube, ich wäre lieber Tänzerin. Dann könnte ich um die Welt reisen und in vielen verschiedenen Städten auftreten, wenn ich gut bin“, sagte Kari und bemühte sich, möglichst überzeugend zu klingen. „Ich bin ja noch nie richtig verreist, aber ich würde so gern die ganze Welt sehen.“ Nun sah Susumu völlig verwirrt aus. „Was? Wie... wie kommst du denn jetzt darauf?“ Kari zuckte mit den Schultern. „Wie gesagt, Nobuko hat mir das vorgeschlagen. Ich will es einfach mal versuchen und mich bewerben.“ „Aber dafür muss man doch richtig gut sein. Du musst dann den ganzen Tag nichts anderes machen als tanzen“, wendete er ein, doch Kari nickte nur. „Ich mag Tanzen. Und ich mag Musik. Ich kann mir gut vorstellen, das jeden Tag zu machen“, erwiderte sie bestimmt. „Kari, das... oh!“ Der Wohnungsschlüssel bewegte sich im Schloss und wenig später betrat Yuuko die Wohnung. Sie sah völlig erledigt aus. „Da bist du ja“, rief Susumu und ließ sich von ihr einen Kuss auf die Wange drücken. „Wir haben uns schon Sorgen gemacht. Wo warst du denn?“ Yuuko ließ ihre Tasche auf den Boden fallen und starrte Kari an. „Ich war beim Sport. Und danach war ich bei Natsuko. T.K. wurde von der Schule suspendiert für den Rest der Woche.“ „Was?“, riefen Kari und Susumu wie aus einem Munde. „Meinst du den niedlichen Jungen von früher?“, fragte Susumu irritiert. „Was hat er denn angestellt?“ Kari brachte kein weiteres Wort heraus. Sie starrte ihre Mutter nur entgeistert an und versuchte, zu verarbeiten, was sie gerade gehört hatte. „Er hat sich wohl mehrmals heute in der Schule geprügelt und einen anderen Schüler schwer verletzt“, antwortete Yuuko langsam. „Natsuko war ziemlich fertig.“ „Schwer verletzt? Er hat ihm die Nase gebrochen“, erwiderte Kari. Ihre Eltern sahen sie beide fragend an. „Weißt du, was genau passiert ist?“, fragte Yuuko. „Natsuko meinte, T.K. wollte ihr nichts weiter dazu sagen. Sie waren zum Gespräch in der Schule, aber T.K. hat sich aus allem herausgehalten.“ Kari machte große Augen. „Nein, ich weiß nichts Genaues. Nur, dass er Shinji die Nase gebrochen hat. Aber das ist doch keine schwere Verletzung. Morgen ist er bestimmt wieder in der Schule.“ Yuuko hob ratlos die Hände. „Ich habe keine Ahnung. Herr Hirai sprach wohl von schwerer Verletzung.“ „So hätte ich ihn ja gar nicht eingeschätzt“, sagte Susumu nachdenklich und rieb sich das Kinn. „Ich auch nicht. Und Natsuko war auch völlig von der Rolle. Sie hatte noch nie Probleme mit T.K. und nun wurde er suspendiert“, antwortete Yuuko kopfschüttelnd. Kari biss sich auf die Unterlippe. T.K. hatte sich wegen ihr geprügelt und nun war er suspendiert worden. Wer wusste schon, ob er nicht ganz der Schule verwiesen wurde? Und das alles nur wegen ihr. Nachdenklich räumte Kari nach dem Essen die Küche auf. Sie hatte sich zwar nicht gefreut, als T.K. vor über einem Monat an ihre Schule gekommen war, doch sie wollte auch nicht, dass er wieder ging. Zumindest nicht, wenn sie schuld daran war. Sie musste irgendetwas unternehmen, doch sie hatte keine Ahnung, was. Sie glaubte nicht, dass Herr Hirai sich umstimmen lassen würde von ihr. Sie ging in das Schlafzimmer ihrer Eltern, wo ihre Mutter gerade dabei war, ein paar Klamotten wegzuräumen. Fragend sah Yuuko Kari an, unterbrach ihre Arbeit jedoch nicht. „Mama, ich muss dir was erzählen“, begann Kari und blieb unschlüssig im Türrahmen stehen. „Na dann erzähl' mal“, sagte Yuuko und legte einen Pullover zusammen. Und Kari erzählte. Sie erzählte die ganze Geschichte mit Shinji und der Wette und wie T.K. und Matt versucht hatten, sie davon abzuhalten, mit Shinji mitzugehen. Sie erzählte nicht jedes Detail, aber alles, was wichtig war, um die Situation zu verstehen. Yuuko hatte irgendwann innegehalten mit einer Hose in der Hand und Kari mit offenem Mund angestarrt. Als Kari fertig war, brauchte sie eine Weile, um zu reagieren, doch schließlich legte sie die Hose beiseite, packte Karis Handgelenk und zog sie hinter sich her aus dem Schlafzimmer. „Was ist denn jetzt?“, fragte Kari verwirrt. „Komm mit“, antwortete Yuuko bloß und zog sie mit sich durchs Wohnzimmer. „Wir gehen noch mal los, Susumu.“ Ohne dessen Antwort abzuwarten, zogen sie sich die Schuhe an und verließen die Wohnung. „Willst du jetzt etwa zu den Takaishis gehen?“, fragte Kari, der mittlerweile dämmerte, was ihre Mutter vorhatte. „Das können wir nicht!“ „Wir müssen“, erwiderte Yuuko trocken. Sie stiegen in den nächstbesten Bus, der sie zu der Haltestelle brachte, in deren Nähe T.K. und seine Mutter wohnten. „Mama, bitte. Ich will Natsuko jetzt nicht die Geschichte erzählen“, bat Kari ihre Mutter und sah sie verzweifelt an, doch diese schüttelte nur den Kopf. „Hier geht es nicht um dich. Natsuko ist völlig fertig mit den Nerven. Sie hat es ja wohl verdient, zu wissen, warum ihr Sohn suspendiert wurde“, entgegnete Yuuko ungewohnt kühl und ohne Kari anzusehen. Sie stiegen aus dem Bus aus und eilten zu dem großen Wohnblock, in dem T.K. mit seiner Mutter wohnte. Schnell stiegen sie die Stufen in den fünften Stock nach oben und klingelten an der Wohnungstür. Nach einigen Sekunden wurde die Tür zögerlich geöffnet und Natsuko steckte ihren Kopf durch den Spalt. „Nanu“, sagte sie überrascht, als sie Kari und Yuuko sah und machte die Tür ganz auf. „Kommt rein.“ Sie folgten Natsuko ins Wohnzimmer, wo sie ihnen etwas zu trinken anbot, doch beide lehnten dankend ab. Kari und Yuuko nahmen auf der Couch Platz, während Natsuko sich auf den Sessel setzte und sie fragend anblickte. „Was gibt es denn, dass ihr jetzt noch gekommen seid?“, fragte sie. Es war immerhin schon nach neun. „Kari muss dir was erzählen“, antwortete Yuuko ernst und beide Frauen wandten sich nun an Kari, die sich ziemlich unwohl fühlte. „Ähm, also... das mit der Suspendierung ist meine Schuld“, begann sie und erzählte dann noch einmal, was sie Yuuko erst vor einer halben Stunde erzählt hatte. Genau wie diese unterbrach Natsuko sie kein einziges Mal, doch sie hob die Augenbrauen und schien sichtlich erstaunt. Als Kari fertig war, atmete Natsuko hörbar aus und kratzte sich am Kopf. „Das heißt jetzt also, T.K. hat sich wegen dir geprügelt“, stellte sie fest und Kari nickte. „Und dieser verantwortungslose Shinji hat dir einen Drink nach dem anderen hingestellt, weil er eine Wette am Laufen hatte.“ Erneut nickte Kari. „Puh, also... muss er sich denn gleich prügeln? Dieser Shinji hat eine Strafe verdient, keine Frage, aber...“, sagte Natsuko und seufzte. „Aber das Verhalten passt doch schon viel eher zu T.K.“, meinte Yuuko aufmunternd. „Auch, wenn er nicht mit Gewalt hätte antworten müssen, er hatte zumindest einen Grund.“ „Ist er gerade da?“, fragte Kari an Natsuko gewandt. „Wenn er nicht abgehauen ist, ist er in seinem Zimmer“, antwortete diese mit einem Kopfnicken in die Richtung von T.K.s Zimmer. Kari nickte, stand auf und ging zu T.K.s Zimmer. Lieber war sie jetzt bei ihm als bei den beiden Müttern, die jetzt sicherlich eine noch schlechtere Meinung von Kari hatten als vorher, nun, da sie wussten, dass sie schuld daran war, dass T.K. für den Rest der Woche nicht mehr zur Schule gehen durfte. Sie klopfte leise an, doch es kam keine Reaktion. Vorsichtig öffnete sie die Tür und riskierte einen Blick. T.K. lag mit Kopfhörern auf den Ohren in seinem Bett und hatte die Augen geschlossen, sah jedoch nicht aus, als ob er schlief. Dafür wirkte sein Gesicht zu angespannt. Kari schloss die Tür hinter sich und ging zu ihm. Vorsichtig berührte sie seinen Arm, sodass er die Augen öffnete. Er schien nicht mit ihr gerechnet zu haben, denn überrascht setzte er sich auf und nahm die Kopfhörer ab. „Was machst du denn hier?“, fragte er. Kari setzte sich auf die Bettkante und faltete die Hände in ihrem Schoß. „Ich habe meiner Mutter und deiner Mutter erklärt, warum du suspendiert wurdest.“ Er zögerte. „Du weißt es also schon? Tokio ist echt ein Dorf.“ Er lächelte schief. „Meine Mutter hat es mir erzählt“, antwortete Kari langsam. „Es tut mir Leid, dass du suspendiert wurdest. Das wollte ich nicht.“ „Ach was, das war doch nicht deine Schuld. Ich suche schon von Anfang an nach einem Grund, diesem Typ eine reinzuhauen“, antwortete T.K. trocken. „Mochtest du ihn schon vorher nicht?“, fragte Kari verwundert. „Kein bisschen“, antwortete T.K. kopfschüttelnd. „Arroganter Großkotz.“ „Ich habe das echt nicht kommen sehen. Davis und Ken mögen ihn auch nicht besonders, aber ich fand ihn eigentlich ganz nett“, sagte Kari beschämt. T.K. schnaubte verächtlich. „Sicher war er zu dir nett. Er hatte ja auch was zu verlieren. Aber nachdem du heute Nachmittag abgehauen bist...“ Er beendete den Satz nicht, sondern ballte nur die Fäuste, als machte er sich erneut für eine Prügelei bereit. „Du hättest ihm aber nicht gleich die Nase brechen müssen“, erwiderte Kari vorwurfsvoll. „Vielleicht kriegst du jetzt einen Verweis.“ „Das war es wert“, sagte er bestimmt. „Trotzdem“, sagte Kari, „ich werde morgen zu Herrn Hirai gehen und ihm die Sache erklären.“ T.K. hob eine Augenbraue. „Willst du das wirklich machen? Wenn du ihm erzählst, dass Shinji dich abgefüllt hat, kriegst du Ärger.“ Kari zuckte mit den Schultern. „Na und? Wenn ich auch suspendiert werde, können wir die Zeit gemeinsam absitzen.“ T.K. musterte sie mit seinem durchdringenden Blick. „Heißt das, du magst mich doch wieder?“ „Übertreib's nicht“, antwortete Kari, lächelte jedoch flüchtig. Er erwiderte ihr Lächeln und dann herrschte für kurze Zeit Schweigen zwischen ihnen. „Kari, du musst das nicht machen. Ich kann verstehen, wenn du das nicht erzählen willst“, sagte er schließlich ernst. „Nein, das ist schon in Ordnung. Ich will nicht, dass du wegen mir bestraft wirst und ich nicht“, antwortete Kari. „Du musst morgen mitkommen. Ich glaube, es ist besser, wenn du dabei bist und für dich selbst sprechen kannst. Treffen wir uns vor der Schule?“ T.K. nickte nachdenklich. „Okay.“ Er seufzte leise, als sie aufstand und auf seine Zimmertür zuging. „Hübsch siehst du übrigens aus. Hast du dich extra schick gemacht?“ Kari blieb stehen und blickte an sich hinab. Sie trug noch ihre Jogginghose, die ihr ein wenig zu groß war, und ein T-Shirt mit einem kindischen Aufdruck, das man besser nicht anzog, wenn man unter Leute ging. Ihre Haare waren zu einem unordentlichen Knoten zusammengebunden. „Ach, lass mich doch“, murrte sie und sah gerade noch sein Grinsen, bevor sie das Zimmer verließ. Kapitel 19: Kartoffelsaft gegen Therapiegruppe ---------------------------------------------- Wie verabredet stand T.K. vor dem Schulgelände und wartete, als Kari kam. Neben ihm stand Aya und hatte ihn in ein Gespräch verwickelt. Als sie Kari sah, machte sie eine abweisende Miene und ging in Richtung Schulgebäude davon. „Mein Gott, was hat die nur immer?“, murmelte Kari und blickte Aya verärgert hinterher. T.K. zuckte mit den Schultern. „Ist halt speziell. So wie du.“ Kari gab einen zischenden Laut von sich, fragte sich aber, ob er wohl wirklich an Aya interessiert war. Gemeinsam gingen auch sie ins Schulgebäude und steuerten direkt das Büro des Schulleiters an. Sie nickten kurz Ken und Nana zu, die im Foyer standen und ihnen verwunderte Blicke zuwarfen. Ein wenig Mitleid für Davis kam in Kari auf. Ob Ken wusste, dass Davis in Nana verliebt war? T.K. und Kari gingen ins Sekretariat und fragten nach dem Schulleiter. Die Sekretärin hob eine Augenbraue. „Was wollt ihr denn von ihm? Der Unterricht fängt doch gleich an.“ „Es ist wichtig“, antwortete Kari bedeutungsvoll. Die Sekretärin ging nach nebenan in das Büro des Schulleiters und kam kurz darauf zurück. „Ihr könnt rein.“ Herr Hirai saß gerade an seinem Schreibtisch und schrieb etwas. Geduldig warteten Kari und T.K., bis er fertig war und aufsah. Sein Blick wurde finster. „Du hast hier nichts verloren“, sagte er zu T.K. „Es war nicht seine Schuld“, sagte Kari schnell, bevor T.K. etwas erwidern konnte oder Herr Hirai ihn sofort rausschmeißen konnte. „Sondern meine.“ „Aber soweit ich weiß, hast nicht du dich zwei Mal an einem Tag mit einem Schüler geprügelt, sondern er“, entgegnete Herr Hirai mit gerunzelter Stirn. „Shinji hat mir alkoholische Getränke auf dem Frühlingsball bestellt, bis ich betrunken war. Dann hat er Fotos von mir gemacht und sie in der Schule herumgeschickt. Deswegen hat Takeru sich mit ihm geprügelt“, sprudelte es aus Kari heraus. Sie hoffte, dass Herr Hirai alles verstanden hatte, damit sie es nicht noch einmal erzählen musste, doch er machte nur ein verwirrtes Gesicht und stützte die Ellbogen auf der Tischplatte auf. „Jetzt mal langsam. Du hast also Alkohol getrunken auf dem Frühlingsball?“ Kari nickte ungeduldig. „Und Shinji hat ihn für dich bestellt, weil du noch nicht volljährig bist, richtig?“, hakte Herr Hirai nach. „Ja“, antwortete Kari ruhig. „Und was ist dann passiert?“ „Ich bin... ich war...“, stammelte Kari. Sie konnte es nicht aussprechen. „Sie ist zum Gegenstand einer Wette zwischen Shinji und zwei anderen Jungs geworden“, kam T.K. ihr zu Hilfe. „Und was war das für eine Wette?“, fragte Herr Hirai weiter. Er musterte sie beide interessiert. Nun gaben weder T.K. noch Kari eine Antwort. Das war kein Thema, das man mit seinem Schulleiter besprach. Nach einigen Sekunden der Stille nickte Herr Hirai wissend. „In Ordnung. Und was das für Fotos sind, wollt ihr sicherlich auch nicht sagen.“ Kari warf T.K. einen verstohlenen Seitenblick zu. Sie wusste ja nicht, um was für Fotos es sich handelte, er schon. „Keine Fotos, die man irgendjemandem schickt“, antwortete er, ohne ihren Blick zu erwidern. „Jedenfalls ist es meine Schuld. Bitte ziehen Sie die Suspendierung für ihn zurück und geben Sie sie stattdessen mir“, bat Kari, als Herr Hirai keine Antwort gab. Auf seiner Unterlippe herumkauend machte Herr Hirai sich ein paar Notizen, bevor er den Blick wieder hob und Kari und T.K. ansah. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und musterte sie eindringlich. „Ich kann das nicht jetzt entscheiden. Ich möchte euch bitten, nach dem Unterricht noch einmal in mein Büro zu kommen. Dann werden wir ein Gespräch mit allen Beteiligten führen und noch einmal entscheiden“, erklärte er. Dann wies er Kari an, in ihre Klasse zu gehen und schickte T.K. vorerst wieder nach Hause. Dass T.K. nicht da war, war natürlich jedem aufgefallen. „Er wurde suspendiert?“, fragte Nana entgeistert. „Spinnt Herr Hirai? Das ist doch total unfair. Shinji, Shun und Nintaro sollten suspendiert werden!“ „Vielleicht werden sie es ja nach dem Gespräch heute Nachmittag“, überlegte Davis. „Aber vielleicht werden sie auch alles abstreiten. Kari bräuchte einen Beweis“, entgegnete Ken nachdenklich. „Was denn für einen Beweis? Soll sie Hirai etwa diese blöden Fotos zeigen?“, fragte Davis mit gerunzelter Stirn. „Nein, auf keinen Fall“, sagte Nana entschieden. „Es wird ihm doch wohl reichen, wenn wir alle bestätigen können, dass Shinji Kari Alkohol bestellt hat. Allein das ist ja schon verboten. Und wenn wir bezeugen, dass er Fotos von ihr durch die Gegend geschickt hat, wird er uns das schon glauben.“ „Aber du kriegst vielleicht auch eine Strafe“, sagte Ken an Kari gewandt. „Immerhin hast du den Alkohol angenommen.“ „Ich weiß, aber das ist mir egal. Ich will eigentlich nur, dass T.K. nicht als Einziger so eine harte Strafe bekommt und alle anderen ungeschoren davon kommen“, antwortete sie leise. „Also Shinji, Shun und Nintaro dürfen auf keinen Fall ungeschoren davon kommen“, sagte Nana hitzig. „So eine Wette ist wirklich das Allerletzte.“ Davis und Ken nickten zustimmend und auf Nanas Gesicht schlich sich ein Grinsen. „Mensch, Kari, das sind ja mal ganz neue Töne von dir“, sagte sie und hob eine Augenbraue. „Überhaupt nicht!“, protestierte Kari. „Ich will nicht, dass irgendjemand wegen mir bestraft wird, egal ob T.K. oder sonst wer. Und außerdem... bin ich ja auch selbst schuld an der Situation.“ „Was?“ Davis sah sie verwirrt an. „Warum? Du bist doch nicht schuld daran, dass jemand dich verwettet.“ „Ich wollte unbedingt dieses Mauerblümchen-Image loswerden“, erklärte Kari. „Deswegen habe ich mich doch auf diese Sache eingelassen.“ Nun sagten die anderen drei nichts mehr, sondern sahen sie nur nachdenklich an. Zum Gespräch am Nachmittag kam T.K. zurück in die Schule und auch Shinji und die anderen beiden Jungen fanden sich im Büro des Schulleiters ein. Auch Herr Kugo und der Klassenlehrer der drei Jungs gehörten zu der Runde. Sie alle verteilten sich auf Stühlen und saßen nun im Kreis mitten im Büro. Ein wenig kam Kari sich vor wie in einer Therapiegruppe. Dann musste sie noch einmal erzählen, was genau passiert war. Als sie fertig war, wandte Herr Hirai sich an Shinji. Dessen Nase war mit einem Pflaster beklebt und seine Augen waren durch den Bruch dunkel unterlaufen, sodass es aussah, als hätte er seit Tagen nicht mehr geschlafen. „Stimmt es, dass du Hikari an diesem Abend alkoholische Getränke bestellt hast?“, fragte er ruhig. Kari wusste, dass es für Shinji keinen Sinn machte, diese Tatsache zu leugnen. Es gab einige Menschen, die das bezeugen konnten. „Sie hat danach gefragt, sonst hätte ich sie ihr nicht bestellt“, antwortete er mit finsterer Miene. „Also hast du ihr welche bestellt?“, hakte Herr Hirai unbeeindruckt nach. „Ja, aber nur, weil sie wollte“, murrte Shinji. „Und dann hast du sie bei dir übernachten lassen“, fuhr Herr Hirai fort. „Vorher hat er versprochen, dass er sie nach Hause bringt“, mischte T.K. sich ein. „Sonst hätte ich ihn nicht gehen lassen.“ „Was willst du eigentlich?“, fauchte Shinji. „Sie war total voll und mein Zuhause war näher als ihres.“ Kari schloss für einen Moment die Augen und wünschte sich, sie könnte sich schnell ein Loch im Boden buddeln und hineinkriechen. „Sie war nur voll, weil du sie abgefüllt hast“, konterte T.K. wütend. „Beruhigt euch“, sagte Herr Kugo. „Und wie kam es dazu, dass du Fotos von Hikari gemacht hast?“, fuhr Herr Hirai seine Befragung an Shinji gewandt fort. Unschlüssig saß Shinji auf seinem Stuhl und schien zu überlegen, was er antworten sollte. Als er nichts sagte, machte Herr Hirai weiter. „Worum ging es bei der Wette, die Hikari und zwei andere Mädchen ohne deren Wissen mit einschloss?“ Wieder antwortete Shinji nicht und auch Shun und Nintaro gaben keinen Ton von sich. „Es ging darum, wer zuerst eines der drei Mädchen flachlegt“, antwortete nun T.K. ohne Umschweife und Kari fasste sich mit der Hand an die Stirn. Sie konnte sich keinen Ort auf dieser Welt vorstellen, an dem sie in diesem Moment weniger gern wäre als hier im Büro des Schulleiters. „Darum ging es doch gar nicht!“, rief Shinji. „Ach ja? Dann können wir ja noch ein paar andere aus dem Basketballteam befragen. Und die Nachricht, die ich von dir bekommen habe, erzählt auch was anderes“, entgegnete T.K. „Was ist dein Problem, Mann? Halt' doch mal die Klappe!“, rief Shinji und starrte T.K. wütend an. Kari sah aus den Augenwinkeln, wie T.K. die Hände zu Fäusten ballte und aussah, als würde er jeden Moment aufspringen und Shinji erneut verprügeln. Sie sah ihn direkt an, was ihn wieder ein wenig zu beruhigen schien. „Mäßigt euch“, sagte Herr Kugo streng. „Hikari, du kannst dich nicht erinnern, was bei Shinji passiert ist?“, fragte Herr Hirai nun an Kari gewandt, die nur den Kopf schüttelte. „Dann könnte unter Umständen eine Vergewaltigung vorliegen, also solltest du besser erzählen, was passiert ist, Shinji.“ Bei dem Wort Vergewaltigung wurde Kari fast schwindelig. So hatte sie die Sache noch nicht betrachtet. Vielleicht war sie so im Delirium gewesen, dass sie nicht mehr ansprechbar gewesen war und dann konnte man tatsächlich von einer Vergewaltigung reden. „Ich hab' sie nicht vergewaltigt! Sie war wach und hat sich nicht gewehrt!“, widersprach Shinji heftig, dem dieser Vorwurf anscheinend genauso wenig gefiel wie Kari. „Kannst du das beweisen?“, fragte Herr Hirai. „Ja, kann ich“, antwortete Shinji und holte sein Handy aus seiner Hosentasche. Kari ahnte, was jetzt kam und musste dem Drang widerstehen, aus dem Raum zu rennen. Selbst den berühmtberüchtigten Kartoffelsaft ihrer Mutter würde sie jetzt lieber trinken als das hier mitzumachen. „Hier ist das Foto. Sie ist eindeutig wach“, sagte Shinji und drückte Herrn Hirai sein Handy in die Hand. Herr Hirai saß neben T.K. und so konnte auch Kari einen kurzen Blick auf das Foto werfen, woraufhin sie leise stöhnte und den Blick wieder abwandte. Es zeigte sie, wie sie in einem Versuch lasziv zu lächeln in die Kamera blickte. Auch war deutlich zu erkennen, dass sie nackt war. „Darf ich bitte gehen?“, fragte sie und stand auf. „Warte bitte noch ein paar Minuten“, antwortete Herr Hirai und gab Shinji das Handy zurück. Deprimiert setzte Kari sich wieder hin und vergrub das Gesicht in den Händen. „Dieses Foto hast du also von Hikari gemacht und an mehrere Mitschüler geschickt“, fuhr Herr Hirai fort. „Ja“, antwortete T.K. an Shinjis Stelle. „Ja, okay, ich hab's gemacht“, sagte Shinji genervt. „Und ihr habt euch auch an der Wette beteiligt“, sagte Herr Hirai an Shun und Nintaro gewandt, die nickten. „Also hast du, Shinji, auf jeden Fall wiederholt Alkohol für eine Minderjährige bestellt, Fotos von ihr gemacht und sie an Mitschüler verschickt“, fasste Herr Hirai zusammen. „Ja, schön, das ist aber kein Grund, mir die Nase zu brechen!“, rief Shinji wütend und funkelte T.K. an. „Ich möchte euch fünf jetzt bitten, draußen zu warten. Wir wollen beratschlagen, was nun zu tun ist“, sagte Herr Hirai. Alle fünf standen eilig auf und liefen aus dem Raum. „Wieso rennst du zum Schulleiter? Reicht dir das hier nicht?“, rief Shinji draußen im Flur und deutete auf seine Nase. T.K. setzte gerade zu einer Entgegnung an, doch Kari kam ihm zuvor. „Das war er nicht. Das war ich.“ Shinji stöhnte genervt und wandte sich von ihr ab an Shun und Nintaro. Kari drehte sich zu T.K. um und sah ihn vielsagend an. „Ich nehme dir die Suspendierung ab. Ich kann mich hier eh nie wieder blicken lassen.“ „Jetzt gib dir nicht die Schuld an der Sache. Du kannst nichts dafür, dass er solche dämlichen Wetten abschließt“, antwortete T.K. trocken. „Ist doch mittlerweile egal, wer schuld ist. Hast du die Fotos gesehen? Gut, der Leiter meiner Schule nämlich auch“, murmelte sie düster. Darauf schien er auch keine Antwort zu haben, denn er atmete nur hörbar aus und lehnte sich gegen die Wand. „Tut mir echt Leid.“ Kari ließ den Kopf hängen und versuchte, sich vorzustellen, wie sie an einer Sportschule im Ausland aufgenommen wurde und nie mehr hierher zurückkehren musste. Diese Vorstellung machte es ihr ein wenig leichter, zu warten und nicht sofort wegzurennen. Kapitel 20: Nächste Frage ------------------------- Nach einer gefühlten Ewigkeit kam Herr Kugo nach draußen und holte die fünf Schüler zurück in das Büro. Erneut nahmen sie auf den Stühlen Platz und Kari wartete gespannt, was nun passieren würde. Herr Hirai warf einen Blick auf seine Notizen, bevor er sich an die fünf wandte. „Shun und Nintaro, ihr erhaltet eine Verwarnung. Euer Klassenlehrer wird mit euch noch einmal über die Sache mit der Wette sprechen.“ Er wandte sich an Shinji. „Shinji, du bist für den Rest der Woche vom Unterricht ausgeschlossen und erhältst einen Tadel, weil du einer Mitschülerin während einer Schulveranstaltung Alkohol gekauft hast und anschließend intime Fotos von ihr an Mitschüler geschickt hast. So ein Verhalten ist an unserer Schule nicht geduldet. Über die genaue Bedeutung des Tadels wird dein Klassenlehrer dich aufklären.“ Nun wandte er sich an T.K. und Kari. „Takeru, deine Suspendierung ist hiermit aufgehoben, doch den Aufsatz über Gewalt wirst du trotzdem schreiben und zwar sieben Seiten. Auch Schlägereien sind an dieser Schule nicht geduldet. Hikari, du erhältst eine schriftliche Ermahnung und deine Eltern werden informiert. Außerdem wirst du einen fünfseitigen Aufsatz über die Gefahren von Alkoholkonsum schreiben.“ Kari nickte langsam. Mit dieser Strafe konnte sie leben. Und T.K. durfte den Unterricht wieder besuchen, Shinji dafür nicht. Alles in allem war sie zufrieden mit diesem Ergebnis. Alle bis auf Shinji durften anschließend das Büro verlassen und wurden gebeten, nach Hause zu gehen. Sicher bekam Shinji noch einige Informationen zu seiner Suspendierung und seinem Tadel. Kari war heilfroh, dass sie dieses Gespräch hinter sich hatte und nun wieder nach Hause gehen konnte. Gemeinsam mit T.K. verließ sie das Schulgebäude, ohne sich noch einmal nach Shun und Nintaro umzudrehen. Schweigend liefen sie nebeneinander her. Vermutlich hing auch er seinen Gedanken nach. Sie kamen zu der Wegkreuzung, von welcher sie eigentlich in unterschiedliche Richtungen gehen mussten, doch Kari ergriff die Initiative. „Möchtest du vielleicht noch mit zu mir kommen?“, fragte sie. T.K. musterte sie überrascht und machte Kari verlegen, da er nicht sofort antwortete. „Naja, meine Mutter will bestimmt unbedingt wissen, wie es ausgegangen ist und... dann kannst du ihr das einfach erklären und ich muss das nicht machen“, stammelte sie und betrachtete dabei eingehend ihre Füße. Was redete sie da eigentlich? „Ähm... okay?“, erwiderte T.K. und Kari spürte, dass sie rot anlief. Was redete sie hier eigentlich? Während des Weges nach Hause redeten sie beide nicht sonderlich viel. Kari fragte sich, was sie eigentlich dazu gebracht hatte, T.K. zu sich nach Hause einzuladen. Wahrscheinlich war ihre Mutter noch nicht einmal da. War sie tatsächlich nicht. Die beiden betraten die Wohnung und wurden von Stille begrüßt. „Tja, also, wir müssen wohl noch ein bisschen warten“, stellte Kari fest, doch T.K. zuckte nur mit den Schultern. Er folgte ihr in die Küche, wo sie ihm ein Glas Wasser gab und sich an den Küchentisch setzte. „Hör mal, T.K.“, fing sie an, woraufhin er langsam auf dem Stuhl ihr gegenüber Platz nahm, an seinem Wasser nippte und sie abwartend ansah. „Danke, dass du dich so für mich eingesetzt hast.“ Überrascht hob er die Augenbrauen. „Ich dachte, dir gefällt es nicht, dass ich ihm die Nase gebrochen habe.“ „Tut es ja auch nicht. Aber ich weiß ja, dass du das für mich gemacht hast und... ja. Ich hab' mich noch gar nicht dafür bedankt“, murmelte sie und sah ihm in die Augen. „Also danke.“ T.K. lächelte sanft. „Keine Ursache. Danke, dass du zum Schulleiter gegangen bist und die Sache erklärt hast.“ „Dafür gibt’s nichts zu danken“, antwortete Kari bestimmt. „Ich kann doch nicht zulassen, dass du wegen mir bestraft wirst und das nur, weil du mir helfen wolltest.“ „Aber es war dir so unangenehm“, erwiderte T.K. Unangenehm war noch sehr vornehm ausgedrückt für das, was Kari empfunden hatte, doch nun war dieses Gespräch vorbei. „Egal“, sagte Kari abwinkend. „Nun haben alle eine Strafe bekommen und es ist vorbei.“ T.K. nickte und wieder schwiegen sie für einige Sekunden. Kari starrte ihre Hände an, die auf der Tischplatte lagen, und versuchte zu realisieren, dass sie hier zum ersten Mal seit langem in Frieden mit T.K. saß und alles zwischen ihnen einigermaßen okay war. Nun ja, eigentlich nicht. „T.K., ich habe deine Briefe gar nicht gelesen“, platzte sie einfach heraus. Einerseits, um die Stille zwischen ihnen zu beenden, andererseits, um von sich aus dieses Thema anzusprechen. Vielleicht wurde es doch langsam Zeit, diese Sache zu klären und aus der Welt zu schaffen. „Das dachte ich mir inzwischen“, meinte T.K. trocken. „Aber ich habe angefangen, sie zu lesen, als du wieder gekommen bist“, sagte Kari. „Zwei fehlen noch.“ „Dann war das Armband, das du zum Ball getragen hast, wirklich das, was ich dir geschenkt hab'?“, fragte er nach und Kari nickte. „Und das heißt, du bist jetzt doch bereit, mit mir zu reden?“ Sie fing seinen Blick auf und zuckte mit den Schultern. „Wir können es ja versuchen.“ Er lächelte leicht. „Warum hast du die Briefe nicht weggeworfen, wenn du sie schon nicht gelesen hast?“ „Keine Ahnung. Sie waren irgendwie... eine Verbindung zu dir, obwohl ich dir nicht geantwortet habe“, antwortete sie langsam. „Ich konnte sie einfach nicht wegschmeißen.“ Sie sah auf. „Warum hast du mir erst einen Tag vor eurer Abreise erzählt, dass du wegziehst?“ „Ich... wollte nicht, dass die letzten Wochen, die ich mit dir verbringe, von Abschied geprägt sind und dann die ganze Zeit schlechte Stimmung in der Luft hängt. Ich wollte noch ein paar normale Wochen mit dir verbringen, so wie vorher eben“, antwortete er. „Das war ein bisschen egoistisch, ich weiß. Und es tut mir auch Leid, dass ich dir nicht eher Bescheid gesagt habe.“ „Wolltest du mit deiner Mutter nach Paris ziehen?“, fragte Kari weiter. „Nein“, sagte T.K. sofort. „Natürlich nicht. Mein Französisch war nicht so gut und ich kannte keinen in meinem Alter in Frankreich, bis auf meine Cousine. Es hat mich echt geschockt, als meine Mutter mir eröffnet hat, dass sie mit mir nach Paris ziehen will.“ „Warum bist du nicht bei deinem Vater und Matt geblieben?“ „Wird das hier ein Verhör?“ T.K. lächelte schief. „Ich wollte das meiner Mutter nicht antun. Sie hatte ja schon meinen Vater und Matt verloren, da wollte ich wenigstens bei ihr bleiben, auch wenn ich dann nach Paris gehen musste.“ „Und der Grund, warum deine Mutter nach Paris wollte, war ein Mann?“, hakte Kari nach. T.K.s Miene verfinsterte sich. „Mhm. Jean.“ Kari runzelte die Stirn. „Was hat es denn mit Jean auf sich?“ T.K. zögerte und wandte den Blick von ihr ab. Anscheinend dachte er nach. „Er war eben ihr damaliger Freund.“ „Und jetzt nicht mehr?“ „Nein.“ „Weshalb haben sie sich getrennt?“ T.K.s Blick wurde abweisend. „Nächste Frage.“ „Okay“, sagte Kari verwirrt. „War die Trennung der Grund, dass sie wieder zurück wollte?“ „Ja, aber nicht der alleinige. Sie vermisste Japan.“ Kari nickte. „Warum bist du mit Matt zerstritten?“ T.K. seufzte. „Nächste Frage.“ Kari hob eine Augenbraue. „Seit wann bist du mit ihm zerstritten?“ T.K. dachte kurz nach. „Seit ungefähr einem Jahr, glaube ich.“ „So lange?“ Kari konnte sich nicht im Geringsten vorstellen, für so eine lange Zeit nicht mehr mit Tai zu reden. Sie würde ihn schrecklich doll vermissen. T.K. antwortete nicht, sondern sah sie abwartend an. „Noch mehr Fragen?“ „Ja. Warum hast du mir weiter Briefe geschrieben, obwohl ich nicht geantwortet habe?“, fragte sie. „Ich schätze, weil ich gehofft habe, dass du antwortest, obwohl ich schon beim zweiten Brief nicht mehr daran geglaubt habe“, antwortete er. „Und außerdem wollte ich dir eben zum Geburtstag gratulieren und...“ „Und?“, fragte Kari, als er nicht weiterredete. „Und es hat sich dadurch so angefühlt, als hätte ich noch Kontakt zu dir“, murmelte er. „Ich hab' dich schon ziemlich vermisst.“ Kari biss sich auf die Unterlippe, antwortete aber nicht. Sie wollte ihm jetzt nicht sagen, dass sie ihn auch schrecklich vermisst hatte. „Glaubst du, wir könnten... irgendwie... wieder von vorn anfangen?“, fragte T.K. nach einer Weile. „Als wäre nichts gewesen?“ Kari seufzte. „Keine Ahnung. Ich glaube nicht, dass ich so tun kann, als wäre das nicht passiert, wenn ich ehrlich bin.“ T.K. nickte, ohne sie anzusehen. Sein Blick wirkte trüb. „Aber... ich werde versuchen, das hier irgendwie hinzukriegen. Ich meine, vielleicht habe ich ja auch ein bisschen übertrieben oder so. In der letzten Zeit. Damit, dass ich dich so ignoriert habe. Du weißt schon.“ Und wieder war sie verlegen. Irgendwie wurde das zu ihrem Dauerzustand. Nun sah T.K. sie wieder an und lächelte leicht. „Ach was. Ich weiß nicht, wie ich an deiner Stelle reagiert hätte. Ich denke, ich wäre auch ganz schön sauer geworden.“ Kari zuckte mit den Schultern und wollte etwas erwidern, doch in dem Moment hörte sie, wie der Schlüssel im Schloss der Wohnungstür herumgedreht wurde. Wenig später stand ihre Mutter in der offenen Wohnküche. „Oh, hallo ihr beiden“, sagte sie und wirkte erfreut. Auf einmal schien sie viel freundlicher als in den letzten zwei Tagen zusammen, in denen Kari ihr kaum hatte begegnen wollen. „Soll ich euch etwas zu essen machen?“ Kari beobachtete, wie T.K. schon nach einer Ausrede suchte und beschloss, ihm zu helfen. „Danke, Mama, T.K. muss gleich los. Aber vorher will er dir was erzählen“, sagte sie und sah T.K. auffordernd an, der ihren Blick verwirrt erwiderte. Yuuko wandte sich mit fragendem Blick an ihn. „Ja, also... ähm...“, stammelte er. „Konntet ihr was in der Schule erreichen?“, fragte Yuuko, als er nicht weitersprach. „Ja, T.K. ist nicht mehr suspendiert, aber dafür Shinji“, antwortete Kari an T.K.s Stelle. „Aber dafür hat Kari jetzt eine Strafe abbekommen“, fügte T.K. in bedauerndem Ton hinzu. „Oh, ehrlich? Das freut mich für dich, T.K. Und was hat Kari für eine Strafe bekommen?“, fragte sie an T.K. gewandt, obwohl Kari mithörte. Für einen Augenblick fühlte sie sich ein wenig übergangen. „Sie muss einen Aufsatz über Alkoholkonsum schreiben“, antwortete er und sah dabei Kari an, die zustimmend nickte. Yuuko warf ihrer Tochter einen mürrischen Blick zu. „Sie hätten dir ruhig eine härtere Strafe verpassen können. Das hättest du verdient.“ Kari verzog das Gesicht und sah ihre Mutter entgeistert an. Hatte sie da gerade richtig gehört? Was sollte das denn? „Es war nicht Karis Schuld“, sprang T.K. zu Karis Verteidigung ein. „Sie wurde verwettet und abgefüllt. Sie hatte nur Pech, dass Shinji es ausgerechnet auf sie abgesehen hatte.“ „Oh, ich bezweifle, dass sie gezwungen wurde, Alkohol zu trinken“, erwiderte Yuuko und verschränkte die Arme vor der Brust. Kari verdrehte die Augen und schaltete ab. Ihre Mutter übertrieb es langsam. Hoffentlich bekam sie sich bald wieder ein, denn Kari fand es ein wenig verletzend, wie sie sich benahm. Schließlich konnte sie ihren Fehler nun nicht mehr rückgängig machen. T.K. und ihre Mutter unterhielten sich noch eine Weile über die Strafen, die die anderen drei Jungen bekommen hatten, bevor T.K. schließlich verkündete, dass er nun nach Hause müsste. „Jetzt haben wir so lang geplaudert, da hätte ich euch doch noch was kochen können“, sagte sie und stemmte die Hände in die Hüften. „Beim nächsten Mal dann aber wirklich.“ „Ja“, sagte T.K. langsam und stand auf. Kari begleitete ihn zur Tür und seufzte, als sie außer Hörweite ihrer Mutter waren. „Du brauchst mich nicht vor meiner eigenen Mutter verteidigen“, murmelte sie beschämt. „Das kriege ich allein hin.“ „Sorry“, meinte T.K. schulterzuckend. „Ich wollte dir nur helfen.“ Unschlüssig standen sie sich gegenüber und keiner von ihnen schien zu wissen, was für ihre derzeitige Beziehung zueinander ein angemessener Abschied wäre. Verbeugung? Umarmung? Lächeln? Nicken? „Tja ähm... dann bis morgen in der Schule“, sagte Kari. „Jetzt darfst du ja wieder kommen.“ T.K. lächelte amüsiert. „Ja. Jetzt muss ich wieder kommen ist wohl passender.“ „Oh, entschuldige, dass ich dir deine Ferienwoche vermiest habe“, antwortete Kari sarkastisch. T.K. lachte leicht. „Bis morgen.“ Ein letztes Lächeln, dann drehte er sich um und ging. Kari stand noch so lang in der offenen Wohnungstür, bis sie seine Schritte nicht mehr hörte. Kapitel 21: Der vierte Brief ---------------------------- Mit einer Tasse Tee hatte Kari sich in ihr Zimmer verzogen und kramte nun in der untersten Schreibtischschublade nach den Briefen. Da sie sich heute recht gut mit T.K. verstanden hatte, hatte sie kurzerhand beschlossen, einen weiteren Brief zu lesen. Drei waren schon offen, übrig blieben noch zwei. Sie nahm den in die Hand, den sie an ihrem sechzehnten Geburtstag erhalten hatte. Erneut wunderte sie sich darüber, dass T.K. so hartnäckig geblieben war und ihr immer weiter Briefe geschrieben hatte, obwohl ihre Antworten ausgeblieben waren. Vorsichtig öffnete sie den Umschlag und nahm zwei Bögen Papier heraus. Hallo Kari, alles Liebe zu deinem 16. Geburtstag! Ich wünsche dir viele Geschenke, Spaß in der Schule und eine tolle Party. Jetzt hast du die Sweet Sixteen erreicht. Sagt man doch so, oder? Ich hoffe, du machst in den kommenden Monaten ein paar Sachen, die man mit sechzehn angeblich so macht: erster Alkoholabsturz, erstes Mal, rauchen, kiffen, klauen, küssen, von zu Hause abhauen... Drei Dinge davon hab ich auch schon gemacht, seit ich 16 bin. Du kannst selber raten, welche. Vielleicht kennst du mich ja noch gut genug, um sie herauszukriegen. Ich hoffe, es geht dir in Tokio gut und dein Leben ist schön. Meins hier ist ganz okay. Zur Zeit ist ziemlich viel los. Seit letztem Schuljahr bin ich auf dem Lycée und in diesem Jahr habe ich mich für den literarischen Zweig entschieden. Das heißt, ich musste im Sommer schon wissen, was ich ungefähr später mal machen möchte, um nächstes Jahr das Bac im richtigen Zweig zu machen. Hier schließt man die Schule nämlich mit Prüfungen ab, muss dafür aber keine Aufnahmeprüfungen an Unis ablegen, weißt du? Ist alles ein bisschen anders als in Japan. Jedenfalls glaube ich, dass ich mal Schriftsteller werden oder für eine Zeitung arbeiten will. Hoffentlich bekomme ich im Bac gute Noten. Weißt du schon, was du nach der Schule machen willst? Möchtest du immer noch Kindergärtnerin werden? Vielleicht könnte ich dann irgendwann in hundert Jahren meine Kinder zu dir in den Kindergarten schicken. Das wäre doch irgendwie witzig. Also, ich hoffe, es geht dir gut und du feierst ein bisschen. Natürlich habe ich dir auch wieder ein klitzekleines Geschenk mitgeschickt. Liebe Grüße T.K. Kari faltete die Bögen fein säuberlich wieder zusammen und steckte sie zurück in den Umschlag. Stattdessen holte sie nun T.K.s Geschenk heraus. Es handelte sich um ein Foto und ein paar der Schokoladenbonbons, die sie immer so mochte. Das Foto war ziemlich alt und zeigte sie und T.K. im Alter von sechs oder sieben Jahren. Sie grinsten beide in die Kamera und entblößten dabei stolz einige Zahnlücken. Zu dieser Zeit war Kari noch größer als T.K. gewesen, doch irgendwann in der fünften oder sechsten Klasse hatte er sie überholt und heute überragte er sie um einen Kopf. Gut, dass Menschen auch irgendwann aufhörten zu wachsen. Das Klingeln ihres Handys riss sie aus ihren Gedanken. Das Display verriet ihr, dass es Tai war, der anrief. „Hey Tai“, sagte sie, als sie dranging. „Hi Kari“, erwiderte er und klang ein wenig erschöpft. „Wie geht’s dir?“ „Gut“, antwortete Kari ausweichend. Sie konnte Tai unmöglich von dem ganzen Desaster des letzten Wochenendes erzählen. Vermutlich würde er Shinji umbringen und Matt und T.K. gleich dazu, weil sie sie nicht aufgehalten hatten. Vielleicht konnte sie ihm diese Geschichte irgendwann einmal erzählen, wenn Gras darüber gewachsen war, doch jetzt nicht. „Und dir?“ „Es geht drunter und drüber“, seufzte er. „Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Ich werde Vater und außerdem werde ich im September heiraten.“ „Oh!“, rief Kari. „Also hat Mimis Vater der Hochzeit nun doch zugestimmt?“ „Ja, gestern haben wir uns mit ihren Eltern getroffen und dann hat er uns gesagt, dass wir seinen Segen haben“, antwortete Tai. „Wie schön. Dann kommen ja hoffentlich bald Einladungen ins Haus geflattert“, sagte Kari grinsend. „Und ich kann mir mal ein neues Kleid kaufen.“ „Du hast doch schon ein Kleid“, entgegnete Tai trocken. „Ich brauche ein neues“, meinte Kari nur. „Wollt ihr eine große Party? Oder eher eine kleine familiäre Feier?“ „Also wenn ich schon heirate, dann will ich eine Party mit vielen Leuten. Ich hatte mir gedacht, wir könnten die ganze alte Gruppe einladen“, antwortete er nachdenklich. „Was meinst du dazu?“ „Finde ich super. Ich habe viele schon ewig nicht mehr gesehen. Bei Izzy, Joe und Sora ist es schon drei Jahre her, glaube ich. Und Cody und Yolei habe ich auch schon seit einer Weile nicht mehr gesehen“, antwortete Kari. „Hoffentlich können auch alle kommen“, meinte Tai. „Warum sagst du eigentlich nichts dazu, dass ich Vater werde? Ich dachte, das wäre die umwerfendere Nachricht von beiden.“ „Weil ich es schon weiß“, antwortete Kari gelassen. „Mimi hat es mir letzte Woche erzählt, aber ich durfte es dir nicht sagen.“ Tai stieß ein genervtes Stöhnen aus. „Diese Frau. Schön, dass ich es überhaupt erfahren durfte, bevor der Kleine auf der Welt ist.“ „Der Kleine? Woher willst du wissen, dass es ein Junge wird?“, fragte Kari verwirrt. „Ich glaube, ich kann nur Jungs zeugen“, antwortete Tai entschieden und Kari musste lachen. „In ein paar Monaten werden wir ja sehen, was du zeugen kannst und was nicht“, sagte sie kichernd. „Freust du dich denn?“ „Hm“, machte er nachdenklich. „Zuerst war ich geschockt und Mimi dachte schon, ich würde sie jetzt verlassen. Aber ich freue mich, klar. Immerhin ist ein kleiner Tai unterwegs.“ „Du spinnst doch“, sagte Kari kopfschüttelnd. „Habt ihr es Mimis Eltern schon erzählt?“ „Nee. Wir überlegen, ob wir es ihnen erst nach der Hochzeit sagen“, murmelte Tai mürrisch. „Sonst wird das wahrscheinlich doch nichts.“ „Aber... wenn ihr erst im September heiratet, sieht man doch sicher schon was“, gab Kari zu bedenken. „Wäre es nicht besser, ihnen das vorher irgendwie zu verklickern? Ändern können sie es doch so oder so nicht, ob es ihnen nun gefällt oder nicht.“ Tai seufzte und Kari konnte sich gut den Blick vorstellen, den er gerade hatte. „Wir werden sehen, wie wir das machen. Einfach wird es nicht.“ „Und wann willst du es unseren Eltern sagen?“, fragte Kari nach einigen Sekunden des Schweigens. „Puh, keine Ahnung. Lieber möglichst bald, dann habe ich es hinter mir“, antwortete er ein wenig hilflos. „Ja, mach es schnell, dann sind sie wenigstens auf mich nicht mehr sauer“, meinte Kari scherzhaft. „Was? Wieso sind sie denn sauer auf dich?“, fragte Tai verwirrt und Kari gab sich innerlich eine Ohrfeige. Nun war es ihr doch herausgerutscht. „Ach, nur so. Hab' ein bisschen Mist gebaut“, antwortete sie ausweichend. „Aber ist nicht der Rede wert. Alles okay.“ „Nein, nicht okay. Was hast du gemacht? Los, raus mit der Sprache“, forderte er. „Nein, ich will mit dir nicht darüber reden, okay?“ „Nanu, was soll denn das schon sein. Du warst doch immer das Vorzeigekind von uns beiden, was sollst du schon groß ausgefressen haben?“, meinte Tai spöttisch und Kari ärgerte sich ein wenig über seinen Tonfall. „Ich habe mich auf dem Frühlingsball abfüllen und abschleppen lassen, okay?“, blaffte sie. „Was?“ Tai lachte. „Nein, jetzt mal ehrlich. Was hast du gemacht?“ „Bist du blöd? Warum glaubst du mir das nicht?“, fragte sie und wurde langsam wirklich wütend. Tai gehörte auch zu den Leuten, die sie für dieses kleine, schüchterne, liebe Mädchen von nebenan hielten, das nie jemandem auffiel. „Weil ich dich kenne. Nun sag' schon, was du gemacht hast“, sagte er ruhig. „Ach, weißt du was? Vergiss es einfach“, fauchte sie und legte auf. Kapitel 22: Zukunftspläne ------------------------- Im Laufe der folgenden Tage entwickelte Kari ein unglaublich schlechtes Gewissen, weil sie Tai so angefahren hatte. Zunächst war sie einfach nur wütend und fühlte sich verurteilt, doch dieses Gefühl wich nach und nach der Reue und Schuld. Tais Leben war zur Zeit nicht einfach und er hatte viel um die Ohren, während sie einfach nur mit sich selbst nicht zurechtkam. Dafür konnte er ja nichts. Mit T.K. und ihr ging es dafür stetig bergauf. Zwar beschränkte sich ihre gemeinsame Zeit auf den Schulalltag, den sie nebeneinandersitzend verbrachten, doch diese Zeit nutzten sie aus, um über alles Mögliche zu plaudern. Meist handelte es sich dabei um ganz alltägliche Dinge wie Schule, Familie und Freunde. Da sie immer gleichzeitig Training hatten, gingen sie danach nun immer gemeinsam nach Hause, so weit es eben ging. Kari wusste, dass Nana sie beobachtete, obwohl sie nichts zu ihr und T.K. sagte. Sie und Ken näherten sich ebenfalls immer mehr an, allerdings wusste Kari, dass es sich dabei nicht um eine freundschaftliche Ebene handelte, sondern eher um eine romantische. Nana war mittlerweile ziemlich in Ken verknallt und suchte ständig seine Nähe, weshalb sie die Pausen nun immer mit ihm, Kari und Davis verbrachte. Was mit Davis los war, hatte Kari hingegen noch nicht herausgefunden. Er hatte sich in den letzten Tagen recht viel zurückgezogen und mehr Zeit mit den Jungs vom Fußball verbracht als mit ihr und Ken. Er wirkte nicht mehr so fröhlich und unbeschwert wie sonst. Irgendetwas schien ihn zu belasten. Kari hatte zunächst vermutet, dass er in Nana verliebt war und es ihm gar nicht passte, dass diese offensichtlich ein Auge auf Ken geworfen hatte, doch sicher war sie sich mit ihrer Theorie nicht. Aber es war nicht zu übersehen, dass mit Davis irgendetwas nicht stimmte. Jedes Mal, wenn Kari oder Ken ihn darauf ansprachen, blockte er jedoch ab und behauptete, es wäre alles in Ordnung. Shinji tauchte für den Rest der Woche nicht mehr im Unterricht auf. Er musste dafür jeden Morgen in die Schule kommen und sich die Aufgaben für den Tag abholen, die er zu Hause erledigen sollte. Am Ende des Schultages musste er die erledigten Aufgaben dann wieder in der Schule abgeben. Von Nana, die stets allen Klatsch und Tratsch der Schule mitbekam, hatte Kari erfahren, dass er von seinen Eltern ziemlichen Ärger wegen der Suspendierung bekommen hatte. In der Woche danach durfte er zwar wieder den Unterricht besuchen, doch nicht das Basketballtraining. Von dort wurde er einen Monat ausgeschlossen, Shun und Nintaro zwei Wochen. Sollte sich Shinji für den Rest seiner Schulzeit noch einen Fehltritt erlauben, würde man ihn der Schule verweisen. Von Aya fühlte Kari sich mehr gehasst denn je. Sie ignorierte sie völlig und Kari bekam oft mit, wie diese hinterhältige Schlange hinter ihrem Rücken mit anderen über sie tuschelte. Anscheinend stand sie total auf T.K. und es schien ihr nicht zu passen, dass Kari sich nun langsam mit ihm anfreundete. Und Aya war nicht die Einzige, die es auf den auffällig blonden Neuen abgesehen hatte. So einige Mädchen der Schule versuchten, irgendwie mit ihm in Kontakt zu kommen. Er war ziemlich beliebt, was Kari inzwischen auch verstehen konnte. Er sah gut aus; dank seiner europäischen Wurzeln war er größer als die meisten anderen Jungs der Schule, hatte blonde Haare, blaue Augen, womit er ebenfalls auffiel, und wenn er lächelte, bildeten sich Grübchen in seinen Wangen. Außerdem hatte er eine recht sportliche Figur, was ebenfalls gut ankam. Er war immer freundlich und charmant und schaffte es damit sicher, so manches Mädchen um den Finger zu wickeln. Gleichzeitig wirkte er jedoch manchmal etwas kühl und reserviert, was ihn geheimnisvoll machte, worauf viele seltsamerweise auch standen. Es war irgendwann Anfang Juni, als Kari mit T.K. auf einer Wiese im Park lag und sie ihren Aufsatz zu Ende schrieben. Sie hatten sich beide nur sehr schwer motivieren können, diesen Aufsatz zu schreiben und hatten schließlich beschlossen, ihn gemeinsam zu beenden in der Hoffnung, dass sie es dann endlich schafften. In einer Woche mussten sie ihn abgegeben haben. Sie hatten in den letzten zwei Stunden kaum geredet, sondern nur hier gelegen und geschrieben. „Also ich glaube, ich bin jetzt fertig“, verkündete Kari schließlich und legte den Stift weg. „Wie sieht's bei dir aus?“ T.K. kaute auf dem Ende seines Stifts herum und starrte auf sein Blatt, doch dann nickte auch er. „Fertig.“ Wortlos tauschten sie ihre Aufsätze aus und lasen den Aufsatz des jeweils anderen. Je mehr Kari jedoch von T.K.s Schreibwerk las, desto mehr verspürte sie das Bedürfnis, ihres noch einmal zu schreiben. Sie hatte nicht das Gefühl, den Aufsatz eines siebzehnjährigen Schülers zu lesen, sondern den eines erfahrenen Autors. T.K. verstand es, mit Sprache zu spielen, Metaphern einzusetzen, Verknüpfungen herzustellen und Inhalt und Form perfekt aufeinander abzustimmen. Mit offenem Mund ließ Kari die Blätter sinken und starrte T.K. an. „Was ist?“, fragte dieser stirnrunzelnd. „Findest du es so schlecht?“ „Wieso kannst du so gut schreiben?“, fragte Kari perplex. T.K. zuckte mit den Schultern. „Ich finde es gar nicht so gut. Viele Stellen sind holprig und gefallen mir nicht, aber ich habe jetzt keine Lust, das noch mal alles auszubessern.“ „Wieso kannst du so gut schreiben?“, wiederholte Kari ihre Frage nur. „Ich hab' in Paris ein Jahr lang bei einer Zeitung gearbeitet und ein paar Artikel geschrieben und mit vierzehn habe ich ein Praktikum in einem Verlag gemacht“, antwortete er schließlich abwinkend. „Krass“, brachte Kari nur hervor. „Dagegen klingt meins wie von einem Kindergartenkind.“ „Ach was“, erwiderte T.K. „Ist doch gut geworden.“ „Erzähl' nicht“, sagte Kari spöttisch und gab T.K. seinen Aufsatz zurück. „Aber für Herrn Hirai wird’s schon reichen.“ „Eben“, meinte T.K. „Die wollen doch nur sehen, dass wir überhaupt was gemacht haben.“ Er drehte sich auf den Rücken, streckte die Arme aus und schloss die Augen. Kari musterte ihn nachdenklich. Der vierte Brief kam ihr wieder in den Sinn. Dort hatte er ja geschrieben, dass er den literarischen Zweig des Gymnasiums belegt hatte. Offenbar nahm das Schreiben in seinem Leben einen großen Teil ein und sie hatte es gar nicht gewusst. Was sie wohl noch alles nicht von ihm wusste? Eine Sache fiel ihr sofort ein. „Kann ich dich was fragen?“, fragte sie. „Mhm“, machte er, ohne die Augen zu öffnen. Er sah aus, als wäre er bereits eingeschlafen. Die Arme hatte er nun unter dem Kopf verschränkt. „In deinem vierten Brief hast du ein paar Sachen aufgezählt, die man mit sechzehn macht. Rauchen, kiffen, küssen, das erste Mal, klauen, von zu Hause abhauen und den ersten Alkoholabsturz. Und du hast geschrieben, dass du drei Sachen davon gemacht hast. Welche waren das?“ Ein Lächeln huschte über seine Lippen, doch die Augen öffnete er noch immer nicht. „Was denkst du denn?“ „Hm“, machte Kari, zog die Augenbrauen zusammen und dachte nach. „Sind es immer noch nur drei Sachen, die du davon gemacht hast?“ „Ja“, antwortete T.K. „Also geklaut hast du nicht“, sagte Kari nach einer Weile. „Richtig.“ „Und von zu Hause abgehauen bist du auch nicht.“ „Richtig.“ „Aber geraucht hast du.“ „Ja.“ Er lächelte belustigt. „Eine Schachtel habe ich mir mal gekauft und die geraucht, aber das war's dann.“ „Sehr löblich“, fand Kari. „Und die anderen beiden Sachen sind küssen und das erste Mal.“ Er lachte leicht. „Das eine ja, das andere nein.“ „Das erste Mal, und deinen ersten Kuss hattest du schon eher“, sagte Kari. „Nein, falsch“, erwiderte T.K. grinsend. „Mit sechzehn hattest du deinen ersten Kuss?“, fragte Kari ungläubig. „Jap“, antwortete er. „Warum überrascht dich das? Wann hattest du deinen denn?“ „Das ist unwichtig“, sagte Kari ausweichend. Sie fragte sich, ob sie Shinji wohl geküsst hatte. Falls nicht, hatte sie noch keinen richtigen Kuss erlebt. Dass T.K. anscheinend noch Jungfrau war, wunderte sie sehr. Irgendwie hätte sie ihn für eine Art Womanizer gehalten. „Dann ist das Dritte der Alkoholabsturz“, schloss sie. „Nein“, sagte T.K. Erschrocken sah Kari ihn an, doch noch immer waren seine Augen geschlossen. „Du hast gekifft?“ Er lächelte schief. „In Frankreich wird man irgendwie leichter dazu verführt als hier.“ „Okay, das... das hätte ich jetzt nicht gedacht“, sagte sie verwirrt. „Wie hat es sich denn angefühlt?“ „Ein bisschen wie betrunken sein“, antwortete T.K. nach ein paar Sekunden. „Alles war witziger und manche Sachen hat man viel klarer wahrgenommen als vorher und andere dafür gar nicht bemerkt.“ „Klingt, als bräuchte ich das nicht probieren“, meinte Kari. T.K. zuckte nur mit den Schultern, öffnete die Augen und setzte sich auf. Er sah Kari durchdringend an. „Darf ich dir jetzt mal eine Frage stellen?“ Unwillkürlich wich sie ein wenig zurück. „Okay?“ „Heiraten Tai und Mimi wirklich?“ Verblüfft starrte sie ihn an, dann musste sie lachen. Vor ein paar Tagen waren die Einladungen alle angekommen. „Ja, warum zweifelst du an der Einladung?“ „Keine Ahnung, es kam so unerwartet“, antwortete er. „Die anderen sind auch alle eingeladen“, erklärte Kari. „Welche anderen?“ „Na Matt und Joe und Sora und so. Alle halt.“ „Okay. Ich habe mich schon über die Einladung gewundert“, meinte T.K. „Die anderen wundern sich bestimmt auch“, meinte Kari. „Wirst du kommen?“ „Weiß ich noch nicht“, sagte T.K. nachdenklich. „Aber wahrscheinlich schon.“ „Cool“, fand Kari und lächelte. „Es wird bestimmt eine schöne Party. Und ich kann es gar nicht erwarten, alle wiederzusehen.“ „Wird sicher spannend“, sagte T.K. mit einem seltsamen Blick, doch Kari musste ihm zustimmen. Sie war schon gespannt, was auf dieser Feier alles passieren würde. „Kann ich dich noch was fragen?“, fragte T.K. und musterte sie interessiert. „Ja?“, sagte Kari unsicher und fragte sich, was jetzt wohl wieder kommen würde. „Was willst du eigentlich nach der Schule machen?“ Wie kam er denn jetzt plötzlich wider auf dieses Thema, nachdem sie gerade noch von der Hochzeit gesprochen hatten? „Ähm... also...“, stammelte Kari. „Ich möchte ins Ausland gehen auf eine Tanzschule und Tänzerin werden.“ Überrascht zog T.K. die Augenbrauen hoch. „Also nicht mehr Kindergärtnerin?“ „Nein“, antwortete Kari. „Ich will lieber was von der Welt sehen und durch die Gegend reisen. Außerdem hat Nobuko mir vorgeschlagen, das mal in Betracht zu ziehen. Also wer weiß? Vielleicht habe ich ja eine Chance.“ T.K. beobachtete sie eine Weile und schien nachzudenken. „Okay“, sagte er schließlich. „Das ist ein ziemlich großer Traum.“ „Ich weiß“, murmelte Kari. „Vielleicht wird es ja auch nichts und ich bin viel zu schlecht, aber versuchen kann ich es ja mal.“ „Ich habe auch mal daran gedacht, etwas mit Sport zu machen. Aber ich glaube, das Schreiben liegt mir mehr“, erzählte T.K. Kari nickte. „Meine Eltern sind allerdings nicht so begeistert davon. Das heißt, meine Mutter weiß es noch nicht, aber mein Vater findet das nicht gut.“ „Ich glaube, das ist typisch für Eltern“, meinte T.K. „Meine Mutter war anfangs auch nicht begeistert davon, dass Matt Musiker ist, aber jetzt ist er so erfolgreich, dass sie sich darüber freut.“ „Es ist wirklich unglaublich, wie bekannt er mit seiner Band geworden ist“, stimmte Kari zu. „Ja, aber er hat auch einiges dafür aufgegeben“, gab T.K. zu bedenken. „Er hat kein festes Zuhause, keine festen Freunde bis auf seine Band, keine Zeit für eine Freundin...“ „Ach was, das brauche ich alles nicht“, unterbrach Kari ihn und machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ich will sowieso nur weg von hier. Die Freunde, die mir wichtig sind, werde ich auch behalten. Und auf einen Freund habe ich keine Lust. Also, nichts zu verlieren.“ T.K. runzelte die Stirn, dann grinste er. „Wie du meinst. Ich muss jetzt los. Wir sehen uns morgen.“ Und mit diesen Worten stand er auf und ging. Unterdessen wurde Kari bewusst, dass T.K. nun einer der wenigen Menschen war, die wussten, dass sie nach der Schule ins Ausland gehen wollte. Als Kari wieder zu Hause ankam, war sie mehr als nur überrascht, Nana in ihrem Zimmer auf dem Bett hockend vorzufinden. „Was machst du denn hier?“, fragte sie verdattert. „Und wie bist du reingekommen?“ „Deine Mutter hat mich reingelassen und gemeint, ich solle einfach in deinem Zimmer auf dich warten“, erklärte sie in einer Geschwindigkeit, die Kari nach irgendetwas Ausschau halten ließ, das Nana jagte. „Ich muss dir was erzählen, Kari! Das kann ich nicht am Telefon!“ „Okay?“, sagte Kari noch immer verwirrt. Langsam nahm sie neben Nana Platz, deren Augen aufgeregt blitzten. „Ken hat mich gefragt, ob ich am Wochenende schon was vorhabe!“, platzte sie heraus und strahlte über das ganze Gesicht. „Oh!“, rief Kari und machte große Augen. „Wie cool!“ „Ja, oder?“, schwärmte Nana. „Er hat mich zu einem DVD-Abend bei sich eingeladen.“ „Uuuuhhh“, machte Kari und konnte sich ein Kichern nicht verkneifen, woraufhin Nana ihr den Ellbogen in die Seite stieß. „Du bist doof“, tadelte sie Kari. „Mann, ich bin so aufgeregt. Was soll ich anziehen?“ „Ich dachte, es ist nur ein DVD-Abend“, erwiderte Kari grinsend und brachte sich vor Nanas Ellbogen in Sicherheit. „Trotzdem will ich da nicht aufkreuzen wie Karl Arsch“, meinte Nana. „Ach, du wirst Ken so oder so gefallen“, sagte Kari abwinkend. „Wieso? Wie kommst du darauf? Hat er über mich geredet?“, fragte Nana aufgeregt und starrte Kari an. „Nein, du weißt doch. Er redet nicht viel über sowas“, antwortete Kari. „Das ist nur mein Gefühl.“ Nana stieß einen tiefen Seufzer aus und ließ sich nach hinten fallen. „Ich bin so schlimm verknallt. So ging es mir noch nie. Woher kommt das nur auf einmal?“ „Pubertät?“, schlug Kari vor. „Quatsch. Aber ich kenne ihn doch schon seit zwei Jahren. Warum ist das erst jetzt gekommen?“, fragte Nana an die Decke starrend. „Keine Ahnung“, antwortete Kari schulterzuckend. „Und von diesen ganzen Mädels, die auf ihn stehen, mag er ausgerechnet mich. Wie toll ist das denn?“ Schwungvoll richtete sie sich wieder auf und strahlte Kari an. „Kannst du dir das vorstellen?“ „Wieso denn auch nicht?“, erwiderte Kari. „Du bist hübsch, nett, witzig, klug, ...“ „Trotzdem“, unterbrach Nana sie. „Das ist so unglaublich. Oh, ich glaube, ich gehe lieber wieder nach Hause.“ Sie sprang vom Bett auf und schaute auf das Display ihres Handys. „Immerhin habe ich schon eine Stunde hier auf dich gewartet und ich muss noch diesen blöden Vortrag beenden.“ Sie stürmte aus dem Zimmer und Kari blickte ihr irritiert nach. Sie hatte gar keine Zeit, Nana noch zur Tür zu bringen, denn diese hatte die Wohnung schon verlassen, als Kari im Flur angekommen war. „Kari?“ Verdattert drehte Kari sich zu ihrer Mutter um, die hinter ihr erschienen war. Mittlerweile zog sie nicht mehr den Kopf ein, wenn ihre Mutter sie ansprach. Sie schien ihr allmählich verziehen zu haben. „Hast du mal kurz Zeit?“ „Ja, was gibt’s denn?“ Ihre Mutter nahm am Tisch in der Küche Platz und bedeutete Kari mit einer Geste, sich zu ihr zu setzen, sodass Kari sich verwirrt zu ihr gesellte. „Dein Vater hat mir gestern Abend was erzählt“, begann sie und stützte den Kopf auf den Händen ab. „Er meinte, du willst nach der Schule ins Ausland auf eine Tanzschule gehen. Das stimmt nicht, oder?“ Kari runzelte die Stirn. „Doch, das stimmt. Wieso?“ Yuuko hob die Augenbrauen. „Aber das geht doch nicht.“ Heftig schüttelte sie den Kopf. „Kari, auf solchen Schulen haben nur die Besten der Besten richtigen Erfolg. Und die haben dann kein anderes Leben mehr als das Tanzen.“ Kari seufzte. So langsam hatte sie keine Lust mehr auf diese Predigt, da jeder das Gleiche erzählte. Hatte denn niemand auf dieser Welt Vertrauen in sie? Obwohl, T.K. hatte ihr nicht diesen Vortrag gehalten. „Mama, ich hab' das alles schon gehört. Papa hat das auch schon gesagt und Nana auch. Aber ich will es trotzdem machen. Ich möchte nicht mehr hier bleiben“, erwiderte sie ein wenig genervt. „Etwa wegen dieser Shinji-Sache, oder wie auch immer der Typ hieß?“, fragte ihre Mutter skeptisch. Es war mal wieder typisch, dass sie sie durchschaute. Und dass Kari nicht antwortete, wusste sie auch zu deuten. „Wenn du das unbedingt machen willst, dann tu' es. Aber nicht, weil du dich daneben benommen hast und deswegen das Land verlassen willst, sondern weil du es für das Richtige hältst.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust und musterte Kari streng, sodass diese dem Drang widerstehen musste, doch noch den Kopf einzuziehen. „Ich halte es für das Richtige“, antwortete Kari bestimmt. Ihre Mutter musterte sie einen Augenblick lang und nickte schließlich. „Da du meine Tochter bist, vertraue ich darauf, dass du weißt, was du machst.“ Wenigstens eine. Kapitel 23: Davis' Geheimnis ---------------------------- Am Sonntag Vormittag bekam Kari von Nana einen Anruf, wie wundervoll ihr Date mit Ken verlaufen war. Sie war bei ihm gewesen und sie hatten ein paar DVDs geschaut und dann hatten sie irgendwann rumgeknutscht, was Kari verwirrte. Jedoch verwirrte sie daran nicht Nana, sondern Ken. Der ruhige, zurückhaltende Ken, der rumknutschte. Irgendwie konnte sie sich das so überhaupt nicht vorstellen, doch sie freute sich sehr für Nana. Zusammen waren sie jedoch noch nicht offiziell. Zumindest hatten sie noch nicht darüber geredet. Jedoch zwei Wochen später in der Schule kam es zu einem kleinen Vorfall. Kari saß gerade in der Mittagspause mit Davis auf ihrem Stammplatz auf der Wiese. Sie hatten sich ein schattiges Plätzchen suchen müssen, da die Sonne erbarmungslos vom Himmel schien. Mittlerweile waren alle Schüler auf ihre Sommeruniform umgestiegen, da es niemand mehr mit langen Ärmeln aushielt. Alle waren in guter Stimmung, weil die Sommerferien vor der Tür standen. Alle bis auf Davis, der nach wie vor seltsamerweise dauerhaft schlecht gelaunt war. Er und Kari waren gerade dabei, einigermaßen locker zu plaudern, als Ken und Nana zu ihnen stießen. Händchenhaltend. Kari sah, wie Davis' Miene sich verfinsterte. „Uh, macht ihr es jetzt offiziell?“, fragte Kari und musterte die beiden neugierig. Sie tauschten einen verstohlenen Blick und setzten sich zu ihnen auf die Wiese. Nana antwortete nicht, sondern sah unverwandt Ken an. „Ja“, sagte dieser schließlich und wich verlegen Karis Blick aus. „Irgendwie schon.“ „Was heißt denn irgendwie? Seid ihr nun zusammen oder nicht?“, fragte Kari stirnrunzelnd. Noch einmal tauschten Ken und Nana einen Blick, als würden sie sich per Telepathie auf eine Antwort einigen. Gerade öffnete Ken wieder den Mund, um das Ergebnis ihres Gedankenaustauschs zu verkünden, als Davis plötzlich aufsprang. „Mann, Kari, was fragst du denn so blöd? Das sieht man doch wohl, oder nicht?“, rief er wütend, sodass Kari zusammenzuckte. Dann wandte er sich an Ken und Nana. „Na dann, viel Glück euch und ein schönes Leben noch!“ Er drehte sich um, lief davon und ließ Kari, Ken und Nana völlig sprachlos zurück. „Was... zum...“, stammelte Nana und starrte Davis entgeistert hinterher. Kari fing Kens Blick auf und erkannte, dass er ebenso wenig verstand, was los war wie sie. „Entschuldigt mich, aber ich gehe ihm mal nach“, murmelte Kari betroffen und stand auf. „Vielleicht sollten wir ihn auch erst mal in Ruhe lassen?“, schlug Ken ratlos vor. „Naja, ihr anscheinend schon“, schnaubte Kari und lief Davis nach. Wo war er jetzt nur hingelaufen? Sie überquerte den Schulhof und hielt nach ihm Ausschau, doch konnte ihn weder bei seinen Fußballkumpels noch sonst irgendwo entdecken. Kari lief an T.K. vorbei, der mit Aya und drei Kumpels vom Basketball herumlungerte. „Ich hab' mal gehört, die Falte bleibt, wenn man oft so guckt“, hielt er Kari auf und deutete grinsend auf seine Stirn. Erst da fiel Kari auf, dass sie offenbar die Augenbrauen zusammengezogen hatte. Sie bemühte sich, ihr Gesicht zu entspannen und rang sich ein Lächeln ab. „Alles okay?“, fragte er. Er hatte sich von seinem Grüppchen gelöst. Die drei Jungs unterhielten sich weiter, doch Aya beobachtete ihn misstrauisch und schenkte Kari einen verachtungsvollen Blick. „Ja. Nein. Davis ist irgendwie sauer abgehauen“, antwortete Kari schulterzuckend. „Hast du zufällig gesehen, wo er hingegangen ist?“ Verwirrt musterte er Kari. „Er ist sauer? Ich glaube, ich habe ihn gerade Richtung Sportplatz gehen sehen.“ „Ja. Okay, danke“, antwortete sie und ging weiter, doch er hielt sie noch einmal auf. „Warte mal. Ich glaube, meine Mutter kommt heute zum Abendessen zu euch. Bist du auch da?“, fragte er. „Ja. Kommst du auch?“, erwiderte Kari die Frage. Er zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht.“ „Meine Mutter hat versprochen, das Essen heute nicht zu versalzen oder anbrennen zu lassen“, sagte Kari und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Dann könnte es durchaus sein, dass ich komme“, sagte T.K. amüsiert lächelnd. „Okay. Dann helfe ich ihr vielleicht lieber beim Kochen“, erwiderte Kari lachend. T.K. zwinkerte ihr zu, sagte „Bis heute Abend“ und wandte sich wieder seinem Grüppchen zu. Besser gelaunt setzte Kari ihren Weg zum Sportplatz fort. Sie musste sich beeilen, wenn sie nicht zu spät zur nächsten Stunde kommen wollte. Auf dem Sportplatz stand genau ein Mensch und Kari erkannte schon von weitem, dass es sich nur um Davis handeln konnte. Seine Frisur war einfach verräterisch. Er saß im Gras, gegen die Stange eines der Fußballtore gelehnt. Die Beine hatte er ein wenig angezogen und die Arme auf den Knien abgelegt. Schnell lief Kari über den Sportplatz auf ihn zu. Obwohl er sie sicher bemerkte, blickte er nicht auf, sondern starrte vor sich hin. Wortlos setzte Kari sich neben ihn. „Die Pause ist gleich zu Ende“, sagte sie nach einigen Augenblicken der Stille. Davis erwiderte nichts, sondern zuckte nur mit den Schultern. „Warum kannst du uns nicht einfach sagen, dass dich das mit Ken und Nana stört?“, fragte Kari nun geradeheraus. „Was würde das denn ändern?“, murrte Davis vor sich hin starrend. „Naja, dann können sie Rücksicht nehmen“, antwortete Kari. „Du hättest gleich sagen sollen, dass du in Nana verliebt bist. Bestimmt hätte Ken dann gar nichts mit ihr angefangen. Aber wenn er es nicht weiß, woher soll er dann wissen, dass du...“ „Verdammt, Kari, es ist nicht Nana!“, unterbrach Davis sie und sah sie nun wütend an. „Warum leugnest du das? Ich meine, das erkennt doch ein Blinder mit einem Krückstock. Wir finden bestimmt eine Lösung, wenn du nur...“ „Es – ist – nicht – Nana!“, rief Davis. „Es ist Ken!“ Verwirrt sah Kari ihn an, doch er wich ihrem Blick aus. Sie nahm an, dass sie irgendetwas falsch verstanden hatte. „Was ist Ken?“ „Ken ist der Grund, warum ich so drauf bin, wie ich es gerade nun mal bin“, erklärte Davis ungeduldig. Kari zögerte einige Sekunden. „Ja, weil er mit Nana zusammen ist. In die du verliebt bist.“ Sie beobachtete ihn skeptisch. „Oder... nicht?“ Davis stöhnte. „Ich bin nicht in Nana verliebt, sondern in Ken. Verstehst du es jetzt? Ich stehe auf Kerle.“ Nein, das verstand sie nicht. Sie starrte ihn an und erst nach einigen Sekunden fiel ihr auf, dass ihr Mund offen stand. „Bist du... bist du dir sicher?“, fragte sie verdattert. „Was soll diese Frage?“ „Entschuldige. War unangemessen. Aber ich bin verwirrt“, gestand Kari. Sie hörte die Schulglocke, doch das hier erschien ihr gerade wichtiger als Unterricht. „Also du bist in Ken verliebt, nicht in Nana.“ Davis atmete tief durch und nickte. „Und wie lange schon?“ Er zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Eine Weile.“ „Wie hast du das gemerkt?“, fragte Kari. „Wie man sowas eben merkt“, murmelte Davis. „Und jetzt, als das mit Nana angefangen hat, war ich mir dann sicher. Davor wollte ich es nicht wahrhaben und dachte, ich irre mich. Aber jetzt...“ Er sprach nicht weiter, doch Kari verstand auch so und nickte mitfühlend. Nach und nach wurde ihr klar, wie kompliziert diese Situation auf einmal wurde. „Willst du es ihm sagen?“, fragte sie nach einigen Augenblicken. „Nein, jetzt nicht mehr. Er und Nana wirken ja ziemlich verknallt“, antwortete er zynisch. „Aber vielleicht sollte Ken es wissen“, gab Kari zu bedenken. „Warum denn? Das ändert doch nichts. Ich tue einfach so, als wäre alles okay und dann wird es auch nicht komisch“, antwortete Davis gleichgültig. „Dafür dürfte es ein bisschen spät sein“, meinte Kari. Davis schnaubte. „Vielleicht sage ich ihm einfach, dass ich auf Nana stehe und deswegen so reagiert habe.“ Kari biss sich auf die Unterlippe. Sie hielt dieses Vorhaben für keine gute Idee, denn Ken würde sich wahrscheinlich wieder von Nana trennen, da die Freundschaft mit Davis ihm alles bedeutete. Und wenn er die Sache zwischen ihnen tatsächlich beendete, wäre keiner der Beteiligten mehr glücklich. Doch sie sagte lieber nichts. Das würde Davis auch nicht helfen. „Wie lang weißt du schon, dass du...“, fing Kari an. „Dass ich schwul bin?“, beendete Davis ihre Frage, woraufhin sie nickte. „Wie gesagt, eine Weile. Es fing mit Ken an.“ „Aber... warst du nicht früher mal in mich verliebt?“, fragte Kari irritiert. Sie konnte immer noch nicht glauben, was Davis ihr eben erzählt hatte. „Ja, schon. Aber... keine Ahnung. Vielleicht habe ich mir das nur eingebildet“, antwortete er unwirsch. „Vielleicht bildest du dir das jetzt auch nur ein“, überlegte Kari. „Die Verliebtheit in Ken, meine ich.“ Davis sah sie stirnrunzelnd an. „Sag mal, hast du was gegen Schwule?“ „Was? Nein!“, widersprach Kari eilig. „Ich meinte doch nur...“ „Dann hör auf, meine Gefühle in Frage zu stellen“, sagte er grimmig. „Entschuldige“, murmelte Kari. Sie kannte Davis überhaupt nicht so, wie er sich gerade benahm. Normalerweise war er ein positiver Mensch, der andere nicht so schnell anblaffte. Vor allem nicht sie. „Erzähl es niemandem, okay?“ „Natürlich.“ Sie verbrachten die ganze restliche Unterrichtsstunde auf dem Sportplatz und redeten über Davis und seine Gefühle. Kari versuchte in dieser Zeit, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass einer ihrer besten Freunde homosexuell war. Nicht, dass es sie störte, doch es war etwas komplett Neues für sie. Sie gingen erst zur nächsten Stunde zurück in den Unterricht und behaupteten, Kari wäre plötzlich schlecht geworden und Davis hätte auf sie aufgepasst. Ken und Nana gegenüber tat Kari so, als wäre alles in Ordnung, während Davis die beiden ignorierte. T.K. warf ihr einen fragenden Blick zu, als sie wieder im Unterricht auftauchte, sagte aber nichts. Als Kari am späten Nachmittag nach dem Unterricht nach Hause kam, hatte ihre Mutter schon mit dem Kochen begonnen. Ein strenger Geruch nach Verbranntem schlug ihr entgegen, als sie die Wohnungstür öffnete und sie rümpfte die Nase. Gerade stand sie am Mülleimer und warf ein paar angebrannte Fleischstücke hinein. „Ach, da bist du ja. Willst du mir helfen?“, fragte sie mit leicht hilflosem Blick. „Ich glaube, ich habe zu wenig Öl in die Pfanne getan und dann dachte ich, es muss ja durch sein und schon war's verbrannt.“ „Ja, ich versuch's“, antwortete sie zuversichtlich lächelnd, zog sich um und gesellte sich zu ihrer Mutter in die Küche. „Und? Ist in der Schule irgendwas passiert?“ Diese Frage stellte Yuuko ihr seit der Sache mit Shinji jeden Tag mit einem seltsamen Unterton in der Stimme, als befürchtete sie, Kari hätte sich wieder in irgendeiner Form danebenbenommen. Ein wenig fühlte sich Kari von ihr damit gekränkt. Sie dachte an Davis und ihr Gespräch. „Nö, alles normal.“ „Das ist schön“, sagte Yuuko und klang ein wenig erleichtert. „Ach, bevor ich es vergesse. Tai hat gestern angerufen. Er und Mimi kommen am Wochenende zu Besuch.“ Kari sog scharf die Luft ein und ihre Mutter sah sie verwirrt an. „Oh, äh... das ist schön. Ich freue mich.“ Ganz sicher wollten sie ihren Eltern von dem Baby erzählen. Das wurde ja ein heiterer Besuch. „Ja, ich freue mich auch. Ich muss mir unbedingt noch ein schönes Kleid für die Hochzeit kaufen“, meinte Yuuko und widmete sich einer Ladung Gemüse, das darauf wartete, geschnitten zu werden. „Ich werde einfach wieder Nana fragen“, überlegte Kari und kippte Öl in die Pfanne. „Sag mal, Mama, findest du es jetzt eigentlich okay, dass Tai heiratet?“ „Hm“, machte ihre Mutter nachdenklich, ohne von den Möhren aufzublicken, die sie gerade massakrierte. „Ja. Ich wünsche mir zwar, er hätte noch ein wenig gewartet, aber er hat ja mit vielen Dingen nicht lange gewartet.“ Kari musste ein Schnauben unterdrücken. „Ich denke, er weiß, was er tut. Und deswegen finde ich es okay.“ Sie lächelte. „Er ist bestimmt ein toller Ehemann“, meinte Kari. „Ja, das denke ich auch“, stimmte Yuuko ihr zu. Gemeinsam schafften sie es, das Essen nicht anbrennen zu lassen und auch das Würzen nicht zu verhauen. So waren sie gerade mit der Vorbereitung fertig, als es an der Tür klingelte. Yuuko ging T.K. und seiner Mutter aufmachen, während Kari noch einmal in ihr Zimmer verschwand, um ihre Haare einigermaßen in Ordnung zu bringen. Schließlich wollte sie nicht schon wieder aussehen, als wäre sie gerade aufgestanden. Als sie ihr Zimmer wieder verließ, hatten es die beiden Frauen doch tatsächlich schon geschafft, sich in ein Gespräch zu vertiefen. Yuuko verteilte gerade eine Flasche Sekt auf vier Gläser, während sie sich von Natsuko über deren neuen Artikel berichten ließ. T.K. stand ein wenig gelangweilt gegen den Tisch gelehnt da und schien mit den Gedanken woanders zu sein. Als Kari auf der Bildfläche erschien, unterbrach Natsuko ihren Bericht, um sie zu begrüßen. „Hallo, Kari. Wie geht’s dir?“, fragte sie strahlend. „Hallo. Danke, gut und dir?“ „Prima. Ich bin ein bisschen hungrig und bin gespannt, was ihr heute gezaubert habt.“ Dann fuhr sie mit ihrer Erzählung fort und Kari verdrehte die Augen und ging zu T.K. „Na? Gab es wieder Küchenunfälle?“, fragte er leicht spöttisch. „Nein, heute nicht. Zumindest nicht unter meiner Führung“, antwortete Kari selbstbewusst. „Und wer über das Essen meckert, fliegt raus.“ „Also ich meckere nicht“, behauptete T.K. und zog eine Augenbraue hoch. „Es sei denn, du versuchst, mich zu vergiften.“ „Nein, heute nicht“, erwiderte Kari lächelnd. „Kinder, wir wollen anstoßen“, rief Yuuko fröhlich und hob ihr Glas. „Auf was denn?“, fragte Kari verwirrt und griff nach ihrem Glas. „Auf uns. Dass wir wieder zusammen sind“, antwortete Natsuko und hob ihr Glas ebenfalls. „Und dass es uns gut geht. Kari warf T.K. einen irritierten Blick zu, doch er schien ebenso wenig zu verstehen, wie ihre Mütter auf einmal darauf kamen. Klirrend stießen die vier ihre Gläser aneinander und tranken einen Schluck. „Aber nicht, dass du dich wieder von irgendjemandem abschleppen lässt“, sagte Yuuko mit strengem Blick zu Kari und sie und Natsuko brachen in Gelächter aus. „Ist ja keiner hier“, murmelte Kari angesäuert. Dieser Kommentar ihrer Mutter war ihr überaus peinlich und sie vermied es, T.K. anzusehen. Aber immerhin konnte sie mittlerweile darüber lachen. Sie ließen sich das Essen schmecken, das diesmal wirklich genießbar war und räumten hinterher gemeinsam den Tisch ab. Anschließend warf Yuuko Kari und T.K. mehr oder weniger raus. Das Gerede zweiter mittelalter Damen wollten sie ja eh nicht hören, hatte sie gesagt. Natsuko hatte gekichert und ihr zugestimmt und Kari ging mit T.K. in ihr Zimmer. „Wo ist dein Vater heute?“, fragte T.K., der Karis Zimmertür hinter sich schloss und sich im Zimmer umsah. „Mit seinen Kollegen und dem Chef unterwegs. Kommt erst nachts wieder“, antwortete sie. „Achso, das kenne ich von meinem auch“, antwortete T.K. Kari ließ sich auf ihr Bett fallen, während T.K. weiterhin ihr Zimmer betrachtete, als wäre er seit Jahren nicht mehr hier gewesen. Dabei war das letzte Mal erst wenige Wochen her. „Siehst du deinen Vater oft, seit du wieder hier bist?“, fragte Kari und beobachtete ihn. „Ich besuche ihn einmal die Woche“, antwortete T.K. „Als ich in Paris war, haben wir öfter telefoniert oder E-Mails geschrieben.“ „Wie geht’s ihm?“, fragte Kari interessiert weiter. „Gut. Alles okay, aber er arbeitet immer noch so viel“, antwortete T.K., nahm ein gerahmtes Foto in die Hand, das auf Karis Kommode stand, und drehte sich zu ihr um. „Hab ich dir das nicht geschickt?“ „Ja“, sagte sie und spürte, dass sie rot anlief. Es war das Kinderfoto von ihnen, das sie im vierten Brief gefunden hatte. „Es ist so eine schöne Erinnerung an früher und... ja, da musste ich es einfach aufstellen.“ Er lächelte und stellte das Foto zurück. „Ich mag's auch. Ich hab das gleiche bei mir zu Hause rumstehen.“ Eine peinliche Stille legte sich über sie und Kari fuhr sich durch die Haare, spielte mit ihren Fingern und zupfte unsichtbare Flusen von ihrer Kleidung, nur um etwas zu tun zu haben. Schließlich stand sie auf. „Also ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich könnte einen Verdauungsspaziergang vertragen“, verkündete sie und sah ihn erwartungsvoll an. „Bin dabei.“ Sie verließen Karis Zimmer, sagten ihren Müttern Bescheid, die so sehr in ihr Gespräch vertieft waren, dass sie sie kaum beachteten, und gingen aus der Wohnung. Sie schlenderten durch den Park in eine noch recht belebte Einkaufsstraße und betrieben dabei Smalltalk. Für Kari war diese Situation noch immer sehr ungewohnt, da sie sich sonst nur in der Schule sahen und ihnen dort seltsamerweise auch nie die Gesprächsthemen ausgingen. Heute war es aus irgendeinem Grund etwas schwieriger. Doch hier draußen war es immer noch besser als zu zweit in ihrem Zimmer. „Hat deine Mutter eigentlich einen neuen Freund?“, fragte sie beiläufig und schielte in die Schaufenster der Klamottenläden, an denen sie vorbeigingen. „Nein. So schnell geht’s nun auch wieder nicht“, antwortete T.K. schief lächelnd. „Oh, ja. Ich hab schon wieder vergessen, dass ihr ja noch nicht lange hier seid“, sagte Kari verlegen. „Wollt ihr irgendwann wieder nach Frankreich zurück?“ T.K. schien eine Weile nachzudenken, zumindest antwortete er nicht gleich. „Vielleicht irgendwann, ja. Aber vorerst nicht.“ Kari beobachtete ihn verstohlen von der Seite und wartete auf eine Begründung, doch er sagte nichts mehr und sein Gesichtsausdruck war ziemlich kühl. „Ich würde auch gern mal nach Frankreich“, sagte sie verträumt. „In den Sommerferien fliege ich für zwei Wochen zu meinen Großeltern. Wenn du willst, kannst du sicher mitkommen“, meinte T.K. Mit großen Augen sah Kari ihn an, um zu überprüfen, ob es ein Scherz war, doch er fing nicht an zu lachen. „Puh, ich, äh...“, stammelte sie. Zwei Wochen mit T.K. in Frankreich, lieber nicht. Erst seit einem Monat redeten sie wieder einigermaßen normal miteinander und die Sommerferien begannen schon bald. Nein, das würde nicht gut gehen. Oder doch? „Ich könnte dir Paris zeigen. Es ist nicht so groß wie Tokio, aber viel zu sehen gibt’s trotzdem“, sagte T.K. „Und du könntest dir anschauen, wo ich die letzten fünf Jahre gesteckt habe.“ Kari lachte leicht. „Das klingt nach einem aufregenden Urlaub.“ Er zuckte lässig mit den Schultern. „Du kannst es dir ja überlegen. Ist auf jeden Fall besser, als sich zu langweilen.“ Kari wollte gerade etwas erwidern, doch sie wurde unterbrochen, bevor sie nur den Mund aufgemacht hatte. „Takeru!“ Sie blieben beide stehen und wandten sich in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Dort aus einem Lebensmittelgeschäft kam Aya gelaufen, in der Hand eine vollgepackte Tüte. Sie strahlte T.K. an und zeigte dabei ihre schneeweißen Zähne. Als sie bei ihnen ankam, umarmte sie ihn und löste die Umarmung erst nach einer gefühlten Ewigkeit. „Wie schön, dich zu treffen“, sagte sie charmant lächelnd. Für Kari hatte sie diesmal nicht einmal einen verachtenden Blick übrig. Sie wurde völlig ignoriert. „Gehst du noch einkaufen?“ „Wir gehen nur spazieren“, sagte Kari blitzschnell, ehe T.K. antworten konnte und lächelte breit. „Ein Verdauungsspaziergang. Soll ja helfen.“ Nun sah Aya Kari doch kurz an. Ihr Lächeln war nur ein klein wenig verblasst, doch Kari konnte sich auch so sehr gut verstellen, was gerade in Ayas Kopf vorging. Womöglich plante sie gerade Karis Tod. „Und was machst du hier noch?“, fragte T.K., dem die angespannte Stimmung nicht entgangen sein konnte. „Nur ein paar Einkäufe für die Familie erledigen“, meinte Aya abwinkend. „Gut, dass ich dich gerade treffe. Hast du am Wochenende schon was vor?“ Sie klimperte mit den Wimpern und Kari unterdrückte ein Würgegeräusch. „Nein, wieso?“, erwiderte T.K. „Naja, am Samstag ist die Geburtstagsparty von Masao und es wäre echt toll, wenn du auch kommst“, erklärte sie süß lächelnd. Masao war ebenfalls im Basketballteam und in Karis Klasse. Im Gegensatz zu Shinji und seinen beiden Komplizen war er ganz in Ordnung, soweit Kari ihn beurteilen konnte. „Er hat heute die Einladungen bei Facebook rausgeschickt.“ „Okay, das habe ich noch nicht gesehen. Bestimmt werde ich kommen“, antwortete T.K. und erwiderte ihr Lächeln. „Das wäre super“, sagte Aya und sah aufrichtig begeistert aus. „Na dann bis morgen in der Schule.“ Und wieder umarmten sie sich, bevor sie ihm ein letztes kokettes Lächeln schenkte und davonging. „Wow. Du bist echt beliebt“, bemerkte Kari trocken. „Du anscheinend nicht so“, erwiderte T.K. grinsend. „Gut beobachtet, Sherlock.“ „Gehst du auch zu dieser Party?“ „Nö“, antwortete Kari einsilbig. Selbst, wenn sie eine Einladung bekommen hätte, würde sie wohl nur über die Leiche ihrer Mutter dort hingehen können. „Tai und Mimi kommen am Wochenende.“ „Das ist schön“, meinte T.K. und klang dabei fast ein bisschen wehmütig. „Ja, ich freue mich auch. Hast du denn Matt mal wieder gesehen?“, fragte Kari neugierig. Vielleicht würde sie jetzt endlich erfahren, was zwischen den beiden vorgefallen war. „Nein“, antwortete T.K. abweisend. „Also als ich das letzte Mal mit Tai gesprochen habe, haben wir uns auch gestritten. Das heißt, ich war ziemlich sauer auf ihn und habe einfach aufgelegt. Das tut mir jetzt echt Leid und das werde ich ihm am Wochenende sagen“, berichtete Kari, woraufhin T.K. sie fragend ansah. „Was ich damit sagen will: Ich frage mich echt, weswegen man sich mit seinem Bruder so streiten kann, dass man so lange nicht mehr miteinander spricht.“ T.K.s Miene verhärtete sich. „Sagen wir es so: Er war nicht da, als meine Mutter und ich ihn am dringendsten gebraucht hätten.“ „Deine Mutter redet auch nicht mehr mit ihm?“, fragte Kari verwundert. „Doch, für sie ist das schon in Ordnung. Für mich allerdings nicht“, antwortete er. Nachdenklich runzelte Kari die Stirn. Matt war nicht da gewesen, als seine Familie ihn gebraucht hatte. Bei was hatten sie ihn wohl gebraucht? War jemand gestorben und Matt war nicht zur Trauerfeier erschienen? Hatte jemand aus der Familie eine neue Niere gebraucht und Matt hatte als einziger in Frage kommender Spender nicht eingewilligt? Hatte er bei irgendetwas helfen sollen? Kari würde es anscheinend nie erfahren. Sie hatten sich beide nicht auf den Weg konzentriert, den sie gegangen waren, und landeten schließlich am Meer, worüber Kari fast schon ein wenig verwundert war. Sie schloss den Augen und genoss den leichten Wind, der ihre Haare flattern ließ. „Weißt du noch, als du hier verloren gegangen bist?“, fragte T.K.leise. „Und du mich wiedergefunden hast? Ja“, antwortete Kari. Sie konnte sich sogar sehr gut erinnern. „Das Meer zieht mich heute noch ständig an, aber jetzt bin ich gern hier.“ „Solange du nicht wieder verschwindest und keiner weiß, wo du bist“, meinte T.K. schief grinsend. Kari boxte ihm leicht gegen den Arm. „Ich glaube, wir sollten langsam mal wieder nach Hause gehen. Sonst machen sich unsere Mütter noch Sorgen.“ Wie sich jedoch kurz darauf herausstellte, waren Karis Bedenken unbegründet. Verwirrt sahen die beiden Mütter sie an, als sie zur Wohnungstür hereinkamen. „Nanu? Wart ihr weg?“, fragte Yuuko. Ihre Wangen waren leicht gerötet und ein schräges Lächeln hing ihr auf den Lippen. Zwischen den beiden Frauen standen zwei geleerte Weinflaschen. Kari musterte sie skeptisch. „Äh... ja? Ich hab' dir doch Bescheid gesagt?“ „Oh.“ Yuuko kicherte. „Hast du das mitgekriegt, Natsu?“ „Nee“, antwortete Natsuko grinsend. „Ist uns wohl entgangen.“ Sie lachten und T.K. und Kari tauschten einen genervten Blick. „Jedenfalls haben wir gerade über euch gesprochen“, verkündete Natsuko und Yuuko nickte bekräftigend. „Wir finden, ihr solltet heiraten“, sagte Yuuko bestimmt. „Oh Gott“, murmelte Kari und schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. Schnell drehte sie sich weg, damit keiner mitbekam, dass sie rot anlief. „Was denn?“, fragte Yuuko verständnislos. „Es ist uns wichtig, dass wir uns mit den Familien der Partner unserer Kinder gut verstehen. Daher wäre es doch super, wenn ihr heiraten würdet. Damit würdet ihr uns viel Freude machen.“ „Mhm“, machte Natsuko und nickte eifrig. „Ihr versteht euch gut, das reicht doch.“ Die beiden Frauen lachten und Kari starrte sie für einige Sekunden fassungslos an. Dann drehte sie sich um, sagte „Komm, T.K.“ und marschierte in ihr Zimmer. Kapitel 24: Pinke Einhörner --------------------------- „Tai!“, rief Kari und fiel ihrem Bruder in die Arme. Er drückte sie fest an sich und sie beide genossen diesen Augenblick des Wiedersehens. „Schön, dass du wieder mit mir redest“, meinte er etwas spöttisch, als sie sich voneinander gelöst hatten. „Wenn du eben so blöd bist“, murmelte Kari und umarmte dann Mimi, die ein wenig blass aussah. Die beiden gingen in Tais altes Zimmer, um ihre Sachen abzustellen, und kamen dann ins Wohnzimmer, wo Kari und ihre Eltern mit einem frisch gebackenen Obstkuchen schon auf sie warteten. Kari fragte sich, ob sie die Bombe gleich platzen lassen wollten, oder planten, es ihren Eltern erst morgen zu sagen. Oder vielleicht sogar erst Sonntag, damit sie sich anschließend schnell aus dem Staub machen konnten. Yuuko hatte jedem eine Tasse Tee gekocht und nun saßen sie gemeinsam hier und tauschten belanglose Neuigkeiten aus. Kari mischte sich nicht weiter in das Gespräch ein, sondern lauschte nur und nippte hin und wieder an ihrem Tee. Plötzlich merkte sie, wie sich die Stimmung veränderte. Tai schien nervös zu werden, wechselte ständig Blicke mit Mimi und rutschte auf seinem Stuhl herum. „Mama, Papa, wir sind eigentlich hier, weil wir euch etwas erzählen müssen“, sagte er schließlich so schnell, dass sich seine Stimme fast überschlug dabei. Für einige Sekunden schwiegen Susumu und Yuuko und sahen sich irritiert an. „Heiratet ihr etwa doch nicht?“, fragte Susumu schließlich. „Doch“, antwortete Tai stirnrunzelnd. „Aber es gibt da noch... ein anderes kleines Problem.“ Susumu schien nicht zu verstehen, worauf Tai hinaus wollte, doch Yuuko hob eine Augenbraue und fasste sich an die Stirn. Sie schien es schon zu wissen. „Wir werden Eltern“, sagte Tai schließlich und sah dabei Mimi an. Als er sich wieder seinen Eltern zuwandte, wirkte er etwas hilflos, als hätte er Angst, sie würden ihn aus dem Haus jagen. „Ich bin im dritten Monat schwanger“, fügte Mimi zur genaueren Erklärung hinzu für den Fall, dass die Yagamis es nicht verstanden haben sollten. Kari fing ihren Blick auf und lächelte aufmunternd, doch Mimi hatte kein Lächeln übrig. Susumu machte große Augen und schien zu überlegen, wie er reagieren sollte, während Yuuko das Gesicht in den Händen vergrub. „Ich hab's geahnt“, nuschelte sie in ihre Hände. „Siehst du? Ich hab's dir ja gleich gesagt“, hörte Kari Mimi flüstern. „Ach, so schlimm ist das doch nicht. Kinder sind doch toll“, sagte Kari in einem Versuch, beide Seiten aufzumuntern. „Tja“, Susumu kratzte sich ratlos am Hinterkopf, „jetzt kann man eh nichts mehr dagegen machen, nicht wahr?“ Er lächelte schief und sah damit Tai unglaublich ähnlich. Yuuko musterte Tai und Mimi eindringlich. „Taichi Yagami, was ist nur los mit dir in letzter Zeit?“ Tai zuckte hilflos mit den Schultern und machte ein betretenes Gesicht. „Es tut uns echt Leid. Da ist was... schief gelaufen“, murmelte Mimi, als Tai keine Anstalten machte, irgendetwas zu sagen. „Ganz offensichtlich“, erwiderte Yuuko sarkastisch. Dann wandte sie sich an Susumu und sah ihn hilflos an. „Irgendeiner von uns hat einen schlechten Einfluss auf die beiden. Und ich habe ganz stark dich im Verdacht.“ „Was? Mich?“, erwiderte Susumu empört. „Ich war doch der Ruhepol in dieser Familie. Du bist diejenige, die immer aufbraust.“ „Eben. Du warst einfach zu locker“, sagte Yuuko entschieden. „Wieso denn wir beide? Kari hat doch gar nichts gemacht“, fragte Tai verwirrt. Offenbar hatten seine Eltern nun selbst ihn von dem eigentlichen Problem abgelenkt. Auch Mimi machte ein irritiertes Gesicht. „Nein, sie hat sich nur komplett betrunken, ist mit einem Typen nach Hause gegangen und hat ihren Eltern kein Wort gesagt“, sagte Yuuko sarkastisch mit einem scharfen Blick auf Kari und verschränkte die Arme vor der Brust. „Sowas war normalerweise nur Tai zuzutrauen.“ Kari seufzte und stützte den Kopf auf der Hand ab. Wahrscheinlich würde ihre Mutter ihr das noch ewig nachtragen. „Du hast was?“ Vollkommen fassungslos starrte Tai sie an. „Ich hab's dir doch schon erzählt, aber du wolltest mir ja nicht glauben“, antwortete Kari genervt. „Jemand aus meiner Klasse hat eine ziemlich bescheuerte Wette über mich abgeschlossen und so kam eins zum anderen.“ Ihre Mutter schnaubte verächtlich. Tai hingegen sprang auf und warf dabei fast seinen Stuhl um. „Wer ist dieser Pisser? Ich polier' ihm die Fresse!“, rief er und starrte Kari an, die die Stirn runzelte. „Tai! Sie kann dich hören!“, sagte Mimi vorwurfsvoll und hielt sich den Bauch, als könnte sie das Baby damit vor seinen Worten schützen. „Soll er auch, damit er gleich weiß, wie man mit solchen Wichsern umgeht!“, blaffte Tai. „Ruhe! Hier poliert niemand irgendwem irgendwas!“, rief Yuuko dazwischen. „Und das Baby versteht nicht, was hier geredet wird. Keine Angst, Mimi.“ „Er und sie? Werden es Zwillinge?“, fragte Susumu entsetzt und lenkte somit wieder von Shinji ab. Kari warf ihm einen dankbaren Blick zu und auch Mimi schien zufrieden mit dem Themenwechsel. „Nein. Tai denkt nur, es wird ein Junge und ich denke, es wird ein Mädchen“, erklärte Mimi und tätschelte ihren Bauch. Yuuko musterte sie und Tai einige Sekunden lang, dann stand sie auf und nutzte den Aspekt, dass Tai ebenfalls schon stand. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und schloss ihn in die Arme. „Ich habe ja noch gar nicht gratuliert. Also herzlichen Glückwunsch, auch wenn ihr noch ein wenig hättet warten können“, sagte sie und ließ ihn wieder los. Anschließend umarmte sie auch Mimi. Susumu tat es ihr nun gleich und Kari lächelte. Auch sie umarmte ihren Bruder und beglückwünschte ihn. Mit Mimi hatte sie ja schon vor einem Monat darüber gesprochen. Es war schon dunkel, als Tai und Kari nebeneinander auf dem Klettergerüst hockten und in den Himmel starrten. Auf diesem Spielplatz hatten sie als Kinder so viel Zeit verbracht. Kari konnte sich noch genau daran erinnern, wie sehr sich Tai manchmal geärgert hatte, wenn Yuuko ihn mit seiner fünfjährigen Schwester zum Spielen geschickt hatte. Er hatte immer viel lieber mit den anderen Jungs Fußball spielen wollen anstatt mit ihr Sandkuchen zu backen und aufzupassen, dass sie nicht vom Klettergerüst fiel. Jetzt, zwölf Jahre später, kam ihr der ganze Spielplatz auf einmal unheimlich klein vor. „Habt ihr es schon Mimis Eltern erzählt?“, fragte sie in die Stille hinein. „Nein, sonst säße ich jetzt nicht hier“, antwortete Tai trocken. Kari sah ihn verständnislos an. „Naja, dann wärst du schon bei meiner Beerdigung gewesen“, erklärte Tai schulterzuckend, als wäre es völlig selbstverständlich. „Glaubst du, Mimis Vater wird sehr sauer sein?“, fragte Kari, obwohl sie die Antwort schon kannte. „Sauer ist gar kein Ausdruck. Wahrscheinlich wird nichts mehr von mir übrig sein, wenn er mit mir fertig ist“, murmelte Tai. „Vielleicht freut er sich ja auch über einen Enkel“, meinte Kari vorsichtig. „Ja!“, sagte Tai enthusiastisch. „Vielleicht holt uns auch gleich ein pinkes Einhorn ab und fliegt uns nach Hause, dann müssen wir nicht laufen.“ Kari verpasste ihm einen Schubs, sodass er sich festhalten musste, um nicht vom Klettergerüst zu fallen. „Du bist doof.“ „Jetzt erzähl' du mir lieber mal, was dich geritten hat, dich zu betrinken und mit einem Typen nach Hause zu gehen, der dich anscheinend nur flachlegen wollte“, sagte Tai und sah sie ernst an. „Ich... ich wollte einfach nicht mehr für alle so ein unschuldiges, nettes Mädchen sein, sondern zeigen, dass ich auch anders sein kann“, murmelte Kari und wandte den Blick von ihm ab. „Nämlich eine Schlampe?“, hakte Tai nach und hob eine Augenbraue. Kari schnappte nach Luft. Sie konnte nichts erwidern, zu geschockt war sie von seinen Worten. Hatte er sie gerade wirklich als Schlampe bezeichnet? Verletzt drehte sie den Kopf weg, sodass er ihr Gesicht nicht sehen konnte. „Bist du wirklich lieber das Mädchen, das sich leicht abfüllen und abschleppen lässt als das, das unschuldig und liebenswert ist?“, fragte er verständnislos. „Kari, jeder mag dich, weil du so bist, wie du nun mal bist. Du bist fürsorglich, hast für jeden ein offenes Ohr, bist hilfsbereit und außerdem noch niedlich. Was ist denn so schlecht daran? Warum willst du lieber die Partyschlampe sein?“ „Will ich ja gar nicht“, nuschelte Kari. Tai stieß ein genervtes Seufzen aus. „Was willst du dann?“ Kari antwortete nicht, sondern sah immer noch angestrengt weg. Versöhnlich legte Tai einen Arm um ihre Schultern und zog sie an sich. „Du solltest nicht so viel auf das geben, was andere denken und sagen. Bleib, wie du bist, denn dann mögen dich andere Menschen sowieso am meisten.“ „Es ist mir ja gar nicht wichtig, was andere denken“, murrte Kari und verschränkte die Arme vor der Brust. „Das halte ich für ein Gerücht“, meinte Tai und ließ sie wieder los. „Ach und wie läuft's eigentlich mit T.K.? Redet ihr endlich wieder miteinander?“ „Ja, wir reden miteinander“, antwortete Kari. „Es läuft ganz gut. Vielleicht freunden wir uns wieder an.“ „Wurde ja auch Zeit. Du warst ja lange genug nachtragend“, kommentierte Tai grinsend. „Ich würde dich ja gern mal in meiner Situation sehen, du Großmaul“, antwortete Kari schnippisch. „Da fällt mir ein, ich habe letztens Matt gesehen. Er war mit seiner Band auf unserem Frühlingsball.“ Tai zog die Augenbrauen hoch. „Achso?“ „Ja. Er hat versucht, mit T.K. zu reden und sie haben sich draußen gestritten“, erklärte Kari. „Hast du gar keine Ahnung, weshalb sie so zerstritten sind?“ „Hm.“ Tai schien zu überlegen, denn er machte sein Denkergesicht. „Nein, wirklich keinen Plan. Wie gesagt, ich habe nicht mehr viel Kontakt zu ihm. Du kannst doch T.K. fragen, wenn ihr jetzt wieder einen auf beste Freunde macht.“ „Erstens machen wir nicht 'einen auf beste Freunde' und zweitens habe ich ihn schon gefragt“, antwortete Kari genervt. „Und er wollte es dir nicht sagen?“, hakte Tai nach. „Nein“, sagte Kari. Tai grinste sie schelmisch an, sodass Kari die Stirn runzelte. „Dann musst du halt mal deinen kaum vorhandenen Charme spielen lassen und ihn ausquetschen. Klimper' ein bisschen mit den Wimpern und benutz' deine Kleine-Mädchen-Stimme, dann redet er von ganz allein.“ „Du bist so bescheuert“, stöhnte Kari und verpasste ihm einen erneuten Schubs. Diesmal konnte er sich nicht mehr festhalten und sprang vom Klettergerüst. „Außerdem interessiert es mich dann auch wieder nicht so sehr, dass ich zu solch albernen Mitteln greifen muss.“ Tai stemmte die Hände in die Hüften und sah zu ihr hoch. „Das glaube ich dir irgendwie nicht.“ „Glaub, was du willst“, antwortete Kari schnippisch und ließ sich seine Hand reichen, sodass sie ebenfalls vom Klettergerüst herunterspringen konnte. „Wenn ich dann erst mal in Russland bin, ist mir das sowieso alles egal.“ „Was willst du denn in Russland?“, fragte Tai argwöhnisch. Langsam setzten sie sich in Bewegung und steuerten den Weg nach Hause an. „Da gehe ich vielleicht nach der Schule hin, um eine professionelle Tänzerin zu werden“, antwortete Kari selbstbewusst und reckte das Kinn. „Achso“, sagte Tai in einem Tonfall, der Kari vermuten ließ, er hatte das schon lange gewusst. „Wenn es weiter nichts ist. Habe ich dir schon erzählt, dass ich morgen nach Barcelona fliege, um Profifußballer zu werden?“ Kari blieb stehen und starrte ihn entgeistert an. „Kannst du mich vielleicht einmal ernst nehmen, Tai? Gott, ich hasse es, dass mich hier jeder nur verarschen will! Ein Grund mehr, abzuhauen!“ Er hob abwehrend die Hände. „Schon gut, komm wieder runter. Ähm... wie kamst du denn auf diese Idee?“ „Meine Trainerin meinte, ich solle mal darüber nachdenken, mich für eine dieser Schulen zu bewerben. Sie denkt, ich hätte das Zeug dazu. Und ich dachte, warum eigentlich nicht?“, antwortete Kari und ging weiter. Tai erwiderte eine Weile nichts, bis sie schließlich zu Hause ankamen. „Jetzt hat uns doch kein pinkes Einhorn nach Hause geflogen“, stellte er nüchtern fest und schloss die Wohnungstür auf. „Vielleicht nächstes Mal“, meinte Kari. Sie wollte direkt in ihr Zimmer weitergehen, doch er hielt sie noch einmal auf. „Kari?“ Schon die Hand auf die Türklinke legend drehte sie sich noch einmal um. „Du machst schon das Richtige.“ Er lächelte flüchtig und ging dann in sein Zimmer. Kapitel 25: Bruderzwist ----------------------- „Pssst.“ Zunächst fühlte Kari sich nicht angesprochen. Sie war gerade dabei, das Schulgelände zu verlassen und nach einem anstrengenden Schultag endlich nach Hause zu kommen und sich auszuruhen, als sie dieses seltsame Geräusch von der Seite vernahm. Erst, als es erneut ertönte, drehte sie sich um und hielt nach dem Verursacher des Zischens Ausschau. Dort stand ein junger Mann mit einem Beanie auf dem Kopf und einer großen Sonnenbrille auf der Nase und bedeutete ihr mit einer Kopfbewegung, zu ihr zu kommen. Kari runzelte argwöhnisch dir Stirn und ging zögerlich auf ihn zu. Als sie vor ihm stand, hob er seine Sonnenbrille ein Stück an und erst da erkannte Kari ihn. „Matt!“, rief sie überrascht. Er legte den Zeigefinger auf die Lippen und schob sich schnell die Sonnenbrille wieder zurecht. „Nicht so laut. Ich bin undercover“ sagte er schief lächelnd. „Weißt du, ob T.K. noch kommt?“ „Der musste noch mal in die Bibliothek. Keine Ahnung, wie lange das dauert“, antwortete sie, noch immer verwundert, dass sie Matt hier in die Arme gelaufen war. „Hm“, machte Matt nachdenklich, schob die Hände in die Hosentaschen und lehnte sich gegen die Mauer, die das Schulgelände umgab. „Dann warte ich eben.“ „Was willst du denn von ihm?“, fragte Kari. „Reden“, meinte Matt und hob die Augenbrauen. „Einfach nur reden.“ „Und du glaubst, er lässt sich jetzt darauf ein?“, fragte Kari zögerlich. „Wahrscheinlich nicht. Aber vielleicht ist er so überrascht, wenn ich ihn abfange, dass er vergisst, dass er mich hasst“, antwortete Matt etwas spöttisch. „Ich bleibe gern bei dir und warte mit dir zusammen. Vielleicht kann ich ihn ja überreden, mit dir zu reden“, bot Kari an. „Danke, das ist nett. Deine Hilfe kann ich sicher gut gebrauchen.“ Eine kleine Weile standen sie dort und betrieben ein wenig Smalltalk, bis endlich T.K. auftauchte. Er wollte schon an ihnen vorbeilaufen, doch Kari hielt ihn auf. „T.K.“, rief sie und er blieb überrascht stehen. „Kari, was machst du denn noch...“ Er sprach nicht weiter und sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich, als er erkannte, wer dort neben Kari stand. „Hey, kleiner Bruder“, begrüßte Matt ihn. T.K. schüttelte genervt den Kopf und wollte weitergehen, doch Matt stellte sich ihm in den Weg. „Jetzt hau nicht gleich wieder ab. Ich muss mit dir reden“, sagte er ungeduldig. „Kein Interesse“, murrte T.K. und wollte an ihm vorbeigehen, doch Matt hielt ihn an der Schulter fest. „Lass mich los.“ „Nein. Erst, wenn du mit mir geredet hast“, antwortete Matt ruhig. „T.K., du solltest ihm zuhören“, ergriff Kari nun das Wort und stellte sich neben Matt. „Misch dich nicht ein. Das geht dich wirklich nichts an“, erwiderte T.K. ungewohnt kühl an Kari gewandt, sodass sie ihn überrascht ansah. „Aber ihr seid doch Brüder“, redete sie weiter auf ihn ein. „Ihr müsst doch miteinander reden.“ „Es gibt nichts zu reden, klar?“, fauchte T.K., drängte sich an Matt vorbei und rempelte ihn dabei unsanft an. „Nein, jetzt warte doch!“, rief Kari und wollte ihm nachlaufen, aber Matt hielt sie auf. „Lass ihn“, seufzte er resigniert. „Ich glaube, das wird in diesem Leben nichts mehr.“ Er nahm die Sonnenbrille ab und starrte seinem jüngeren Bruder hinterher, der eiligen Schrittes davonlief. Kari drehte sich zu ihm um. „Hast du vielleicht kurz Zeit, einen Kaffee trinken zu gehen?“ Mit je einem Becher coffe-to-go in der Hand saßen Kari und Matt wenig später auf einer Bank am Meer. Matt hatte nicht in einem Café sitzen wollen, da er keine Lust darauf hatte, erkannt zu werden. Er wollte wenigstens einmal seine Ruhe haben, hatte er betont. Somit hatte Kari ihnen Kaffee besorgt und sie hatten beschlossen, sich ein ruhiges Plätzchen am Meer zu suchen. „Wo wohnst du eigentlich zur Zeit? Bei deinem Vater?“, fragte Kari neugierig. „Nein, ich habe seit letztem Jahr selbst eine Wohnung gemietet“, antwortete er belustigt. „Mein Vater, seine Freundin und ich, das würde nicht gut gehen.“ „Oh, okay“, antwortete Kari nickend. „Wie lang bleibst du jetzt noch hier?“ „Bis zur Hochzeit, denke ich. Eigentlich wollten wir im September durch die USA touren, doch das hat sich ja jetzt erledigt. Jetzt nehmen wir uns erst mal eine Auszeit und geben vielleicht ein paar spontane Konzerte hier in Japan“, antwortete Matt. „Verstehe“, meinte Kari. „Wie geht es dir denn so? Mit deinem Leben als Superstar, meine ich.“ Matt grinste belustigt. „Ich lebe in Saus und Braus, könnte man sagen. Es ist stressig, aber es macht Spaß. Wahrscheinlich sieht man in keinem anderen Beruf so viel von der Welt. Und das Geld stimmt natürlich auch.“ Kari seufzte und konnte nicht leugnen, dass sie ein wenig neidisch war. Matt musste sich nicht mit solch nervigen Problemen wie sie herumschlagen. „Hast du eigentlich eine Freundin?“ Diese Frage war ihr gerade durch den Kopf geschossen, als sie versuchte, sich vorzustellen, wie oft Matt wohl im Monat die Stadt wechselte. „Eine für jeden Wochentag“, antwortete er lachend. „Nur ein Scherz. Für sowas habe ich gar keine Zeit.“ „Hm“, machte Kari. „Dabei könntest du jede haben.“ „Nein, nicht jede“, antwortete Matt mit ein wenig Wehmut in der Stimme. Kari sah ihn fragend an, doch er winkte schnell ab. „Schon gut, vergiss es. Wolltest du eigentlich was Bestimmtes?“ „Oh ähm... ja“, stammelte sie, überrascht von dem plötzlichen Themenwechsel. „Ich wollte eigentlich nur wissen, was zwischen dir und T.K. passiert ist, dass er dich so... dass er nicht gern über dich spricht.“ „Das hast du sehr vornehm ausgedrückt“, meinte Matt sarkastisch. „Das ist eine etwas komplizierte Geschichte.“ „Du musst es mir natürlich nicht erzählen, wenn du nicht willst“, sagte Kari schnell. Sie wollte nicht so neugierig wirken und eigentlich ging es sie ja auch wirklich nichts an. Doch sie konnte sich einfach nicht vorstellen, was so furchtbar sein konnte, dass man seinen eigenen Bruder jahrelang ignorierte und nahezu verabscheute. Das musste doch irgendwie zu ändern sein. Matt tat ihr sehr Leid, denn sie wäre wirklich furchtbar traurig, wenn Tai und sie ein solches Problem hätten. „Vielleicht ist es ganz gut, wenn ich es dir erzähle. Du scheinst ja gut darin zu sein, dich mit T.K. zu versöhnen.“ Er warf ihr einen schiefen Blick von der Seite zu und nippte erneut an seinem Kaffee. Kari verdrehte die Augen. „Der Unterschied ist, dass er sich mit mir versöhnen wollte, mit dir aber nicht“, antwortete sie. „Ich habe dazu eigentlich nicht so viel beigetragen.“ „Egal. Ihr versteht euch wieder und alles andere interessiert doch sowieso keinen mehr“, meinte Matt schulterzuckend. „Ich weiß einfach nicht, wie ich zu ihm durchdringen kann. Ich habe das Gefühl, es kommt eh nichts bei ihm an, was ich ihm sage.“ „Um dir zu helfen, müsste ich erst mal wissen, was du angestellt hast“, antwortete Kari und sah Matt an. Er nickte und senkte den Blick. Es sah aus, als würde er sich bereit machen, Kari etwas Schlimmes zu gestehen. „Er hat sie geschlagen.“ Kari war für einen Moment verblüfft und ließ dir Worte von ihren Ohren in ihr Gehirn sickern. „Wer hat wen geschlagen?“ „Jean meine Mutter“, antwortete Matt düster. Entgeistert runzelte Kari die Stirn und sah ihn an, doch er mied ihren Blick und starrte aufs Meer hinaus, als gäbe es dort etwas Spannendes zu beobachten. „Das... ist furchtbar“, stammelte Kari, nicht wissend, was sie erwidern sollte. „Mhm“, machte Matt tonlos. „Erst war es nur einmal und angeblich tat es ihm total Leid. Deswegen ist sie bei ihm geblieben. Aber dann passierte es noch mal. Und dann noch mal. Und dann immer wieder.“ Karis Augen hatten sich vor Entsetzen geweitet. Mit so etwas hatte sie nicht gerechnet. T.K.s und Matts Mutter war also mehrmals von ihrem Freund geschlagen worden. Das war wirklich schrecklich. Ob Yuuko wohl davon wusste? „Das ist echt schlimm“, murmelte sie. „Wem sagst du das?“, knirschte Matt. „Sie wollte ihn verlassen, aber dann hat er ihr gedroht. Dass er ihren Ruf zerstören würde. Dass er ihr das Leben zur Hölle machen würde. Dass er ihr und T.K. was antun würde.“ „Was?“, stieß Kari hervor und schnappte nach Luft. Voller Entsetzen schlug sie sich die Hand vor den Mund und starrte Matt fassungslos an. „Oh mein Gott!“ „Dann hat sie natürlich Angst bekommen und ist eines Nachts, als er nicht da war, einfach mit T.K. abgehauen. Hat den nächsten Flieger nach Japan genommen“, beendete Matt seine Erzählung. „Und den Rest kennst du. Das war jetzt die Kurzfassung der Geschichte.“ Kari nickte langsam und brauchte eine Weile, bevor sie ihre Sprache wiederfand. „Ich glaube, ich hätte immer noch Angst, dass er mich hier finden könnte.“ „Hat sie ja auch. Aber das ist nahezu unmöglich. In Tokio leben so viele Menschen und es ist so weit weg von Paris. Ich glaube nicht, dass es ihm das wert ist“, meinte Matt. Wieder nickte Kari. Sie versuchte in den nächsten Minuten, in denen keiner von ihnen etwas sagte, sich von dem zu erholen, was sie gerade erfahren hatte. Mit so einer düsteren Geschichte hatte sie nie im Leben gerechnet. Sie hatte gedacht, die Beziehung zwischen Natsuko und Jean war eben einfach gescheitert und Natsuko hatte Sehnsucht nach Japan bekommen. „Das ist alles sehr schrecklich und schlimm, aber...“, fing sie an, „ich verstehe trotzdem nicht, warum ihr zerstritten seid. Eigentlich müsstet ihr doch gerade jetzt zusammenhalten.“ Matt schnaubte leise. „Eigentlich schon. T.K. hat mir irgendwann erzählt, was los ist, obwohl meine Mutter das nicht wollte. Ich weiß nicht, was er sich von mir erhofft hatte, aber irgendwie glaubte er, ich könnte ihm helfen. Er wollte, dass ich etwas unternehme. Nach Frankreich komme. Keine Ahnung.“ Er hob einen kleinen Stein auf und feuerte ihn ins Wasser. „Aber das hast du nicht?“, hakte Kari nach, als er nicht weitersprach. „Nein“, antwortete Matt leise. „Zu der Zeit hat unsere Karriere mit der Band gerade angefangen. Wir hatten viele Konzerte, waren nur unterwegs, wurden in viele Fernsehshows eingeladen, Zeitschriften wollten uns interviewen. Das wollte ich alles nicht absagen, weil ich wusste, dass es meine Zukunft war. Ich war da einfach so mittendrin, dass ich keinen Kopf für irgendetwas anderes hatte. Nicht einmal für meine eigene Familie.“ Kari erinnerte sich, dass T.K. ihr gesagt hatte, Matt wäre nicht da gewesen, als er ihn dringend gebraucht hatte. Das hatte er also damit gemeint. T.K. und seine Mutter hatten in Schwierigkeiten gesteckt und Matt hatte nur Augen für seine Karriere gehabt. Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. Sie hatte keine Ahnung, was sie an Matts Stelle unternommen hätte. „Ich hasse mich dafür, dass ich nicht irgendetwas unternommen habe. T.K. war noch nicht mal sechzehn, als er mich um Hilfe gebeten hat. Er war da ganz allein mit meiner Mutter, die geschlagen wurde und wusste nicht, was er tun sollte.“ Er fasste sich an die Stirn und schüttelte den Kopf, als würde er versuchen, diesen unangenehmen Gedanken auf diese Weise loszuwerden. „Das ist wirklich eine sehr verzwickte Situation“, stimmte Kari zu. „Aber ich finde, er sollte mit dir darüber reden. Hattet ihr denn gar keinen Kontakt mehr, nachdem du ihm nicht geholfen hast?“ Matt zuckte mit den Schultern. „Ich habe ihm nur geschrieben, ich könnte jetzt nicht nach Frankreich kommen und er sollte doch die Polizei informieren oder Papa anrufen oder keine Ahnung. Als ich ihn ein paar Tage später gefragt habe, wie es läuft und was nun ist, hat er nicht mehr geantwortet. Und irgendwann habe ich dann mitgekriegt, dass er stinksauer auf mich ist. Er hat auf nichts reagiert. Weder auf Anrufe, noch auf Mails, noch auf Briefe. Meine Mutter hat auch mehrmals versucht, zwischen uns zu vermitteln, aber T.K. hat immer abgeblockt.“ Er verzog das Gesicht. „Ich dachte, jetzt, wo sie wieder hier sind, komme ich mal dazu, mit ihm zu reden, weil ich ihm dann persönlich gegenübertreten kann, aber da habe ich mich wohl geschnitten.“ „Das tut mir alles so Leid“, murmelte Kari betroffen. „Du kannst doch nichts dafür“, erwiderte Matt abwinkend. „Ich werde es einfach weiter versuchen. Er kann mich doch nicht für den Rest seines Lebens ignorieren. Immerhin sind wir verwandt.“ „Ich werde auch mit ihm reden. Jetzt, wo ich weiß, was los ist, kann ich euch ja viel besser verstehen. Vielleicht schaffe ich es ja, zu ihm durchzudringen“, sagte Kari motiviert. Sie glaubte, dass T.K. trotz allem noch immer ziemlich viel von ihr hielt, sonst wäre er nicht so erpicht darauf gewesen, sich wieder mit ihr anzufreunden. Nun hatte sie ein schlechtes Gewissen, dass auch sie ihn nicht hatte unterstützen können in dieser schwierigen Sache. Sicher hatte er auch sie gebraucht. Immerhin hatte er sie trotz fünf Jahren ohne jeden Kontakt nicht aufgegeben. Und was hatte sie gemacht? Ihn ignoriert, nur weil sie verletzt gewesen war. Das musste jetzt aufhören. In diesem Moment beschloss sie, nicht länger nachtragend zu sein und T.K. endlich zu verzeihen. Kapitel 26: Der letzte Brief ---------------------------- Kari drückte auf die Klingel und wartete ungeduldig. Gleich nach ihrem Gespräch mit Matt hatte sie sich von ihm verabschiedet und sich auf den Weg zu T.K. gemacht, obwohl es schon Abend war. Doch sie hatte es einfach nicht mehr ausgehalten. Sie musste mit ihm reden. Worüber, wusste sie noch nicht so genau, doch sie hatte einfach das Bedürfnis, nach allem, was sie erfahren hatte, mit ihm zu sprechen. Die Tür wurde geöffnet und T.K. blickte ihr verwundert entgegen. „Hi.“ „Hallo. Ähm... kann ich rein kommen?“, fragte sie lächelnd. „Klar“, antwortete er und trat zur Seite, um sie herein zu lassen. Bestimmt ging Kari an ihm vorbei und zog sich die Schuhe aus. Es war das zweite Mal, das sie hier war und jetzt hatte sie endlich mal Zeit, sich die Wohnung genauer anzuschauen. Dafür hatte sie bei ihrem ersten Besuch hier keinen Nerv gehabt. Es roch noch ein wenig nach Wandfarbe und neuen Möbeln, aber alles war ordentlich und blitzsauber. So war es schon immer in Natsukos und T.K.s Wohnung gewesen. Die Wände waren hell gestrichen und der Boden mit hellen Teppichen ausgelegt, sodass alles freundlich und gemütlich wirkte. „Was verschafft mir die Ehre?“, fragte T.K., der im Wohnzimmer stand und sie dabei beobachtete, wie sie sich umsah. „Ich wollte mit dir reden“, antwortete Kari ehrlich. T.K. hob eine Augenbraue. „Hat Matt dich etwa geschickt?“ „Nein, ich wollte selbst herkommen“, widersprach Kari eine Spur zu heftig. Dabei hatte Matt sie wirklich nicht hergeschickt. Er hatte nur mehr oder weniger dazu beigetragen, dass Kari herkommen wollte. T.K. sah sie noch einige Sekunden an, nickte dann aber und ging voraus in sein Zimmer. Sie lief ihm hinterher und inspizierte erst einmal sein Reich, genauso wie er es bei ihr auch getan hatte. Auch hierfür hatte sie bei ihrem ersten Besuch keinen Blick gehabt. Die Wand war weiß, der Teppich beige und die Möbel holzfarben. An den Wänden hing eine Fotocollage, ein Poster von Paris in schwarzweiß, ein Kalender und eine Uhr. Auch hier war alles aufgeräumt und ordentlich bis auf einen Basketball, der mitten im Zimmer herumlag, als hätte T.K. gerade damit gespielt. Alles in allem war sein Zimmer sehr schlicht, aber er wohnte ja auch noch nicht allzu lang hier drin. Kari ging zu der Fotocollage und betrachtete sie neugierig. Auf den meisten Fotos war T.K. inmitten einer Gruppe von Freunden in verschiedenen Situationen abgebildet. Vor dem Eiffelturm, vor der Notre Dame, auf einer Party, bei einem Picknick auf einer Wiese, im Winter beim Skifahren, am Strand im Sonnenuntergang. Manche Fotos zeigten ihn aber auch zusammen mit einem hübschen blonden Mädchen, das Kari schon auf einem seiner Profilfotos bei Facebook entdeckt hatte. Isabelle. Ein Foto zeigte sie und ihn von hinten, wie sie gerade Hand in Hand ins Meer rannten. Wasser spritzte um sie herum und glitzerte im Licht der Sonne. Kari fiel sofort auf, was für eine schöne Figur das Mädchen hatte. „Worüber willst du reden?“, fragte T.K. und holte sie in die Wirklichkeit zurück. Er saß auf seinem Bett und sah sie fragend an. Zögerlich setzte sie sich neben ihn. „Also, ich wollte dir sagen, dass ich dir verzeihe“, eröffnete sie das Gespräch und sah ihn schief an. Er hob überrascht die Augenbrauen. Damit hatte er offensichtlich nicht gerechnet. „Aha?“ „Ja, also ich meine, ich war eben lange genug sauer. Fünf Jahre, um genau zu sein. Und das reicht eigentlich, oder nicht?“ Sie lächelte schief. „Und du bist ja immer noch ganz nett, so wie früher. Also könnten wir vielleicht wirklich einfach wieder normale Freunde werden und vergessen diese Sache.“ Sie sah ihn erwartungsvoll an, aber er erwiderte ihren Blick einfach nur verwirrt. Eine Weile sah er sie sprachlos an. Dann kratzte er sich am Kopf und seufzte. „Ähm... das ist schön“, murmelte er. „Aber... wie kommst du jetzt plötzlich darauf? Und das auch noch, nachdem Matt aufgetaucht ist.“ Kari hätte sich denken können, dass er das gleich durchschaute. Er war ja nicht bescheuert. „Naja, wir machen alle Fehler, nicht wahr?“, meinte sie schulterzuckend. „Und wir kennen uns schon so lang und von daher sollten wir diese Sache nicht alles zerstören lassen.“ T.K. stützte die Ellbogen auf den Knien ab, runzelte die Stirn und musterte sie durchdringend. Sie hasste diesen Blick, der sich immer anfühlte, als würde er sie röntgen. „Ich habe mit Matt geredet“, gab sie schließlich zu. Er antwortete nicht, sondern sah sie nur weiter abwartend an. Das hatte er sich sicher schon gedacht. „Er hat mir erzählt, was passiert ist“, redete Kari weiter. „Was hat er dir erzählt?“, fragte T.K. kühl. „Na das mit Jean und deiner Mutter. Weshalb ihr nach Japan zurückgekommen seid. Dass es an diesem Jean lag, weil er... deine Mutter... also...“ „Er hatte kein Recht, dir das zu erzählen“, beendete er ihr Gestammel und wandte den Blick ab. „Er ist der Letzte, der das Recht hat, es überhaupt irgendjemandem zu erzählen!“ „T.K.“, sagte Kari leise und legte eine Hand auf seinen Unterarm, der sich ganz hart und angespannt anfühlte. Seine Hände waren zu Fäusten geballt, sodass die Fingerknöchel weiß unter der Haut hervortraten. „Was passiert ist, ist schrecklich. Aber Matt tut es Leid. Er will mit dir über alles reden. Ich glaube, er leidet ziemlich darunter, dass ihr keinen Kontakt mehr habt.“ „Ich wusste, dass er dich geschickt hat. Bitte halt dich da raus, Kari“, sagte T.K. trocken und fuhr sich durch die Haare, als müsste er angestrengt nachdenken. „Er hat mich nicht geschickt“, protestierte Kari. „Ich wollte selbst zu dir kommen und mit dir reden. So kann das doch nicht weitergehen. Er ist dein Bruder.“ „Ist er nicht. Er hat sie einfach im Stich gelassen. Seine Karriere war ihm wichtiger als seine Familie, also ist er nicht mehr mein Bruder, sondern nur ein geldgieriger Idiot.“ Er schnaubte verächtlich. „Berühmt sein ist doch alles, was den je interessiert hat.“ „Das stimmt nicht“, widersprach Kari und bemühte sich um eine einfühlsame Stimme. „Du bedeutest ihm so viel, das weiß ich.“ T.K. schüttelte nur den Kopf und stand auf. „Ich will nicht mehr darüber reden, okay? Bitte sprich mich nie wieder darauf an.“ „Aber T.K.“ Sein Blick brachte sie zum Schweigen. Eine Weile sahen sie sich in die Augen, dann ließ Kari den Kopf hängen und ging langsam aus dem Zimmer. Er folgte ihr, um sie zur Tür zu bringen. „Es tut mir Leid, dass ich nicht da war, als du mich gebraucht hättest“, sagte sie betrübt, nachdem sie die Wohnungstür geöffnet hatte. „Du brauchst dich doch nicht zu entschuldigen“, antwortete er. „Aber vielleicht hättest du jemanden zum Reden gehabt, wenn ich nicht so stur gewesen wäre“, meinte Kari betreten. „Und dann wäre es dir vielleicht besser gegangen.“ „Wie gesagt, du brauchst dich nicht zu entschuldigen“, wiederholte er sich. Kari zuckte mit den Schultern, verabschiedete sich von ihm und machte sich auf den Weg nach Hause. Der erste Weg führte Kari in ihr Zimmer zum Schreibtisch. Alles, was sie heute über T.K. und Matt erfahren hatte, hatte sie sich an den fünften Brief erinnern lassen, der noch immer darauf wartete, gelesen zu werden. Ob dort drin wohl ein Hinweis stand, dass es T.K. und seiner Mutter nicht sonderlich gut ergangen war? Sie fischte den Brief aus der untersten Schreibtischschublade hervor. Äußerlich unterschied er sich schon einmal nicht sonderlich von den anderen vier Briefen. Sie öffnete behutsam den Umschlag und holte das Papier darin heraus. Eilig faltete sie es auseinander und begann zu lesen. Liebe Kari, ich wünsche dir alles Liebe zum 17. Geburtstag! Mögen sich all deine Wünsche erfüllen. 17 hört sich schon unglaublich alt an, oder? Wir gehen stramm auf die 20 zu. Dann sind wir erst mal alt... Wie auch immer, ich hoffe, es geht dir gut und du machst dir heute einen schönen Tag mit wem auch immer. Mir jedenfalls geht es gut, auch wenn alles drunter und drüber geht zur Zeit. Aufgrund einer Verkettung vieler Umstände müssen wir von hier weg und kommen zurück nach Tokio. Ja, wirklich. Ich kann es auch kaum glauben. Es hat echt lange gedauert, bis ich mich daran gewöhnt hatte, hier zu sein und jetzt muss ich wieder weg. Aber es geht nicht anders. Wir ziehen übrigens zufällig wieder in die Gegend, in der wir früher gewohnt haben und ich werde auf die gleiche Schule gehen, auf der auch unsere Brüder waren. Also falls du noch da wohnst, sehen wir uns wahrscheinlich in der Schule. Ich weiß, das wäre irgendwie komisch, aber ich freue mich darauf. Ich hoffe wirklich sehr, dass du noch da wohnst. Ansonsten ist hier nicht so viel los. Meine Mutter fängt schon langsam an, unser Leben in Kartons zu packen. Du müsstest sie dabei mal sehen. Sie entscheidet sich mindestens fünf Mal um, ob sie eine Sache behält oder doch lieber wegschmeißt. Oder doch lieber spenden? Ich fange schon langsam an, meine Freunde hier darauf vorzubereiten, dass ich wegziehe. Man lernt ja aus seinen Fehlern. Aber ich wollte, dass du es als Erste erfährst. Jedenfalls hoffe ich, dass ich dich dann demnächst sehe. Wenn alles klappt, am 6. April. Das sind nur noch zwei Monate! Bis hoffentlich bald. Liebe Grüße Takeru Sie faltete den Brief wieder zusammen. Er hatte ihr also tatsächlich schon geschrieben, dass er wieder zurückkam. Deshalb wusste er auch, dass sie seine Briefe nicht gelesen hatte. Es war jedoch in keiner Silbe herauszulesen, dass bei ihnen etwas Schreckliches passiert war. Dass alles drunter und drüber ging, konnte ja alles Mögliche bedeuten. Sie spähte in den Brief und holte noch ein paar der Schokoladenbonbons heraus, die er wieder mitgeschickt hatte. Außerdem war noch ein winziges Stoffsäckchen dabei. Kari nahm es in die Hand und öffnete es neugierig. Es enthielt eine dünne, silberne Kette mit einem filigranen silbernen Anhänger in Form einer Balletttänzerin. Außerdem war noch ein Zettel in dem Stoffsäckchen mit einem einzigen Satz darauf. Ich hoffe, du tanzt noch. Kari lächelte und legte sich die Kette um den Hals. Gleich darauf betrachtete sie sich im Spiegel. Ja, die gefiel ihr wirklich gut. Selbst, wenn sie nicht mehr tanzen würde, hätte sie sich über dieses Geschenk gefreut. Sie war erstaunt, dass er bei diesem Chaos zu Hause noch Nerven dafür gehabt hatte, ihr ein Geburtstagsgeschenk zu kaufen. Wie viel Geld er wohl dafür ausgegeben hatte? Ob seine blonde Freundin Isabelle davon wusste, dass er ihr jedes Jahr Geburtstagsgeschenke geschickt hatte? Kari setzte sich an ihren Computer und fuhr diesen hoch, um sich mal wieder in ihren Facebook-Account zu loggen. Sie war nun schon einige Tage nicht mehr dort online gewesen. Ob sie wohl irgendetwas Weltbewegendes verpasst hatte? Sie überflog die Einträge auf ihrer Startseite. Wieder einmal viele Leute ihrer Schule, die Liedtexte und tiefsinnige Zitate posteten, Videos teilten, ihre Kontakte über ihren Tagesplan auf dem Laufenden hielten... und Partyfotos. Erst da fiel Kari wieder ein, dass Aya ja am Wochenende auf dieser Party von Masao gewesen war und T.K. gefragt hatte, ob er auch kam. Neugierig klickte sie sich durch die Bilder. Viele Bilder von betrunkenen Jugendlichen. Und ein Bild von T.K. und Aya Arm in Arm. Sie strahlte in die Kamera, er lächelte nur leicht. Kari klickte weiter und fand die beiden erneut auf einem Foto, diesmal allerdings eher im Hintergrund und sie unterhielten sich. Und auch auf noch einem anderen Bild tauchten sie im Hintergrund auf und schienen gerade über etwas zu lachen. Kari runzelte die Stirn und klickte auf Ayas Profil. Ihr Profilfoto zeigte einen typischen Selfie vor dem Badezimmerspiegel. Kari schnaubte belustigt. Ihr Beziehungsstatus zeigte „Es ist kompliziert“ an. Kari hob die Augenbrauen. Was sie wohl damit meinte? Waren sie und T.K. etwa... Kapitel 27: Freunde küsst man nicht ----------------------------------- Es fühlte sich fast an, als hätte Kari in Davis einen Leidensgenossen gefunden. Seit einem Monat waren Nana und Ken nun schon zusammen und hatten Davis und Kari fast schon abgeschrieben. Für Kari war das nicht so schlimm, sie konnte Nana sogar ein wenig verstehen. Sie war eben total verknallt und es war ja nicht so, als hätte sie gar keine Zeit mehr für Kari. Aber Davis hatte es ein wenig schwerer. Schon den ganzen Abend hockten sie zu zweit auf Davis' Bett, sahen sich Horrorfilme an und tranken viel zu süßen Fruchtwein, der ihnen allmählich zu Kopf stieg. „Mann, wie kann man so dämlich sein“, regte Davis sich auf und machte eine wegwerfende Handbewegung in Richtung des Fernsehbildschirms. „Haben die noch nie Horrorfilme geguckt? Die wissen doch: Wer allein irgendwo nachsehen geht, stirbt.“ „Ich versteh's auch nicht“, meinte Kari kopfschüttelnd und nippte an ihrem Weinglas. „Eigentlich haben sie es gar nicht verdient, den Film zu überleben.“ „Das finde ich auch“, stimmte Davis ihr zu und hielt ihr sein Glas entgegen. Sie stießen klirrend an und tranken noch einen Schluck. Wenig mitleidvoll beobachteten sie, wie eine junge Frau brutal von einem vermummten Mann mit einer Sense abgeschlachtet wurde. Schauerliche Musik, viel Geschrei und massenhaft dunkelrotes Kunstblut sollten den Gruseleffekt noch verstärken, aber Kari konnte diesen Film einfach nicht ernst nehmen. „Ob Ken und Nana wohl auch gerade Horrorfilme schauen?“, fragte Davis sarkastisch. Kari biss sich auf die Unterlippe. Ja, Ken und Nana hatten jetzt gerade ein Date. Und was für eines. Als Nana Kari davon erzählt hatte, war sie sich sicher gewesen, dass sie heute ihr erstes Mal erleben würde. Sie hatten sich nämlich für einen DVD-Abend verabredet, aber mit einem sehr seltsamen Unterton, wie Nana berichtet hatte. Deshalb hatte sie Kari in der Schule gestern mit ihrer Aufregung total verrückt gemacht und den ganzen Tag von nichts Anderem geredet. Aber das alles sagte Kari Davis natürlich nicht. „Keine Ahnung. Vielleicht“, antwortete sie ausweichend. „Ich habe übrigens letzte Woche meine Bewerbungen abgeschickt“, fügte sie hinzu, um möglichst schnell das Thema zu wechseln. „Oh, achso? Und wohin?“, fragte Davis überrascht. „Nach New York, Moskau, Paris und London“, antwortete Kari. Davis hob die Augenbrauen und nickte anerkennend. „Das ist ziemlich cool.“ „Ja, mal sehen. Wenn ich in Frage komme, kommen kurz nach den Sommerferien die Talentscouts in die Schule“, erklärte Kari und ihre Gedanken wanderten wieder zu einem eventuellen Auftritt, den sie hinlegen konnte. Und bei dem alles schief ging, was nur schief gehen konnte. „Ich drücke dir die Daumen, dass du in Frage kommst“, meinte Davis und sah sie ernst an. „Ich glaube, du schaffst das. Du bist so gut.“ „Ach was, so gut bin ich nicht“, murmelte Kari verlegen und fuhr sich durch die Haare. „Na klar. Und wenn sie in die Schule kommen, werde ich auf jeden Fall zugucken und dich anfeuern“, versprach er grinsend. „Das ist schön. Da habe ich ja wenigstens einen“, kicherte Kari und stellte sich vor, wie sie Davis' Geschrei aus dem Zuschauerraum heraushörte. „Nicht nur einen. T.K. kommt doch garantiert auch“, meinte Davis und zuckte schelmisch mit den Augenbrauen. „Ach, hör doch auf“, murmelte sie und stieß ihn mit dem Ellbogen in die Seite. „Was denn? Ist doch wahr. Man sieht euch auffällig oft zusammen in letzter Zeit“, entgegnete Davis und sah sie vielsagend an. „Das könnte daran liegen, dass wir nebeneinander sitzen, du Blitzbirne“, antwortete Kari und verdrehte die Augen. „Oder es liegt daran, dass er auf dich steht“, meinte Davis überzeugt und verschränkte die Arme vor der Brust. „Oh Mann, doch nicht die Nächste!“ Er hatte sich wieder dem Fernseher zugewandt, wo nun eine andere junge Frau nach ihrer bereits toten Freundin suchte. Unterdessen war Kari rot angelaufen. „Jetzt erzähl doch keine Mist. Er steht nicht auf mich. Ich glaube, er steht eher auf Aya.“ „Aya?“ Davis warf ihr einen schiefen Blick zu. „Kein Typ, der noch ganz sauber ist, steht auf Aya. Echt, Kari. Die ist zwar hübsch, aber so dermaßen falsch und außerdem schickimicki. Glaub mir, das kann kein Kerl ernst nehmen.“ „Ach nein? Das sieht mir aber ganz anders aus“, erwiderte Kari und ignorierte das Geschrei der Frau im Film, die gerade ihre aufgeschlitzte Freundin entdeckt hatte. „Naja, es gibt sicher ein paar, die sie gern flachlegen würden, aber niemand würde eine Beziehung mit ihr wollen. Auch nicht T.K.“ Er zwinkerte ihr verschwörerisch zu. „Na schön, dann will er sie halt nicht. Aber da gibt es trotzdem noch diese Isabelle“, erwiderte Kari eine Spur zu heftig. Davis sah sie verwirrt an. „Was denn für eine Isabelle?“ „Ach, so eine, die ihm Herzchen bei Facebook schreibt und mit ihm auf ein paar Fotos drauf ist“, antwortete Kari abwinkend. Für einige Sekunden sah Davis sie nur sprachlos an. Dann fragte er: „Sag mal, stalkst du ihn?“ Verblüfft erwiderte Kari seinen Blick. „Was? Nein! Ich habe nur seine Fotos auf Facebook angeschaut. Das kann man ja wohl kaum als Stalken bezeichnen.“ Davis lachte, die Frau im Film weinte. „Wie du meinst“, meinte er schließlich schulterzuckend. „Ich glaube trotzdem, dass er auf dich steht.“ Kari seufzte und widersprach ihm nicht mehr. Zumindest nicht laut. Es hatte ja doch keinen Sinn. Doch sie wusste, dass T.K. definitiv nicht auf sie stand. Sie hatte ja auch nichts weiter zu bieten. Ein dünnes, unauffälliges, schüchternes Mädchen war sie. Und er? Er war das genaue Gegenteil. Deshalb passte er eigentlich perfekt zu Aya. „Glaubst du, das mit Ken und Nana ist was Ernstes?“, fragte Davis nach einer Weile. Kari sah ihn an und bemerkte, dass er deprimiert aussah. „Soll ich ehrlich sein?“ „Ja.“ „Kann schon sein.“ Er kaute auf seiner Unterlippe herum und starrte zum Fernseher. Kari war sich aber nicht sicher, ob er überhaupt etwas von dem mitbekam, was da passierte. „Vielleicht... ist das ja nur eine kurze Phase von dir“, meinte sie schulterzuckend. „Fängst du schon wieder damit an?“, stöhnte er genervt. „Nein, nein, ich meine, manchmal passiert sowas doch. Dass man sich einfach in jemanden verknallt und irgendwann geht das wieder weg. Weißt du noch, als ich vor zwei Jahren in diesen Kuro verknallt war? Das hat auch irgendwann einfach wieder aufgehört“, erklärte Kari schnell und hob abwehrend die Hände. „Der Typ war ja auch seltsam“, meinte Davis trocken. „Ken ist auch manchmal seltsam“, erwiderte Kari trotzig. „Ist er nicht“, murrte Davis. „Das willst du bloß nicht sehen, weil du so verliebt bist“, sagte Kari bestimmt. „Hast du eigentlich überhaupt schon mal ein Mädchen geküsst?“ „Nein.“ „Siehst du? Woher willst du dann wissen, dass du keine Mädchen magst? Vielleicht geht es dir dann ganz anders.“ Er seufzte, stellte sein Weinglas weg und drehte sich zu ihr. „Dann versuch's doch. Küss mich und dann kann ich dir sagen, dass das nichts für mich ist.“ „Ich soll dich küssen?“, fragte Kari entgeistert. „Warum nicht? Du hast angefangen damit. Und immerhin war ich in der fünften Klasse total verschossen in dich. Wenn ich also wirklich insgeheim doch auf Mädchen stehe, bei wem soll ich es dann merken, wenn nicht bei dir?“ Er sah sie auffordernd an. Kari öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch sie war sprachlos. Sie sollte ihn küssen? Einfach so? Aber sie waren doch so gut befreundet. „Jetzt guck nicht so, sondern mach endlich“, forderte Davis genervt. „Wir wollten uns doch noch 'Halloween' reinziehen.“ „Na gut, auf deine Verantwortung“, gab Kari schließlich nach. Sie drehte sich, sodass sie nun vor ihm kniete, beugte sich vor und legte ihre Lippen auf seine. Eigentlich hatte sie überhaupt keine Ahnung, wie man richtig küsste. Sie tat einfach intuitiv das, von dem sie dachte, das müsste sie tun, wenn sie jemanden küsste. Nach ein paar Sekunden war alles schon wieder vorbei. Unsicher sah sie Davis an. „Und?“ Er runzelte die Stirn und schien zu überlegen. „Nichts. Ich habe nichts gemerkt. Hat sich irgendwie falsch angefühlt.“ „Ja, war komisch“, stimmte Kari zu. „Und du kannst nicht küssen“, fügte Davis hinzu. „Was?“, rief Kari empört. „Na hör mal! Vielleicht kannst du ja auch nicht küssen. Immerhin gehören immer zwei dazu.“ Er lachte und wandte sich wieder dem Fernseher zu. „War doch nur ein Witz.“ Auch Kari setzte sich nun wieder so hin, dass sie sich mit dem Rücken gegen die Wand lehnen konnte. „Ich glaube, ich kann wirklich nicht küssen.“ „T.K. kann es dir ja beibringen.“ „Boah, Davis!“ Sie verpasste ihm einen Schlag mit dem Kissen. Der Film ging zu Ende und Davis legte Halloween ein. Der Anfang war recht einschläfernd und langatmig, weshalb Kari mit ihren Gedanken schnell abdriftete und sich nicht mehr auf den Film konzentrierte. Zögerlich wandte sie sich an Davis. „Sag mal, wie lang soll das jetzt eigentlich mit euch so gehen? Mit dir und Ken, meine ich“, fragte sie. „Ich weiß nicht. Bis wir mit der Schule fertig sind?“ Kari seufzte. „Sag ihm doch einfach, was los ist. Ich bin sicher, er versteht das und ihr findet irgendeinen Weg.“ „Was soll es denn deiner Meinung nach für einen Weg geben? Wie sollen wir da beide heil herauskommen? Wenn ich ihm das jetzt sage und er mich nicht komisch findet, dann wird er Nana trotzdem nicht wegen mir verlassen.“ „Da wäre ich mir gar nicht mal so sicher.“ Verständnislos sah Davis sie an. „Naja, ich meine, du bist sein bester Freund. Schon seit einigen Jahren. Ich könnte mir vorstellen, dass es ihm wichtiger ist, mit dir befreundet als mit Nana zusammen zu sein“, erklärte Kari sachlich. Davis ließ resigniert den Kopf hängen. „Ich möchte aber nicht sein Glück für meins zerstören. Und wie soll das außerdem weitergehen? Er kann ja schlecht wegen mir für den Rest seines Lebens Single bleiben.“ „Du solltest trotzdem mit ihm reden“, beharrte Kari. „Das ist einfach eine wichtige Sache, die du ihm nicht verschweigen solltest. Er ist ganz schön deprimiert, weil du ihm aus dem Weg gehst.“ „Wenn das mal alles so einfach wäre“, murmelte Davis und nippte an seinem Wein. Kapitel 28: Hochzeitsplanung ---------------------------- „Was für eine Farbe soll ich denn bloß nehmen?“ „Naja zumindest nicht weiß. Weiß ist nur für die Braut.“ „Das ist mir auch klar. Aber es ist ja nicht so, als gäbe es jetzt nur noch zwei Farben zur Auswahl.“ „Manchmal machst du es aber auch echt kompliziert. Versteif dich doch nicht auf eine Farbe, sondern such dir lieber irgendein Kleid, das dir gefällt. Die Farbe ist doch zweitrangig.“ Kari und Nana gingen an einer Stange voller Cocktailkleider auf und ab, zogen Kleider heraus, hängten sie wieder zurück und kamen einfach zu keinem Ergebnis. Dabei wollte Kari doch unbedingt ein hübsches Kleid für die Hochzeit ihres Bruders haben. Das war doch ein so wichtiger Anlass. „Guck mal, wie findest du das?“, fragte Nana und hielt ein enges, schwarzes Kleid in die Höhe. „Schwarz?“, fragte Kari zweifelnd. Nana stöhnte genervt auf. „Hab' ich nicht gerade gesagt, du sollst dich nicht so an der Farbe aufhalten?“ „Aber ich will kein Schwarz. Außerdem ist das zu kurz“, antwortete Kari bestimmt und suchte weiter. „Ach was. Du kannst deine Beine ruhig zeigen. Die sind doch so dünn“, meinte Nana und ein wenig Neid schwang in ihrer Stimme mit. „Auf Hochzeiten taucht man doch aber nicht so aufreizend auf“, widersprach Kari und schüttelte den Kopf. Nana murmelte etwas Unverständliches vor sich hin und wühlte sich weiter durch die Kleider. Als nächstes zog sie ein sonnengelbes hervor. „Wie wär's hiermit?“ Kari verzog das Gesicht. „Ich will doch nicht aussehen wie eine wandelnde Sonnenblume.“ Genervt verdrehte Nana die Augen. „Also weißt du, ich habe nach der Schule eigentlich andere Sachen zu tun, als mit dir durch die ganze Stadt zu latschen und das richtige Kleid für eine Hochzeit zu finden. Du probierst ja nicht mal eins an.“ „Dich mit Ken zu treffen zum Beispiel?“, fragte Kari und hob die Augenbrauen. „Ja, zum Beispiel“, gab Nana zu. „Wie war denn euer Date?“, fragte Kari interessiert. „Du hast noch gar nichts erzählt.“ „Oh, es war ein Traum“, seufzte Nana und bekam leuchtende Augen. „Jetzt bin ich endlich keine Jungfrau mehr.“ Kari machte große Augen, während ein paar andere Kundinnen in dem Geschäft sich mit mürrischem Blick zu Nana umdrehten. „Und wie war's?“, fragte Kari flüsternd, als die Kundinnen weitergegangen waren. Sie zog ein fliederfarbenes Kleid hervor und beschloss, es anzuprobieren. „Es war ganz toll“, raunte Nana verträumt. „Ken war so vorsichtig und zärtlich und es hat kein bisschen weh getan. Okay, vielleicht am Anfang, aber das ging ganz schnell weg.“ „Wie schön“, fand Kari, versuchte aber, sich diese Szene nicht vorzustellen. Stattdessen fragte sie sich, wie dieses Gefühl wohl war, das Nana so toll fand. „Ja. Wir waren uns so nahe. Und danach bin ich in seinem Arm eingeschlafen. Wie im Film. Und am nächsten Morgen sind wir zusammen aufgewacht und haben im Bett gefrühstückt. Es war so toll.“ Während Nana dort stand und geistig weggetreten war, hatte Kari wahllos Kleider herausgezogen, die sie für annähernd in Ordnung befunden hatte, und machte sich nun auf den Weg in die Umkleidekabine. Es dauerte einige Sekunden, bis Nana realisierte, dass Kari nicht mehr neben ihr stand. „Und wir war dein Filmabend mit Davis?“, hörte Kari Nana von draußen fragen, während sie sich gerade in ein enges graues Kleid zwängte. „Oh, es war okay“, antwortete sie und dachte unwillkürlich daran zurück, wie sie sich geküsst hatten. Unwirsch schüttelte sie den Kopf. Das war wirklich mehr als seltsam und unpassend gewesen. Aber immerhin hatten sie es ausprobiert. „Ich glaube, Ken ist ganz schön traurig“, meinte Nana. „Er redet oft von Davis. Aber ich kann mir trotzdem nicht vorstellen, dass er in mich verliebt ist. Davon habe ich nie etwas bemerkt.“ „Tja“, murmelte Kari nur schulterzuckend und zog den Vorhang zur Seite. „Was hältst du davon?“ Sie stemmte eine Hand in die Hüfte und warf sich eine elegante Pose. Nana kicherte und griff ihr an die Brust. „Das sitzt hier zu locker. Und die Farbe ist ein bisschen langweilig.“ Kari sah sie genervt an. „Willst du mich eigentlich verarschen? Die ganze Zeit erzählst du mir, ich solle mich nicht auf die Farbe versteifen und jetzt...“ „Du bist doch auf dem Trip, dass du nicht langweilig aussehen willst. Dafür ist grau halt nicht so gut geeignet“, unterbrach Nana sie abwehrend. „Ja, schon gut“, seufzte Kari und schob den Vorhang wieder zu. „Hach, ich würde auch gern mit auf die Hochzeit kommen“, seufzte Nana. „Wenn du willst, kann ich Tai mal fragen. Er hat bestimmt nichts dagegen“, antwortete Kari, während sie sich aus dem Kleid schälte und nach dem nächsten griff. „Nein, schon gut. Ich kenne ihn und seine Freundin ja gar nicht. Das kommt doch blöd“, meinte Nana zögerlich. „Ich glaube, auf der Hochzeit werden ungefähr hundert Gäste sein. Da fällt einer mehr oder weniger auch nicht auf“, erwiderte Kari abwinkend. „Nein, trotzdem“, beharrte Nana. „Ich lasse das lieber. Aber du musst mir erzählen, wie's war. Kann Ken eigentlich tanzen? Auf Hochzeiten tanzt man doch immer so viel.“ „Keine Ahnung. Werde ich ja dann sehen“, antwortete Kari und zog erneut den Vorhang beiseite. Nun präsentierte sie sich in einem weiten, violetten Kleid. Nana musterte sie eingehend, rümpfte aber schließlich die Nase und schüttelte den Kopf. „Die Farbe ist okay, aber in dem Kleid gehst du ja komplett unter“, meinte sie und verschränkte mit kritischem Blick die Arme vor der Brust. Kari seufzte und verschwand wieder in die Umkleidekabine. So ging das noch die restlichen Kleider, bis beide Mädchen irgendwann frustriert den Laden verließen. „Wenn das so weitergeht, werde ich wohl nackt auf die Hochzeit gehen müssen“, murmelte Kari resigniert. „Oder du hörst einfach auf mich und ziehst dir endlich mal mein rotes Kleid an“, entgegnete Nana bestimmt. „Das Enge? Nein, ganz sicher nicht“, sagte Kari entschlossen. „Das ist doch auf einer Hochzeit total unangebracht.“ „Ach was. Du bist die Schwester des Bräutigams, du kannst ruhig ein bisschen auffallen“, meinte Nana abwinkend. „Auffallen, ja. Wie eine Nutte aussehen, nein“, murrte Kari. Als Kari die Wohnung betrat, hörte sie sofort zwei Frauenstimmen. Zuerst dachte sie, es wäre vielleicht Natsuko, die mal wieder zu Besuch war, doch dann erkannte sie, dass es nicht Natsukos Stimme war. „Oh, hallo Mimi.“ Mimi saß dort mit Yuuko auf der Couch im Wohnzimmer und trank Tee. Sie lächelte Kari an, als sie sie sah. „Hi. Auf dich habe ich gewartet.“ „Auf mich?“, fragte Kari verwirrt. Mimi nickte und stand auf. „Ich möchte etwas mit dir besprechen.“ Kari sah ihre Mutter fragend an, konnte jedoch aus deren Blick nichts herauslesen. Also ging sie mit Mimi in ihr Zimmer, wo diese sich gleich auf Karis Bett niederließ. „Wie geht’s dir? Ist alles okay?“, fragte Kari sie und schielte verstohlen auf Mimis Bauch. Sie glaubte jedoch nicht, etwas zu erkennen. „Ach wegen des Babys“, sagte Mimi, die Karis Blick gefolgt war. „Ja, alles in Ordnung. Mir ist ab und zu schlecht, ich habe manchmal Kopfschmerzen und kann manche Sachen nicht mehr essen, aber ansonsten geht’s mir gut. Und dem Baby natürlich auch.“ Sie stellte sich wieder hin, hob ihr Oberteil ein Stück an und schob ihren Rock ein kleines Stück nach unten. „Schau mal. Ein bisschen sieht man es schon.“ Stirnrunzelnd inspizierte Kari Mimis Bauch und tatsächlich war eine Wölbung zu erkennen. Allerdings hätte die auch daher kommen können, dass Mimi gerade viel gegessen hatte. Es war also nicht unbedingt zu sehen, dass es sich hier um einen Babybauch handelte. „Ein bisschen sieht man es“, meinte Kari. Mimi schob ihr Oberteil wieder dorthin, wo es hingehörte und setzte sich wieder, eine Hand auf den Bauch legend. „Ich wollte aber eigentlich was ganz Anderes mit dir besprechen.“ Langsam setzte Kari sich neben sie und sah sie abwartend an. Sie hatte keine Ahnung, auf was Mimi hinaus wollte. Sie griff nach ihrer Hand und umklammerte sie. „Ich wollte dich um etwas bitten.“ „Um was denn?“, fragte Kari, nun fast ein wenig ängstlich. „Würdest du bitte meine Brautjungfer werden?“ Mimi machte große Augen und sah sie bettelnd an. „Ich... was? Deine Brautjungfer?“, fragte Kari verdattert. Mimi nickte wild, wobei ihr langes braunes Haar nach oben und unten wippte. „Bitte. Ich brauche eine und dich kenne ich schon so lang. Ich weiß, dass du eine prima Brautjungfer wärst.“ „Ich ähm... ja klar, wieso nicht? Das wäre super“, antwortete Kari ehrlich und lächelte. „Ich freue mich drauf.“ Mimi strahlte und umarmte Kari stürmisch. „Danke, danke, danke! Ich bin in den letzten Tagen schon verzweifelt, weil ich einfach nicht wusste, wen ich fragen sollte. Ich weiß selbst nicht, warum ich nicht gleich an dich gedacht habe. Du bist perfekt dafür.“ Kari kicherte und freute sich, dass sie Mimi mit dieser einfachen Geste so begeistern konnte. „Warum hast du eigentlich nicht Sora gefragt?“, fragte sie verwundert. Mimi winkte ab. „Ach, die kommt erst am Tag vor der Hochzeit an. Ich wollte ihr nicht so viel Stress damit machen. Außerdem entwirft sie ja schon mein Kleid.“ „Oh, wie toll“, fand Kari. „Ja, das ist wirklich toll. Ich bin die Einzige, die je dieses Kleid tragen wird. Allerdings kann sie natürlich die genauen Maße nicht bestimmen und bestimmt muss ich es vor der Hochzeit noch mal ändern lassen, aber ich freue mich wahnsinnig darauf. Es wird ein Traum.“ Mimis Augen funkelten aufgeregt und Kari war nun neugierig auf das Kleid. Was gab es schon Besseres, als sein eigenes Hochzeitkleid geschneidert zu bekommen? „Wie geht es Sora eigentlich?“, fragte Kari. „Anscheinend läuft ihr Studium gut.“ „Jaja, der geht’s blendend. Sie ist gerade erst mit Fabio zusammengezogen“, antwortete Mimi grinsend. „Fabio?“, fragte Kari und hob eine Augenbraue. „Na ihr Freund. Ein Italiener. Angeblich kann er wahnsinnig gut kochen. Und gut aussehen tut er auch“, antwortete Mimi verschmitzt lächelnd. „Er ist Model, weißt du?“ „Oh, das klingt super. Kommt er auch zur Hochzeit?“ „Nein, leider nicht. Er hat an dem Tag einen wichtigen Termin.“ Kari machte ein enttäuschtes Gesicht. Sie hätte doch so gern mal ein Model kennen gelernt. Und dazu auch noch ein männliches, das gut kochen konnte. „Ja, ich bin auch ganz traurig“, lachte Mimi. „Nicht, dass Tai nicht gut aussehen würde, aber...“ Sie kramte ihr Handy hervor, tippte darauf herum und drückte es Kari in die Hand. Sie erblickte ein Foto von Sora und einem jungen Mann mit dunklen, sauber frisierten Haaren und stechend blauen Augen. Auf seinen Lippen lag der Hauch eines Lächelns. Kari räusperte sich und gab Mimi das Handy zurück. „Wirklich schade, dass er nicht kommt.“ „Sag' ich ja“, meinte Mimi grinsend. Nachdem Kari Mimi wieder zur Tür gebracht hatte, ging sie zu ihrer Mutter ins Wohnzimmer. Diese saß vor dem Fernseher und sah sich eine ihrer Serien an. „Du, Mama?“, fing Kari an. „Mhm?“, machte ihre Mutter, ohne den Blick vom Fernseher abzuwenden. „Was ist eigentlich die Aufgabe einer Brautjungfer?“ Ihre Mutter sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Hat Mimi dich etwa zu ihrer Brautjungfer gemacht?“ Kari nickte nur. „Oh, das ist wirklich schön. Naja, eine Brautjungfer... sie ist am Tag der Hochzeit eben sehr wichtig. Du bist dann die ganze Zeit für die Braut da, hältst ihr den Brautstrauß während der Trauzeremonie, reichst ihr Taschentücher, hältst ihr Kleid, wenn sie auf die Toilette muss, beruhigst sie, wenn sie aufgeregt ist oder in Tränen ausbricht, sagst ihr, wie umwerfend sie aussieht und dass schon alles gut gehen wird, begleitest sie zum Standesbeamten...“ Yuuko lächelte schief. „Okay, verstehe“, erwiderte Kari nachdenklich. Sie stellte fest, dass die Aufgabe der Brautjungfer verantwortungsvoller war, als sie angenommen hatte. Sie konnte verstehen, dass Mimi eine brauchte. Sie würde wohl auch so jemanden an ihrem Hochzeitstag haben wollen. „Mach nicht so ein Gesicht. Brautjungfer sein ist super. Ich war die Brautjungfer meiner Schwester und es hat wirklich Spaß gemacht“, sagte Yuuko und lächelte aufmunternd. „Das wird schon. Du musst eigentlich nur für Mimi da sein.“ „Verstehe. Ich glaube, das kriege ich hin.“ Kapitel 29: Sommerferien mit Überraschungen ------------------------------------------- Mit dem Beginn der Sommerferien wurde Kari immer frustrierter wegen ihrer erfolglosen Suche nach einem passenden Brautjungfernkleid. Inzwischen hatte sie sich so in die Suche hineingesteigert, dass sie glaubte, niemals das richtige Kleid finden zu können, ja dass es so ein Kleid nicht einmal gab. Sie spielte schon mit dem Gedanken, doch noch einmal Nana nach ihren Kleidern zu fragen, als sie auf Facebook eine unerwartete Nachricht erreichte. Nichtsahnend loggte Kari sich eines Nachmittags nach der Schule in ihren Facebook-Account und sah, dass sie eine neue Freundschaftsanfrage hatte. Und zwar von einer gewissen Sora Takenouchi, wohnhaft in Milano, Italia. Und ebendiese hatte ihr auch eine Nachricht geschickt. Hallo ihr beiden, jetzt hat auch mich endlich die moderne Kommunikationstechnik eingeholt. ;-) Wie geht es euch? Yolei, wie läuft dein Hauswirtschaftsstudium? Kari, gehst du fleißig zur Schule? Ihr wundert euch bestimmt, warum ich euch schreibe. Es geht um Mimi. Ich weiß nicht, ob ihr es schon irgendwie mitbekommen habt, aber sie hat mich gefragt, ob ich ihre Brautjungfer sein möchte. Ich habe ihr abgesagt, weil ich dachte, ich könnte sowieso erst einen Tag vor der Hochzeit kommen und das wäre zu viel Stress, aber nun werde ich schon zwei Wochen vor der Hochzeit nach Tokio kommen. :-) Sie hat mir schon erzählt, dass Kari jetzt als ihre Brautjungfer zugesagt hat. Yolei, was ist mit dir? Dich wollte sie eigentlich auch noch fragen. Jedenfalls habe ich mir gedacht, wir könnten sie doch mit einem Junggesellinnenabschied eine Woche vor der Hochzeit überraschen. Was haltet ihr davon? Sie soll natürlich auch noch nicht wissen, dass ich schon eher nach Tokio komme als geplant. Das soll alles ganz überraschend kommen. Und am Tag ihrer Hochzeit hätte sie dann drei Brautjungfern, wenn alles gut läuft und Yolei auch noch dabei ist. Also, seid ihr dabei? Und falls ja, habt ihr schon Ideen, was wir machen könnten? :-) Fühlt euch gedrückt. Sora P.S.: Ich habe übrigens Brautjungfernkleider für uns entworfen. Ich hoffe, ihr habt euch noch keine gekauft. ;-) Während sie die Nachricht gelesen hatte, hatte sich ein Grinsen auf Karis Gesicht geschlichen. Sie konnte sich schon jetzt sehr gut Mimis Gesicht vorstellen, wenn Sora, Yolei und Kari plötzlich vor ihrer Tür auftauchten, um sie zu entführen. Sie war sich sicher, dass Mimi sich riesig freuen würde, nun doch auch noch Sora als Brautjungfer zu haben. Schnell tippte sie eine Antwort und klickte dann neugierig auf Soras Profil. Ihr Foto zeigte sie, wie sie selbstbewusst lächelnd in die Kamera blickte. Kari hatte fast das Gefühl, eine andere Sora zu sehen, obwohl sie sich äußerlich nicht sehr verändert hatte. Die Haare trug sie immer noch recht kurz und orangefarben und sie hatte auch nicht ab- oder zugenommen. Aber ihr Gesichtsausdruck wirkte offener, zufriedener und selbstsicherer als früher. Ihre Kleidung war modisch und perfekt zusammenpassend. Sie war braungebrannt und ihre Zähne strahlend weiß. Die restlichen Informationen auf ihrem Profil verrieten Kari, wann sie Geburtstag hatte, dass sie in Mailand wohnte, in Tokio ihren Schulabschluss gemacht hatte und in einer Beziehung mit Fabio Lupardini war. Neugierig klickte Kari sich zu Fabios Profil. Dieser sah auf seinem Foto wirklich unverschämt gut aus und Kari konnte nicht anders, als Sora ganz kurz für einen so hübschen Freund zu beneiden. Aber Aussehen war schließlich nicht alles. Sie schaltete den Computer wieder aus und machte sich auf den Weg zum Strand. Sie hatte sich dort mit Ken, Nana und T.K. zum Schwimmen verabredet und war nun schon spät dran. Im Bus zum Strand hatte sie Zeit, sich über den Junggesellinnenabschied Gedanken zu machen. Sie hatte keine Ahnung, wie man so etwas feierte. Versuchte man da nicht, kleine Gegenstände an wildfremde Menschen zu verkaufen? Und feierte man nicht bis spät nachts? Sie stellte es sich zumindest lustig vor und freute sich darauf, etwas mit den anderen drei Mädchen zu unternehmen. Sie wusste nicht, wann sie das letzte Mal alle vier etwas zusammen gemacht hatten, falls sie überhaupt schon einmal etwas zu viert ohne die Jungs unternommen hatten. Nun war jedoch die beste Gelegenheit für so eine Aktion. Wie die Brautjungfernkleider wohl aussahen, die Sora entworfen hatte? Und ob sie alle drei das gleiche Kleid tragen würden? Endlich erreichte Kari den Strand und stapfte durch den Sand zu der Stelle, an der sie sich mit den anderen verabredet hatte. Es dauerte auch nicht lange, bis sie sie fand, obwohl der Strand bei dieser Hitze ziemlich voll war. „Oh, da bist du ja. Ich dachte schon, du kommst nicht mehr“, begrüßte Nana sie und schloss sie in die Arme. Auch Ken umarmte sie kurz, wie immer. Ein kurzer Moment der Peinlichkeit entstand, weil sie nicht wusste, wie sie T.K. begrüßen sollte. Dann umarmte sie ihn kurzerhand auch, wenn auch nur für den Bruchteil einer Sekunde. Fahrig strich sie sich eine Haarsträhne hinter das Ohr und ließ sich auf die Decke zwischen Nana und T.K. fallen. „Entschuldigung, ich habe zu Hause getrödelt. Ich habe eine Nachricht von Sora bekommen“, verkündete Kari und wurde von allen fragend angesehen. „Was hat sie denn geschrieben?“, fragte Ken. „Wegen der Hochzeit. Wir wollen Mimi überraschen“, erklärte Kari und entledigte sich ihres T-Shirts und ihrer Shorts, obwohl ihr das in T.K.s Gegenwart noch ein wenig unangenehm war. „Wer ist Sora?“, fragte Nana neugierig. „Eine Freundin von uns. Sie war zu Schulzeiten immer Mimis beste Freundin“, antwortete Kari. „Eigentlich wollte sie erst am Tag vor der Hochzeit nach Tokio kommen, aber jetzt ist sie doch schon zwei Wochen eher da.“ „Oh, wie schön“, meinte Nana lächelnd. „Ich würde eure ganzen Freunde so gern mal kennen lernen. Unglaublich, wie viel Kontakt ihr habt nach so vielen Jahren.“ „So viel Kontakt haben wir gar nicht“, sagte T.K., legte sich wieder hin und legte den Unterarm zum Schutz vor der Sonne über die Augen. „Ich habe eigentlich nur zu euch Kontakt“, überlegte Ken und machte ein nachdenkliches Gesicht. „Bis vor ein paar Monaten hatte ich zu gar keinem Kontakt“, sagte T.K. Nicht mal zu Matt, schoss es Kari durch den Kopf. „Ich freue mich, dass wir alle mal wieder zusammenkommen. Ich bin so gespannt, was jeder so macht in seinem Leben“, sagte Kari und faltete die Hände. „Na hoffentlich ist niemand drogenabhängig geworden oder so“, warf Nana ein und Kari sah sie erschrocken an. „Guck nicht so, das passiert überall. Ein ehemaliger Kindergartenfreund von mir ist heute auch drogenabhängig.“ „Mal doch den Teufel nicht an die Wand“, erwiderte Ken kopfschüttelnd. „Mir würde gar keiner aus der Gruppe einfallen, dem ich das zutrauen würde.“ „Na, meinem Kindergartenfreund hätte ich das auch nicht zugetraut“, sagte Nana und hob eine Augenbraue. „Ich hätte es Kari zugetraut“, mischte T.K. sich ein. „Wie bitte?“, rief Kari empört und starrte ihn an. Er grinste schief und blinzelte gegen die Sonne. „War nur ein Witz.“ „Aber es heißt doch immer, stille Wasser seien tief“, meinte Nana und kicherte. „Wer weiß, was Kari alles zu verbergen hat.“ „Vielleicht sind Drogen ja ihr geringstes Problem“, stieg nun auch Ken mit ein und Nana lachte. „Ihr seid doch alle doof“, murmelte Kari, ließ sich auf den Rücken fallen und schloss die Augen. „Ich gehe jetzt ins Wasser, sonst zerfließe ich noch. Kommst du mit, Kenni?“, hörte sie Nana zwitschern. „Ja“, antwortete Ken. Sie standen beide auf und liefen durch den heißen Sand davon. „Kenni“, wiederholte Kari grinsend. „Wie süß.“ „Ja. Ich glaube, so nenne ich ihn in Zukunft auch“, stimmte T.K. zu. Kari genoss es, die Sonne auf ihrer Haut zu spüren und hoffte, ein wenig braun zu werden. Obwohl der ganze Strand erfüllt war von Reden, Lachen und Rufen, wurde sie langsam müde und gähnte. Sie öffnete die Augen, um nicht einzuschlafen und sah, dass T.K. sich ein wenig aufgerichtet hatte und sie beobachtete. „Was ist?“, fragte sie irritiert und stützte sich nun ebenfalls auf den Ellbogen ab. „Nichts. Ich hab' mich nur gerade gefragt...“ „Hm?“ „Ob du schon ein Date für die Hochzeit hast.“ Kari runzelte verständnislos die Stirn. „Ein Date?“ „Naja, geht man auf Hochzeiten nicht immer in Begleitung?“, meinte T.K. schulterzuckend. „Ich weiß nicht. Kann sein.“ Sie machte eine ruckartige Kopfbewegung, um sich die Haare nach hinten zu werfen. „Aber ich hab' noch keine Begleitung.“ „So ein Zufall. Ich auch nicht.“ Sie fing seinen Blick auf und beide grinsten. „Und was machen wir jetzt gegen diese Situation?“, fragte Kari nach einer Weile. „Keine Ahnung. Vielleicht frage ich mal Yolei“, antwortete T.K. gespielt nachdenklich. „Oh, okay. Aber Yolei kann nicht tanzen“, wandte Kari ein und erinnerte sich etwas amüsiert an Yoleis Abschlussball vor einem halben Jahr zurück. „Hm, das ist schade“, meinte T.K. und setzte wieder ein nachdenkliches Gesicht auf. „Dann muss ich wohl ohne Begleitung bleiben.“ „Sieht so aus“, murmelte Kari nur und fragte sich allmählich, in welche Richtung dieses Gespräch nun gehen sollte. Da setzte T.K. sich ganz auf und sah sie an. „Willst du mein Date für die Hochzeit sein?“ Mit dieser Frage hatte Kari gerechnet, seit er das Thema angeschnitten hatte und trotzdem war sie nun überrascht. „Ähm... ja klar.“ T.K. lächelte. „Das letzte Mal, als mich jemand um so etwas gebeten hat, endete der Abend in einer Katastrophe“, erinnerte Kari sich und rümpfte die Nase. T.K. schnaubte. „Keine Angst. Ich hab' keine Wette am Laufen.“ „Das will ich auch für dich hoffen. Sonst setze ich Tai auf dich an und der verarbeitet dich zu Brei“, drohte Kari und sah ihn gespielt böse an. „Ach, der ist da wahrscheinlich eh nicht mehr zurechnungsfähig“, sagte T.K. und machte eine wegwerfende Handbewegung. „Um dich zu verprügeln wird es schon noch reichen“, erwiderte Kari lässig und T.K. lachte leicht. „Wie sieht eigentlich dein Plan jetzt für die Ferien aus? Hast du irgendwas vor?“ „Du meinst, abgesehen davon, dass ich mit jemandem noch eine Wette über dich abschließe?“, fragte er. „Sehr witzig“, murmelte Kari und legte den Kopf schief. „Nächste Woche fliege ich für zwei Wochen mit meiner Mutter nach Paris zu meinen Großeltern“, sagte T.K. nun ernst. „Und ansonsten nichts weiter. Ein bisschen ausruhen, ein bisschen Basketball. Das Übliche. Und bei dir?“ Als er das Thema Paris erwähnte, fiel Kari wieder ein, dass er sie ja vor einiger Zeit sogar gefragt hatte, ob sie mit ihm fliegen will. Nun flog er ohne sie. Er hatte sie gar nicht mehr darauf angesprochen, doch sie wäre sowieso nicht mit geflogen. Obwohl sie nun fast ein wenig neidisch war, dass er aus Tokio herauskam und sie hier in den Ferien versauerte. „Ach, nichts weiter. Ein bisschen ausruhen, ein bisschen Tanzen. Das Übliche.“ Sie grinste. „Ich werde ein bisschen für die zwanzig Schulen weltweit üben, die mich aufnehmen wollen.“ Er hob anerkennend die Augenbrauen. „Verstehe. Dann machst du damit also Ernst?“ Kari nickte. „Ich drück' dir die Daumen. Du kriegst das hin.“ „Danke.“ Sie lächelte ihn an und er lächelte zurück, was Kari ein wenig verlegen machte. „Ähm also ich glaube, ich gehe jetzt auch mal ins Wasser. Ist ja doch ganz schön heiß hier.“ Es war fast schon komplett dunkel draußen, als Kari wieder zu Hause ankam. Sie setzte sich an ihren Computer, um bei Facebook nachzusehen, ob schon jemand geantwortet hatte. Tatsächlich hatten sowohl Sora als auch Yolei schon zurückgeschrieben. Yolei schrieb, wie toll sie Soras Idee fand und dass sie tatsächlich vor wenigen Tagen von Mimi gefragt worden war, ob auch sie ihre Brautjungfer sein wollte. Sie beteuerte, dass sie sich schon riesig auf den Junggesellinnenabschied freute. Sora antwortete nur, dass sie sich freute, dass beide zugesagt hatten und sie jetzt mit der Planung beginnen konnte. Wie jedoch die Brautjungfernkleider aussahen, daraus machte sie ein Geheimnis. Sie würden es noch früh genug erfahren, hatte sie geschrieben. Kari schaltete ihren Computer wieder aus und war in Gedanken bei den drei anderen Mädchen, als ihr Handy klingelte. Es war Tai. „Hallo, Tai“, begrüßte sie ihn. „Hallo, Schwesterherz. Na, bist du gar nicht in der Hitze zerflossen?“ „Nein. Ich war mit Ken, Nana und T.K. baden.“ „Oh, süß, ein Pärchentag.“ Sie konnte das Grinsen fast schon heraushören. „Witzig“, erwiderte sie trocken. „Aber lustig, dass du das erwähnst. T.K. hat mich gefragt, ob ich seine Begleitung für deine Hochzeit sein will.“ „Uuuuhhhh“, machte Tai mit quietschig hoher Stimme und kicherte wie ein kleines Mädchen. Kari verdrehte die Augen. „Ach, hör doch auf mit dem Blödsinn“, grummelte sie. „Sonst leg' ich wieder auf.“ „War doch nur Spaß“, lenkte er ein. „Eigentlich rufe ich dich wegen etwas anderem an. Wir haben gestern Mimis Eltern von dem Baby erzählt. So langsam musste Mimi nämlich schon aufpassen, was sie anzieht. Enge Oberteile gehen nicht mehr, ohne dass sie sagen müsste, dass sie zugenommen hat. Nicht, dass sie das macht.“ „Oh“, machte Kari. „Ja, dann wurde es ja wirklich Zeit, dass ihr es ihren Eltern erzählt. Wie haben sie reagiert?“ Tai räusperte sich und Kari ahnte nichts Gutes. „Naja, ihr Vater ist ausgerastet, als er erfahren hat, dass sie jetzt schon siebzehn plus drei ist.“ „Siebzehn plus drei?“, fragte Kari verwirrt. „Ja. Das heißt, sie ist seit siebzehn Wochen und drei Tagen schwanger“, antwortete Tai gewichtig. „Du bist doch eine Frau. Eigentlich solltest du das wissen.“ „Entschuldige, mit Schwangerschaften habe ich mich noch nicht so befasst“, murmelte Kari. „Tja, ich mich jetzt schon“, erwiderte Tai seufzend. „Wie ging es denn dann weiter? Hat Mimis Vater sich wieder beruhigt? Was hat ihre Mutter gesagt?“ „Sie musste ihn beruhigen. Er war echt sauer, dass wir es ihnen so lange verschwiegen haben. Er meinte, er hätte ja gleich gewusst, dass ich nur Ärger machen würde. Mimi hat geheult und ihre Mutter dann irgendwann auch.“ Tai lachte müde. „Es war ein Traum.“ Kari war bestürzt, dass Mimis Vater so etwas über ihren Bruder gesagt hatte. „Tai, das... das tut mir echt Leid.“ „Ach was, ich hab' schon damit gerechnet“, meinte Tai. „Der kriegt sich schon wieder ein. Er kann jetzt eh nichts mehr daran ändern.“ „Aber es ist sicher auch nicht gut, wenn er Mimi so viel Stress macht. Das wirkt sich doch sicher auf das Baby aus“, gab Kari zu bedenken. „Hör bloß auf. Sie war heute schon ganz panisch bei ihrer Frauenärztin, weil sie Bauchschmerzen hatte. Jetzt soll sie sich ausruhen und es sich gut gehen lassen und ich muss sie massieren und ihr Essen bringen und sowas.“ Kari hörte Mimi im Hintergrund etwas rufen. „Nein, ich lästere nicht über dich, ich sage nur die Wahrheit.“ Wieder rief Mimi irgendwas, was sich nicht besonders nett anhörte. „Ich liebe dich auch.“ Kari kicherte. „Tai, du solltest lieber nett zu ihr sein und sie pflegen. Dem Baby soll es doch gut gehen, wenn es zur Welt kommt.“ „Ich pflege sie doch!“, entgegnete Tai empört und Mimi rief im Hintergrund wieder etwas. „Klar gebe ich mir Mühe!“ Eine schnippische Antwort von Mimi. „Pass mal auf, wenn du weiter so frech bist, lasse ich dir nicht meine besondere Spezialbehandlung à la Tai zukommen.“ „Möchte ich wissen, was das ist?“, mischte Kari sich in das Wortgefecht von Tai und Mimi ein. „Ich glaube nicht. Dafür bist du noch zu klein.“ Tai lachte und Kari verzog das Gesicht. „Oh Mann“, murmelte sie. „Nächste Woche haben wir einen Ultraschalltermin. Dann erfahren wir das Geschlecht“, verkündete Tai stolz. „Das ist super. Ich hoffe, du sagst mir dann Bescheid“, antwortete Kari und wurde fast ein bisschen aufgeregt, obwohl es nicht ihr Kind war, dessen Geschlecht sie dann erfuhr. „Klar. Du bist die Erste, die es erfahren wird“, versprach Tai. „Ich bin ja auch die einzige Tante des Kindes“, erwiderte Kari stolz. „Ich hoffe, so benimmst du dich auch dem Kind gegenüber. Wir bräuchten noch einen Kinderwagen.“ „Kein Problem. Ich kaufe euch gleich morgen einen von meinem nicht vorhandenen Geld.“ Tai lachte. „Aber bitte keinen pinken.“ „Doch.“ „Damit wirst du dich aber nicht beliebt bei deinem Neffen machen.“ „Du spinnst.“ „Du auch. Und ich muss jetzt auflegen. Mimi will jetzt unbedingt noch Schokolade, aber wir haben keine mehr hier.“ Kari kicherte. „Na dann mach schnell. Die Läden machen gleich zu.“ „Ich weiß. Mach's gut, bis demnächst.“ „Tschüss.“ Kapitel 30: Eine unglaubliche Nachricht --------------------------------------- Es war Anfang August, als Kari mit gemischten Gefühlen zum Training ging. Sie konnte sich nicht dagegen wehren, zuzugeben, dass T.K. ihr irgendwie fehlte und er heute nicht dabei sein würde. Sie hatten in den letzten Wochen recht viel Zeit miteinander verbracht, wenn sie in der Schule nebeneinander saßen und gemeinsam nach Hause gingen oder sich jetzt in den Ferien ab und an mit den anderen zum Baden getroffen hatten. Sie hatte ihn wieder in ihr Leben integriert und er war nun ein fester Bestandteil in der kleinen Freundesgruppe um sie herum. Seit ihrem ersten Strandtag umarmten sie sich nun auch immer, wenn sie sich sahen. Zur Begrüßung und zum Abschied. Zwei Tage, bevor er abgereist war, hatte sie ihn das letzte Mal gesehen. Auch an jenem Tag waren sie am Strand gewesen. Woanders hielt man es bei diesem Wetter ohnehin kaum aus. Er hatte versprochen, ihr eine Karte zu schreiben. Dann war er in seine Straße abgebogen und sie hatte ihm noch hinterher geblickt. Kari erreichte die Umkleidekabinen, zog sich um und ging gemeinsam mit Nana in die Halle, um sich schon ein wenig aufzuwärmen. Sie schaute hinüber aufs Nachbarfeld zu den Basketballern, die ebenfalls gerade dabei waren, sich zu erwärmen, indem sie immer zu zweit über das Feld preschten und sich die Bälle zupassten. Ihr Blick fiel auf Shinji. Sie hatten sich in den letzten Wochen gegenseitig keines Blickes gewürdigt. Kari war noch immer ziemlich sauer auf ihn und seine Kumpels und wusste nicht, ob sich dieses Gefühl jemals wieder legen würde. Dabei hatte sie ihn am Anfang noch ganz nett gefunden, wenn auch ein wenig aufdringlich. Wie hatte sie nur so naiv sein können, nicht auf die Idee zu kommen, dass er nur das Eine im Sinn hatte? Offensichtlich hatte sie ihn etwas zu lang beobachtet, denn er erwiderte ihren Blick. Sie bemühte sich um einen abweisenden Gesichtsausdruck und wandte sich schnell wieder ab. In diesem Moment betrat Nobuko das Feld und hielt eine Art Broschüre in den Händen. Sie wirbelte die Arme durch die Luft und winkte somit die Mädchen zu sich heran. „Mädels, ich habe heute eine Ankündigung für euch“, begann sie und strahlte über das ganze Gesicht. Die Augen aller waren interessiert auf sie gerichtet. „Und zwar habe ich Post bekommen, nämlich von der Juilliard School in New York.“ Sofort breitete sich aufgeregtes Getuschel aus und alle sahen sich in der Gruppe um. Kari riss die Augen auf und schlug sich eine Hand vor den Mund. Konnte das sein? Sie selbst hatte sich mit Nobukos Hilfe an der Juilliard, einer Schule der darstellenden Künste in New York, beworben. Und zwar war die Juilliard nicht irgendeine Schule, sondern gehörte zu den führenden Schauspielschulen in den USA und genoss weltweites Ansehen. Kari hatte sich natürlich für den Bereich Tanz beworben. Aber sollte die Juilliard jetzt tatsächlich an ihr interessiert sein? Das konnte doch gar nicht sein. Nana krallte die Fingernägel schmerzhaft in ihren Oberarm und starrte sie mit großen Augen an. „Wir haben jemanden unter uns, die sich an dieser Schule beworben hat. Jetzt haben sie sich bereit erklärt, ihren Talentscout herzuschicken und sich das Mädchen Ende August während unseres Auftritts anzusehen“, verkündete Nobuko mit einem breiten Lächeln im Gesicht. „Sie hat dann die Chance, ein Stipendium zu erhalten und an der Schule Tanz zu studieren!“ Nana schnappte nach Luft und krallte die Fingernägel noch tiefer in Karis Arm. Kari glaubte, dass der Schmerz das Einzige war, das sie davon abhielt, auf der Stelle umzufallen. Nobukos Augen suchten Kari in der Gruppe, fanden sie und sie kam auf sie zu. Die anderen Mädchen beobachteten sie mit weit aufgerissenen Augen. Als Nobuko Kari erreichte, blieb sie stehen, schüttelte ihr die Hand und drückte ihr anschließend die Broschüre in die Hand. „Herzlichen Glückwunsch, Kari. Ich bin so stolz.“ Kari konnte sogar Tränen in ihren Augen erkennen. Nana kreischte Kari ins Ohr und fiel ihr um den Hals. „Oh mein Gott, oh mein Gott, oh mein Gott!“ Auch die anderen Mädchen scharten sich nun um Kari, beglückwünschten und umarmten sie und redeten alle gleichzeitig auf sie ein. Alle bis auf Aya, die sich am Rande aufhielt und Kari mit abfälligem Blick musterte. Die Aufregung blieb von den Basketballern nicht unbemerkt, sodass nach und nach einige zu der Mädchengruppe stießen, um den Grund für die allgemeine Freude zu erfahren. Dann gratulierten auch einige der Jungs Kari und mischten sich in die Gespräche ein, bis schließlich Nobuko und der Trainer der Jungs dem ein Ende bereiteten mit dem Hinweis, sie müssten nun langsam mal anfangen. Es dauerte noch eine Weile, bis sich die allgemeine Aufregung so weit gelegt hatte, dass sie mit dem Training beginnen konnten. Kari war das Ganze ziemlich unangenehm. Sie stand gar nicht gern im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Und sie war noch immer sprachlos. Sie wusste nicht, was sie denken oder fühlen sollte. Die Juilliard interessierte sich tatsächlich für sie. Sie hatte die einmalige Chance, ein Stipendium für diese berühmte Schule zu erhalten. Noch konnte sie das nicht glauben. Nach dem Training auf dem Nachhauseweg redete Nana ununterbrochen auf sie ein, wie sehr sie sich für Kari freuen würde, dass das unglaublich und eine riesige Chance wäre, dass sie berühmt werden konnte, dass sie in New York wohnen würde. Unterdessen fühlte sich Kari, als wäre sie in einer Trance. Sie bekam kaum etwas von dem mit, was um sie herum passierte. So war sie überrascht, als sie plötzlich im Wohnzimmer ihrer Wohnung stand. Ihre Eltern saßen auf der Couch und sahen sie fragend an. „Geht's dir gut? Du siehst so blass aus“, fragte Yuuko und musterte sie skeptisch. Kari machte den Mund auf, um ihr zu antworten, brachte jedoch noch immer kein Wort heraus. Sie ging zur Couch und drückte ihrer Mutter die Broschüre in die Hand. Ihre Eltern steckten die Köpfe zusammen und beugten sich über die Broschüre. „Sehr geehrte Hikari Yagami, wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu dürfen, dass sie die erste Bewerbungsrunde für die Juilliard School erfolgreich bestanden haben“, las Yuuko das persönliche Anschreiben vor. An dieser Stelle schien ihr jedes weitere Wort im Hals stecken zu bleiben und sie und Susumu starrten Kari mit großen Augen an, genau wie die Mädchen vorhin. Susumu las den Rest des Briefes laut vor, dann sah er sie an. Für einige Sekunden sagte keiner von ihnen etwas. „Du möchtest also wirklich nach New York gehen?“ „Ja“, sagte Kari nach einer Weile. Dann herrschte wieder für einige Augenblicke Stille. Doch dann stand Yuuko auf, ging zu ihr, schloss sie in die Arme und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. „Meine Kleine. Meine Süße. Ich kann's nicht glauben“, brachte sie hervor und ließ Kari gar nicht mehr los. „Ich bin wirklich stolz auf dich.“ Anschließend nahm auch ihr Vater sie in die Arme. „Naja, noch habe ich das Stipendium ja nicht“, sagte Kari langsam. „Aber sie kommen extra hierher, um dich zu sehen“, erwiderte Yuuko. „Das ist großartig. Und du wirst sie überzeugen. Auch, wenn ich eigentlich gar nicht will, dass du so weit weg gehst.“ Bei den letzten Worten brach ihre Stimme und sie hielt sich eine Hand vor den Mund. Ihre Augen füllten sich mit Tränen und Susumu legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Nur, dass du es weißt: Wir stehen hinter dir und unterstützen dich. Egal, was passiert.“ „Danke“, sagte Kari mit erstickter Stimme. Kapitel 31: Zu viel Druck ------------------------- Drei Tage später wurde Kari von dem schrillen Klingeln ihres Handys geweckt. Sie brachte es kaum fertig, die Augen zu öffnen, als sie nach dem kleinen Telefon griff und den Anruf annahm. „Ja?“, brummte sie mit kratziger Stimme. „Kari!“, hörte sie die Stimme ihres Bruders so laut rufen, dass sie unwillkürlich das Handy einige Zentimeter von ihrem Ohr weg hielt. „Schrei mich doch nicht so an am frühen Morgen“, grummelte sie miesepetrig. „Früher Morgen? Es ist schon nach elf“, erwiderte Tai verdutzt. „Wann bist du denn unter die Langschläfer gegangen?“ Nach elf? Kari warf einen Blick auf den Wecker auf ihrem Schreibtisch, dessen grüne Zahlen ihr verrieten, dass Tai Recht hatte. Vielleicht hätte sie mit Davis doch nicht bis morgens um drei in der Bar sitzen und über Gott und die Welt reden sollen. „Hast du angerufen, um mich das zu fragen?“, murmelte sie statt einer Antwort. „Nein. Ich rufe dich an, um dich zu fragen, warum du mir nicht gleich erzählt hast, dass du an der Julia, oder wie die Schule heißt, aufgenommen wurdest!“, antwortete Tai vorwurfsvoll. „Juilliard. Woher weißt du das denn schon wieder?“ „Hab' gestern Abend mit Mama telefoniert. Die hat es erzählt“, erklärte er. „Ich wusste nicht, was das für eine Schule ist und hab' Mimi gefragt. Die ist bald in Ohnmacht gefallen.“ Kari seufzte. „Siehst du? Deswegen erzähle ich dir sowas nicht.“ „Jaja“, murrte Tai ungeduldig. „Am dreißigsten August ist also der Auftritt, zu dem die kommen?“ „Ja.“ „Gut. Mimi und ich werden auch da sein“, versprach er. „Super. Noch mehr Druck von außen ist genau das, was ich brauche“, sagte Kari trocken. „Wir machen doch keinen Druck. Wir feuern dich an und fiebern mit, damit alles gut geht“, widersprach Tai energisch. „Ja, genau wie Mama und Papa und Davis und Nana und Ken bisher“, grummelte Kari. Allein, wenn sie nur daran dachte, auf der Bühne zu stehen und von so vielen kritischen Augen beobachtet zu werden, wurde ihr ganz flau im Magen. Wie sollte sie das nur überstehen? Immerhin ging es dort um ihre Zukunft, um den Rest ihres Lebens. „Warum erzählst du es denen und mir nicht?“, fragte Tai empört. „Tai...“ „Jaja, schon klar. Ich hoffe nur, deinen Neffen lässt du mehr an deinem Leben teil haben als mich.“ „Meinen Neffen?“ Kari stutzte. „Seid ihr noch dabei, dem Kind nach Lust und Laune unterschiedliche Personalpronomen zu verpassen oder steht es jetzt fest?“ „Naja, ich sag' es mal so: Das letzte Ultraschallbild war ziemlich eindeutig.“ Kari stieß einen leisen Schrei aus und vermutlich war nun Tai an der Reihe, Abstand vom Telefon zu nehmen. „Oh, es wird also ein Junge! Wie schön.“ „Ja. Mimi wollte zwar ein Mädchen, aber ich habe ihr ja gleich gesagt, dass ich nur Jungs zeugen kann“, antwortete er selbstgefällig. Den Rest des Tages war Kari ganz verzückt von der Nachricht, bald einen kleinen Neffen zu haben. Das Geschlecht zu kennen machte das Baby auf irgendeine Art und Weise realer. Jetzt war es nicht mehr nur „das Baby“, sondern „der Kleine“ oder schlicht und einfach nur „er“. Der Gedanke an den Kleinen lenkte sie sogar von ihrem rasch nahe rückenden, alles entscheidenden Auftritt ab. Sie konnte es kaum erwarten, ihn im Arm zu halten. Wie ging es dann erst Tai und Mimi? Nichtsdestotrotz traf sie sich von nun an bis Ende August neben dem Training noch zwei Mal die Woche mit Nobuko, um extra zu trainieren und auch an den drei übrigen Tagen der Woche übte sie vor dem Spiegel Bewegungen. Wenn sie gerade nicht tanzte, durchforstete sie das Internet nach Bildern und Berichten über New York und die Juilliard. Je mehr sie über die Stadt und diese Schule las, desto aufgeregter wurde sie und desto mehr verspürte sie den Wunsch, sich tatsächlich diesem Abenteuer zu stellen, auch wenn es bedeutete, alles Bekannte und Vertraute hinter sich zu lassen und ein völlig neues Leben zu beginnen. Sie hoffte sehr, dass sie es schaffte und so überzeugend war, dass sie endgültig angenommen wurde. Wenn sie nicht tanzte und auch nicht das Internet durchstöberte, verbrachte sie viel Zeit mit Davis, der ihr Leid tat. Gut, dass Ferien waren und er so ganz gut Abstand von Ken und Nana nehmen konnte, um mit sich selbst und seiner Situation zurechtzukommen, bevor er mit Ken sprach. Doch mittlerweile hatte Kari ihn so weit bearbeitet, dass er bereit war, tatsächlich mit Ken über sein Problem zu reden. Er wusste nur noch nicht, wann dies geschehen sollte. Neben all diesen Dingen tüftelte sie mit Sora und Yolei einen Plan für den Junggesellinnenabschied aus, der kurz nach ihrem großen Auftritt stattfinden würde. Sie mussten auf jeden Fall etwas ohne Alkohol planen und das fanden Sora und Yolei schon schwierig genug. Drei Tage vor dem großen Auftritt, als Kari gerade in einer für Außenstehende wirklich gewöhnungsbedürftigen Pose – den Rücken so weit durchgebogen und das eine Bein so weit nach hinten hoch gestreckt, dass die Ferse fast ihren Hinterkopf berührte und sie den Fuß mit den Händen festhalten konnte – vor dem Spiegel stand, klopfte es an ihre Zimmertür. „Ja“, rief sie angestrengt, ohne ihre Pose zu wechseln und den Blick vom Spiegel abzuwenden. Das Standbein musste sie wirklich noch ein bisschen mehr strecken. „Komme ich gerade ungelegen?“ Ihr Blick flackerte zur Tür, wo T.K. stand und sie schief grinsend ansah. „T.K.“, sagte sie erfreut und löste endlich die unbequeme und wahrscheinlich auch ungesunde Körperhaltung. „Du bist wieder da.“ „Ja, schon seit vier Tagen“, antwortete er und schloss Karis Zimmertür hinter sich. Wie selbstverständlich ging er zum Schreibtischstuhl, ließ sich darauf fallen und beobachtete Kari. „Lass dich nicht stören, mach ruhig weiter.“ „Ach, schon okay. Willst du was trinken?“, fragte Kari ein wenig unentschlossen. „Nein, danke. Ich wollte auch gar nicht lange bleiben. Bitte mach weiter, du musst ja fit sein für in drei Tagen“, erwiderte er kopfschüttelnd. Kari zögerte, zuckte aber schließlich mit den Schultern und ging in einen Spagat auf dem Boden. T.K. hob die Augenbrauen, während sie den Oberkörper über ihr rechtes Bein legte. „Ich schätze, du weißt davon durch deine Mutter?“, mutmaßte Kari und versuchte, den leichten Dehnungsschmerz zu ignorieren. „Und von Aya“, ergänzte er. „Sie denkt nicht, dass sie dich nehmen, aber das konntest du dir sicher schon denken.“ Kari verdrehte die Augen. „Ja.“ „Ich glaub' schon, dass sie dich nehmen, wenn ich mir angucke, wie du deinen Körper massakrieren kannst.“ Kari lachte leicht und legte den Oberkörper auf dem linken Bein ab. „Ich hoffe einfach, dass das auch reicht.“ „Bestimmt. Du schaffst das. Ich bin eigentlich auch nur hier, um dir zu gratulieren“, erklärte er, beugte sich nach vorn und stützte die Ellbogen auf seinen Knien ab. „Danke“, sagte Kari lächelnd und richtete sich wieder auf. „Ich hätte nicht gedacht, dass sie mich überhaupt annehmen.“ „Ich schon. Ich hoffe, es ist okay, wenn ich zum Auftritt komme?“ „Ja, klar. Warum nicht?“ „Naja, es ist sicher viel Druck für dich.“ „Ach was“, log Kari abwinkend und stand auf. „Wie war's eigentlich in Frankreich?“ „Ganz cool. Ich habe ein paar Freunde getroffen und so“, antwortete er schulterzuckend. Kari hatte sofort Isabelles Foto vor Augen. Und das Foto, auf welchem er und sie abgebildet waren, wie sie Hand in Hand ins Meer rannten. „Habt ihr... habt ihr Jean gesehen?“, fragte sie langsam und ging zu ihrem Nachttisch. „Nein“, antwortete T.K. sofort in einem so kühlen Tonfall, dass Kari von weiteren Fragen in diese Richtung absah. Sie holte aus der Nachttischschublade die Kette heraus, die sie im letzten Brief gefunden hatte und ging zu T.K. Sein Gesichtsausdruck wirkte auf einmal etwas abweisend. „Danke übrigens hierfür. Ich habe mich sehr gefreut. Das ist ein tolles Geschenk“, sagte sie ein wenig verlegen und ließ die Kette vor seiner Nase baumeln. Seine Gesichtszüge entspannten sich, wurden weicher und wieder freundlicher. „Gern.“ Er nahm ihr die Kette aus der Hand, stand auf und bedeutete ihr mit einer Kopfbewegung sich umzudrehen. Kari folgte dem und ließ sich von ihm die Kette um den Hals legen. Dabei berührten seine Finger ihren Nacken und bewirkten, dass sich die feinen Härchen dort aufstellten. Schnell drehte sie sich wieder um und sah ihn an. „Steht dir gut“, sagte er. Kari lächelte und hoffte, dass sie nicht rot wurde. „Sie hätte mir übrigens auch gefallen, wenn ich nicht mehr tanzen würde.“ „Trotzdem ist es so besser“, meinte er. „Ich gehe jetzt besser wieder, damit du in Ruhe weiter trainieren kannst.“ „Du musst nicht gehen“, antwortete Kari und stellte fest, dass sie tatsächlich nichts dagegen hätte, wenn er noch länger bleiben würde. „Ich will nicht schuld sein, wenn du nicht ordentlich vorbereitet bist“, erwiderte er. Sie nickte und brachte ihn zur Tür, wo er sich die Schuhe anzog. „Wir sehen uns spätestens in drei Tagen“, verabschiedete er sich. „Ja, okay. Ach und T.K.?“ „Hm?“ Er sah sie fragend an. „Schön, dass du wieder da bist“, sagte sie ehrlich und wurde noch verlegener. Er erwiderte nichts, sondern lächelte nur. Falls ihn ihre Aussage irgendwie verwirrte oder überraschte, ließ er es sich nicht anmerken. Dann ging er. Kari trainierte noch bis zum Abend und war am Ende völlig erschöpft. Sie hatte sich gedehnt und viele der einzelnen Bewegungsabläufe vor dem Spiegel geübt. Je öfter sie sich beobachtete, desto sicherer war sie sich, dass sie keine Chance hatte. Sie konnte kaum Können vorweisen. Zwar tanzte sie seit der ersten Klasse regelmäßig und trainierte seit einigen Jahren drei Mal in der Woche, doch was war das schon gegen jemanden, der eine Sportschule besuchte und jeden Tag mehrere Stunden tanzte? Höchstwahrscheinlich waren alle anderen Bewerber um Längen besser als sie. Aber nun war es ohnehin zu spät. Wenn sie ihr absagten, dann sagten sie eben ab. Sicher gab es auch in Japan Schulen, auf denen sie Tanz studieren konnte. Plötzlich platzte ihre Mutter zur Tür herein. „Willst du nicht langsam mal aufhören?“, fragte sie und musterte sie mit einer hochgezogenen Augenbraue. „Du musst doch schon fast tot sein. Außerdem ist Ken hier.“ Erst bei Kens Namen reagierte Kari und drehte sich um. Yuuko war wieder gegangen und dafür hatte Ken nun ihr Zimmer betreten. „Störe ich?“, fragte er, genau wie T.K. „Nein, nein“, antwortete Kari. „Wie du gehört hast, hat meine Erziehungsberechtigte sowieso gerade befunden, dass ich aufhören soll.“ „Das habe ich gehört“, murrte Yuuko vom Flur aus. Kari schloss ihre Zimmertür und wandte sich wieder an Ken. „Trainierst du fleißig für deinen großen Auftritt?“, fragte er und musterte ihr Outfit. Leggins und T-Shirt. „Ja“, seufzte Kari. „Aber ich sollte wirklich langsam aufhören.“ Erst jetzt merkte sie, wie erschöpft sie tatsächlich war. Ken erwiderte nichts, sondern stand etwas unschlüssig in ihrem Zimmer herum. „Setz dich doch“, forderte Kari ihn auf und deutete auf ihren Schreibtischstuhl. Er ging der Aufforderung nach und setzte sich. „Möchtest du was trinken? Oder was essen? Ich kann dir Selleriekuchen von meiner Mutter anbieten, wenn dir der Sinn nach Nervenkitzel steht.“ Ken grinste. „Nein, danke. Ich verzichte.“ „Eine weise Entscheidung“, kommentierte Kari und ließ sich auf ihr Bett fallen. „Also, was gibt’s? Ist alles in Ordnung?“ „Ehrlich gesagt nein“, antwortete Ken und sein Gesicht wurde wieder ernst. Augenblicklich war Kari in Alarmbereitschaft. „Oh, was ist los? Geht's dir gut? Ist was mit Nana? Hat sich jemand verletzt?“ „Nein, nein“, antwortete Ken und hob abwehrend die Hände. „Entschuldige, ich wollte dich nicht gleich so beunruhigen. Es geht um Davis.“ „Ah.“ Kari beruhigte sich und sah ihn abwartend an. Hatten sie etwa doch endlich miteinander geredet? Aber warum sollte Ken dann jetzt zu ihr kommen? Wollte er ihr etwa offenbaren, dass er doch schwul war und jetzt nicht wusste, wie er mit Nana Schluss machen sollte? Hoffentlich nicht! „Naja, ich wollte dich eigentlich fragen, ob... ob du weißt, was mit ihm los ist“, erklärte Ken langsam. „Mit mir will er einfach nicht reden. Egal, ob ich es in der Schule versuche oder beim Training oder ihn anrufe. Er geht mir einfach immer aus dem Weg. Und ich dachte, wenn ich wüsste, was los ist, könnte ich ihn vielleicht gezielter ansprechen, sodass er nicht gleich wieder abhaut.“ „Oh“, machte Kari und bekam ziemliches Mitleid mit Ken. Er sah ziemlich geknickt aus. Davis fehlte ihm offenbar sehr und er wusste nicht einmal, was er angestellt hatte, dass er nicht mehr mit ihm redete. Aber wie sollte sie ihm jetzt nur helfen? Sie konnte ja schlecht Davis' Geheimnis ausplaudern. „Ken, ich... das... das kann ich dir nicht sagen.“ „Aber du weißt es?“, hakte Ken nach. „Naja... ja, schon.“ Er nickte und sah sie durchdringend an, als versuchte er, ihre Gedanken zu lesen. Kari wich seinem Blick aus. Der war ja fast schon schlimmer als T.K. „Kannst du mir wenigstens sagen, ob er in Nana verliebt ist? Ist es das, was ihn fertig macht?“, fragte er nun mit flehendem Blick. „Nein, ist es nicht“, antwortete Kari knapp. Ken sah sie schief an. „Nicht? Ich war mir sicher, das wäre das Problem.“ Er runzelte die Stirn und schien angestrengt nachzudenken. „Ich wüsste nicht, was es sonst sein könnte.“ „Darauf kommst du wahrscheinlich auch nicht“, sagte Kari wahrheitsgemäß. Immerhin war es wirklich kein Problem, mit dem man rechnete, wenn man Davis kannte. „Na super“, murmelte Ken und ließ den Kopf hängen. „Das klingt nicht gerade so, als könnte ich ihm irgendwie helfen.“ Kari nickte. Helfen konnte er ihm nicht, außer, er wurde plötzlich homosexuell. „Es tut mir echt Leid, Ken, aber ich kann's dir nicht sagen, auch wenn ich es vielleicht gern tun würde“, sagte Kari und sah ihn bedauernd an. „Ist schon okay. Es ist nur... egal, wie sehr ich auch darüber nachdenke, mir fällt nichts ein, was ich so falsch gemacht haben könnte, dass er mir so aus dem Weg geht“, antwortete Ken ratlos. „Vielleicht ist er ja doch sauer, weil ich Kapitän der Mannschaft bin und nicht er.“ „Nein“, erwiderte Kari. „Damit kann er umgehen.“ Ken nickte. Ob er ihr wirklich glaubte, wusste Kari nicht. „Glaubst du, er wird mir irgendwann sagen, was los ist?“, fragte er nach einigen Augenblicken. „Keine Ahnung. Ich hoffe es“, antwortete Kari. Sie redeten noch eine Weile ungezwungen miteinander über alles Mögliche, bevor Ken sich schließlich wieder verabschiedete. Nachdenklich sah Kari ihm hinterher, als er durch den Hausflur zu den Treppen ging. Sie würde ihm so gern erzählen, was Davis' Problem war, doch sie wollte sich nicht einmischen. Davis hatte es ihr im Vertrauen erzählt und sie konnte es nicht einfach weiter tratschen, auch wenn sie es gern wollte. Kapitel 32: Tag X ----------------- „Kari, iss wenigstens ein bisschen“, sagte ihre Mutter und musterte sie besorgt über den Tisch hinweg. „Ich hab' aber keinen Hunger“, erwiderte Kari zum dritten Mal. Seit zehn Minuten stocherte sie in ihrem Mittagessen herum und konnte einfach nichts essen, was diesmal nicht daran lag, dass es scheußlich schmeckte. „Du musst was essen. Du brauchst doch Kraft für nachher“, warf Susumu ein. „Wie willst du dich denn sonst auf den Beinen halten?“ „Das geht auch so“, murmelte Kari, obwohl sie so langsam Zweifel daran bekam. Aber wenn sie jetzt etwas aß, würde sie es sofort wieder erbrechen, dessen war sie sich sicher. Sie hatte ein unangenehm flaues Gefühl im Magen, ihre Hände waren kalt, schwitzig und zitterten und sie musste ständig auf die Toilette. In der Nacht war sie immer wieder eingenickt und sofort wieder aufgeschreckt wegen eines schlechten Traums, in welchem doch kein Talentscout kam, sie für zu schlecht befand oder sie gar nicht tanzen konnte, sondern nur wie versteinert auf der Bühne stand. Immer wieder versuchte sie sich einzureden, dass es nicht schlimm war, wenn alles schief ging und sie nicht ins Ausland konnte. Das war doch kein Problem. Sie konnte auch andere Sachen mit ihrem Leben anfangen. Doch es half alles nichts gegen die Aufregung. Eine Stunde nach dem Mittagessen fuhren sie und ihre Eltern mit dem Auto los in den kleinen Theatersaal, in dem die Aufführung stattfand. Es handelte sich um eine Veranstaltung mit dem Namen „Summer Dance“, die jedes Jahr um diese Zeit stattfand und auf der verschiedene Tanzvereine von Schulen aus Tokio auftraten. Karis Verein hatte zwei Auftritte in dieser Veranstaltung und in einem davon hatte Kari sogar einen Solopart. Vor diesem fürchtete sie sich heute am allermeisten. Sie kamen am Theater an und Kari verabschiedete sich von ihren Eltern. „Viel Erfolg, Schatz“, sagte ihre Mutter und küsste sie auf die Wange. „Du kriegst das hin.“ „Nur Mut“, stimmte Susumu zu und lächelte zuversichtlich. „Du kannst das.“ Kari rang sich ein Lächeln ab und ging in das Theatergebäude. Ihre Beine fühlten sich viel schwerer an als sonst, als wären Bleigewichte daran befestigt. Das innen recht dunkle Gebäude wirkte bedrohlich und einschüchternd. Kari atmete tief durch und marschierte geradewegs in die Umkleidekabine. Sofort kamen einige der Mädchen auf sie zu. „Kari! Bist du bereit? Wie geht’s dir?“, fragte Masami aufgeregt und sah sie mit großen Augen an. „Du darfst dich nicht unterkriegen lassen. Du zeigst denen schon, was du kannst“, sagte Midori und stieß ihre Faust in die Luft. „Wir geben uns heute auch extra Mühe, damit nichts schief geht“, fügte Sakura zwinkernd hinzu. „Hey, lasst sie doch mal in Ruhe!“ Kari drehte sich zur Tür um und entdeckte Nana, die mit strengem Blick dort stand, die Hände in die Hüften gestemmt. „Wir machen ihr doch nur Mut“, erwiderte Midori schulterzuckend. „Bestimmt ist sie sehr aufgeregt.“ „Ihr solltet ihr lieber noch ein paar ruhige Minuten lassen“, meinte Nana überzeugt und suchte sich einen freien Platz auf einer der Bänke. Kari folgte ihr und setzte sich neben sie. „Hast du auch gestern diesen komischen Film im Fernsehen gesehen? Wie hieß er noch...“ Und während sie ihre Kostüme anzogen, redete Nana unbeirrt über belanglose Dinge und Kari war ihr dankbar. Es lenkte sie ein klein wenig ab, Nana zuzuhören. Auch während sie sich gegenseitig die Haare zurückbanden und sich schminkten, redete Nana weiter. Sie mussten sich dunkles Make-up ins Gesicht schmieren, um im Scheinwerferlicht nicht zu weiß auszusehen. Auch die Augen umrandeten sie sich schwarz und trugen Wimperntusche auf. Die Lippen zogen sie sich mit tiefrotem Lippenstift nach. Gerade, als sie das Bad verließen, kam Midori ihnen entgegen. „Kari, Besuch für dich“, verkündete sie. Kari ging zur Tür und entdeckte Tai und Mimi. Sie schlüpfte durch die offene Tür zu ihnen hinaus und schloss sie hinter sich. „Hallo“, sagte sie mit zitternder Stimme. „Mein Gott, du siehst furchtbar aus“, sagte Tai und musterte sie mit schiefem Blick. „Ja, das Make-up ist viel zu dunkel“, kommentierte Mimi. „Seid ihr hergekommen, um mich zu beleidigen?“, murrte Kari und verschränkte die Arme vor der Brust. „Nein, wir wollten dir nur alles Gute wünschen“, antwortete Tai grinsend und Mimi warf die Arme um ihren Hals. „Du schaffst das, meine Lieblingsschwägerin“, murmelte sie und ließ sie wieder los. „Glaub an dich. Wir feuern dich an.“ Auch Tai umarmte sie. „Zeig's ihnen, Tiger.“ Mimi lachte und Kari grinste leicht. Verlegen kratzte sie sich am Kopf. „Ich versuch's.“ „Und hey, selbst, wenn es schief geht, wir lieben dich trotzdem“, sagte Tai. „Wie großzügig“, erwiderte Kari sarkastisch. Dann verabschiedeten sich die beiden und gingen zurück in den Saal, während Kari sich wieder in die Umkleide zu Nana verzog. „War das dein Bruder? Der ist ja schnuckelig“, fragte Midori neugierig. „Ja und bald verheiratet“, antwortete Kari trocken. Midori kicherte. „Deswegen darf er ja trotzdem gut aussehen.“ Nana verwickelte sie erneut in ein Gespräch über Belanglosigkeiten. Es blieben noch zehn Minuten bis zum Beginn der Show und Kari wurde immer hibbeliger. Unaufhörlich spielte sie mir ihren Fingern und trat von einem Fuß auf den anderen, kontrollierte ihre Haare oder ihr Make-up, während Nana über das Wetter plauderte und die kommenden Schultage, denn in der nächsten Woche ging die Schule wieder los. „Kari, schon wieder Besuch für dich“, rief Masami zu ihr herüber und sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. Kari seufzte und ging zur Tür, wo ihr Nobuko entgegenkam. „Nun aber schnell“, sagte sie streng und Kari schlüpfte erneut durch die Tür in der Erwartung, erneut Tai und Mimi zu sehen. Doch es war T.K., der dort auf sie wartete. „Oh, hi“, begrüßte sie ihn und schloss schnell die Tür hinter sich, um den neugierigen Blicken ihrer Mitstreiterinnen zu entgehen. „Hey“, erwiderte er lächelnd. „Ich wollte dir nur schnell noch viel Erfolg wünschen.“ „Danke, den wünsche ich mir auch“, seufzte Kari und sah ihn hilflos an. „Mach dir keinen Kopf. Wenn es schief geht, dann ist es eben so“, meinte er lässig und zuckte mit den Schultern. „Ich weiß, aber... ich glaube, mein Körper weiß das noch nicht so richtig“, antwortete sie schief lächelnd und hob ihre zitternden Hände zum Beweis. T.K. musterte sie einen Augenblick lang nachdenklich und Kari würde gern wissen, was er dachte. „Vielleicht hilft dir das ja“, sagte er und Kari wollte schon „Was?“ fragen, als er sich plötzlich zu ihr herunter beugte und sie auf die Wange küsste. Dabei ließ er seine Lippen einen Augenblick lang auf ihrer Wange ruhen, bevor er sich wieder von ihr löste. Mit großen Augen und leicht geöffnetem Mund starrte sie ihn an. T.K. fuhr sich etwas beschämt durch die Haare und lächelte unsicher. „Also... wir sehen uns nach der Show.“ Und damit drehte er sich um und ging und Kari starrte ihm noch einige Sekunden nach, bevor sie zurück in die Umkleidekabine taumelte. „Was ist denn mit dir passiert? Hast du ein Gespenst gesehen?“, fragte Nana skeptisch. Kari konnte nicht antworten, sondern schüttelte nur den Kopf. Sie war gerade nicht in der Lage, ihre Gedanken zu ordnen, womit T.K. erreicht hatte, was er auch bezweckt hatte. Er hatte sie von ihrer Nervosität abgelenkt. „Also, Mädels“, lenkte Nobuko nun die Aufmerksamkeit auf sich. „Wie ihr wisst, ist heute ein wichtiger Tag. Ich erwarte, dass ihr euch alle besonders anstrengt und euer Bestes gebt. Für Kari steht heute einiges auf dem Spiel und wir werden sie alle unterstützen.“ Zustimmendes Nicken und Gemurmel. „Danke“, sagte Kari gerührt. „Das bedeutet mir wirklich viel.“ Nobuko redete noch weitere fünf Minuten über den kommenden Auftritt, wodurch Karis Nervosität sich erneut steigerte. Dann verschwand sie wieder aus der Umkleidekabine und überließ ihre Gruppe sich selbst mit dem Hinweis, dass sie in einigen Minuten dran wären. „Was ist denn nun los?“, fragte Nana noch einmal und musterte Kari durchdringend. „Das war doch Takeru vorhin. Warum hast du so geguckt, als du wieder rein gekommen bist?“ Kari sah sich kurz nach allen Seiten um, dass auch niemand zuhörte. „Er hat mich geküsst“, flüsterte sie. „Nein!“, rief Nana und schlug sich eine Hand vor den Mund. „Echt? Dann stimmt es also doch, was alle sagen.“ „Was sagen denn alle?“, fragte Kari verdutzt. „Na dass er total auf dich steht“, antwortete Nana, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. „Ach was“, erwiderte Kari abwinkend und spürte, dass sie rot anlief. „Wir sind nur befreundet. Und früher waren wir fast wie Geschwister. Das ist alles rein freundschaftlich.“ „Jaja, rede dir das ruhig ein“, meinte Nana großspurig. In diesem Augenblick erschien Nobuko wieder und winkte die Gruppe heran. Ihr erster Auftritt stand kurz bevor. Gemeinsam gingen sie einen Gang entlang, der sie direkt an die Seiten der Bühne führte. Sie drängten sich alle zusammen in die Dunkelheit des Bühnenrandes und beobachteten die gerade tanzende Gruppe. Kari versuchte, jemanden im Publikum zu erkennen, doch das war kaum möglich, da der Zuschauerraum natürlich viel dunkler war als die Bühne. Aufgewirbelter Staub kitzelte Kari in der Nase und sie musste niesen. Die Gruppe machte ihre Sache gut. Sie waren nicht ganz synchron, aber immerhin machte niemand einen Fehler und Unfälle passierten auch keine. Dann gingen sie in ihre Abschlusspose, ernteten den Beifall und liefen von der Bühne. Kari atmete tief ein und aus. Sie spürte einen kurzen Händedruck von Nana, bevor ihre Tanzgruppe begleitet von den ersten Klängen ihres Liedes die Bühne betrat. Und dann ging der Tanz auch schon direkt los. Hochkonzentriert versuchte Kari, auf all ihre Körperteile zu achten und ja keine Einsätze zu verpassen. Sie versuchte einfach, das Publikum auszublenden und nicht daran zu denken, wer dort alles saß und sie genauestens beobachtete. Wie automatisch führte sie die Bewegungen aus, die sie in den letzten Wochen so oft geübt hatte. Sie stand ganz vorn und konnte sich daher meist nicht an den anderen Mädchen orientieren, doch das machte ihr nichts. Der Tanz war fest in ihrem Kopf. Alles lief glatt, außer dass erneut Staub sie in der Nase kitzelte. Es gelang ihr gerade so, ein weiteres Niesen zu unterdrücken und sie schaffte es, sich nichts anmerken zu lassen. Nach wenigen Minuten war der Tanz vorbei und die Gruppe ging in die Abschlusspose. Kari lächelte gezwungen, bevor sie gemeinsam mit den anderen die Bühne verließ. „Das war super!“, jubelte Nobuko und hüpfte auf und ab. „Alles war perfekt, wirklich! Ich bin stolz auf euch. Die Hälfte habt ihr schon geschafft.“ Die Mädchen gingen zurück in die Umkleidekabine und ließen sich auf die Bänke fallen. Den zweiten Tanz hatten sie erst in einer halben Stunde. Kari schaffte es, sich ein wenig zu entspannen. „Siehst du? Das war doch okay. Nachher läuft es bestimmt noch mal genauso gut“, sagte Nana aufmunternd und klopfte ihr auf die Schulter. „Soll ich Takeru noch mal holen, damit er dir wieder die Nervosität vertreiben kann?“ „Nein!“, rief Kari entsetzt. „Lass das!“ Nana lachte. „War doch nur ein Witz. Aber es hat Glück gebracht, das kannst du nicht bestreiten.“ „Noch sind wir nicht durch“, erwiderte Kari und trommelte mit den Fingern auf der Bank herum. „Ja, aber das Schlimmste ist geschafft“, erwiderte Nana abwinkend. „Ich habe aber nachher noch den Solopart“, erinnerte Kari sie mit banger Stimme. „Ach, das wird schon. Den hast du bisher immer super hinbekommen. Deswegen hast du ihn ja auch“, sagte Nana unbekümmert. Sie nutzten die Pause alle, um etwas zu trinken und sich kurz zu entspannen, dann nahm Nobuko eine kurze Auswertung des Tanzes vor und gab Tipps für den nächsten und schon ging es zurück zur Bühne. Glücklicherweise hatte Karis Aufregung sich etwas gelegt, nachdem der erste Tanz so gut gelaufen war. So konnte sie nun ein wenig zuversichtlicher starten. Die Mädchengruppe betrat die Bühne und jede ging auf ihre Position. Erneut versuchte Kari, nicht daran zu denken, wie viele Augenpaare gerade nur auf sie gerichtet waren. In ihrer Vorstellung war sie allein vor ihrem Spiegel in ihrem Zimmer. Dann ging der Tanz los. Wieder hatte Kari keine Schwierigkeiten, sich an die Bewegungsabläufe zu erinnern. Es war, als hätten sie sich in ihren Körper gebrannt und als könnte sie ihr Gehirn ausschalten. Ihr Körper machte alles von ganz allein. Dann kam der Solopart. Die restlichen Mädchen ließen sich auf den Boden in geduckte Haltungen sinken und Kari tänzelte allein über die Bühne um die anderen herum. Sie wusste, dass dies der wichtigste Teil von allen für sie war. Gekonnt führte sie ihre Sprünge und Drehungen, ihre Schritte und Schwungbewegungen aus und es fühlte sich fast so an, als würde sie schweben. Bläuliches Scheinwerferlicht verfolgte sie und ließ sie allmählich schwitzen. Sie versuchte, den kitzelnden Staub in ihrer Nase zu ignorieren. Dann war der Solopart auch schon vorbei und die anderen Mädchen erhoben sich wieder und stiegen in den Tanz ein. Nun galt es nur noch, etwa eine halbe Minute zu überstehen. Innerlich atmete Kari schon auf, doch dann passierte es. Wie schon beim ersten Tanz musste sie ein Niesen unterdrücken und war dadurch bei einem Sprung kurz abgelenkt. Sie sprang weniger kräftig als sonst ab, schaffte es jedoch, sich nichts anmerken zu lassen und auch der Spagat in der Luft gelang ihr. Bei der Landung jedoch passierte es. Ihr Fuß knickte weg, sie konnte sich nicht mehr abfangen und stolperte, wodurch sie einen wenig eleganten Zwischenschritt einschieben musste. Es kostete sie Mühe, nicht zu fluchen und noch mehr Mühe, ihr Gesicht nicht zu verziehen, obwohl jeder gesehen haben musste, dass etwas schief gegangen war. Der Rest des Tanzes verlief reibungslos und auch die Abschlusspose klappte und Kari schaffte es sogar, zu lächeln. Sie wartete, bis der Applaus verklungen war – sie war sich ganz sicher, Tai laut jubeln zu hören – und ging mit den anderen Mädchen von der Bühne. „Kari, was war los?“, fragte Nana sofort, als sie in der Umkleidekabine ankamen. „Keine Ahnung“, antwortete Kari aufgelöst. „Ich musste niesen und dann war ich abgelenkt und bin umgeknickt.“ „Du... musstest niesen?“ Nana sah sie schräg an, dann lachte sie. „Entschuldige, aber das ist irgendwie... witzig.“ Kari klappte der Mund auf. Sie war sprachlos und konnte Nana nur gekränkt anstarren. Diese knuffte sie nur mit dem Ellbogen in die Seite. „Komm schon, Kari. Das war doch nicht so schlimm. Denkst du etwa, jetzt nehmen die dich nicht mehr?“ „Ähm... ja?“, erwiderte Kari. „Weißt du, was für Leute sich an der Juilliard bewerben? Da reicht ein winziger Fehler und schon bin ich raus.“ Sie ließ sich auf die Bank sinken und vergrub das Gesicht in den Händen. „So ein Quatsch. Du warst doch super. So ein kleiner Patzer kann jedem passieren“, meinte Nana abwinkend und tätschelte Kari die Schulter. „Verstehst du das denn nicht? Da bewerben sich genug, die viel besser sind als ich“, seufzte Kari resigniert. „Naja, wenn das stimmt, dann ist es doch egal, ob du einen Fehler gemacht hast oder nicht“, antwortete Nana schulterzuckend. „Jetzt mach dir keine Sorgen. Warte doch erst einmal die Entscheidung ab.“ „Was anderes bleibt mir eh nicht übrig“, murrte Kari. Kapitel 33: Warum Mädchen zu zweit aufs Klo gehen ------------------------------------------------- Niedergeschlagen hockte Kari neben Nana vor dem Theatergebäude auf der Treppe und wartete, dass die Show vorbei war. Nana versuchte die ganze Zeit, sie aufzubauen, doch es brachte nichts. Kari sah ihre Zukunft den Bach runtergehen. Sie wartete nur noch auf ihre Eltern und hoffte, dass sie weder Tai noch Mimi und schon gar nicht T.K. noch einmal begegnen musste. Sie wollte jetzt niemanden sehen und einfach nur nach Hause, um in ihrem Zimmer in Selbstmitleid zu versinken. „Ich glaube, die Show ist vorbei“, sagte Nana plötzlich und deutete auf das Gebäude hinter ihnen. Kari drehte sich um und sah, dass einige Leute herauskamen. Sie stand auf und hielt nach ihren Eltern Ausschau. Hoffentlich warteten die nicht noch auf Tai und Mimi. Sie wollte nicht aufgemuntert oder bemitleidet werden, weil sie einen Fehler gemacht hatte, der dafür zuständig war, dass sie nun keine Chance mehr auf der Juilliard hatte. Dummerweise erschienen T.K. und Ken vor Karis Eltern und kamen auf die Mädchen zu. „Ihr wart großartig“, sagte Ken lächelnd, schloss Nana in die Arme und küsste sie auf die Stirn. „Das war toll. Weißt du schon, ob sie dich nehmen oder nicht, Kari?“ „Mann, Kenni, das erfährt sie doch erst im Dezember. Dann schicken sie die Zusagen und Absagen raus“, klärte Nana ihn auf. „Ich hab' zwar keine Ahnung vom Tanzen, aber sie nehmen dich bestimmt“, meinte T.K. zuversichtlich und lächelte Kari an. Diese machte nur ein finsteres Gesicht. „Was ist denn los?“ „Sie hat einen Fehler gemacht und jetzt denkt sie, die Welt geht unter“, antwortete Nana an Karis Stelle und machte eine wegwerfende Handbewegung in ihre Richtung. „Du hast einen Fehler gemacht?“, fragte Ken verdutzt. „Ich habe auch keinen gesehen“, sagte T.K. und legte den Kopf schief. „Siehst du?“, sagte Nana an Kari gewandt und stemmte bestätigend die Hände in die Hüften. „Und jetzt hörst du bitte endlich auf, dich fertig zu machen!“ Kari erwiderte nichts, sondern verschränkte nur die Arme vor der Brust und kickte einen kleinen Stein mit dem Fuß weg. Nana plauderte unbekümmert mit Ken, doch Kari hörte nicht mehr zu. Sie starrte den Boden an und versuchte, sich vorzustellen, wie sie die Absage wohl formulieren würden. Und ob sie vielleicht nächstes Jahr noch mal eine Chance hatte. Aber was sollte sie in der Zwischenzeit machen? Aus den Augenwinkeln sah sie, wie T.K. sich zu ihr herab beugte. „Vielleicht hätte ich dir vor dem zweiten Auftritt auch noch einen Glücksbringer geben sollen.“ Sie sah ihn an und blickte direkt in sein schiefes Lächeln. Ihre Wangen fühlten sich heiß an. „Wer weiß. Vielleicht hätte es was geholfen“, murmelte sie verlegen. „Übrigens, was ich dich noch fragen wollte...“ „Takeru!“ Sie drehten sich um und erkannten Aya, die gerade angelaufen kam. Sie strahlte ihn an und strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatte. „Wie fandest du unseren Auftritt?“, fragte sie mit glockenheller Stimme. „Bis auf Hikaris Patzer am Ende ist alles super gelaufen.“ „Ja, der Patzer ist mir gar nicht aufgefallen“, antwortete T.K. schulterzuckend. „Naja, einem Profi fällt er schon auf. Tut mir echt Leid für dich, Hikari. Ich glaube nicht, dass die Juilliard das entschuldigen kann.“ Sie sah Kari so übertrieben mitleidig an, dass selbst ein Blinder erkannt hätte, dass das nur gespielt war. „Ach, ich will eh lieber in Japan bleiben“, erwiderte Kari in einem möglichst gleichgültigen Ton, obwohl ihr eher nach heulen zumute war. Es fühlte sich an, als hätte sie einen Kloß im Hals. Aya hob eine Augenbraue. „So? Und warum hast du dich dann da beworben?“ Kari setzte einen vielsagenden Blick auf, wusste jedoch nicht, was sie antworten sollte. „Tja weil... ich... es eben einfach mal probieren wollte. Man weiß ja nie.“ Sie zuckte betont gleichgültig mit den Schultern und meinte, in Ayas Augen Spott zu erkennen. „Man soll ja nichts unversucht lassen, nicht wahr?“, entgegnete diese. „Ach und Takeru? Möchtest du vielleicht kurz mitkommen? Meine Eltern wollten dich mal kennen lernen.“ T.K. hob überrascht die Augenbrauen und Kari fiel die Kinnlade herunter. Ihre Eltern wollten ihn kennen lernen? Hatte sie sich das gerade ausgedacht? Was hatte sie ihnen über ihn erzählt? Als was würde sie ihn vorstellen? Ihren Schulkameraden? Ihren Freund? Den Vater ihrer zukünftigen Kinder? „Ähm, okay?“, erwiderte T.K. und wirkte ratlos. Aya zog ihn schon mit sich mit, als Kari noch etwas einfiel. „Was wolltest du mich eigentlich fragen?“ Sie blieben stehen und Aya musterte ihn neugierig. Er zögerte einige Sekunden. „Ein andermal.“ Dann verschwand er mit Aya in der Menschenmenge, die aus dem Theater strömte und ließ Kari stehen wie einen begossenen Pudel. „Was war denn jetzt? Was wollte die?“, fragte Nana, die die ganze Zeit mit Ken beschäftigt gewesen war. „Was schon?“, grummelte Kari. „Mir auf die Nerven gehen und T.K. mitnehmen. Warum lässt der sich von ihr nur so einlullen?“ Nana zuckte ratlos mit den Schultern und auch Ken wusste keine Antwort. Doch Kari hatte keine Zeit, weiter über T.K.s Verhalten nachzudenken, denn ihre Eltern, Tai und Mimi erschienen. „Kari, das war super!“, rief Mimi und umarmte sie. „Und mach dir keine Sorgen. Der kleine Fehler ist nebensächlich, da bin ich mir sicher.“ Mimi war er also aufgefallen, aber das wunderte Kari wenig. „Und wenn sie dich nicht nehmen, fahr ich da eben hin und mach' sie fertig“, meinte Tai abwinkend und kassierte von Mimi einen Ellbogenstoß in die Rippen und von seiner Mutter einen finsteren Blick. „Wie oft noch? Du sollst vor ihm nicht so reden“, zischte Mimi und rieb sich mit einer Hand den Bauch. „Ich will nicht, dass er... oh!“ Sie hielt inne und machte große Augen. „Was? Was ist los?“ Tai wirkte sofort alarmiert und Kari dachte, er würde gleich nach seinem Handy greifen und einen Krankenwagen rufen. Auch Karis Eltern und Nana und Ken starrten Mimi ein wenig erschrocken an, während sie auf ihrem Bauch herum tastete. „Ich glaube, er hat mich gerade getreten. Ah, schon wieder!“ Mimi hielt sich die flache Hand ein wenig seitlich auf den Bauch. „Zeig mal“, forderte Tai sofort und Mimi griff nach seiner Hand und legte sie auf die richtige Stelle. „Ja, ich kann es spüren.“ Seine Augen leuchteten und er sah Mimi aufgeregt an. Yuuko lächelte liebevoll. „Das wirst du bis zur Geburt noch sehr oft spüren können.“ „Ich habe es auch schon oft gemerkt, aber konnte es nicht zuordnen“, erklärte Mimi, während Tai sich noch immer mit den Tritten des Kindes beschäftigte. „Manchmal habe ich ein komisches Flattern gemerkt oder einen leichten Stupser, aber ich habe gar nicht daran gedacht, dass das das Baby sein könnte. Gerade eben war es aber stärker als sonst.“ „Wird bestimmt mal ein Fußballer“, meinte Tai stolz. „Das ist dein erstes Kind. Da ist es ganz normal, dass du die ersten Bewegungen nicht so wahrnimmst“, antwortete Yuuko. „Ich glaube, wir sollten ihn Christiano nennen“, murmelte Tai. „Oder David. Oder Lionel.“ „Ich will auch mal“, mischte Kari sich ein. Mimi schob Tais Hand unsanft weg und legte dafür Karis an die richtige Stelle. Es dauerte einige Sekunden, doch dann konnte auch Kari es fühlen. Da war eindeutig ein leichter Stupser gegen ihre Hand. „Oh“, seufzte sie und fühlte sich auf einmal voller Liebe. „Hallo, Kleiner. Ich bin's, Kari. Tu deiner Mama nicht weh, hörst du?“ Auch Nana stieß nun einen verträumten Seufzer aus und lehnte den Kopf an Kens Schulter. Dessen Blick war hingegen vollkommen verwirrt und entgeistert. „Ich wusste gar nicht, dass Mimi schwanger ist“, nuschelte er kaum verständlich. „Es tut nicht weh“, sagte Mimi fröhlich. „Es fühlt sich nur ein bisschen komisch an.“ „Es ist so toll und süß“, schwärmte Kari. Sie hätte den ganzen Tag dort stehen und die Tritte des Kleinen fühlen können. Es war unbeschreiblich. „Ist ja auch ein kleiner Christiano“, sagte Tai und schob Kari beiseite, um selbst wieder die Hand auf Mimis Bauch zu legen. „Vergiss es“, erwiderte Mimi und drehte sich von ihm weg. „Nicht Christiano.“ Tai zuckte mit den Schultern. „Dann eben David.“ Bevor die beiden wieder einen Streit anfangen konnten, mischte sich Susumu ein. „So, wir fahren jetzt nach Hause. Kommst du mit, Kari?“ „Jetzt hör schon auf, Trübsal zu blasen.“ Kari reagierte nicht auf die Worte ihrer Mutter. Seit einer Stunde lag sie schon teilnahmslos auf ihrem Bett und spielte mit der Kette, die sie von T.K. zum siebzehnten Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Sie drehte die kleine Tänzerin zwischen ihren Fingern hin und her, während sie wieder und wieder an ihren Auftritt dachte. Je öfter sie sich ihn ins Gedächtnis rief, umso schlimmer wurde der kleine Fehler und manipulierte nach und nach ihre Erinnerung an das wirkliche Geschehen. „Wir gehen jetzt essen“, verkündete Yuuko und stemmte die Hände in die Hüften. „Viel Spaß“, murrte Kari, ohne von der Kette aufzublicken. „Du kommst mit“, befahl ihre Mutter und ihr Tonfall verdeutlichte, dass Widerrede nicht erwünscht war. „Hab' keinen Hunger“, entgegnete Kari kurz angebunden. „Hikari Yagami, wirst du dich wohl endlich zusammenreißen!“, rief Yuuko ungeduldig. „Papa und ich sind wahnsinnig stolz auf dich, egal, ob du genommen wirst oder nicht. Du hast deine Sache sehr gut gemacht und die meisten haben nicht mal gemerkt, dass du einen Fehler gemacht hast. Also hör auf, so zu tun, als hinge dein Leben davon ab!“ „Mein Leben hängt davon ab“, murrte Kari. Yuuko schnaubte, packte Karis Handgelenke und zog sie in eine sitzende Position. „Spinn nicht rum und steh endlich auf! Wir wollen los.“ „Ich bleibe hier!“, beschloss Kari trotzig und machte sich von ihrer Mutter los. Diese musterte sie einen Augenblick von oben herab, als versuchte sie, sie mit ihren Blicken umzustimmen. „Na schön. Wie du willst.“ Sie verließ Karis Zimmer und Kari dachte schon, sie hätte endlich aufgegeben, doch dann kam sie mit dem Telefon in der Hand wieder zurück. Skeptisch hob Kari eine Augenbraue, als sie auf den Tasten herumdrückte und sich den Hörer ans Ohr hielt. Sie wartete einige Sekunden, dann schien er oder sie abzunehmen, wen auch immer sie angerufen hatte. „Hallo T.K., hier ist Yuuko Yagami. Ich hoffe, ich störe nicht. Weißt du, Kari liegt hier auf ihrem Bett und...“ „Sag mal, spinnst du?!“ Beim ersten Satz hatte Kari erschrocken die Augen aufgerissen, beim zweiten war sie aufgesprungen und beim dritten hatte sie ihrer Mutter den Hörer aus der Hand gerissen. Wütend funkelte sie ihre Mutter an und hielt sich nun selbst den Hörer ans Ohr. „T.K.?“ Sie lauschte einige Sekunden, konnte aber nichts hören. Yuuko hatte nur so getan als ob. Kari stieß einen lauten Fluch aus und pfefferte das Telefon auf ihr Bett, während ihre Mutter sie triumphierend angrinste. „Reingelegt.“ Ohne sie noch eines Blickes zu würdigen, stampfte Kari ins Bad, um sich für das Essen fertig zu machen. Ihre Eltern plauderten unbekümmert miteinander, während Kari angesäuert hinter ihnen her lief. Sie war wütend auf ihre Mutter, dass sie sie so reingelegt hatte. Und noch wütender war sie auf sich selbst, dass sie auf diesen billigen Trick auch noch hereingefallen war und wie eine Irre reagiert hatte. Was Yuuko jetzt wohl dachte? Ihre Eltern hatten sich für ein mexikanisches Restaurant ganz in der Nähe ihrer Wohnung entschieden. Hier hatten sie schon öfter gegessen und es hatte immer gut geschmeckt. Kari liebte die Enchiladas hier. Als sie das Restaurant betraten, schlug ihnen sofort ein würziger Duft entgegen und nun verspürte Kari doch ein wenig Hunger. Es waren gerade viele Leute da und sie fragte sich, ob es überhaupt noch einen freien Tisch für ihre Familie gab, doch da wurden sie von einem der Kellner begrüßt. Er trug einen Poncho und lächelte breit. „Wir haben bestellt“, sagte Yuuko. „Yagami.“ Sie hatten bestellt? Davon hätten sie Kari auch ruhig etwas erzählen können. Der Kellner nickte und ging ihnen voraus in einen kleineren Nachbarraum zu einem großen runden Tisch, an dem schon Leute saßen. Kari wollte sich schon nach einem anderen Tisch umsehen, als sie die Leute erkannte. Dort saßen Tai, Mimi, Davis, T.K., Ken und Nana und grinsten sie breit an. „Hä?“ Verdattert blickte Kari in die Runde. „Was macht ihr denn alle hier?“ „Überraschung!“, rief Nana und breitete die Arme aus, wobei sie Ken fast im Gesicht erwischte. „Mama hat alle angerufen und eingeladen“, erklärte Tai. Immer noch perplex wandte Kari sich an ihre Mutter und sah sie fragend an. „Du hast in letzter Zeit so viel trainiert und so wenig gelacht. Da dachte ich, du freust dich vielleicht über das hier. Eigentlich wollten wir mit dir feiern, dass du es geschafft hast, aber da du ja so tust, als würde die Welt untergehen, dient es jetzt eher der Aufheiterung“, erklärte Yuuko und zuckte mit den Schultern. „Du bist doof, Mama“, murmelte Kari ein wenig verlegen, bevor sie sich auf den freien Platz neben Nana setzte. Das Essen verlief sehr locker und entspannt und Kari aß so viel wie schon lange nicht mehr. Alle unterhielten sich gut und lachten viel und die Atmosphäre war wirklich angenehm, sodass Kari sich schon wünschte, der Abend würde noch ewig dauern. Doch irgendwann verabschiedeten sich Karis Eltern mit den Worten, die Jugend bräuchte auch mal ein bisschen Zeit ohne die Alten. Darüber konnte Kari nur die Stirn runzeln. Kurz darauf machten sich auch Tai und Mimi auf den Weg nach Hause, sodass nur noch Kari, Davis, Ken, T.K. und Nana übrig blieben. Die Stimmung wurde auf einmal etwas gedrückt. Mit vier Leuten mehr am Tisch war es nicht aufgefallen, dass es zwischen Davis und Ken offensichtlich ein Problem gab, doch nun war es schwierig, ausgelassen zu plaudern. Kari versuchte die ganze Zeit, irgendwelche Themen anzuschneiden, bei denen beide mitreden konnten und die möglichst unverfänglich waren, geriet dadurch allerdings ein wenig unter Druck. Irgendwann gegen halb elf stand Nana auf. „Kari, kommst du noch mal mit aufs Klo? Ich möchte nicht allein gehen.“ Kari nickte und stand ebenfalls auf. Sie musste ohnehin auf die Toilette. „Dass ihr Frauen aber auch immer zusammen aufs Klo rennen müsst“, kommentierte Davis spöttisch. „Hey T.K., kommst du auch mit aufs Klo, wenn ich das nächste Mal muss?“ T.K. hob die Augenbrauen. „Wieso? Brauchst du Hilfe beim Halten?“ Sie lachten und Kari und Nana entfernten sich vom Tisch und gingen zur Toilette. Sie nahmen benachbarte Kabinen. „Sag mal, Kari“, hörte Kari Nana auf einmal anfangen und fragte sich schon, was jetzt wohl kam. „Kannst du nicht einfach erzählen, was los ist?“ „Was los ist?“, wiederholte Kari verwirrt. „Naja zwischen Ken und Davis. Du weißt es, hab' ich Recht?“ Kari biss sich auf die Unterlippe und überlegte, was sie antworten sollte, doch Nana schien ihr Zögern Antwort genug zu sein. „Ich hab' Recht.“ „Ja“, gab Kari zu. „Bitte erzähl' es mir. Es kann doch nicht so bleiben, wie es jetzt ist“, bat Nana und seufzte. „Ich kann nicht. Ich habe Davis versprochen, es niemandem zu erzählen“, erwiderte Kari bedauernd. „Aber ist dir denn egal, dass die beiden kein Wort mehr miteinander reden? Ken ist total fertig deswegen.“ „Natürlich ist mir das nicht egal!“, entgegnete Kari entrüstet. „Aber was soll ich denn dagegen machen? Es geht mich doch eigentlich gar nichts an und ich sollte mich da nicht einmischen.“ „Aber wollen die beiden sich jetzt bis an ihr Lebensende anschweigen?“, fragte Nana. „Ken zerbricht sich den Kopf darüber, was er falsch gemacht hat. Er redet von nichts anderem mehr. Das kann doch nicht ewig so bleiben.“ Das konnte Kari sich bei Ken lebhaft gut vorstellen, denn zu ihr war er ja auch gekommen, um zu erfahren, was mit Davis los war. Und so langsam bekam Kari das Gefühl, dass Davis nicht vorhatte, an der Situation etwas zu ändern, sondern einfach zu warten, bis das Schuljahr vorbei war und sich dann zu verziehen, um dem Problem einfach aus dem Weg zu gehen, anstatt darüber zu reden. „Na schön.“ Beide gleichzeitig verließen sie die Kabinen und gingen zu den Waschbecken. „Ich erzähle es dir, aber du darfst es auf keinen Fall irgendjemandem erzählen.“ Mit großen Augen sah Nana sie an. „Okay.“ „Versprichst du es?“ „Jaja“, sagte sie ungeduldig. Kari hob eine Augenbraue. „Schwörst du?“ „Ich schwöre.“ Kari holte tief Luft. „Davis ist in Ken verliebt.“ Nana klappte der Mund auf, als wollte sie etwas sagen, dann prustete sie los. Verwirrt runzelte Kari die Stirn. Was war daran so komisch? „Oh, du meinst das ernst?“, fragte Nana und machte große Augen. „Natürlich meine ich das ernst“, entgegnete Kari unwirsch. Einen Augenblick lang starrte Nana sie an, die Hände noch immer unter laufendes Wasser haltend. „Das... ist... damit hätte ich nie gerechnet.“ „Ich auch nicht“, gab Kari zu. „Aber es ist so. Deswegen ist Davis so drauf. Ich dachte erst, er wäre in dich verliebt und eifersüchtig auf Ken, aber es ist genau andersherum.“ Mit geistesabwesendem Blick stellte Nana den Wasserhahn ab und lehnte sich gegen das Waschbecken. Kari würde gern wissen, was sie gerade dachte. „Er muss es ihm sagen“, verkündete sie nach einer Weile. „Er muss es ihm wirklich sagen.“ „Der Meinung bin ich auch, aber ich konnte ihn noch nicht überreden. Ich glaube irgendwie nicht, dass er es tun wird“, antwortete Kari. „Das kriegen wir hin.“ Nana machte ein so entschlossenes Gesicht, sodass Kari sich schon um ihren Plan sorgte, obwohl sie ihn noch nicht einmal ausgesprochen hatte. Vielleicht existierte auch noch gar kein Plan und trotzdem wusste Kari, dass er mit vielen Risiken verbunden sein würde. „Ich weiß nicht, wir sollten uns da nicht so einmischen“, murmelte Kari unsicher, blickte ihr Spiegelbild an und strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr. „Und ob wir das sollten. Männer kann man nichts allein machen lassen, da müssen wir schon eingreifen. Sonst wird das nichts“, erklärte Nana und schlug sich mit der Faust gegen die flache Hand. „Vielleicht sollten wir es einfach Ken erzählen.“ „Nein!“, rief Kari und starrte sie entgeistert an. „Du hast versprochen...“ „Jaja, schon gut“, unterbrach Nana sie abwinkend. „Aber irgendwas müssen wir unternehmen.“ „Ja, nämlich T.K. retten“, murmelte Kari. „Der Arme sitzt da ganz allein mit zwei Jungs, die kein Wort mehr miteinander reden.“ „Vielleicht hat er sie ja auch schon versöhnt“, scherzte Nana und sie gingen gemeinsam zurück an ihren Tisch. „Mein Gott, was habt ihr denn die ganze Zeit gemacht?“, fragte Davis spöttisch, als sie sich auf ihre Plätze setzten. „Wir haben unsere Tage und mussten unsere Tampons wechseln“, antwortete Nana trocken. Angewidert verzog Davis das Gesicht, während Ken sie verdattert ansah und T.K. so zu tun schien, als hätte er es nicht gehört. Kari kicherte nur etwas verlegen. „Tja, blöde Frage, blöde Antwort“, meinte Nana schulterzuckend. „Es wird Zeit für mich zu gehen“, murmelte Davis. „Bevor ich noch mehr Dinge erfahre, die ich nie wissen wollte.“ Kapitel 34: Weißt du noch? -------------------------- Mit Davis' Verkündung, nun nach Hause gehen zu wollen, hatten sich auch die anderen entschieden, den Abend nun zu beenden. Kari fühlte sich mittlerweile so vollgefressen und müde, dass sie nur noch schlafen wollte. Sie war sich sicher, in dieser Nacht endlich mal wieder tief und fest schlafen zu können, auch wenn der Auftritt nur mittelprächtig gelaufen war. Zumindest war jetzt der Vorbereitungsstress von ihr abgefallen und sie konnte sich wieder auf andere Dinge konzentrieren. Vor dem Restaurant verabschiedeten sie, T.K. und Davis sich von Ken und Nana und einige Gehminuten weiter auch von Davis. T.K. ließ es sich nicht nehmen, sie noch ein Stück zu begleiten, denn es konnte ja sonstwas passieren und für einen kurzen Moment fühlte Kari sich wieder überbehütet, doch sie verkniff sich jeden Kommentar dazu. Sie kamen an einem Spielplatz vorbei, den Kari jeden Tag auf dem Schulweg passierte und schon gar nicht mehr wahrnahm, doch T.K. blieb stehen, sodass auch Kari anhielt und ihn fragend ansah. „Weißt du noch, wie Tai und Matt uns hier immer in den Sandkasten geschickt haben, damit sie in Ruhe Fußball spielen konnten?“, fragte er mit einem Lächeln auf den Lippen. Kari folgte seinem Blick und sah ebenfalls auf die Stelle, an welcher sie als etwa sechsjährige Kinder immer Sandkuchen gebacken und Burgen gebaut hatten. „Ja und ich erinnere mich auch noch an einen Tag, an dem du den Sandkuchen wirklich probiert hast, obwohl ich dir gesagt habe, dass man den nicht essen kann“, antwortete Kari und kicherte. „Und wenn schon. Ich hab's überlebt.“ Er zuckte mit den Schultern und grinste sie an. „Und weißt du noch, wie du von der Schaukel gefallen bist und dir dabei das Handgelenk verstaucht hast?“ „Oh ja. Tai hat deswegen einen Riesenärger bekommen, weil er eigentlich auf mich aufpassen sollte.“ Kari konnte sich gut daran erinnern, wie Yuuko Tai zur Schnecke gemacht hatte. Ganz klein war er dabei geworden. „Aber wegen dir habe ich damals nicht geweint.“ T.K. sah sie erstaunt an. „Wegen mir?“ Verlegen wandte Kari den Blick ab. „Ja, ich wollte dir zeigen, dass ich tapfer bin. Das war ganz schön schwierig für mich.“ Er sah sie übertrieben mitleidig an. „Zählt es noch, wenn ich dir jetzt erst sage, dass ich stolz auf dich bin?“ Kari tat, als müsste sie erst darüber nachdenken. „Hm... ja, das zählt noch.“ Dann betrachtete sie die Schaukel, an der so manche Erinnerung hing. Wie sie immer versucht hatte, einen Überschlag hinzubekommen oder möglichst hoch zu schaukeln und dann abzuspringen. Mittlerweile hatte die Schaukel einen neuen Anstrich und eine neue Sitzfläche bekommen und sah etwas anders aus als in Karis Erinnerung. Ihr Blick fiel auf die Kletterburg. „Weißt du noch, wie wir dort immer Verstecken mit verbundenen Augen gespielt haben?“ T.K. schnaubte. „Ja und ich weiß auch noch, wie Tai und Matt uns die Augen verbunden haben und dann einfach abgehauen sind.“ Kari prustete los. „Das habe ich ihnen bis heute nicht verziehen. Wir haben sie so lang gesucht.“ In Erinnerungen schwelgend betrachtete Kari die Kletterburg, die ihr nun so viel kleiner vorkam. Es war, als würde sie sich, T.K. und ihre Brüder dabei beobachten, wie sie darauf herum rannten und versuchten, sich gegenseitig zu fangen. „Ich weiß noch, wie traurig ich war, als du dann mit deiner Mutter in die andere Wohnung gezogen bist und wir uns nicht mehr jeden Tag hier treffen konnten.“ T.K. schob die Hände in die Hosentaschen und nickte. „Frag mich mal.“ Kari sah ihn mit zusammengepressten Lippen an. Die Scheidung seiner Eltern war damals sehr schlimm für ihn und Matt gewesen und auch Tai und Kari hatten mit ihnen gelitten. Kari, weil sie nachmittags nicht mehr so viel Zeit mit T.K. verbringen konnte und Tai, weil er des Öfteren zum Opfer von Matts Gefühlsausbrüchen wurde, bevor dieser sich irgendwann verschloss und so tat, als wäre ihm alles egal. Erst, als er irgendwann in der Oberschule mit Sora zusammengekommen war, wurde er wieder offener und emotionaler. Dann hatten sie sich mit dem Schulabschluss wieder getrennt und wie Matt jetzt drauf war, wusste Kari nicht so genau. Dafür hatte sie zu wenig Kontakt mit ihm, aber er kam ihr recht ausgeglichen vor. „Sag mal, hast du noch kurz Zeit? Oder willst du gleich nach Hause?“, riss T.K. sie aus ihren Gedanken. „Hm?“ Verwirrt sah sie ihn an. „Naja, ich dachte gerade, vielleicht könnten wir mal kurz bei unserer alten Grundschule vorbeischauen. Da war ich seit fünf Jahren nicht mehr, wie du weißt“, erklärte er schulterzuckend. „Was, jetzt?“, fragte Kari verdattert. „Es ist doch schon so spät und außerdem sind Ferien. Da ist sowieso niemand da.“ „Eben.“ Er lächelte. „Dann haben wir wenigstens unsere Ruhe.“ Skeptisch runzelte Kari die Stirn. „Okay?“ Ihre alte Grundschule war nur wenige Gehminuten vom Spielplatz entfernt und sie mussten nur einen kleinen Umweg machen. Diesen Weg war sie, meist in die andere Richtung, früher so oft gegangen. Ihre Hausaufgaben hatte sie immer so schnell wie möglich erledigt, um dann zum Spielplatz zu können und dort möglichst viel Zeit zu haben, bevor sie zum Abendessen wieder zu Hause sein musste. Sie kamen am Schulgelände an und standen ein wenig ehrfürchtig vor dem verschlossenen Tor. T.K. rüttelte vorsichtshalber daran, doch es war natürlich abgeschlossen. Schweigend standen sie nebeneinander und betrachteten die Gebäude, die mittlerweile in einem sanften Gelb gestrichen worden waren und deren Fenster mit gebastelten Blumen und Schmetterlingen verziert waren. Den Schulhof konnten sie nur teilweise sehen, da eines der Gebäude und ein paar Bäume ihnen die Sicht versperrten. „Und jetzt?“, fragte Kari nach einigen Minuten. „Lass uns reingehen“, antwortete T.K. Kari drehte sich zu ihm und wollte ihn schon fragen, wie er denn gedachte, dort hineinzugelangen, als er entschlossen einen Schritt auf das Tor zu ging und anfing, nach oben zu klettern. „Das dürfen wir nicht“, sagte Kari erschrocken und beobachtete ihn dabei, wie er sich nach oben hangelte, die Beine auf die andere Seite schwang und wieder herunter sprang. Er warf Kari einen erwartungsvollen Blick zu. „Wir sind doch ehemalige Schüler. Bestimmt hat keiner was dagegen“, sagte er und zwinkerte ihr schelmisch zu. „Kommst du jetzt oder willst du schmiere stehen?“ Unsicher sah Kari sich nach links und rechts um. Weit und breit war keiner zu sehen. Man konnte lediglich ein paar Autos auf den Quer- und Parallelstraßen hören, doch an einer Grundschule lief in den Ferien um diese Uhrzeit sicher niemand vorbei. Sie wandte den Blick wieder nach vorn und betrachtete das Tor. Es war sicher über zwei Meter hoch und Kari würde sich sicher zum Löffel machen und herunterfallen. Außerdem trug sie einen kurzen Rock, an dessen Saum sie jetzt nervös herumzupfte. „Schon gut, ich geh allein“, meinte T.K. gelassen und drehte sich schon um, doch da ergriff Kari mit beiden Händen das Gitter und kletterte ebenfalls nach oben. Sie schaffte es nicht so schnell wie T.K., aber immerhin tat sie sich nicht weh und rutschte auch nicht ab. Etwas umständlich kletterte sie auf die andere Seite des Gitters und sah unsicher nach unten. T.K. streckte eine Hand zu ihr aus, um ihr zu helfen. Kari ergriff sie und sprang nach unten. „Wenn wir erwischt werden, dann bist du schuld“, murmelte sie und sie gingen gemeinsam um das Gebäude herum, in welchem sie in der ersten und zweiten Klasse unterrichtet worden waren. „Es wird uns niemand erwischen“, erwiderte T.K. lachend. „Niemand ist hier. Sieh mal. War das nicht mal unser Klassenraum?“ Kari folgte seinem ausgestreckten Finger und erblickte ein paar große Fenster im Erdgeschoss. Sie gingen zu den Fenstern und spähten in den Raum. An der gegenüberliegenden Wandreihe waren Regale aufgestellt, die mit Standordnern und Kinderbüchern gefüllt waren und so aussahen, als würden sie jeden Moment unter ihrer Last zusammenbrechen. An der Wand rechts befand sich die Tafel und noch ein weiteres Regal mit einem CD-Player. An der linken Wand stand ein Schrank und neben dem Schrank befand sich die Tür. Die Stühle standen alle auf den Tischen und waren recht niedrig, genau richtig für Kinder der ersten und zweiten Klasse. Kari beschlich ein seltsames Gefühl der Leere. Sie konnte sich noch gut an den Tag erinnern, an dem sie eingeschult worden war. So stolz war sie gewesen, endlich wie Tai in die Schule gehen und lernen zu dürfen. Sie hatte eine tolle Klassenlehrerin gehabt, die sie heute schon fast für ihre Geduld und ihre Liebenswürdigkeit bewunderte. Bis vor einigen Monaten wollte Kari eigentlich auch Grundschullehrerin werden und dabei ebenso kompetent sein, wie ihre eigene Grundschullehrerin es immer war. „Wie klein die Stühle sind“, stellte T.K. verwundert fest. „Weißt du noch, wo wir gesessen haben?“ Sie und T.K. hatten während der gesamten Grundschulzeit nebeneinander gesessen. „Ich glaube, wir haben ganz vorn gesessen, weil du immer so klein warst“, antwortete Kari grinsend und betrachtete die Tische ganz vorn. Wie die Kinder wohl aussahen, die jetzt gerade in der ersten Klasse waren und in diesem Raum unterrichtet wurden? „Kann sein“, meinte T.K. müde lächelnd. Sie wandten sich ab und schlenderten über den Schulhof zu den Plätzen, an denen sie als Kinder immer die großen Pausen verbracht hatten. Mal auf dem Klettergerüst, mal im Sandkasten, mal auf einer Bank, mal unter ein paar Bäumen. Kari fühlte sich, als wäre sie wieder zehn und müsste nun überlegen, mit welchem Spiel man die Pause verbringen würde. Sie betrachteten auch die Gebäude, in denen sie in den restlichen Klassenstufen unterrichtet worden waren. „Ich würde gern noch einmal reingehen und mir alles von innen anschauen“, murmelte Kari und drehte sich um sich selbst, um das ganze Schulgelände noch einmal zu betrachten. „Die Grundschulzeit war doch irgendwie am schönsten. Die Schule war nicht so schwer, man musste nicht viele Hausaufgaben machen und das größte Problem, das man hatte, war, dass es zum Mittag schon wieder Spinat gab.“ T.K. nickte und ließ sich auf die nächst beste Bank fallen. „Geht mir auch so.“ Nach kurzem Zögern setzte Kari sich neben ihn, achtete jedoch darauf, einen gewissen Abstand zu ihm zu wahren. „Danke, dass du mitgekommen bist, Kari“, sagte T.K. nach einigen Augenblicken des Schweigens. „Schon gut. Es ist schön, mal wieder hier zu sein. Vielleicht schaffen wir es ja noch mal während der Schulzeit und können ein paar unserer alten Lehrer treffen“, antwortete Kari. „Ja, das können wir uns dann für nach den Ferien irgendwann vornehmen“, meinte T.K. Wieder schwiegen sie einen Augenblick, genossen die vertraute Schulhofatmosphäre und blickten hinauf in den Sternenhimmel. „Sag mal, kann ich dich was fragen?“, fragte Kari nach einer Weile. Er sah sie interessiert an. „Klar.“ „Willst du nach der Schule eigentlich zurück nach Paris?“ Er zögerte eine Weile, bevor er antwortete. „Keine Ahnung. Ich denke, ich werde lieber in Tokio bleiben. Hier fühlt es sich mehr nach Zuhause an als in Frankreich.“ Kari nickte langsam. „Das bedeutet, dass wir nach der Schule vielleicht an verschiedenen Enden der Welt leben, falls ich doch angenommen werde.“ „Du wirst angenommen“, erwiderte T.K. sofort. „Da bin ich mir ganz sicher. Aber ja, hast Recht. Dann sind wir schon wieder so weit voneinander entfernt.“ „Schade eigentlich“, meinte Kari und lächelte schelmisch. „Ich fange gerade wieder an, mich an dich zu gewöhnen.“ „Wie nett“, spottete er. „Soll ich das als Kompliment auffassen?“ „Sieh es, wie du willst“, erwiderte Kari schulterzuckend und blickte wieder in den Sternenhimmel. „Vielleicht ist unsere gemeinsame Zeit schon abgelaufen.“ Aus den Augenwinkeln sah sie, dass er sie noch immer ansah. Er kratzte sich am Kopf. „Wie meinst du das?“ „Naja, vielleicht war die Grundschul- und Kindergartenzeit alles, was uns zustand und jetzt sind wir eben dazu bestimmt, uns nicht mehr zu sehen“, erklärte Kari zögerlich. T.K. brauchte eine Weile, um auf ihre Worte zu reagieren. „Sag mal, hast du irgendwas genommen?“ Kari sah ihn erst verwirrt an, dann kicherte sie und verpasste ihm einen leichten Schubs. „Ich meine nur, dass es vielleicht so etwas wie ein Schicksal gibt.“ Er schüttelte den Kopf und winkte ab. „Das ist doch Quatsch. Alles passiert doch, weil wir uns eben so entscheiden und nicht weil irgendein Schicksal das so plant. Du könntest dich entscheiden, nicht an die Juilliard zu gehen. Dann würdest du wahrscheinlich hier bleiben und wir könnten uns weiterhin sehen.“ „Und ich würde eine riesige Chance verpassen“, ergänzte Kari und hob eine Augenbraue. „Vielleicht würde ich in New York merken, dass Tanzen meine Bestimmung ist. Vielleicht würde ich lernen, dass ich nach New York gehöre und nicht nach Tokio. Vielleicht würde ich da die Liebe meines Lebens treffen.“ „Ich dachte, du brauchst keinen Freund“, erinnerte T.K. sie. „Jetzt nicht, aber irgendwann mal vielleicht schon“, murmelte Kari verlegen. „Wo wir gerade dabei sind... kann ich dir ein Geheimnis verraten?“ Er musterte sie gespannt und lächelte. „Na los.“ Kari holte tief Luft. „Weißt du, damals, als du weggegangen bist... also, warum ich so enttäuscht war...“ Sie zögerte und überlegte, ob sie ihm das, was sie sagen wollte, auch wirklich sagen sollte, doch er erwiderte nichts, sondern wartete, dass sie weitersprach. „Ich glaube, ich war ein bisschen in dich verknallt.“ Sie vermied es sorgfältig, ihn anzusehen und lächelte verlegen. Gut, dass es dunkel war, dann konnte er wenigstens nicht sehen, wie sie rot wurde. Wieder dauerte es einige Sekunden, bis er reagierte. „Soll ich dir auch mal ein Geheimnis verraten?“ Überrascht drehte Kari sich zu ihm und sah ihn erwartungsvoll an. Warum antwortete er nicht direkt auf ihr Geständnis? War er etwa auch in sie verliebt gewesen? „An sowas habe ich damals überhaupt noch nicht gedacht“, gab er zu und grinste schief. „Warum hast du es mir nicht gesagt?“ Kari seufzte entrüstet und zog eine Schnute. Das war nicht das, was sie sich als Antwort erwartet hatte. „Keine Ahnung. Es war mir irgendwie peinlich.“ „Peinlich?“ T.K. lachte. „Naja, wer verknallt sich denn schon in seinen besten Freund?“ „Ach, ich glaube, das passiert ganz schön oft. Ist doch auch irgendwie logisch, wenn man sich mit jemandem so gut versteht und so viel Zeit miteinander verbringt.“ Wieder herrschte kurzes Schweigen. „Aber danke, dass du es mir gesagt hast“, meinte T.K. dann leise. „Jetzt kann ich noch besser verstehen, warum du mich so verachtet hast.“ Kari nickte. „Warst du denn nicht auch mal in irgendwen verliebt?“ „Klar“, antwortete T.K. „In das Mädchen, mit dem ich meinen ersten Kuss hatte.“ Kari lehnte sich zurück und streckte die Beine aus. Das Mädchen, mit dem er seinen ersten Kuss hatte. Bestimmt Isabelle. „Aber ihr seid nicht mehr zusammen, oder?“ „Nein.“ „Wann habt ihr euch getrennt?“ „Schon letztes Jahr im Sommer oder so“, antwortete T.K. und blickte nun auch wieder in den Himmel. „Und wie sieht's bei dir aus?“ Kari schnaubte. „Ich war auch mal verknallt, aber Davis meinte, der Typ wäre komisch.“ „Ach ja? In wen denn?“, fragte T.K. neugierig. „In Kuro“, murmelte Kari verlegen. T.K. schien kurz zu überlegen. „Ach, etwa der, der auch im Computerclub ist? Der ist wirklich komisch.“ „Mann, T.K.!“, murrte Kari und stieß ihm den Ellbogen in die Seite. Er lachte bloß. „Warst du mit ihm zusammen?“, fragte er dann. Kari schüttelte den Kopf. „Ich glaube, er weiß gar nicht, dass ich in ihn verknallt war.“ „Ist wahrscheinlich auch besser so“, kommentierte er und Kari ärgerte sich schon wieder über diese Bemerkung. Sie hatte es Kuro damals nicht gesagt, weil sie zu schüchtern gewesen war. Sie hatte sich einfach nicht getraut. „Du hast mir übrigens noch nicht erzählt, wann und mit wem du deinen ersten Kuss hattest“, erinnerte T.K. sie nach einer Weile. „Dabei bist du mir die Antwort noch schuldig.“ Kari riss die Augen auf und wurde verlegen. Bestimmt lief sie auch noch rot an. „Ich bin dir gar keine Antwort schuldig!“ Er sah sie an und hob die Augenbrauen. „Ach, aber ich muss dir alles erzählen?“ Kari sah ihm für einige Sekunden in die Augen. Sein Blick war herausfordernd, neugierig und eindringlich, sodass sie mal wieder das Gefühl hatte, er würde sie durchbohren. Sie seufzte resigniert. „Na schön. Aber wehe du lachst.“ „Werde ich nicht. Versprochen.“ Prüfend sah sie ihn an und er blickte ernst zurück. „Also eventuell hatte ich ihn mit Shinji, aber ich erinnere mich nicht.“ Darüber schien er tatsächlich nicht lachen zu können, denn sein Blick wurde auf einmal finster. „Verstehe.“ „Und wenn ich ihn nicht mit Shinji hatte, dann mit Davis“, platzte Kari heraus. Die Finsternis wich aus seinem Blick und machte Skepsis Platz. „Mit Davis?! Ich wusste nicht... Steht er etwa immer noch auf dich?“ „Nein, nein.“ Kari hob abwehrend die Hände. Sie setzte zu einer Erklärung an, doch dann fiel ihr ein, dass sie ihm nicht die Wahrheit erzählen konnte, ohne Davis zu hintergehen. Schließlich hatten sie sich nur geküsst, damit Davis Kari beweisen konnte, dass er an Mädchen nichts fand. „Wir ähm... haben nur... getestet, ob... wir... was füreinander empfinden“, stammelte sie. T.K. runzelte skeptisch die Stirn. „Aha?“ „Tja, also... tun wir nicht“, verkündete sie und fühlte sich unwohl. „Und dieser skeptische Blick ist auch nicht besser als lachen.“ Seine Gesichtszüge entspannten sich wieder. „Sorry. Das war nur ein bisschen verwirrend.“ „Ja, für uns auch. Wir hatten vorher Wein getrunken und naja. Es war ein komischer Kuss“, schloss sie ihre Erzählung. „Wie spät ist es eigentlich?“ „Fast eins“, antwortete T.K. nach einem prüfendem Blick auf sein Handy. „So lang sitzen wir hier schon und reden?“, fragte sie irritiert. Sie hatte jedes Zeitgefühl verloren und könnte noch Stunden hier mit ihm verbringen und über alles Mögliche reden. Außer vielleicht übers Küssen. „Jap“, machte er und sah sie an. „Willst du nach Hause?“ „Ich weiß nicht“, murmelte sie und zuckte ratlos mit den Schultern. „Irgendwie schon, aber irgendwie auch nicht.“ Er stand auf. „Dann gehen wir besser, bevor ich noch Ärger mit deinen Eltern kriege.“ Kari nickte ein wenig bedauernd und stand ebenfalls auf. Langsam gingen sie über den Schulhof zurück zum Tor und kletterten nacheinander darüber. Auch bis zu dem Abzweig, von dem Kari nur noch wenige Meter bis nach Hause laufen musste, beeilten sie sich nicht, sondern schlenderten gemütlich dahin, allerdings ohne zu reden. Als sie an der Kreuzung ankamen, blieben sie stehen. „Tja, also dann“, fing T.K. an. „Danke noch mal, dass du mitgekommen bist.“ „Du hast mir ja keine Wahl gelassen“, stichelte Kari und hob eine Augenbraue. Er lächelte schief und zuckte mit den Schultern. „Trotzdem.“ „Schreibst du mir, wenn du zu Hause angekommen bist?“ „Wenn ich es nicht vergesse.“ „Dann vergiss es nicht. Ich warte auf deine SMS.“ Er lächelte. „Alles klar.“ „Okay. Dann mach's gut.“ Kari machte Anstalten, ihn zu umarmen, doch in diesem Moment legte er unerwartet eine Hand in ihren Nacken, beugte sich zu ihr herunter und küsste sie. Mit allem drum und dran. Zunächst versteifte Kari sich vor Schreck, denn damit hatte sie überhaupt nicht gerechnet, doch dann schloss sie die Augen und es fühlte sich an, als würde ein Feuerwerk in ihrem Inneren losgehen. Ihr ganzer Körper schien zu kribbeln und sie dachte, ihre Beine würden gleich nachgeben. Ihre Knie fühlten sich an wie Wackelpudding und ihr Herz schien erst auszusetzen und dann auf einmal wie wild zu hüpfen. Sie hatte keine Ahnung, woher sie wusste, was sie tat, aber wahrscheinlich reichte es, dass T.K. wusste, was er tat. Sie erwiderte einfach den Kuss und ging auf ihn ein, fühlte sich, als könnte sie jeden Augenblick davonschweben. Dabei versuchte sie, jeden Eindruck zu speichern: seinen Geschmack auf ihrer Zunge, seinen Geruch, das Gefühl seiner etwas rauen Lippen auf ihren und der wohlige Schauer, der ihr über den Rücken lief. Dann war es auf einmal vorbei. Sie wusste nicht, wie lange es gedauert hatte. Es hatte sich angefühlt wie Stunden, doch nun, da es vorbei war, hätte es genauso gut nur eine Sekunde gewesen sein können. Langsam löste er den Kuss und ließ auch die Hand in ihrem Nacken sinken. Kari öffnete die Augen und blickte direkt in seine. Er lächelte ein wenig verwegen und Kari fielen die Grübchen in seinen Wangen auf, die dabei zum Vorschein traten. „Jetzt hattest du auch mal einen richtigen Kuss“, raunte er, drehte sich um und ging. Kari befand sich noch einige Sekunden lang in einer Starre, bevor auch sie sich endlich in Bewegung setzen und nach Hause gehen konnte. Wie in Trance stieg sie die Treppen zu ihrer Wohnung hinauf, betrat die Wohnung, machte sich bettfertig und kroch unter die Decke. Doch sie fühlte sich hellwach. In Gedanken war sie immer noch bei dem Kuss, der so viele Emotionen in ihr ausgelöst hatte. Er war in keiner Weise mit dem Kuss mit Davis vergleichbar, bei dem sie gar nichts gefühlt hatte. Das vorhin war völlig anders gewesen. Ihre Knie und Hände zitterten noch immer, als sie nach ihrem Handy griff, um zu sehen, ob T.K. ihr schon geschrieben hatte. Hatte er. Bin gerade angekommen. Schlaf schön. ;-) T. Kari presste ihr Handy an sich und starrte mit großen Augen in die Dunkelheit. Kapitel 35: Andauernd Takeru ---------------------------- Kari fühlte sich komplett verwirrt, als sie am darauffolgenden Montag auf dem Weg in die Schule war und das lag nicht nur daran, dass heute wieder der erste Schultag nach den Sommerferien war. Den ganzen Sonntag hatte sie neben sich gestanden und nur an den Kuss mit T.K. denken können. Sogar ihre Mutter hatte bemerkt, dass etwas nicht stimmte, aber Kari hatte alles abgestritten. Mit ihr wollte sie nicht darüber reden. Sie fragte sich, warum er sie geküsst hatte. Wollte er wirklich nur, dass sie endlich mal einen richtigen Kuss erlebte, an den sie sich auch erinnern konnte? Oder steckte mehr dahinter? Sollten die Gerüchte etwa stimmen, die Nana aufgeschnappt hatte und T.K. stand auf sie? Aber normalerweise standen doch alle auf Aya und die lag ihm ja quasi zu Füßen. Kari trottete in den Klassenraum und ging zu ihrem Platz. Ken stand hinter ihr an Nanas Tisch und unterhielt sich mit ihr, während Davis und T.K. noch nicht da waren. „Morgen“, begrüßte Nana sie fröhlich. „Morgen“, murmelte Kari. „Wieso bist du gut gelaunt? Heute fängt die Schule wieder an.“ „Ja, aber doch zum letzten Mal. Nur noch sieben Monate, dann sind wir frei“, antwortete Nana und strahlte glücklich. „Naja, frei würde ich das nicht nennen“, kommentierte Ken und hob eine Augenbraue. „Nach der Schule geht es doch erst richtig los.“ „Aber dann lernen wir nur noch, was uns interessiert“, meinte Nana abwinkend. Nach der Schule. Die Juilliard. Karis vermasselter Auftritt. Sie stöhnte und rieb sich die Stirn. „Was ist los?“, fragte Ken und sah sie besorgt an. „Nichts, es ist nur... wegen Samstag“, murmelte sie deprimiert. Nana stöhnte genervt. „Fängst du schon wieder damit an? Jetzt hör aber auf und warte erst mal, was sie schreiben. Es bringt doch nichts, wenn du dich jetzt ewig aufregst. Morgen, Takeru.“ Kari zuckte zusammen und fuhr herum. T.K. kam gerade auf die drei zu, begrüßte sie mit einem Lächeln und einem Kopfnicken und ließ sich auf seinen Stuhl fallen. Nana redete weiter, doch Kari starrte T.K. von der Seite an. Plötzlich erinnerte sie sich wieder an das Gefühl, wie es war, als seine Lippen ihre berührt hatten, wie es geschmeckt hatte und was für Emotionen es in ihr ausgelöst hatte. Ihr Herz begann zu rasen und ihre Knie wurden weich. „Kari? Sag mal, hörst du überhaupt zu?“, hörte sie Nana empört fragen. T.K. sah sie verwirrt an. „Geht's dir gut?“ Oh nein, sie hatte ihn gerade sekundenlang angestarrt und es war ihm aufgefallen. Sie fächelte sich mit einer Hand Luft zu und bemühte sich um einen beiläufigen Tonfall. „Ich... ähm... puh, ganz schön warm hier drin. Ich mach' mal das Fenster auf.“ Sie stand auf, drehte sich um und öffnete das nächstbeste Fenster, wobei sie sich betont viel Zeit ließ. Sie war froh, sich kurz von den anderen wegdrehen zu können und keinen ansehen zu müssen. Um Himmelswillen, sie benahm sich wie eine Zwölfjährige. In diesem Augenblick erschien Aya an T.K.s Tisch, setzte sich darauf und verwickelte ihn in ein oberflächliches Gespräch. Zum ersten Mal in ihrem Leben war Kari ihr dankbar, dass sie sich ständig überall dazwischen drängte und sie ausschalten wollte. Schließlich erschien auch Davis mit verschlafenem Blick im Klassenraum und ging zu seinem Platz. Da Ken noch immer bei Nana stand, glitt Kari über ihren Tisch hinweg und setzte sich auf den freien Platz neben Davis. Wie sollte sie nur den ganzen Schultag lang neben T.K. sitzen und so tun, als wäre nichts gewesen? „Du siehst so müde aus, wie ich mich fühle“, begrüßte Davis sie und warf unmotiviert seine Materialien für die erste Stunde auf den Tisch. „Am frühen Morgen schon Komplimente. Danke, Davis“, erwiderte Kari sarkastisch. Er grinste leicht. „Bitte.“ Kari stützte den Kopf auf der Hand ab und beobachtete Davis dabei, wie er sich hinsetzte und sich aus der Jacke seiner Schuluniform befreite. „Wie lange habt ihr Samstag noch gemacht?“, fragte Davis beiläufig und sah sie an. „Was? Gar nicht lange. Wir waren nur kurz auf dem Schulhof und dann sind wir wieder gegangen“, antwortete Kari energisch und fragte sich, woher er wusste, was sie Samstagabend noch gemacht hatte. Davis runzelte die Stirn und sah sie verständnislos an. „Ich meinte im Restaurant. Nachdem ich gegangen bin.“ Kari riss die Augen auf und spürte, wie ihre Wangen ganz heiß wurden. Was redete sie hier eigentlich? Warum benahm sie sich so peinlich? „Warum warst du denn auf dem Schulhof? Und mit wem?“, fragte Davis, als Kari keine Anstalten machte, ihren verbalen Durchfall zu erklären. „Ach, mit niemandem“, log sie und hoffte, dass es zur Stunde klingelte. „Na komm schon, raus mit der Sprache“, drängte Davis sie und sah sie eindringlich an, so wie T.K. es immer tat. „Ich geh' besser mal zurück auf meinen Platz. Die Stunde fängt gleich an“, nuschelte sie, stand auf und rutschte über ihren Tisch zurück auf ihren Stuhl. Davis hatte sich zu ihr umgedreht und starrte sie verwirrt an. „Bist du auf Drogen?“, fragte er skeptisch. „Pscht!“, zischte sie und sah sich um. Sie wollte nicht, dass irgendwer ihr Gespräch mitbekam, vor allem nicht T.K., der sein Gespräch mit Aya gerade beendete, bevor sie auf ihren Platz zurückging. „Was ist los mit dir?“, fragte Davis entgeistert. „In der Pause, okay?“, raunte sie und wandte sich an ihren Lehrer, denn es klingelte gerade zur Stunde. In der Mittagspause tischte sie Nana eine Ausrede auf, warum sie die Pause mit Davis verbrachte, und ging mit ihm auf den Sportplatz, wo er ihr auch schon gesagt hatte, dass er schwul war. Hier hatte man in der Pause wohl die meiste Ruhe und die Chance, ungestört zu bleiben, war hier am größten. Sie setzten sich in den Schatten eines Baumes ins Gras und genossen für einen Moment die Ruhe und die Wärme des Tages. Das Zirpen der Zikaden dröhnte ihnen in den Ohren. „Also, wie ist das jetzt mit dem Schulhof?“, fragte Davis und musterte sie prüfend. Kari seufzte. „Also, T.K. und ich sind am Samstag noch ein Stück zusammen nach Hause gegangen und sind dabei am Spielplatz vorbeigekommen. Dann haben wir uns halt an früher erinnert und dann hat er vorgeschlagen, dass wir ja mal bei unserer alten Grundschule vorbeischauen könnten.“ „Nachts?“, hakte Davis nach und hob eine Augenbraue. „Hab' ich auch gesagt. Aber er wollte unbedingt und dann sind wir einfach übers Tor geklettert“, erklärte Kari schulterzuckend. Davis grinste. „Mensch, Kari, du wirst ja richtig kriminell, seit er wieder da ist. Alkohol auf einer Schulveranstaltung, Hausfriedensbruch...“ „Ach, hör doch auf“, knurrte sie und schlug ihn leicht gegen die Schulter. „Jedenfalls waren wir dann halt auf dem Schulhof und haben uns unterhalten und das ist alles.“ Er nickte und musterte sie noch immer durchdringend. „Und deswegen bist du so neben der Spur? Ich dachte, ihr habt sonst was gemacht.“ „Naja“, fing Kari zögerlich an, „erinnerst du dich noch, wie wir uns geküsst haben, weil du mir beweisen wolltest, dass du nicht auf Mädchen stehst?“ Er machte große Augen und nickte. „Ja.“ „Das habe ich ihm auch erzählt. Also dass ich meinen ersten Kuss mit dir hatte, meine ich. Und dass es komisch war. Naja und dann hat er mich beim Abschied geküsst.“ „Oh“, machte Davis überrascht. „Siehst du, ich hab' dir ja gesagt, er steht nicht auf Aya.“ „Ach, das muss doch gar nix heißen“, widersprach Kari und machte eine wegwerfende Handbewegung. „Vielleicht hat er es einfach nur gemacht, weil er wollte, dass ich mal einen richtigen Kuss erlebe.“ „Sicher“, murmelte Davis sarkastisch. „Wie war es denn? Hat's dir gefallen?“ Kari sah ihn kurz nachdenklich an. „Behältst du's für dich?“ „Klar.“ „Ich glaube, es hat mir ein bisschen zu sehr gefallen“, gestand sie kleinlaut und wandte verlegen den Blick ab. „Hä?“, machte Davis irritiert. „Wie kann einem denn etwas zu sehr gefallen?“ Kari druckste herum und fuhr sich durch die Haare, wickelte sich eine Haarsträhne um den Finger, um etwas zu tun zu haben. „Es war irgendwie so... intensiv. Mein ganzer Körper hat gezittert. Und ich konnte gestern an nichts anderes denken. Heute weiß ich nicht, wie ich ihm gegenübertreten soll. Schon den ganzen Tag versuche ich, nicht mit ihm zu reden.“ Davis beugte sich ein wenig zu ihr vor und lächelte breit. „Da hat er dir ja ganz schön den Kopf verdreht.“ „Mhm“, machte Kari geistesabwesend. „Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, du bist in ihn verknallt.“ „Nein“, protestierte Kai sofort. „Das fühlt sich anders an. In Kuro war ich verknallt.“ Davis stöhnte und verdrehte die Augen. „Kuro...“ „Aber bei ihm weiß ich, dass ich verknallt war. Das jetzt fühlt sich irgendwie anders an. Und es ist ja erst so, seit er mich geküsst hat“, erklärte Kari langsam. „Davor war alles okay.“ Einige Augenblicke schwiegen sie und Kari war in Gedanken schon wieder bei diesem Kuss mit T.K. Sie versuchte angestrengt, an etwas anderes zu denken. Davis. Zikaden. Vögel. Wolken. Regen. Irgendwas. Nur nicht andauernd T.K. „Ich glaube trotzdem, dass du ziemlich auf ihn stehst. Auch, wenn du es nicht zugibst“, sagte Davis schließlich und ließ sich nach hinten fallen, sodass er nun im Gras lag. Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf und schloss die Augen. Kari beobachtete ihn nachdenklich. Ihre Finger spielten mit dem Saum ihres Rocks. „Ach, wann wirst du eigentlich mit Ken reden?“, wechselte sie endlich das Thema. „Mal sehen“, antwortete Davis ausweichend. „Nicht 'mal sehen'. Mach es endlich. Ken macht sich fertig wegen dir“, sagte Kari vorwurfsvoll. „Es ist eine blöde Situation, ja. Aber Ken hat es nicht verdient, dass du ihn einfach eiskalt ignorierst. Du bist sein bester Freund. Schon seit Jahren.“ „Ich mache mich auch fertig wegen ihm“, entgegnete Davis und klang fast ein wenig beleidigt. „Er ist mit Nana zusammen und nicht mit mir. Das ist auch nicht gerade schön für mich.“ „Aber er kann doch nichts für seine Gefühle. Genauso wenig wie du“, erinnerte Kari ihn ungeduldig. Davis öffnete die Augen wieder und stützte sich auf den Unterarmen ab. „Das ist alles nicht so leicht.“ „Das weiß ich doch“, räumte Kari leise ein. „Aber es wird auch nicht einfacher, wenn du davor wegläufst.“ Er zuckte mit den Schultern. Dann setzte er sich ruckartig auf und sah sie an, sodass Kari unwillkürlich ein wenig zurückwich. „Ich rede mit Ken, wenn du mit T.K. redest.“ „Äh... was?“, fragte Kari verdattert. „Ich hab' doch gar nichts mit ihm zu reden!“ „Klar hast du das. Du sagst ihm, dass du auf ihn stehst und ich sag' Ken, dass ich auf Ken stehe. Und fertig ist der Deal.“ Davis sah sie auffordernd an und Kari glaubte, sich verhört zu haben. Dann streckte er die Hand aus. „Schlag ein.“ „Du spinnst doch. Bei so einem bescheuerten Deal mach' ich nicht mit. Und warum sollte ich T.K. anlügen?“, erwiderte Kari schnippisch und verschränkte die Arme vor der Brust. „Du und Ken dagegen habt ein ernstes Problem. Das kannst du doch nicht mit T.K. und mir vergleichen.“ „Wieso nicht? Ihr seid Freunde, wir sind Freude. Du bist in T.K. verliebt, ich in Ken. Ich sehe keinen Unterschied.“ Empört verdrehte Kari die Augen. „Na sag mal, jetzt gehst du aber zu weit. Verliebt bin ich nun wirklich nicht.“ „Schlägst du nun ein oder nicht?“, fragte Davis gelangweilt und hielt ihr noch immer seine Hand hin. „Nein!“, rief Kari wütend und stand auf. „Ich wünschte, ich hätte dir das gar nicht erst erzählt!“ Sie stapfte davon und ließ ihn einfach dort sitzen. Sollte er doch machen, was er wollte. Sie hatte ja nur helfen wollen. Nach der letzten Stunde packte Kari so schnell wie möglich ihre Sachen zusammen und eilte aus dem Klassenraum. Sie wollte schnell weg aus seiner Nähe, bevor er sie noch auf den Kuss ansprechen konnte und sie sich noch mehr blamierte als ohnehin schon den ganzen Tag. Sie verließ das Schulgebäude und eilte über den Weg zum Tor hin. Als sie gerade dachte, sie wäre heil davon gekommen, versperrte ihr jemand den Weg. Es war Matt, wieder mit Sonnenbrille und Beanie zum Schutz vor aufdringlichen Fans. „Du schon wieder“, sagte er grinsend. „Kommt T.K. noch oder habe ich ihn verpasst?“ „Matt, ich hab's gerade ein bisschen eilig, also...“ Sie machte Anstalten, an ihm vorbeizulaufen, doch er versperrte ihr weiterhin den Weg. „Was ist das denn für eine Begrüßung, Fräulein Yagami? Es ist ewig her, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe und du willst mich einfach abwimmeln?“ „Tut mir Leid. Wir können uns gern mal auf einen Kaffee treffen oder so, aber ich muss jetzt...“ „Kari!“ Zu spät. Kari seufzte resigniert und drehte sich zu T.K. um, der auf sie zulief. Gefolgt von Aya. „Ich wollte dich noch was fragen“, sagte er, als er bei ihr ankam, doch als er ihren Gesprächspartner musterte, wich das leichte Lächeln von seinem Gesicht. „Matt.“ Aya blieb neben T.K. stehen und starrte Matt mit großen Augen an. „T.K.“, erwiderte Matt, ohne Aya zu beachten. Sie sahen sich einen Augenblick lang in die Augen, dann wandte T.K. sich wieder an Kari. „Ich frag' später. Bis morgen.“ Er wollte sich vom Geschehen wegdrehen und gehen, doch da überraschte Kari sich selbst, indem sie seine Hand ergriff und ihn festhielt. Verwundert drehte er sich um und auch Aya sah Kari verwirrt und auch ein wenig bedrohlich an. „Lauf nicht weg“, sagte Kari leise und diesmal war sie es, die ihn eindringlich ansah und hoffte, dass sie in sein Inneres vordringen konnte. Als sie sich sicher war, dass er stehen blieb, ließ sie seine Hand los und trat einen Schritt zurück. „Ich dachte, ich versuch's noch mal“, schaltete Matt sich nun an T.K. gewandt ein. „Also hast du vielleicht kurz Zeit?“ T.K. atmete hörbar aus und wich seinem Blick aus. Kari würde jetzt gern seine Gedanken lesen können, denn der Ausdruck in seinen Augen war unergründlich. „Okay“, sagte er dann zur Überraschung aller. Kari konnte es kaum glauben. Endlich würde er mit Matt reden. Oder ihm zumindest zuhören. „Bis morgen“, sagte er an Kari und Aya gewandt und drehte sich zum Gehen um. „Mach's gut, Kari“, sagte Matt und drückte Kari kurz an sich, wobei er ihr ein „Danke“ ins Ohr hauchte und ging dann mit T.K. los. Etwas wehmütig sah Kari den beiden nach und hoffte, dass sie ihren Streit klären konnten. „Okay, hör mal zu, du Schlange“, riss Aya sie aus ihren Gedanken und sie drehte sich entrüstet zu ihr um. Schlange? „Ich weiß nicht, was für ein Spiel du da spielst, aber du lässt die Finger von Takeru, klar? Du hast sowieso keine Chance bei ihm.“ Kari schnaubte verächtlich. „Hat er dir das gesagt, oder was?“ „Nein, aber er hat schon eindeutige Anspielungen mir gegenüber gemacht“, antwortete sie schnippisch. „Da verbrennst du dir nur die Finger.“ „Ach ja? Das glaube ich nicht, denn weißt du, wen er am Samstag geküsst hat? Genau, mich!“, erwiderte Kari giftig und verschränkte die Arme vor der Brust. Ayas Blick verfinsterte sich. Anscheinend hatte er sie noch nicht geküsst. „Musst du dir jetzt schon billige Lügen ausdenken, um besser dazustehen? Wem willst du hier eigentlich was vormachen? Mir oder dir selbst?“ „Wie bitte?“, rief Kari entgeistert. „Ich habe es ja wohl nicht nötig, zu lügen. Du anscheinend schon.“ „Ach, komm schon“, sagte Aya überheblich. „Seit der Sache mit Shinji weiß zwar jeder, dass du eine Schlampe bist und gern jeden ranlässt, aber Takeru unter deinen Opfern? Das glaubst du doch selbst nicht.“ Kari fiel die Kinnlade herunter. Mit so viel Dreistigkeit hatte sie selbst bei Aya nicht gerechnet. „Mit jemandem wie dir muss ich mich gar nicht abgeben.“ Sie machte auf dem Absatz kehrt und stolzierte davon. „Gleichfalls“, hörte sie Aya noch sagen, doch darauf reagierte sie nicht mehr. Sie ärgerte sich darüber, dass sie ihr das mit dem Kuss gesteckt hatte, auch wenn diese ihr das sowieso nicht glaubte. Dachte Kari zumindest. Kapitel 36: Gerüchteküche ------------------------- Am nächsten Tag wurde sie, als sie nach der Mittagspause zurück ins Schulgebäude gehen wollte, von einem aufgebrachten T.K. abgefangen. „Sag mal, was erzählst du eigentlich für einen Mist rum?“, fuhr er sie an und Kari wich erschrocken zurück. So einen Tonfall war sie von ihm nicht gewohnt. Was meinte er denn? Welcher Mist? Wusste jetzt etwa die ganze Schule über ihren Kuss Bescheid? Aber selbst wenn, dann war das doch kein Mist, sondern die Wahrheit. „I-ich... ähm...“, stotterte sie, wusste jedoch nicht, was sie sagen sollte. Er starrte sie wütend an. „Das hätte ich dir nie zugetraut.“ Dann stürmte er davon und ließ sie mit ihrem Schreck allein. Unschlüssig ging Kari ihm hinterher. Es brachte ja nichts, sie konnte nicht einfach eine Schulstunde schwänzen. Als sie zu ihrem Platz neben T.K. ging, vermied dieser es sorgfältig, sie anzusehen. Sie warf Nana einen hilflosen Blick zu, den diese fragend erwiderte, und setzte sich auf ihren Stuhl. Während der Stunde fiel es ihr schwer, sich zu konzentrieren, da sie die ganze Zeit darüber nachdenken musste, was er wohl gemeint hatte. Sie warf ihm immer wieder Seitenblicke zu, doch er ignorierte sie völlig, sondern war anscheinend ganz und gar in den Unterricht vertieft. Kari seufzte leise, nahm einen Bleistift und schrieb eine Notiz auf die Ecke eines Blattes in ihrem Schreibblock. Ich weiß nicht, was du meinst. Sie riss das Stück vom Blatt ab und schob T.K. unauffällig den Zettel zu. Zuerst dachte sie, er würde auch darauf nicht eingehen, da er sich nicht bewegte, sondern mit finsterem Blick nach vorn starrte, doch dann legte er eine Hand auf den Zettel und zog ihn zu sich heran. Kari biss sich auf die Unterlippe und beobachtete ihn dabei, wie er einen günstigen Moment abwartete und den Kopf senkte, um den Zettel zu lesen. Gespannt auf seine Reaktion starrte sie ihn an. „Hikari.“ Sie zuckte zusammen und drehte den Kopf, sodass sie wieder nach vorn sah. Herr Kugo stand vorn und hatte die Hand in ihre Richtung ausgestreckt. Zwischen den Fingern hielt er ein Stück Kreide. „Versuch du es mal mit dieser Aufgabe“, forderte er sie mit einem Kopfnicken zur Tafel auf. „Ich habe gerade nicht aufgepasst“, murmelte Kari beschämt. Einige ihrer Mitschüler drehten sich zu ihr um. „Das habe ich gesehen. Aber es steht alles vorn an der Tafel und mit dem Thema haben wir uns schon vor den Ferien lange beschäftigt.“ Kari presste die Lippen aufeinander und blieb noch kurz angespannt auf ihrem Stuhl sitzen in der Hoffnung, Herr Kugo würde doch noch jemand anderen dran nehmen, doch als er sich kein Stück rührte, stand sie langsam auf und ging steif nach vorn zur Tafel. Sie nahm ihm die Kreide aus der Hand und betrachtete sich die Aufgabe. Mathe war nicht so ihre Stärke. Und Integralrechnung schon gar nicht. „Also zuerst... müssen wir die Stammfunktion von f ermitteln“, sagte sie unsicher und sah ihren Lehrer fragend an. Der nickte kaum merklich. Während Kari an der Tafel die Stammfunktion von f notierte, fühlte sie sich schrecklich unwohl in ihrer Haut. Sie hasste es, so vorgeführt zu werden und wollte nichts lieber, als zurück an ihren Platz zu gehen und dem Unterrichtsgeschehen eher passiv zu folgen. Vorn stehen und Aufgaben rechnen oder Referate halten hatte noch nie zu ihren Stärken gehört. Mit Hilfe von Herrn Kugos Taschenrechner machte sie sich an die Lösung der Aufgabe, kam jedoch an einem Punkt nicht weiter und suchte ratlos den Fehler in ihrem Lösungsweg. „Wer hat ihren Fehler entdeckt?“, fragte Herr Kugo in die Klasse, nachdem Kari minutenlang vorne gestanden und die weiße Schrift angestarrt hatte auf der Suche nach etwas, was sie übersehen oder falsch gerechnet hatte. „Takeru.“ Kari drehte sich um und ging an ihren Platz zurück. T.K. und sie gingen im Gang zwischen den Tischen aneinander vorbei und sie drückte ihm das Kreidestück in die Hand, ohne ihm ins Gesicht zu sehen. „Ich hätt's auch nicht gekonnt“, hörte sie Nana flüstern, als sie sich auf ihren Stuhl setzte. T.K. schien keine Probleme zu haben, die Aufgabe zu lösen. Er korrigierte Karis Fehler und rechnete die Aufgabe zu Ende, bis er den Flächeninhalt einer Fläche zwischen einem imaginären Graphen und der y-Achse erhielt, von welchem Kari noch immer nicht wusste, warum sie in der Lage sein musste, diesen zu ermitteln. Auf der Juilliard musste man bestimmt nicht integrieren, außer vielleicht sich selbst in eine Horde Erstsemester. Sie warf einen Blick auf den Zettel auf T.K.s Tischhälfte, doch er hatte nichts darauf geschrieben und auch, als er wieder auf seinem Stuhl saß, sah er nicht danach aus, als wollte er an diesem Zustand etwas ändern. Kari stützte den Kopf auf der Hand ab und wartete, dass die Stunde endlich verging. Als das erlösende Klingelzeichen ertönte, stand sie auf und packte ihre Sachen zusammen. Sie rechnete damit, dass T.K. sie nicht mehr weiter beachtete, doch er sprach sie von sich aus an. „Du hast echt keine Ahnung, was ich meine?“, fragte er und musterte sie stirnrunzelnd. Zur Antwort schüttelte sie den Kopf. „Okay. Hast du nach dem Training heute kurz Zeit?“ „Ja“, sagte sie, ohne nachzudenken. Er nickte und ging dann aus dem Raum. „Sag mal, Kari“, fing Nana langsam an, als sie beide nebeneinander in der Umkleidekabine saßen und sich für das Tanztraining umzogen. „Das, was erzählt wird, stimmt nicht, oder? Das mit dem Sex.“ „Das mit dem Sex?“, rief Kari und sah sie entsetzt an. „Wovon redest du da?“ „Okay, danke, das reicht schon“, erwiderte Nana abwinkend und wirkte erleichtert. „Eigentlich wusste ich ja, dass das nur ein dummes Gerücht ist, aber ich dachte, ich frag'...“ „Wovon – redest – du – da?“, wiederholte Kari ihre Worte betont langsam und packte Nana am Arm. Gerücht? Über sie? Sex? Kari hatte ein ganz dummes Gefühl, was das für ein Gerücht sein könnte, doch sie traute sich nicht einmal, diesen Gedanken zu Ende zu denken. Nana sah so aus, als würde sie überlegen, ob Kari wirklich so zurechnungsfähig war, dass sie es ihr mitteilen konnte, schien sich aber dafür zu entscheiden. „Naja, ich habe heute in der Pause das Gerücht aufgeschnappt, dass du mit Takeru geschlafen hast. Und angeblich hast du das selbst erzählt.“ Kari fühlte, wie ihr die Gesichtszüge entgleisten. Wahrscheinlich wich gerade jede Farbe aus ihrem Gesicht und sie sah aus wie ein Kalkstein. Aya. „Oh mein Gott“, stöhnte sie und vergrub das Gesicht in den Händen. „Oh mein Gott. Oh Gott.“ „Ach was, schon gut“, sagte Nana aufmunternd und tätschelte ihr die Schulter. „Es zweifelt sowieso jeder an der Wahrheit dieses Gerüchts, also mach dir keine Sorgen.“ „Ich soll mir keine Sorgen machen?“, rief Kari und starrte Nana entgeistert an. „T.K. ist total sauer auf mich und jetzt weiß ich auch, warum. Aya erzählt Lügen über mich herum und tut so, als hätte ich das Gerücht in die Welt gesetzt. Als wäre mein Ruf nicht eh schon im Arsch.“ „Du weißt doch gar nicht, ob es Aya war“, gab Nana zu bedenken. Kari machte eine düstere Miene. „Doch.“ Und dann erzählte sie Nana, was am vorigen Tag nach der Schule passiert war und warum es nur Aya sein konnte, die dieses Gerücht verbreitete. Nana hob überrascht die Augenbrauen und starrte Kari an. „Ihr habt euch geküsst?“ „Ja, aber das ist doch jetzt total unwichtig“, erwiderte Kari gereizt. „Nein, ist es nicht.“ Nanas Augen leuchteten von Begeisterung. „Das ist ja total süß. Ihr würdet ein super Paar abgeben.“ Kari stöhnte genervt auf. „Ist doch egal, es war sowieso das erste und letzte Mal.“ „Wieso?“, fragte Nana verständnislos. War sie denn schwer von Begriff? „Weil er denkt, ich erzähle überall in der Schule herum, wir hätten miteinander geschlafen, verdammt!“ „Ich verstehe das Problem nicht“, sagte Nana und legte den Kopf schief. „Sag ihm einfach, dass du das nicht warst und fertig.“ Kari verdrehte die Augen, schlüpfte in ihre Schuhe und stand auf. Sie wollte jetzt nicht weiter mit Nana darüber diskutieren. Sie befürchtete, dass T.K. ihr nicht glauben und weiterhin auf sie sauer sein würde. Immerhin wurde ja auch sein Ruf beschädigt. Der Neue, der mit der Schlampe ins Bett hüpft. Bevor sie in die Turnhalle ging, warf sie noch einen Blick auf ihr Handy. Sie hatte eine SMS bekommen. Du und ich. Kaffee. Heute. ;) Matt Verwirrt runzelte sie die Stirn. Stimmt, sie hatte Matt gestern zum Trost, dass sie ihn abgewimmelt hatte, vorgeschlagen, sich mal auf einen Kaffee mit ihm zu treffen. Allerdings hatte sie nicht erwartet, dass er dieses Angebot tatsächlich annehmen würde. Eilig tippte sie eine Antwort und lief in die Halle. Passt es dir so gegen sechs? Das Training half Kari, sich ein wenig abzureagieren. Sie versuchte einfach, die Basketballer komplett zu ignorieren und auch nicht an das nahende Gespräch mit T.K. zu denken und konzentrierte sich nur auf sich selbst. Nobuko hatte ihr noch einmal versichert, dass sie super gewesen war am Samstag und dass die Juilliard sie bestimmt trotzdem nehmen würde. Nach dem Training beeilte Kari sich beim Duschen, verabschiedete sich von Nana und verließ die Umkleidekabinen. T.K. stand schon draußen und wartete auf sie und Kari fragte sich, warum Männer im Bad eigentlich immer so schnell fertig waren. Seine Haare waren noch ein wenig feucht vom Duschen und von ihm ging ein angenehmer Duft nach Duschgel aus, wie wahrscheinlich auch von Kari. Ein kaum sichtbares Lächeln huschte über seine Lippen, als er sie sah. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg nach Hause. Bis sie das Schulgelände verlassen hatten, sagte keiner von ihnen ein Wort. Der Himmel war von dunklen Wolken bedeckt und Kari spürte schon einzelne Tropfen auf der Haut. Die Luft war drückend. „Entschuldige, dass ich dich heute in der Pause so angefahren habe“, eröffnete T.K. schließlich das Gespräch. „Schon okay“, erwiderte Kari. „Naja, eigentlich nicht. Ich hätte dich auch erst mal darauf ansprechen können, bevor ich gleich aus der Haut fahre“, gab er zu. „Alles in Ordnung. Mach dir keinen Kopf deswegen“, antwortete Kari kopfschüttelnd. Sie schwiegen einige Sekunden, bevor T.K. wieder das Wort ergriff. „Hast du inzwischen mitbekommen, was herumerzählt wird?“ „Ja“, seufzte Kari. „Nana hat es mir erzählt. Anscheinend war ich ja die Letzte, die davon erfahren hat.“ „Könnte sein.“ Er lächelte schief. „Ich habe dieses Gerücht wirklich nicht in die Welt gesetzt“, sagte Kari plötzlich heftig. „Das musst du mir glauben. Warum sollte ich das auch tun?“ Er sah sie erstaunt an. „Hey, schon gut. Ich glaube dir. Tut mir Leid, dass ich dachte, du könntest das gewesen sein. Eigentlich hätte ich es selbst besser wissen müssen.“ Er überlegte kurz. „Aber ich frage mich, wer sich sowas ausdenkt. Zudem auch noch kurz nach diesem Abend.“ „Das war Aya“, antwortete Kari trocken. In diesem Moment wurde aus den wenigen Tropfen, die Kari bisher getroffen hatten, auf einmal ein Wolkenbruch. Als hätte sich plötzlich eine Tür im Himmel geöffnet, schüttete es jetzt wie aus Eimern und innerhalb von Sekunden waren sie beide durchnässt. Irritiert sahen sie sich an. „So ein Mist!“, fluchte T.K. und sie rannten los. Kari folgte ihm auf den Spielplatz, vor dem sie Samstagnacht schon gestanden und in Erinnerungen geschwelgt hatten. Schutz suchend krochen sie unter die Kletterburg und kauerten sich auf dem Sand zusammen. „Wozu föhne ich mir eigentlich die Haare?“, schimpfte Kari und wrang ihre Haare aus, die tropfnass waren. Auch ihre Schuluniform klebte unangenehm auf ihrer Haut. „Hättest du dir wirklich sparen können“, kommentierte T.K. und musterte sie grinsend. Er strubbelte sich selbst durch die blonden Haare und Kari sah feine Wassertropfen nach allen Seiten wegspritzen. „Also, wie kommst du darauf, dass es Aya war?“ Nun sah er sie wieder ernst an. „Sie ähm...“ Kari überlegte, wie sie das erklären sollte. Sie würde T.K. bestimmt nicht darüber informieren, wie es dazu gekommen war, dass Aya von dem Kuss erfahren hatte. „Sie hasst mich, okay? Wenn sie irgendeine Gelegenheit sieht, mir zu schaden, dann nutzt sie die. Sie ist total eifersüchtig, weil ich die Chance habe, auf die Juilliard zu kommen und sie nicht.“ T.K. hob skeptisch eine Augenbraue. „Und deswegen verbreitet sie einfach das Gerücht, dass du behauptest, wir hätten miteinander geschlafen? Das hat doch mit der Juilliard gar nichts zu tun.“ Kari zuckte mit den Schultern. „Was weiß ich. Ich kann ihr auch nicht in den Kopf gucken.“ „Und noch dazu so kurz nach Samstag, als hätte sie gewusst, was war“, ergänzte er und sah sie nun mit seinem durchdringenden Blick an, sodass Kari schnell woanders hinsah. „Also ich habe ihr nichts erzählt.“ Kari starrte nach draußen und beobachtete, wie der Regen den Sand durchnässte. „Naja, vielleicht habe ich ihr gegenüber erwähnt, dass du... dass wir... uns geküsst haben“, nuschelte sie kleinlaut und zog die Beine an den Oberkörper. Sie tat so, als müsste sie dringend ihre Fingernägel überprüfen, um ihn nicht ansehen zu müssen. Am liebsten hätte sie jetzt die Flucht ergriffen, so unangenehm war ihr das Gespräch. „Warum hast du's ihr gesagt?“, fragte T.K. „Ich...“ Fieberhaft suchte sie nach einer Ausrede, einem plausiblen Grund, wieso sie es Aya erzählt hatte. Dann fiel ihr etwas anderes sein. „Ich wusste nicht, dass es ein Geheimnis bleiben sollte.“ „Nein, so war das nicht gemeint“, entgegnete er. Kari ließ von ihren Fingernägeln ab und spielte stattdessen mit dem feuchten Saum ihres Rocks. „Jedenfalls wirkte sie ziemlich wütend und deshalb bin ich mir sicher, dass sie dieses Gerücht verbreitet hat.“ T.K. schwieg einen Augenblick, dann seufzte er leise. „Es ist blöd, was sie über dich erzählt, aber hör mal, sie hat ein paar Probleme und deswegen... darfst du ihr das nicht so krumm nehmen.“ Ruckartig drehte Kari sich zu ihm und starrte ihn ungläubig an. „Was?“ „Ja, sie hat es nicht so leicht, weißt du? Deswegen versuch einfach, darüber hinwegzusehen.“ Entgeistert runzelte Kari die Stirn. „Entschuldige, aber ich fühle mich gerade ein bisschen verarscht von dir.“ Fragend hob er die Augenbrauen. „Als du dachtest, dass ich Mist erzähle, hast du mich angemotzt und jetzt sage ich dir, wer wirklich dahintersteckt und nun bist du auf einmal so verständnisvoll und sagst mir, ich solle ihr das nicht übel nehmen“, erklärte sie und musste sich dabei bemühen, nicht zu zickig zu klingen. Doch sie war wirklich empört, dass T.K. gerade Partei für Aya ergriffen hatte, obwohl diese doch die Schuldige war und Kari die Geschädigte. „Kari, das ist nicht so leicht“, erwiderte er und sah sie hilflos an. „Du würdest es verstehen, wenn du wüsstest, was los ist, aber ich kann es dir nicht sagen.“ „Ich will auch überhaupt nicht wissen, was mit diesem Mädel los ist!“, fauchte Kari. „Wer nicht ertragen kann, dass man nicht überall der Beste sein kann, der hat ganz offensichtlich Probleme! Sie ist doch nur ein verzogenes Prinzesschen!“ „Nein, ist sie nicht“, widersprach T.K. ruhig, wirkte aber auf einmal sehr kühl. „Du hast Recht. Eigentlich ist sie eher ein manipulatives Miststück und dir hat sie anscheinend auch schon eine Gehirnwäsche verpasst!“, rief Kari hitzig und sprang auf, wobei sie sich den Kopf an der Unterseite der Kletterburg stieß, was ihrem Auftritt jede Seriosität nahm. Sie drehte sich um und wollte losmarschieren, doch als sie die Sandfläche schon fast verlassen hatte, ergriff T.K. ihr Handgelenk. „Du verstehst das nicht“, sagte er. „Bitte...“ „Oh, ich denke, ich verstehe sehr gut, was bei euch abgeht“, unterbrach Kari ihn schroff. „Du kannst ihr ausrichten, dass sie jetzt hat, was sie wollte. Sie wird schon wissen, was ich meine. Ich bin raus.“ Unsanft entriss sie ihm ihren Arm und ging mitten im strömenden Regen davon. „Kari, komm schon“, hörte sie T.K. noch rufen, doch sie ignorierte ihn. Kapitel 37: Matts angekratztes Ego ---------------------------------- Wütend betrat Kari die Wohnung, zog sich die Schuhe aus und tropfte auf dem Weg durch den Flur den Boden voll. Ihre Mutter saß am Tisch im Wohnzimmer und blickte auf, als Kari an ihr vorbeistürmte. „Was ist denn los?“, fragte sie skeptisch. „Lass mich in Ruhe!“, fauchte Kari, ging geradewegs in ihr Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Sie zog sich aus und ließ die nassen Sachen einfach achtlos auf dem Boden liegen. Nachdem sie sich trockene Sachen angezogen hatte, warf sie sich auf ihr Bett und versuchte, nicht vor Wut zu heulen. Falls sie seit Samstag auch nur eine Sekunde lang geglaubt hätte, zwischen ihr und T.K. könnte sich unter Umständen mehr entwickeln, so waren diese Gedanken nun komplett zunichte gemacht worden. Mit so einem Typen wollte sie ohnehin nichts am Laufen haben, weder ernsthaft noch locker. Er war ja fast schon eine Art Schoßhündchen für Aya. Ihr persönlicher Bodyguard. Wer wusste schon, was sie ihm für Geschichten erzählte. Und er kaufte ihr auch noch alles ab und tat, als wäre sie ein armes kleines Mädchen in einer schlimmen Opferrolle. Was konnten das schon für Probleme sein, die dieses Mädchen hatte? Dass sie sich morgens nicht entscheiden konnte, welche Make-up-Marke sie heute tragen wollte? Warum nur war sie so eifersüchtig auf Kari und sagte ihr, sie sollte ja die Finger von T.K. lassen, wenn dieser sowieso schon total unter Ayas Pantoffel stand? Und warum zum Henker hatte er Kari geküsst, wo er doch offensichtlich auf Aya stand? Wütend griff Kari nach dem gerahmten Kinderfoto auf ihrem Nachttisch, das sie von T.K. bekommen hatte, und pfefferte es unter ihr Bett. Sollte es doch da verstauben. Sie warf einen Blick auf den digitalen Wecker auf ihrem Nachttisch. Sie hatte noch eine halbe Stunde, um sich zu beruhigen, bevor sie sich auf den Weg zu dem Café machen musste, in dem sie sich um sechs mit Matt treffen wollte. Sie nutzte die Zeit, um ihr Zimmer aufzuräumen. Dabei konnte sie sich meist gut abreagieren und es war etwas, was sie oft tat, wenn sie wütend war. Am Ende hatte sie sich so ins Aufräumen vertieft, dass sie fast die Zeit vergaß und sich beeilen musste, um noch rechtzeitig in dem Café anzukommen. Draußen regnete es noch immer sintflutartig, doch diesmal hatte Kari einen Schirm dabei. Sie betrat das kleine Café, das sich in einer Seitenstraße befand, in der sehr wenig los war, und ein angenehmer Duft nach Kaffeebohnen und frisch gebackenen Waffeln empfing sie. Sie musste sich einen Augenblick lang umsehen, bevor sie Matt in der abgelegensten Ecke des Raumes ausmachen konnte. Er hatte sich hinter einer Zeitschrift versteckt. Sie ging auf den kleinen quadratischen Tisch zu und nahm Matt gegenüber Platz. „Hi“, begrüßte sie ihn. „Na, Kleines?“, erwiderte er ihre Begrüßung lächelnd. „Ist alles okay? Du wirkst aufgebracht.“ „Ach, ich hab' mich nur vorhin mit deinem Bruder gestritten“, murmelte sie und griff nach der Karte. „Willkommen im Club“, entgegnete Matt etwas spöttisch. „Ich hoffe, es ist nichts allzu Schlimmes und ich muss ihm keine reinhauen?“ Kari schnaubte und warf Matt einen belustigten Blick zu. Eigentlich war das gar kein schlechtes Angebot. „Hast du schon bestellt?“ „Hab' auf dich gewartet.“ Als die Bedienung kam, bestellten sie sich einen Kaffee und einen Cappuccino, die ihnen kurz darauf zusammen mit einem Keks serviert wurden. Kari stützte die Ellbogen auf dem Tisch ab und den Kopf auf den Händen und sah Matt erwartungsvoll an. „Also, was wolltest du?“ Er hob fragend die Augenbrauen. „Ich habe dich gestern nur beim Wort genommen. Du hast gesagt, wir können uns mal auf einen Kaffee treffen.“ Er deutete auf seine Kaffeetasse und lächelte schief, wobei er T.K. unheimlich ähnlich sah. „Und das ist schon alles?“, fragte Kari verwundert. Er zuckte mit den Schultern. „Tja, du hast gestern meinen Stolz verletzt. Normalerweise wimmeln Mädchen mich nicht ab.“ Kari kicherte. „Entschuldige. Ich hoffe, es hilft deinem Ego, dass ich jetzt hier bin.“ „Das tut es. Aber hättest du mich versetzt, wäre ich jetzt wohl ein Häufchen Elend voller Selbstzweifel.“ „Das glaubst du doch selbst nicht“, erwiderte Kari abwinkend. Er überlegte kurz. „Stimmt.“ Er schüttete einen halben Teelöffel Zucker in seinen Kaffee, rührte um und nippte vorsichtig an der Tasse, bevor er Kari wieder ansah. Er sah wirklich unverschämt gut aus. „Erzähl doch mal, was mein Brüderchen nun angestellt hat.“ „Nichts“, murrte Kari ausweichend und rührte in ihrem Cappuccino. Sie beobachtete, wie der Kaffee dabei haselnussfarbene Spuren im Milchschaum hinterließ. „War das das Problem? Dass er nichts gemacht? Hätte er etwas machen sollen?“, hakte Matt nach und Kari spürte, dass er sie interessiert musterte. „Nein“, antwortete sie, ohne den Blick von ihrem Cappuccino abzuwenden. „Hm“, machte Matt nachdenklich und Kari wünschte sich, er würde das Thema wechseln. „Hat er sich mit Shinji, oder wie der Typ vom Frühlingsball hieß, angefreundet?“ „Was? Nein“, antwortete Kari irritiert. „Hattet ihr ein Date und er ist nicht gekommen?“, riet Matt weiter. „Nein!“ „Hat er dir eine Haarspange geschenkt, woraufhin du dachtest, er fände deine Frisur hässlich?“ Nun musste Kari lachen und schüttelte den Kopf. Matt seufzte resigniert und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. „Gibst du mir einen Tipp? Ich komm' nicht drauf.“ „Na schön“, gab Kari nach. „Erinnerst du dich noch an Aya? Sie war auch auf dem Frühlingsball und hängt an T.K. wie eine Klette.“ Matt kniff die Augen zusammen und schien zu überlegen, dann ging ihm anscheinend ein Licht auf. „Die Schwarzhaarige. Ah, ich glaube, ich kann mir denken, was das Problem ist.“ „Sie steht auf ihn und eigentlich dachte ich, dass er nicht so wirklich auf sie steht, aber sie hat fiese Gerüchte über mich verbreitet und er verteidigt sie und sagt, ich solle versuchen, sie zu verstehen“, fasste Kari den Streit zusammen. Matt nickte. „Klingt, als müsste ich ihm wirklich eine reinhauen. Was waren das denn für Gerüchte?“ „Dass ich erzählt hätte, T.K. und ich hätten... naja, du weißt schon.“ Matt hob überrascht die Augenbrauen. „Gut, dass Tai nicht hier ist.“ „Zuerst hat T.K. das geglaubt und hat mich deswegen angefahren und nicht mehr mit mir geredet und als ich ihm sagte, dass Aya das war, wurde er auf einmal ganz verständnisvoll“, erzählte Kari. Es tat ihr erstaunlicherweise gut, die Geschichte jemandem anzuvertrauen und sich auszulassen. „Komisch. Ich hätte gestern schwören können, dass er auf dich steht“, sagte Matt und verschränkte die Arme vor der Brust. Kari sah ihn verwundert an. „Echt? Wieso?“ „Naja, er hat ständig von dir geredet. Also nichts Wichtiges, nur beiläufige Sachen, aber es kam mir so vor, als hätte er deinen Namen ziemlich oft erwähnt“, erklärte Matt und lächelte sie verschmitzt an, sodass sie rot wurde. „Naja, ist ja jetzt auch egal“, murmelte sie. „Wir haben ja gesehen, dass das nichts zu bedeuten hat.“ „Ich weiß nicht“, erwiderte Matt zweifelnd. „Vielleicht gibt es da ja irgendein Missverständnis. Irgendwas, was du nicht weißt.“ Kari kamen wieder Aya und ihre angeblichen Probleme in den Sinn, doch sie verdrängte den Gedanken und nippte an ihrem Cappuccino. Sie tendierte dazu, dass T.K. einfach nur verliebt in Aya war. „Wie war denn eigentlich euer Gespräch gestern?“, fragte sie nun und sah Matt interessiert an. „Hm, naja“, sagte Matt zögernd. „Wir haben zumindest über alles geredet. Danke noch mal. Ich glaube, wenn du nicht da gewesen wärst, hätte er sich nicht darauf eingelassen.“ „Keine Ursache“, erwiderte Kari lächelnd. „Schön, dass ihr geredet habt. Wie geht es jetzt weiter?“ „Tja, keine Ahnung“, antwortete Matt schulterzuckend. „Ich habe ihn und unsere Mutter auf ein Konzert am Samstag eingeladen, aber ich weiß nicht, ob sie kommen werden.“ Dann sah er Kari an, als wäre ihm eben etwas eingefallen. „Wenn du möchtest, kannst du natürlich auch kommen. Ich besorge dir eine Freikarte.“ „Oh, ich hab' leider keine Zeit“, erwiderte Kari bedauernd. Sie wäre wirklich gern auf ein Konzert von Matts Band gegangen. „Am Samstag feiern wir Mimis Junggesellinnenabschied.“ „Ah, verstehe.“ Er grinste. „Das gleiche machen Tai und ich auch am Freitag.“ „Oh“, erwiderte Kari überrascht. „Das hat er mir noch gar nicht erzählt. Wo geht ihr denn hin?“ Sie hoffte, vielleicht eine Idee für Mimis Abend zu bekommen, denn bisher hatte keine von ihnen einen besonders kreativen Einfall gehabt. Matt runzelte die Stirn. „Versprichst du, dass du es nicht Mimi erzählst?“ „Ja“, antwortete Kari langsam und musterte ihn skeptisch. „Wir gehen in einen der besten Stripclubs der Stadt“, verkündete Matt und verschränkte die Arme vor der Brust. „Tai weiß davon auch noch nichts, aber ich denke, er wird sich freuen.“ Kari hob die Augenbrauen und musste lachen. „Okay, das sollte Mimi wirklich besser nicht erfahren.“ Sie fragte sich, wie oft Matt wohl solche Clubs besuchte, um so gut Bescheid zu wissen, welche zu den besten der Stadt gehörten. „Und was werdet ihr machen?“, fragte Matt nun. „Wie viele seid ihr überhaupt?“ „Na wir Mädels aus der alten Truppe. Mimi, Yolei, Sora und ich. Und was wir machen, wissen wir noch nicht so genau. Auf jeden Fall weiß Mimi noch nicht, dass wir überhaupt etwas mit ihr vorhaben“, antwortete Kari und trank einen Schluck von ihrem Cappuccino. Matts Augenbraue zuckte und in seinen Augen lag auf einmal ein seltsamer Ausdruck. „Hm... wenn ihr wollt und euch nichts einfällt, könnt ihr auch gern zum Konzert kommen. Ich kann euch vier Freikarten besorgen.“ „Oh“, machte Kari und dachte darüber nach. Das wäre doch gar kein schlechter Anfang. Zuerst könnten sie gemütlich zu viert irgendwo etwas essen gehen, dann zu Matts Konzert und anschließend den Abend in einer Bar ausklingen lassen. „Das werde ich Sora und Yolei auf jeden Fall mal vorschlagen. Danke.“ Er lächelte. „Sag einfach Bescheid.“ Kapitel 38: Familienprobleme ---------------------------- Das Angebot, das Matt ihr gemacht hatte, hatte sie über Facebook sofort an Yolei und Sora weitergegeben und war schon gespannt, was die beiden dazu sagen würden. Am darauffolgenden Schultag regnete es immer noch und der Himmel sah so aus, als würde dieses Wetter noch mindestens einen Monat anhalten, was Kari natürlich nicht hoffte. T.K. ging sie den ganzen Schultag lang so gut es ging aus dem Weg, was Nana natürlich auffiel. Auch ihr erzählte sie eine Kurzfassung dessen, was am vorigen Nachmittag passiert war und Nana reagierte ähnlich wie Kari selbst. „Das ist ja echt unglaublich“, fand sie und schüttelte fassungslos den Kopf. „Was geht nur in ihm vor? Wieso macht er das?“ Nach der letzten Stunde packte Kari langsam ihre Sachen ein und ging nach vorn an die Tafel, um sie abzuwischen, da sie heute damit dran war. „Ich geh' schon mal, ja?“, informierte Nana sie. „Ken hat mich zum Eisessen eingeladen. Bis morgen.“ Sie lächelte fröhlich und verschwand aus dem Raum. Ein wenig neidisch war Kari schon auf dieses Glück, auch wenn sie sich für Nana und Ken freute. Sie würde auch gern mal ein paar positive Erfahrungen mit der Liebe machen und stellte es sich unbeschreiblich schön vor, zu lieben und geliebt zu werden, jemanden zu haben, mit dem man alles teilen konnte. Sie wusch den Schwamm aus und legte ihn auf den Rand des Waschbeckens, bevor sie zurück an ihren Platz ging. Dabei entdeckte sie, dass noch jemand im Klassenraum war und betont langsam seine Sachen zusammengepackt hatte. Aya. Kari beachtete sie nicht weiter, schnappte sich ihre Tasche und wollte den Raum verlassen, doch da hielt Aya sie zurück. „Yagami“, sagte sie und Kari überlegte kurz, ob sie einfach weitergehen sollte, doch sie blieb stehen und sah sie finster an, gefasst auf eine weitere Gemeinheit oder Beleidigung. Aya druckste herum, kratzte mit dem Fingernagel unsichtbaren Dreck von ihrer Schultasche und starrte auf ihren Tisch. Dann warf sie sich die Haare zurück und sah Kari wieder an. „Vielleicht kannst du beim Rausgehen mal einen Blick aufs schwarze Brett werfen.“ Misstrauisch runzelte Kari die Stirn und blieb noch kurz stehen in der Erwartung, Aya würde diesen Satz noch irgendwie erklären, doch als diese keine Anstalten machte, noch etwas zu sagen, verließ Kari einfach den Klassenraum. Sie ging die Treppe hinunter und fragte sich, was sie davon halten sollte. Was würde sie wohl am schwarzen Brett vorfinden? Hatte Aya sich eine neue Gemeinheit ausgedacht, mit der sie Kari schaden konnte? Neugierig und mit einem mulmigen Gefühl im Bauch ging Kari zum schwarzen Brett. Auf den ersten Blick konnte sie schon mal keine Fotos von sich entdecken und atmete erleichtert auf. Dann suchte sie nach etwas, das Aya gemeint haben könnte und entdeckte Ayas und ihren Namen auf einem mit dem Computer geschriebenen Text. Skeptisch begann sie zu lesen. Liebe Mitschülerinnen und Mitschüler, ich, Aya Kobari, möchte mich hiermit offiziell bei Hikari Yagami für die Gerüchte entschuldigen, die ich über sie verbreitet habe. Ich habe Dinge herumerzählt, die nicht stimmen, um ihr zu schaden und das tut mir Leid. Wenn ihr also in den letzten zwei Tagen von irgendjemandem gehört habt, was Hikari angeblich erzählt und getan hat, dann schenkt dem bitte keinen Glauben. Es entspricht nicht der Wahrheit. Das Gleiche gilt auch für die nächsten Tage, falls sich dieses Gerücht noch weiter herumsprechen sollte. Ich weiß, dass ich falsch gehandelt habe und werde es nicht noch einmal tun. Aya Kobari Ihren Namen hatte sie handschriftlich darunter geschrieben. Mit offenem Mund starrte Kari den kurzen Brief an und versuchte, sich einen Reim darauf zu bilden. Sie hätte nie und nimmer damit gerechnet, dass Aya sich bei ihr für die ganze Schule sichtbar entschuldigen könnte. War sie allein auf diese Idee gekommen? Ob T.K. sie wohl dazu gedrängt hatte? Oder hatte er den Brief vielleicht sogar selbst geschrieben? Kari drehte sich um und erblickte Aya, die sie anscheinend beobachtet hatte. Als sie Karis Blick auffing, wandte sie sich schnell ab und ging davon. Nachdenklich verließ Kari das Schulgebäude, spannte ihren Schirm auf und ging nach Hause. Was für ein seltsamer Schultag. Aber davon gab es ja mittlerweile mehr als genug. Zu Hause angekommen loggte Kari sich in ihren Facebook-Account, um zu prüfen, ob Yolei oder Sora schon geantwortet hatten. Tatsächlich hatten sie auch alle beide schon geschrieben. Die erste war Yolei gewesen. Hi Mädels, also ich finde, das ist eine coole Idee. :) Mimi mag doch die Musik von den Teenage Wolves, oder? So langsam könnten die sich übrigens mal umbenennen. ;) Und ich kenne auch ein tolles Restaurant in der Nähe der Konzerthalle, in dem es nicht so teuer ist, wo wir vorher essen gehen könnten. Da war ich letztens mit ein paar Kommilitonen. Liebe Grüße Yolei Hallo ihr beiden, ich finde die Idee auch gut. Nett von Matt, dass er dir das angeboten hat. Also machen wir das jetzt so fest? Kari, besorgst du dann die Karten? Ich bin übrigens gerade eben nach Hause gekommen. Ganz schön komisch, wieder in Tokio zu sein... Freue mich aber sehr auf Samstag. Kann es kaum erwarten, Mimis Gesicht zu sehen. :-) Tai hat mir geschrieben, dass er dafür sorgt, dass sie auch wirklich zu Hause ist, wenn wir kommen. Liebe Grüße und bis spätestens Samstag Sora Kari lächelte bei den Nachrichten der beiden und tippte eine Antwort. Dann schrieb sie eine SMS an Matt, in der sie ihn fragte, wann sie sich wegen der Karten treffen könnten und machte sich schließlich widerwillig an ihre Hausaufgaben. Bis morgen musste sie noch zwei Aufgaben zur Integralrechnung erledigen und davor graute es ihr. Sie hatte Angst, wieder nach vorn an die Tafel zu müssen, weil sie gestern so versagt hatte. Gerade, als sie wieder einmal nicht weiterkam und vergeblich nach ihrem Fehler suchte, klopfte es an ihre Tür und ihre Mutter kam herein, ohne auf die Antwort zu warten. „Warum klopfst du überhaupt, wenn du eh einfach reinkommst?“, murmelte Kari und drehte sich zu ihr um. „Ich wollte nur sehen, ob du was an hast“, antwortete sie grinsend und Kari verzog verwirrt das Gesicht. „Du hast Besuch.“ Mit diesen Worten verließ sie ihr Zimmer wieder und einige Sekunden später erschien T.K. im Türrahmen. „Hi“, sagte er leise und wirkte ein wenig unsicher. Kari erwiderte nichts, sondern sah ihn nur erwartungsvoll und auch ein bisschen verwundert an. „Kann ich reinkommen?“ Sie zuckte kurz mit den Schultern, nickte dann aber doch. Er trat in ihr Zimmer und wollte schon die Tür hinter sich schließen, doch Kari verkündete, dass sie etwas zu trinken für sie beide holen würde. Sie ging in die Küche, nahm zwei Gläser aus dem Schrank und füllte sie mit kaltem Tee. „Ist alles in Ordnung bei euch?“, fragte Yuuko, die gerade am Küchentisch über einen Stapel Zeitschriften gebeugt saß, und sah sie neugierig an. „Klar“, antwortete Kari tonlos, nahm die Gläser und machte sich auf den Weg zurück in ihr Zimmer. „Sagt Bescheid, wenn ihr irgendwas braucht“, hörte sie Yuuko sagen. „Jaja“, rief Kari zurück, ging in ihr Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Misstrauisch warf sie einen Blick aufs Schloss. Sie würde es ihrer neugierigen Mutter glatt zutrauen, dass sie versuchte, sie zu belauschen. Sie drückte T.K., der auf ihrem Bett Platz genommen hatte, eines der Gläser in die Hände und setzte sich zurück auf ihren Schreibtischstuhl. Sie nippte an ihrem Tee, um irgendwie beschäftigt zu wirken und stellte das Glas auf dem Schreibtisch ab. „Also?“, fragte sie nach einer Weile, als T.K. keine Anstalten machte, seinen Besuch zu erklären. „Naja, mir ging diese Sache von gestern nicht mehr aus dem Kopf“, begann er endlich. Vorsichtig drehte er das Glas zwischen den Handflächen hin und her und starrte in den Tee, als suchte er nach einer versteckten Botschaft. „Mir auch nicht“, gestand Kari und schlug die Beine übereinander. „Ich wollte dir eigentlich nur sagen, dass ich verstehen kann, warum du so sauer bist. Wäre ich wohl auch an deiner Stelle“, erklärte er ohne aufzublicken. „Ich war gestern Abend noch bei Aya und hab' mit ihr geredet. Ich glaube, sie hat eingesehen, dass sie Mist gebaut hat.“ „Ich hab' den Brief am schwarzen Brett gelesen“, antwortete Kari. „Hätte nicht gedacht, dass sie sowas schreibt.“ T.K. nickte und nippte geistesabwesend an seinem Tee. Für eine kurze Zeit herrschte Schweigen zwischen ihnen, doch dann hob er den Kopf und sah sie an. „Hör mal, wegen gestern...“, er kratzte sich verlegen am Hinterkopf, „tut mir Leid. Ich wollte nicht, dass du denkst, ich hätte für sie mehr Verständnis als für dich. Und ich wollte dich auch nicht so anmaulen.“ Kari zuckte mit den Schultern. So richtig schlau wurde sie aus ihm nicht. Was sollte sie denn sonst denken bei seinem Verhalten? „Aya hat ein paar familiäre Probleme“, erklärte er weiter. „Dagegen ist die Scheidung der eigenen Eltern harmlos. Und wie du ja weißt, hatte ich in Paris auch ein paar... familiäre Probleme.“ Sein Gesicht nahm einen finsteren Ausdruck an. „Das ist eben etwas, was uns irgendwie verbindet und so hatten wir beide jemanden, mit dem wir darüber reden konnten. Sie hat mich verstanden und ich habe sie verstanden.“ Er sah Kari an. „Und das ist alles. Deswegen habe ich so reagiert. Und mehr als das ist zwischen Aya und mir auch nicht.“ Kari musterte ihn eine Weile und dachte über das nach, was er gesagt hatte. Familiäre Probleme, die anscheinend damit vergleichbar waren, dass die eigene Mutter von ihrem Freund geschlagen wurde. Wenn das stimmte, dann hatte Aya ja tatsächlich ernstzunehmende Probleme, bei denen es nicht nur um Make-up und Klamotten ging. Kari seufzte. „Ich glaube, das sieht sie aber anders.“ T.K. presste die Lippen aufeinander und nickte. „Den Verdacht habe ich inzwischen auch.“ Sie versuchte, seinen Satz und seine Mimik zu interpretieren. Fand er es nun gut, dass Aya offensichtlich in ihn verliebt war oder nicht? Glaubte er, es könnte sich jemals mehr zwischen ihm und ihr entwickeln? Wollte er das vielleicht sogar? „Aber du bist... nicht an ihr interessiert?“, fragte Kari vorsichtig und musterte ihn von der Seite. Er sah sie an und lächelte leicht. „Nein. Absolut null.“ „Tja, auf jeden Fall... danke, dass du vorbeigekommen bist und mir das erklärt hast“, schloss Kari das Thema ab. Er winkte ab. „Keine Ursache. Das war ich dir doch schuldig.“ Er stand auf, kam zu ihr und betrachtete ihre angefangenen Matheaufgaben. „Was machst du da eigentlich? Sind das die Hausaufgaben für morgen?“ „Ja, ich habe schon wieder einen Fehler gemacht und komme nicht weiter“, murrte Kari und malte ein großes Fragezeichen neben ihre bisherige Lösung. „Hm“, machte T.K. und betrachtete kritisch ihre Notizen. „Soll ich versuchen, es dir zu erklären?“ Sie blickte zu ihm auf und sah ihn mit großen Augen an. „Das wäre echt lieb.“ Mit T.K.s Hilfe war es fast schon ein Kinderspiel gewesen, die Aufgabe zu lösen und alles erschien ihr logisch und gar nicht so schwer. Doch sie wusste, sobald sie wieder eine Aufgabe allein rechnen musste, würden sich wieder seltsame Probleme auftun, mit denen sie nicht umgehen konnte. Es war bereits Abend, als sie ihn zur Tür brachte und er war schon zur Wohnungstür hinausgegangen, als er sich noch einmal umdrehte. „Ach ja, was ich dich noch fragen wollte...“ „Hm?“, machte Kari und sah ihn fragend an. „Wann feiert ihr noch mal Mimis Junggesellinnenabschied? Am Samstag?“ Kari nickte. „Und was machst du am Freitag so?“ Sie überlegte einen Augenblick, wie ihr Plan für den Rest der Woche aussah. „Ähm... nichts, glaube ich.“ „Wir haben um sechs ein Spiel bei uns in der Sporthalle. Wenn du Lust hast, kannst du ja zugucken kommen. Und hinterher könnten wir noch was essen gehen oder so“, sagte er locker und zuckte mit den Schultern. „Ja, klar. Bin dabei“, antwortete Kari ebenso locker. Erst einige Minuten, nachdem er gegangen war, drängte sich ihr der Gedanke auf, dass er sie vielleicht gerade nach einem Date gefragt hatte. Kapitel 39: Nicht von dieser Welt --------------------------------- „Also, was glaubst du? Könnte das ein Date sein?“, fragte Kari an Nana gewandt. Es war Freitag, sie hatten Mittagspause und die beiden Mädchen saßen gerade auf einer Bank mit ihrem Essen auf dem Schoß. Soeben hatte Kari Nana erzählt, was T.K. sie am Mittwoch gefragt hatte. Dabei hatte sie darauf geachtet, möglichst genau seinen Wortlaut wiederzugeben, damit Nana das Gesagte so gut wie möglich interpretieren konnte. Nachdenklich kaute sie auf der Gabel herum, mit der sie gerade ihren Salat aß. „Das ist wirklich nicht so ganz eindeutig“, murmelte sie und starrte in die Luft. „Vielleicht kommen zum Essen nach dem Spiel noch andere mit.“ „Ja und dann stell dir vor, ich stehe da extra hübsch gemacht für ein Date und dann kommen noch alle seine Kumpels mit“, erwiderte Kari und allein bei der Vorstellung fühlte sie sich schon blamiert. „Oder du gehst davon aus, dass seine Kumpels mitkommen und stellst dann mit Erschrecken fest, dass es doch ein Date ist“, überlegte Nana weiter. „Oder“, Kari fiel eine andere Möglichkeit ein, „es ist zwar ein Abend zu zweit, aber er hat es gar nicht als Date gemeint, sondern nur als einen Abend unter Freunden.“ „Das könnte auch sein“, meinte Nana schulterzuckend. „Da kann ich dir leider auch nicht helfen. Frag ihn doch einfach noch mal.“ Kari verdrehte die Augen. „Ja klar. 'Hi T.K., alles klar? Übrigens, soll das heute eigentlich ein Date werden? Ich hab' das nicht so ganz verstanden.'“ „Naja, nicht so natürlich“, erwiderte Nana und schüttelte unwirsch den Kopf. „Du musst die Frage schon irgendwie geschickt verpacken. Du könntest ihn ja fragen, wo er etwas essen gehen will. Wenn es ein Fast-Food-Schuppen ist, dann ist es sicher kein Date.“ „Die Frage ist aber immer noch seltsam, wenn sie einfach so aus der Luft gegriffen kommt“, antwortete Kari und hob skeptisch eine Augenbraue. „Oder du fragst einfach... hm...“ Nana überlegte eine Weile, schien jedoch zu keinem Ergebnis zu kommen und warf irgendwann theatralisch die Arme in die Luft. „Mann, Kari, es ist sowieso ein Date! Darauf würde ich meine Unterwäsche verwetten.“ „Aber du musst zugeben, dass er die Frage schon komisch ausgedrückt hat“, sagte Kari und sah Nana schräg an. „Ja, hat er. Aber es ist Takeru. Er will ein Date mit dir. Hundertpro.“ Sie warf die leere Salatschachtel in den nächstbesten Mülleimer. „Es lohnt sich gar nicht, darüber nachzudenken, weil ich sowieso Recht habe. Lass uns lieber überlegen, wie wir Ken und Davis dazu bringen können, wieder miteinander zu reden.“ Ken und Davis. Kari hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie Nana Davis' Geheimnis erzählt hatte. Sie war sich sicher, dass Davis kein Wort mehr mit ihr reden würde, wenn er das erfuhr. Und das war etwas, was er jetzt gerade nicht gebrauchen konnte: noch einen Freund weniger. Er durfte es unter keinen Umständen erfahren. Vielleicht würde Kari ihm das in ein paar Jahren mal verklickern oder wenn sie beide betrunken waren. „Was hältst du davon, wenn wir sie einfach zusammenführen, ohne dass sie davon erfahren?“, schlug Nana nach einer Weile vor. „Du tust einfach so, als würdest du mit Davis etwas unternehmen wollen und ich mit Ken und dann gehen wir beide einfach nicht mit und die beiden Jungs müssen alleine gehen. Dann treffen sie sich und sind gezwungen, miteinander zu reden.“ „Und was soll ich Davis sagen, wenn ich nicht mitkomme? Dass er allein gehen soll?“, fragte Kari verwirrt. „Naja, den Teil des Plans müssen wir noch überdenken“, antwortete Nana abwinkend. „Und was, wenn Davis einfach wieder losgeht, wenn er Ken sieht?“, fragte Kari weiter. „Stimmt, das könnte ja auch passieren“, meinte Nana nachdenklich und kratzte sich am Kinn. Kari sah sie entschlossen an. „Ich finde, wir sollten uns nicht zu sehr einmischen. Ich werde versuchen, Davis weiter zu bearbeiten, damit er mit Ken redet, aber mehr kann und will ich eigentlich nicht machen.“ „Aber so wird das doch nie was“, widersprach Nana und seufzte resigniert. „Doch“, entgegnete Kari. „Da bin ich mir ziemlich sicher.“ In einer Stunde musste sie in der Turnhalle sein, wenn sie den Anpfiff des Spiels nicht verpassen wollte, und sie hatte noch immer keine Ahnung, was sie anziehen sollte. Rock? Hose? Kleid? Welches Oberteil? Ausschnitt? Eng? Kurze oder lange Ärmel? Welche Schuhe? Auf dem Boden stapelten sich bereits einige Klamotten, die sie anprobiert hatte, doch jedes Mal hatte sie irgendetwas anderes gestört. Mal fand sie sich zu brav, mal zu bunt, mal zu freizügig und mal zu locker. Dann fiel ihr ein, dass sie bei Masamis Hausparty ein Kleid mit kurzen Ärmeln getragen hatte, über das T.K. angeblich gesagt haben sollte, dass es ihm gefiel. Kari zerrte das Kleid mitsamt seinem Bügel hervor und betrachtete es nachdenklich. Es hatte kurze Ärmel, war eng und reichte ihr bis zur Hälfte der Oberschenkel. Ein Muster von blauen und lilafarbenen Farbsprenkeln erstreckte sich schräg von unten bis etwa zur Taille, der Rest war weiß. Es hatte auch einen Ausschnitt, der allerdings nicht zu viel preisgab. Kari schlüpfte in das Kleid und betrachtete sich kritisch in dem großen Spiegel. Für ein Date war es gut, für einen Abend mit Freunden eher ein bisschen zu viel. Unschlüssig wiegte sie den Kopf hin und her und beschloss dann, sich erst einmal ihren Haaren zu widmen. Mit den Händen versuchte sie, sie in irgendeine Form zu bringen, probierte Hochsteckfrisuren aus, nahm alle auf eine Seite, machte sich einen Knoten, doch nichts gefiel ihr. Also entschloss sie sich dazu, sie einfach offen zu lassen und sie nur mit einer Spange an der Seite zu befestigen, sodass sie ihr nicht andauernd in die Stirn fielen. Wie jeden Tag. Anschließend versuchte sie, sich zu schminken. Ein wenig Wimperntusche trug sie jeden Tag, doch was sollte sie noch auftragen? Sie spähte in die kleine Tasche, in der sie ihre Schminkutensilien aufbewahrte. Vorsichtig zog sie sich einen Lidstrich, der am Ende nur halbwegs zufriedenstellend aussah. Kurz überlegte sie, noch Lippenstift zu benutzen, verwarf den Gedanken jedoch wieder. Das wäre wahrscheinlich auch für ein Date zu viel, außer vielleicht, sie wollte T.K. abschleppen. Doch das hatte sie heute sicher nicht vor. Beim Schmuck musste sie nicht lang überlegen. Sie legte sich die Kette um den Hals, die sie im fünften Brief gefunden hatte. Die reichte vollkommen aus. Und welche Schuhe sollte sie anziehen? Das hing natürlich von der Kleidung ab. Kari warf einen nervösen Blick auf die Uhr. Wenn sie noch rechtzeitig kommen wollte, musste sie genau jetzt das Haus verlassen. Ein kurzer, unsicherer Blick zurück in den Spiegel und sie entschloss sich schließlich dazu, das Kleid jetzt anzubehalten. Sonst würde sie zu spät kommen. Eilig kramte sie ein Paar weiße Ballerinas aus dem Schrank hervor, schnappte sich ihre Handtasche und lief los. Sie beeilte sich, um noch so rechtzeitig anzukommen, sodass sie einen einigermaßen guten Platz abbekam. Aus der Turnhalle drangen viele Stimmen und auch Musik und es standen noch einige Leute draußen herum. Ganz offensichtlich hatte das Spiel noch nicht begonnen. Kari ging durch die große Tür und sah zu den doch recht vollen Zuschauerrängen. Es war das erste Mal, dass sie zu einem Basketballspiel ihrer Schulmannschaft ging. Irgendwie hatte sie das bisher nie sonderlich interessiert. Sie suchte unter den vielen verschiedenen Gesichtern dort nach einem, das ihr bekannt vorkam und schließlich lenkte jemand winkend ihre Aufmerksamkeit auf sich. „Davis“, sagte Kari überrascht, ging die Treppe hoch und quetschte sich an anderen Zuschauern vorbei zu ihm. „Was machst du denn hier?“ „Das Gleiche könnte ich dich fragen“, erwiderte er grinsend und rutschte ein wenig zur Seite, um ihr Platz zu machen. „Ich hab' zuerst gefragt“, sagte Kari, setzte sich und sah ihn erwartungsvoll an. „Ich bin ab und an mal hier, wenn unsere Jungs ein Spiel haben. Ich interessiere mich eben auch für andere Sportarten“, erklärte er und zuckte mit den Schultern. „Und was treibt dich her? Ich glaube, ich sehe dich hier zum ersten Mal. Zumindest, wenn es um Basketball geht.“ „Oh, ich ähm... T.K. hat mich gefragt, ob ich nicht zuschauen kommen möchte“, antwortete sie verlegen. „Aha?“ Davis lächelte sie vielsagend an. „Guck nicht so“, murmelte Kari und wich seinem Blick aus. Sie beobachtete die Cheerleader, die gerade in knappen Kostümen und mit einem Strahlen im Gesicht eine Choreografie aufführten. In der Zwischenzeit betraten die beiden Mannschaften gefolgt von ihren Trainern durch eine andere Tür die Turnhalle und gingen zu den für sie vorgesehenen Bänken. Schnell konnte Kari T.K. unter den Spielern ausmachen, da sein blonder Haarschopf einfach hervorstach. Während der Coach seiner Mannschaft Ansagen machte, ließ T.K. den Blick über die Tribüne schweifen. „Früher war ich meistens mit Ken zusammen hier“, meinte Davis und Kari sah ihn mitleidig an. Ken und Nana waren über das Wochenende zu Nanas Großeltern ans Meer gefahren und wollten dort zwei Tage am Strand verbringen. Das erzählte Kari Davis allerdings nicht. „Es liegt an dir. Ich bin mir sicher, er würde gern wieder mit dir hierher kommen“, antwortete Kari und legte eine Hand auf seinen Arm. Davis beobachtete mit starrem Blick die Cheerleader und zuckte mit den Schultern. Die Mädchen beendeten ihre Choreografie und huschten vom Feld, sodass die Spieler Aufstellung nehmen konnten. T.K. war als Startspieler aufgestellt worden, Shin hingegen saß auf der Bank und musste hoffen, irgendwann eingewechselt zu werden. Seit seiner Aktion beim Frühlingsball war er beim Coach nicht mehr allzu beliebt, wie Kari erfahren hatte. Der Ball wurde in der Mitte hoch geworfen und zwei Spieler streckten sich im Sprung nach ihm aus. Die gegnerische Mannschaft war schneller und preschte los über das Feld. „Wieso hast du dich eigentlich so hübsch gemacht, wenn du doch nur zum Zuschauen hier bist?“, fragte Davis nach ein paar Minuten. „Naja, T.K. hat mich gefragt, ob wir hinterher irgendwo essen gehen wollen“, antwortete Kari betont beiläufig. „Ah“, machte Davis und grinste breit. „Verstehe.“ Kari nickte etwas verlegen und beobachtete weiter das Spiel. Beide Mannschaften hatten inzwischen schon Punkte erzielen können. „Scheint ja, als hätte sich deine Meinung über ihn in den letzten Monaten ein bisschen geändert“, bemerkte Davis. „Vielleicht“, räumte Kari ein. „Ich hoffe, er kann jeden Gedanken an diesen seltsamen Kuro verdrängen“, meinte Davis etwas sarkastisch. Kari verdrehte die Augen. „Ach Davis, das ist über ein Jahr her. Du solltest langsam mal die Gedanken an Kuro verdrängen.“ Plötzlich sah sie ihn mit gehobenen Augenbrauen an. „Du warst doch nicht etwa selbst in ihn...“ „Hä?“ Er runzelte verwirrt die Stirn. „Nein, nein, in den doch nicht! Kari, nur weil ich Männer mag, heißt das nicht, dass ich jedem hinterherhechel.“ „Für dich gibt es also nur Ken?“, schlussfolgerte Kari. „Nur Ken“, antwortete Davis entschieden und sein Gesicht bekam wieder einen etwas trüben Ausdruck. „Glaubst du, sie werden auch nach der Schulzeit noch zusammen sein?“ „Du meinst Ken und Nana?“ Er nickte. „Hm.“ Kari dachte nach. Nana war ziemlich schwer in Ken verliebt, dessen war sie sich sicher. Wenn es nur nach ihr ginge, dann würden sie und Ken sicher ein Paar bleiben. Wie es dagegen bei ihm aussah, konnte Kari schlecht einschätzen. Sie würde ihn bei der nächsten Gelegenheit einmal aushorchen. Allerdings wünschte sie Nana von ganzem Herzen, dass er sie genauso liebte wie sie ihn. „Ich weiß nicht. Ich glaube, das kann keiner jetzt schon sagen. Hoffst du, dass sie sich wieder trennen?“ Wieder zuckte Davis mit den Schultern. „Keine Ahnung. Natürlich will ich, dass Ken glücklich ist, aber... uh, böses Foul!“ Kari wandte den Blick zum Spielfeld und sah Nintaro verkrümmt auf dem Boden knien, während ein Spieler der anderen Mannschaft neben ihm stand und ihm die Hand hin hielt. Nach einigen Sekunden rappelte Nintaro sich auf und es gab Einwurf für seine Mannschaft. Das Spiel konnte weitergehen. „Jedenfalls“, fuhr Davis fort, „Ken soll glücklich sein, aber ich kann ihn trotzdem nicht mit Nana zusammen sehen.“ „Das kann ich verstehen“, antwortete Kari mitfühlend. T.K. warf einen Korb und Kari musste zugeben, dass er dabei ziemlich cool aussah. Das Spiel war spannender, als sie erwartet hatte und die Führung wechselte ständig. Wenn Kari einmal eine Regel nicht verstand, erklärte Davis sie ihr und sie war beeindruckt, wie viel er über Basketball wusste. Sie hatte ihn immer für einen reinen Fußballliebhaber gehalten. Was Kari jedoch ein wenig erschütterte, waren die vielen Fouls, die oft nicht einmal gepfiffen wurden. Sie konnte so oft beobachten, wie die Jungs sich gegenseitig an den Trikots zogen oder einander unsanft rammten, sodass der Gegner nicht selten stürzte und über den Boden rutschte. Einmal musste das Spiel für ein paar Minuten unterbrochen werden, weil ein Junge aus der gegnerischen Mannschaft eine blutige Nase hatte. Er hatte einen Ellbogen direkt ins Gesicht bekommen und das Blut musste sogar vom Boden gewischt werden. Unwillkürlich rieb Kari sich die Nase. Am Ende gewann T.K.s Mannschaft mit vier Punkten Vorsprung. Die Zuschauer auf den Tribünen brachen nach dem Abpfiff in Jubelstürme aus. Die Cheerleader stürmten aufs Spielfeld und führten einen Siegestanz vor, während die beiden Mannschaften miteinander abklatschten und sich gegenseitig gratulierten, bevor sie erschöpft in die Umkleidekabinen schlurften. Die Zuschauer verließen nach und nach die Tribüne und auch Kari und Davis ließen sich von dem Menschenstrom nach draußen treiben. Jedoch entdeckte Kari kurz vor dem Ausgang T.K., der nach ihr Ausschau zu halten schien, denn er lächelte, als er sie erblickte. Kari griff nach Davis' Hand und zog ihn aus dem Strom heraus zu T.K. „Hi“, begrüßte dieser sie und wischte sich mit dem Handrücken die verschwitzten Haare aus der Stirn. Er war noch ein wenig außer Atem. „Wartest du draußen, Kari? Ich spring' noch schnell unter die Dusche.“ „Schon gut, lass dir Zeit“, antwortete sie und ein kribbelndes Gefühl der Aufregung machte sich in ihrem Magen breit. Gleich würde ihr Date beginnen. „Ich stehe hier vor der Halle.“ Sie nickte mit dem Kopf in Richtung Ausgang. „Okay“, erwiderte T.K., lächelte noch einmal flüchtig und verschwand zu den Umkleidekabinen. Kari und Davis ordneten sich wieder in den Menschenstrom ein und ließen sich nach draußen treiben. „Und du hast jetzt noch ein Date, ja?“, wandte Davis sich an Kari, als sie draußen angekommen waren, und sah sie verschmitzt an. Sie hatten sich etwas abseits der vielen anderen Menschen hingestellt und Kari wartete nun auf T.K. „Ich weiß es ehrlich gesagt nicht so genau“, gestand Kari verlegen. Verdutzt sah Davis sie an. „Hä? Wie kannst du denn nicht wissen, ob du ein Date hast?“ „Naja, T.K. hat mich vorgestern nur gefragt, ob ich heute zum Spiel komme und wir danach noch essen gehen wollen.“ Verständnislos runzelte Davis die Stirn. „Also, ich meine, es könnte ja auch sein, dass noch ein paar seiner Kumpels mitkommen. Oder dass er das nur freundschaftlich gemeint hat. Oder...“ Nun unterbrach er sie mit einem genervten Stöhnen. „Siehst du? Deswegen finde ich Männer angenehmer. Ihr Frauen analysiert einfach viel zu viel. Klar hat er dich damit nach einem Date gefragt, du Dummkopf.“ Kari verschränkte die Hände hinter dem Rücken und blickte zu Boden. Ihr Herz schlug schneller und ihre Finger zitterten. Warum war sie denn jetzt so aufgeregt? Vor nicht einmal einer Woche hatte sie doch auch einen Abend mit T.K. verbracht und war dabei kein bisschen aufgeregt gewesen. Wieso also jetzt? Es war nur T.K. Nur T.K. „Bist du aufgeregt?“, fragte Davis, als hätte er ihre Gedanken gelesen. Sie warf ihm nur einen grimmigen Blick zu. „Ach, du schaffst das schon“, meinte er lässig und klopfte ihr leicht auf die Schulter. „Ganz schön viel Aufregung für dich in letzter Zeit.“ „Mhm“, machte Kari leise. „Dein Lover kommt jetzt übrigens“, verkündete Davis nach einem kurzen Moment des Schweigens. „Du bist doof, Davis“, zischte Kari und sah sich hektisch um, doch T.K. war noch zu weit weg, als dass er Davis gehört haben könnte. Dieser lachte nur. „Also, ich wünsche dir viel Spaß. Aber übertreibt es nicht, sonst kriegt dein Neffe bald schon einen Cousin“, sagte Davis fröhlich. „Davis!“, rief Kari und starrte ihn entsetzt an. Bis eben hatte sie sich fast noch gewünscht, er würde einfach bei ihr und T.K. bleiben, damit sie nicht so aufgeregt und mit ihm allein war, doch nun konnte sie es kaum erwarten, dass er endlich abhaute, bevor er in T.K.s Gegenwart noch eine dumme Bemerkung machen konnte. „Halt einfach die Klappe, okay?“ Er lachte nur erneut. „War doch bloß ein Witz. Also, mach's gut. Wir sehen uns spätestens Montag.“ Er verabschiedete sich noch von T.K., der gerade bei ihnen ankam und verschwand dann zu seinem Fahrrad. Kari seufzte resigniert und wandte sich an T.K. Er trug eine helle kurze Hose, ein blaues T-Shirt und Sneaker, sodass Kari sich in ihrem Kleid fast ein bisschen lächerlich vorkam. Seine Haare waren noch etwas feucht, sodass die Abendsonne sie seltsam zum Glänzen brachte. „Wollen wir los?“, fragte er. Kari nickte und gemeinsam entfernten sie sich von der Sporthalle ihrer Schule. „War das dein erstes Basketballspiel heute? Zumindest bei den letzten habe ich dich nie gesehen“, fragte T.K. nach einer Weile. „Um ehrlich zu sein ja“, gestand Kari etwas verlegen. „Bisher habe ich mich nicht so sehr für die Spiele interessiert, aber es war wirklich spannend.“ „Freut mich“, erwiderte T.K. Und dann redeten sie eine Weile über das Spiel, über vergangene Spiele und Basketball in Frankreich. Dort hatte T.K. in einem Sportverein außerhalb der Schule gespielt, wie Kari jetzt erfuhr. „Warum willst du das Basketballspielen eigentlich nicht zu deinem Beruf machen? Du bist doch so gut und es macht dir so viel Spaß“, fragte Kari und sah ihn interessiert an. Sie gingen im warmen Licht der untergehenden Sonne durch eine belebte Einkaufsstraße, doch Kari bekam kaum etwas um sich herum mit. „Ach, naja, so gut bin ich dann auch wieder nicht“, meinte T.K. abwinkend. „Außerdem glaube ich nicht, dass das ein Leben für mich wäre. Mir reicht es, dass ich das ab und an in der Freizeit mache.“ Nachdenklich wandte Kari den Blick wieder von ihm ab. Genauso hatte sie über das Tanzen eigentlich auch immer gedacht, doch mittlerweile sah sie das anders. Sie hatte sich so in ihren Traum, Tänzerin zu werden, vertieft, dass sie sich schon gar nichts anderes mehr vorstellen konnte. Und davon mal abgesehen fiel ihr nichts ein, worin sie so gut war, dass sie es zu ihrem Beruf machen konnte. Außer eben vielleicht dem Tanzen. Inzwischen tendierte sie auch stark dazu, sich einfach an Sportschulen in Japan zu bewerben, falls die Juilliard sie ablehnen sollte. „Hast du auf etwas Bestimmtes Hunger?“, riss T.K. sie aus ihren Gedanken. „Ähm... nö, eigentlich nicht“, antwortete sie. Ihr war es egal, wo sie etwas aßen, Hauptsache, sie aßen demnächst überhaupt. Kari hatte fast den ganzen Tag nichts gegessen. „Dann weiß ich, wo wir hingehen“, sagte T.K. entschlossen. Er bog in eine kleine Seitengasse ab und Kari folgte ihm verwirrt. Sie gingen durch die Straße, bogen noch einmal ab, gingen ein Stück und bogen wieder ab, bis sie schließlich in einer Straße standen, in der Kari noch nie war. Und das, obwohl sie schon seit so vielen Jahren hier in Odaiba wohnte. „Hier war ich ja noch nie“, sagte sie und sah sich um. Die Straße war eng und es waren nicht viele Leute hier unterwegs. Wahrscheinlich war Kari nicht die Einzige, die hier noch nie war. „Dann wird’s ja Zeit“, meinte T.K. und führte sie die Straße entlang, bis er an einer unscheinbaren Tür anhielt. Links und rechts neben der Tür waren leuchtende Papierlaternen aufgehängt und im Fenster rechts neben der Tür waren die Speisen ausgestellt, die man in dem Restaurant bestellen konnte. Kari begutachtete sie kritisch, doch alles sah wirklich appetitlich aus. Sie spürte, wie ihr Magen knurrte und ihr das Wasser im Mund zusammenlief. „Wollen wir reingehen?“, fragte T.K., der sie beobachtet hatte. Kari nickte und folgte ihm durch die Tür ins Innere. Dort war es klein, dunkel und gemütlich. Die Gäste, die hier drin zur gleichen Zeit bedient werden konnten, konnte man an zwei Händen abzählen. Die Wände waren mit liebevoll gezeichneten Fischmotiven dekoriert und auf jedem Tisch brannte ein Teelicht in einem Glas munter vor sich hin. Der Raum war erfüllt vom Gemurmel der Gäste. „Wie süß“, murmelte Kari und ließ den Blick durch den Raum wandern. „Ein Tisch für zwei?“ Sie wandte sich um und sah in das Gesicht einer jungen Kellnerin, die sie freundlich anlächelte. „Ja, bitte“, antwortete T.K. „Da habt ihr Glück.“ Sie führte ihn und Kari an einen kleinen Tisch in einer Ecke, der eigentlich für eine Person gerade mal groß genug war. „Der letzte freie Tisch.“ T.K. und Kari bedankten sich und nahmen Platz, während die Bedienung wieder verschwand. „Woher kennst du diesen Laden?“, fragte Kari neugierig, während sie der jungen Frau hinterhersah. „Das war immer das Lieblingsrestaurant meiner Mutter. Sie war früher manchmal mit mir hier. Ich wollte mal sehen, ob es das noch gibt“, antwortete er und griff nach einer der beiden Karten auf dem Tisch. Kari nahm sich die andere Karte und versuchte, sich auf die Speisen zu konzentrieren, doch ihre Gedanken beschäftigten sich mit T.K. Es war, als würde seine Gegenwart ihr Gehirn lähmen und sie vergaß sofort alles, was sie las. Sie blinzelte, kratzte sich am Kopf, fing wieder von vorne an, doch es wurde nicht besser. „Hast du Hunger auf Sushi? Dann könnten wir uns einfach die Platte für zwei bestellen“, schlug T.K. vor und sah sie über den Tisch hinweg an. Dankbar klappte Kari ihre Karte wieder zu und nickte. „Sushi ist perfekt.“ Die junge Kellnerin kam zurück, nahm ihre Bestellung auf und ging wieder. Kari stützte das Kinn auf einer Hand auf und blickte zu T.K. Ihr Herz machte einen Hüpfer und schon wieder fühlte sie sich wie eine Idiotin. Sie wusste nicht, was sie sagen oder tun sollte. Dabei war es doch nur T.K. „Die Sushiplatte ist ganz schön teuer“, sagte sie mit hoher Stimme und fragte sich, warum sie nur Mist redete. „Mach dir darum mal keinen Kopf“, erwiderte T.K. schulterzuckend. Verwirrt runzelte Kari die Stirn. Wollte er sie etwa auch noch einladen? „Also“, sagte T.K. auf einmal und sah sie auffordernd an, „wann kommt deine Zusage von der Juilliard noch mal?“ „Im Dezember. Falls überhaupt eine kommt“, antwortete Kari. „Bestimmt kommt eine. Und dann wirst du definitiv nach New York gehen?“ Kari zuckte mit den Schultern und nickte. „Ja, ich denke schon. Es ist eine große Ehre, von so einer Schule angenommen zu werden.“ „Ja“, stimmte er zu. „Und wann ziehst du dann um?“ „Ich weiß nicht genau. Irgendwann im Sommer wahrscheinlich“, sagte Kari nachdenklich. „Ich frage mich, ob es wohl so wird, wie in diesen amerikanischen Filmen. Mit den Wohnheimen, den Mitbewohnern und den Partys und so, meine ich.“ T.K. lachte leise. „Langweilen wirst du dich bestimmt nicht. Und an neuen Leuten wird es auch nicht mangeln.“ „Hoffentlich“, murmelte Kari. „Und du fängst ein Literaturstudium an?“ Er hob fragend die Augenbrauen. „Mal sehen.“ „Vielleicht wirst du ja so berühmt, dass ich ab und zu mal was von dir lese da drüben. In den Zeitungen oder so.“ Sie lächelte. „Wer weiß, ob das überhaupt bis zu dir durchsickert. Immerhin werde ich sicher nicht darüber schreiben, mit wem Paris Hilton letzte Nacht im Bett war.“ Kari musterte ihn interessiert. „Sondern?“ „Hm, ich weiß nicht so genau.“ Er dachte einen Augenblick nach. „Ich würde gern durch die Welt reisen und über das Leben interessanter Menschen berichten.“ „Also doch Paris Hilton und ihre letzte Bettgeschichte“, stichelte Kari. Er schnaubte verächtlich. „Nein, ich denke da eher an das Leben einer chinesischen Frau in einer Textilfabrik. Oder an das eines Aborigine in Australien. Oder eines afroamerikanischen Einwanderers in Amerika. Eines Millionärs in Russland.“ Er bemerkte Karis verwirrten Blick. „Ich meine, was wissen wir schon über all diese Menschen? Jeder lebt ein anderes Leben, schlägt sich täglich mit anderen Problemen herum und jeder hat doch irgendwie eine interessante Geschichte zu erzählen, die wir uns nicht mal ansatzweise vorstellen können. Aber alle interessieren sich immer nur für Paris Hilton und ihre Eskapaden. Dabei gibt es so viele interessante Dinge da draußen.“ Verblüfft sah Kari ihn an. Obwohl sie wusste, dass T.K. schon immer ein Denker gewesen war, hatte sie keine Ahnung gehabt, wie viel in seinem Kopf vorging und über was er sich Gedanken machte. Er wollte also die Welt bereisen, Menschen kennen lernen und ihre Lebensgeschichten veröffentlichen, um die Augen der Leute für andere, unbekannte Dinge zu öffnen. Und was wollte sie? Tänzerin werden, um ihr angeknackstes Ego zu reparieren. „Das ist echt cool“, murmelte sie beeindruckt. „Ach was“, antwortete er lässig. „Vielleicht schreibe ich auch nur ein paar Groschenromane und lerne dann einen ordentlichen Beruf.“ Er lächelte schief. „Ich glaube nicht, dass du Groschenromane schreiben wirst“, erwiderte Kari überzeugt. „Bestimmt wirst du mal ein bekannter Journalist, dessen Publikationen jeder kennt und liest. Oder du schreibst eine Geschichte, die so erfolgreich ist wie Harry Potter oder Twilight.“ Er zog die Augenbrauen nach oben und hob abwehrend die Hände. „Also ich werde weder etwas über Zauberschüler noch über Glitzervampire schreiben.“ Kari lachte. „Und worüber würdest du schreiben?“ „Hm... Ich denke, ich würde Kriminalromane schreiben“, antwortete er, die Stirn nachdenklich in Falten gelegt. „So ähnlich wie Sherlock Holmes?“, hakte Kari nach. „So in etwa“, erwiderte er schief lächelnd. Kari musterte ihn und stellte sich vor, wie er in einem dunklen Kämmerchen saß, nur von einer flackernden Schreibtischlampe beleuchtet, mit einem irren Gesichtsausdruck und sich verzwickte Mordfälle ausdachte. Sie musste kichern. „Was ist so witzig?“, fragte er skeptisch. „Ach, gar nichts“, erwiderte sie abwinkend. Er musterte sie argwöhnisch. „Manchmal würde ich gern deine Gedanken lesen können, Kari Yagami.“ „Nein, würdest du nicht“, antwortete Kari energisch und schüttelte den Kopf. „Aber mir geht es mit dir genauso.“ „Wieso? Ich bin praktisch ein offenes Buch“, sagte T.K. und breitete mit einem unschuldigen Gesichtsausdruck die Arme aus. „Eigentlich bist du ganz schön geheimnisvoll“, entgegnete Kari. „Wieso?“ Die Kellnerin kam und stellte eine Platte voller Sushi, zwei leere Teller und kleine Schüsseln mit Sojasoße, eingelegtem Ingwer und Wasabi zwischen sie auf den Tisch. Sie wünschte einen guten Appetit und verschwand wieder. „Weil ich glaube, dass es da einiges gibt, was ich nicht über dich weiß“, beantwortete Kari seine noch offene Frage und griff nach den Essstäbchen zu ihrer Rechten. Er tat es ihr gleich und sah sie auffordernd an. „Du kannst mich alles fragen, was du willst.“ Kari nahm sich ein Stück Maki mit Lachs, tunkte es vorsichtig in Sojasoße und erwiderte seinen Blick. „Wirklich alles?“ „Wirklich alles“, wiederholte er, ohne den Blick abzuwenden. „Aber dafür darf ich dich auch alles fragen.“ Kari überlegte kurz, doch schließlich willigte sie ein. „Na gut. Klingt fair.“ Sie steckte sich die kleine Rolle in den Mund, kaute darauf herum und überlegte, was sie ihn gern fragen würde. Dann fiel ihr etwas ein. „Hast du gerade mit irgendeinem deiner Freunde aus Frankreich Kontakt?“ „Ja, mit ein paar Leuten über Facebook“, antwortete er. „Echt praktisch, diese sozialen Netzwerke.“ „Ja, allerdings“, stimmte Kari ihm zu und dachte automatisch an Isabelle, wer immer sie auch war. „Okay, jetzt ich“, bestimmte T.K. „Was genau wolltest du eigentlich machen, bevor du dich entschlossen hast, Tänzerin zu werden und warum?“ Verwundert sah Kari ihn an und überlegte dann. „Das klingt vielleicht ein bisschen blöd. Aber eigentlich wollte ich Grundschullehrerin werden. Und zwar, weil...“ Sie dachte eine Weile nach, kaute auf ihrer Lippe herum und starrte auf das Sushi vor sich auf dem Tisch. „Weil?“, hakte T.K. nach, als sie nicht weitersprach. „Ich wollte irgendwie am Leben anderer Menschen beteiligt sein. Irgendwas Wichtiges machen. Naja und Lesen, Schreiben und Rechnen lernen finde ich ziemlich wichtig. Und ich wollte, dass die Kinder Spaß an der Schule haben und gern lernen. Und vor allem schwächeren Kindern wollte ich mit tollen Methoden helfen, damit auch sie hinterherkommen mit dem Schulstoff.“ Sie lächelte leicht und sah ihn wieder an. Er schluckte sein Nigiri herunter. „Das klingt doch überhaupt nicht blöd. Im Gegenteil. Das klingt irgendwie nach der Kari von früher.“ Kari verdrehte die Augen. Die Kari von früher. Unschuldig, lieb, naiv, langweilig. „Findest du, ich habe mich sehr verändert?“, fragte sie. Diese Frage schien ihn zu überraschen, denn er sah sie einen Moment lang an. „Hm, ja schon. Aber ich denke, das ist ganz normal.“ Sie erinnerte sich, wie er ihr, kurz nachdem er wieder nach Japan gekommen war, gesagt hatte, dass sie sich verändert hatte. Zu diesem Zeitpunkt hatte es so geklungen, als hätte er es nicht unbedingt als normal empfunden. „Sag mal, hattest du eigentlich gar keinen Freund in den letzten fünf Jahren?“, fragte er plötzlich beiläufig. Verblüfft sah Kari ihn an. „Ähm... nein?“ Er setzte eine ungläubige Miene auf und widmete sich wieder seinem Essen. „Warum fragst du?“, fragte Kari misstrauisch. „Keine Ahnung, hätte ich eben nicht gedacht“, antwortete er schulterzuckend. „Außerdem dachte ich, ich kann dich alles fragen.“ Er lächelte unschuldig. „Na schön. Und wie sieht's bei dir aus? Kannst du deine Freundinnen noch an zwei Händen abzählen?“ Er lachte und schüttelte den Kopf. „Die Zahl meiner Ex-Freundinnen liegt im dreistelligen Bereich.“ „Das habe ich mir gedacht“, erwiderte Kari etwas schnippisch. „War nur ein Scherz. Es waren zwei. Eine mit fünfzehn und eine mit sechzehn. Aber mit der Ersten war ich nur ein paar Wochen zusammen, die kann man kaum mitzählen.“ Kari sah sich kurz um, bevor sie ihre nächste Frage in gedämpftem Ton stellte. „Und was ich noch wissen wollte: Angenommen, ich würde dich mal in Frankreich besuchen und würde gern mal Gras probieren wollen. Würdest du mir welches besorgen?“ Zuerst sah er sie verwundert an, dann lachte er leise und beugte sich ein wenig vor. „Für wen hältst du mich eigentlich?“ „Hätte ja sein können“, verteidigte Kari sich schulterzuckend. „Ich würde mit dir einen Abstecher in die Niederlande machen und da könntest du dich austoben“, sagte er grinsend. „Ah“, machte Kari und lächelte. „So ist das also.“ „Ja. Ich habe einen Kumpel, der das Zeug von da geholt hat.“ Kari schnalzte mit der Zunge und schüttelte den Kopf. Sie war definitiv nicht die Einzige an diesem Tisch, die sich verändert hatte. „Dann fliege ich das nächste Mal mit dir nach Paris und dann machen wir das“, beschloss sie. Er zuckte mit den Schultern. „Wegen mir.“ Dann runzelte er die Stirn und sah sie schief an. „Ich habe irgendwie das Gefühl, ich hätte einen schlechten Einfluss auf dich.“ „Hast du ja auch“, antwortete Kari kichernd. Sie aßen das Sushi auf und verlangten die Rechnung. „Hast du eigentlich noch mehr verbotene Dinge in Frankreich getrieben?“, fragte Kari und sah ihn neugierig an. „Hm, schon möglich“, antwortete er geheimnisvoll. „Jetzt weiß ich auch, warum du Kriminalromane schreiben möchtest“, sagte Kari. „So ergibt alles einen Sinn“, erwiderte T.K. „Nein, sonst hab' ich nichts Verbotenes gemacht.“ „Und das soll ich dir jetzt glauben.“ Kari hob eine Augenbraue und musterte ihn skeptisch. Er wollte gerade etwas erwidern, doch in diesem Moment kam die Kellnerin mit der Rechnung. Kari griff schon nach ihrem Portemonnaie, doch er bezahlte einfach alles, bevor sie es überhaupt in ihrer Handtasche gefunden hatte. Sie warf ihm einen etwas vorwurfsvollen Blick zu, den er jedoch nicht mitbekam, da er gerade Smalltalk mit der Kellnerin betrieb. Kari beobachtete die Grübchen in seinen Wangen, die zum Vorschein kamen, als er lächelte. Seine kobaltblauen Augen waren auf die Kellnerin gerichtet und schienen ihre eigene Sprache zu sprechen. Die Bedienung verabschiedete sich von ihnen und wünschte ihnen noch einen schönen Abend. Bevor sie ging, zwinkerte sie Kari noch zu, die sich über dieses Zeichen ein wenig wunderte. T.K. und Kari standen auf und verließen das kleine Restaurant. „Okay, hier kommt meine nächste Frage: Warum hast du für mich bezahlt? Ich mag sowas nicht“, sagte Kari und zupfte ihr Kleid zurecht. „Ich dachte, das gehört sich so als Kerl“, antwortete T.K. schulterzuckend. „Ach, so ein Quatsch“, murmelte Kari und kickte im Gehen einen kleinen Stein weg. Er lachte leise. „Ich wollte dich nicht beleidigen oder so.“ „Hast du doch gar nicht. Mir ist sowas nur unangenehm“, erwiderte sie. „Aber danke.“ Er lächelte. Diese Grübchen machten sie wahnsinnig. „Gern.“ „Das Restaurant war toll. Ich werde es mir merken, obwohl ich nicht glaube, dass ich es wiederfinden werde“, sagte Kari und drehte sich noch einmal um, um den Weg zu sehen, den sie gegangen waren. „Heißt das, wenn ich dich jetzt hier allein lassen würde, würdest du nicht mehr nach Hause finden?“, fragte T.K. grinsend. „Komm bloß nicht auf dumme Gedanken“, antwortete Kari lachend. „Irgendwie würde ich schon nach Hause kommen. Ich bin ja kein kleines Kind mehr.“ Sie schlenderten durch die Straßen und bogen in den Park ab, obwohl es ein Umweg war, ihn zu durchqueren und am späten Abend wahrscheinlich auch nicht die beste Idee. Doch sie waren irgendwie ganz automatisch da lang gegangen. Kari sah in den Himmel und blieb stehen. Die Nacht war besonders klar und so konnte man einen Himmel voller Sterne bewundern. „Sieh mal, die Sterne.“ T.K. blieb ein wenig vor ihr stehen und hob ebenfalls den Kopf. „Ja, man kann sogar die Milchstraße erkennen.“ Er sah sich um und deutete nach links. „Wollen wir auf die Wiese gehen? Da sind keine Laternen und Bäume, da sehen wir die Sterne noch besser.“ Statt einer Antwort marschierte Kari schon quer über die Wiese, bis sie sich möglichst weit weg vom Weg und den Laternen befand. T.K. war ihr gefolgt und sie ließen sich nebeneinander ins Gras fallen. „Erkennst du ein paar Sternbilder?“, fragte sie interessiert. „Da ist der Große Wagen“, sagte er und deutete in eine Richtung. „Ja, den kenne ich auch“, erwiderte Kari. „Und da ist der Kleine Wagen“, fuhr T.K. fort und hob den Arm noch ein wenig. Kari kniff die Augen zusammen und suchte konzentriert nach dem Kleinen Wagen im Himmel über ihnen. „Ah, da. Jetzt sehe ich ihn. Und ist da nicht auch irgendwo der Polarstern?“ „Ja, der letzte Stern der Deichsel ist der Polarstern“, erklärte er. Kari nickte beeindruckt und betrachtete den Polarstern. „Der ist eigentlich gar nicht so hell.“ „Stimmt.“ T.K. sah sich am Himmel um und streckte dann die Hand aus. „Siehst du den hellen Stern da oben?“ Kari folgte der Richtung, in die er zeigte und entdeckte einen besonders hellen Stern. „Ja.“ „Das ist Wega. Der hellste Stern hier. Und das Sternbild, zu dem er gehört, nennt man Leier“, erklärte er und ließ die Hand wieder sinken. „Cool“, erwiderte Kari und betrachtete Wega mit großen Augen. „Hier meine nächste Frage: Woher weißt du das alles?“ „Hat mein Großvater mir mal beigebracht“, antwortete T.K. „Ich wünschte, ich könnte mir mal alles merken, was er erzählt.“ Kari lächelte und streckte die Beine aus. „Das Gefühl kenne ich. Ich wünschte, meine Mutter hätte sich gemerkt, was meine Großmutter ihr übers Kochen beigebracht hat.“ T.K. lachte und wandte den Blick vom Himmel ab. „Vielleicht musst du es ihr noch mal erklären.“ „Ach, ich kann das auch nicht so gut“, erwiderte Kari abwinkend. Sie gähnte, ließ sich nach hinten fallen und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. So konnte sie den Sternenhimmel noch besser bewundern. Sie fragte sich, wie alt all die Sterne wohl waren, die sie dort oben sah und was es da draußen noch alles gab. Sie konnte sich gar nicht vorstellen, dass alles, was sie jetzt am Himmel sehen konnte, nur ein winzig kleiner Teil des Universums war. Und ihre Erde, die ihr so groß erschien, war nur ein kaum sichtbarer Punkt unter Milliarden in ihrer Galaxie. Kari wurde fast schon schwindelig, wenn sie versuchte, sich das vorzustellen. „Sag mal“, riss T.K. sie aus ihren Gedanken, der noch immer neben ihr saß und auf sie herabblickte, „habe ich dir heute eigentlich schon gesagt, wie gut du aussiehst?“ Er ließ den Blick über ihren Körper wandern und sah ihr wieder in die Augen. Vergessen war die Milchstraße und auch jede andere Galaxie. Auf einmal waren Karis Gedanken wieder komplett auf der Erde, hier in diesem Park in Tokio bei T.K. auf der Wiese. „Nein“, antwortete sie kaum hörbar. Er lächelte leicht, drehte sich auf den Bauch, wodurch er ganz nah an sie heran rutschte und legte sich neben sie. Er stützte den Oberkörper auf den Unterarmen ab und sah ihr in die Augen, sein Gesicht nun viel näher an ihrem als vorher. Karis Herz schlug ihr bis zum Hals und sie war froh, dass sie schon lag, sonst wäre sie jetzt wohl umgekippt. Ihre Knie zitterten und ein nervöses Flattern machte sich in ihrem Bauch breit. Zitternd nahm sie die Arme hinter dem Kopf hervor und fuhr sich mit einer Hand in die Haare. T.K. runzelte die Stirn. „Geht's dir gut? Du guckst, als hättest du ein Gespenst gesehen.“ Kari kicherte nervös und kam sich albern vor. Sie nahm die Hand aus den Haaren und zeigte sie T.K. Fragend musterte er ihre Hand und sah ihr dann wieder in die Augen. Er hob eine Augenbraue und ein schiefes Lächeln umspielte seine Lippen. „Ich bin nicht so gut in Zeichensprache“, räumte er ein. „Mann, meine Hand zittert, weil ich so aufgeregt bin, du Idiot“, antwortete Kari leise lachend. Wie um sich eine Bestätigung zu holen, nahm er ihre Hand in seine und drückte sie sanft, bevor er sie wieder losließ. „Stimmt. Und warum bist du so aufgeregt?“ Kari stöhnte auf und legte beschämt den Unterarm über die Augen. „Frag doch nicht so blöd.“ Als sie den Unterarm wieder wegnahm, sah sie, dass er grinste. „Ich hab' noch eine letzte Frage“, verkündete er. „Na dann schieß los“, forderte Kari ihn auf. Er zögerte kurz. „Wie fandest du es eigentlich letzten Samstag? Den Kuss, meine ich.“ Kari presste die Lippen zusammen und schluckte. Sie schloss für einen Moment die Augen, um seinem durchdringenden Blick auszuweichen. Als sie sie wieder öffnete, sah er sie noch immer etwas unsicher an. „Meinst du den am Nachmittag oder den... in der Nacht?“, fragte sie und bemühte sich, möglichst locker zu klingen. Er schien verwirrt. „Beide.“ „Naja, der am Nachmittag war schön“, antwortete Kari langsam. „Und der in der Nacht war... war...“ Er hob fragend die Augenbrauen. Fieberhaft suchte Kari nach einem passenden Adjektiv, doch ihr fiel keins ein. Vielleicht gab es für das, was sie an jenem Abend gefühlt hatte, auch noch gar keins. Ihr Mund war noch geöffnet, doch sie brachte keinen Ton heraus, sodass sie nur langsam den Kopf schüttelte, woraufhin T.K. die Stirn runzelte. Er setzte dazu an, etwas zu sagen, doch in diesem Moment ergriff Kari die Initiative. Sie vergrub die Hände in seinem vom Licht der Sterne silbrig glänzenden Haar, zog ihn zu sich herunter und küsste ihn. Er ging sofort darauf ein, intensivierte den Kuss und löste das gleiche Gefühl in ihr aus wie letzten Samstag. Nein, es war nicht das gleiche. Es war sogar noch stärker, wenn das überhaupt möglich war. Vielleicht lag es daran, dass er halb auf ihr lag, die Hände links und rechts neben ihrem Kopf im Gras abgestützt, sodass sie sich fast schon umzingelt fühlte. Ihr Herz fühlte sich an, als wollte es aus ihrer Brust springen. Sie ließ sich komplett fallen und vergaß völlig, wo sie war. „Nicht von dieser Welt“, brachte sie atemlos hervor, als T.K. den Kuss löste. „Was?“, fragte er irritiert. „Der Kuss. Nicht von dieser Welt“, hauchte Kari. Ja, das war die passendste Beschreibung für all ihre Empfindungen. Er lächelte sanft und senkte seine Lippen erneut auf ihre. Genüsslich schloss sie die Augen und konzentrierte sich ganz auf ihn, seinen Geschmack, seinen Geruch, sein Gewicht auf sich. Ihre Hände ruhten an seinem Hals und seine Haare kitzelten ihre Stirn. Sie spürte wie er mit einer Hand langsam ihre Seite entlangfuhr, sie auf ihrer Hüfte ruhen ließ und langsam wieder empor strich. Dann ließ er sie wieder nach unten zu ihrem Oberschenkel wandern, fuhr mit den Fingern langsam unter ihr Kleid und schob es ein wenig nach oben, wo seine Hand dann liegen blieb. Diese Berührungen jagten Kari wohlige Schauer durch den ganzen Körper und hinterließen ein Prickeln auf ihrer Haut. Sie strich ihm mit ihren Händen über den Rücken bis zum Saum seines T-Shirts. Sie zog es ein klein wenig nach oben und fuhr mit den Fingern über die bloße Haut seines Lendenbereichs, spürte die leichten Muskelerhöhungen links und rechts an der Wirbelsäule und merkte, dass ihre Finger immer zittriger wurden. Dann ließ sie die Hände nach unten wandern, bis sie den Bund seiner Boxershorts fühlte. Vorsichtig schob sie die Fingerspitzen darunter, ließ die Hand dann jedoch dort ruhen. Auch T.K. schien nun mutiger geworden zu sein, strich mit der Hand wieder ihre Seite hinauf und fuhr leicht über ihre Brust, bevor die Hand wieder nach unten wanderte. Kari winkelte das Bein an, sodass er mit der Hand unter das Kleid gleiten und es nach oben schieben konnte. Dabei fuhr er seitlich über ihren Po, berührte ihren Slip und folgte ihm mit den Fingern über den Hüftknochen zu ihrem Bauch. Kari schob unterdessen T.K.s T-Shirt so weit nach oben, dass sein halber Rücken freilag. Sanft ließ sie ihre Fingernägel über die glatte Haut streichen und spürte, wie sich die feinen Härchen auf seinem Rücken aufstellten. Während dieser Berührungen unterbrachen sie ihre Küsse nicht ein einziges Mal. Sie wollte mehr. Sie wollte ihm dieses T-Shirt ausziehen und den Rest am besten gleich dazu. Ihre Hände fuhren unter dem Stoff des T-Shirts nach oben zu seinen Schultern und sie zog ihn näher an sich. Eine unbekannte Erregung hatte sie gepackt und schien ihr den Kopf zu vernebeln. Ihm schien es nicht anders zu gehen, denn seine Hand lag gerade auf ihrer Brust und zupfte am Ausschnitt ihres Kleides herum, bevor sie wieder nach unten fuhr, ihr das Kleid bis zur Taille nach oben schob und Anstalten machte, ihr den Slip auszuziehen. In diesem Moment ertönte ein lauter Ruf und Gelächter und Kari und T.K. fuhren wie vom Blitz getroffen auseinander. Ruckartig drehte T.K. den Kopf in die Richtung, aus der die Geräusche kamen. Keuchend stützte Kari sich auf die Unterarme und blickte ebenfalls in die Richtung. Dort auf dem Weg torkelten gerade ein paar anscheinend besoffene Leute vorbei, die jedoch keinerlei Notiz von dem Paar auf der Wiese nahmen. Sie kamen nur langsam voran, doch irgendwann wurden ihre Stimmen leiser und sie waren nicht mehr in Sichtweite. T.K. und Kari sahen sich an und mussten dann beide lachen. Kari war völlig außer Atem und keuchte noch ein wenig, während sie sich aufsetzte und ihr Kleid wieder nach unten zog. Auch T.K. hatte sich hingesetzt, sein T-Shirt wieder in die richtige Position gebracht und fuhr sich durch die unordentlichen Haare. Waren sie tatsächlich gerade im Begriff gewesen, miteinander zu schlafen? Mitten in einem öffentlichen, für jeden zugänglichen Park? Kari hatte einfach alles um sich herum ausgeblendet und sich nur noch auf T.K. konzentriert. „Puh“, machte dieser. Seine Atmung hatte sich wieder beruhigt. Etwas schüchtern lächelnd sah er sie an. Verlegen wich sie seinem Blick aus und zog sich die Spange aus dem Haar, die verrutscht war. Wahrscheinlich sah sie aus wie eine Vogelscheuche. T.K. streckte die Hand aus und zupfte ihr ein paar Grashalme aus den Haaren. „Vielleicht suchen wir uns das nächste Mal besser einen anderen Ort dafür“, meinte er und stand auf. Kari nickte langsam, fuhr sich durch die Haare, strich sich störende Strähnen hinter die Ohren und ließ sich von T.K. hoch helfen. Langsam machten sie sich auf den Weg nach Hause. Dabei redeten sie kein Wort. Zu sehr hing Kari ihren Gedanken nach und war ein wenig erschrocken über sich selbst und was sie fast getan hätte. Doch obwohl sie wusste, dass es unverantwortlich war, in einem öffentlichen Park, wo man leicht entdeckt werden konnte, seine Unschuld an jemanden zu verlieren, mit dem man noch nicht einmal fest zusammen war, wünschte sich ein kleiner Teil tief in ihr, dass diese Besoffenen nicht grölend vorbeigezogen wären. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund hatte sie sich bereit gefühlt. T.K. brachte sie bis zu ihrem Wohnhaus und für einen Augenblick hatte Kari die Hoffnung, er würde vielleicht noch mit nach oben kommen wollen. Doch andererseits waren ihre Eltern vielleicht noch wach und dann war es ihr peinlich, dort spät abends mit T.K. aufzukreuzen und sich in ihrem Zimmer zu verziehen. Sie blieben stehen und sie lächelte ihn an. „Das war ein sehr schöner Abend“, raunte sie und spielte verlegen mit ihren Fingern. „Können wir jederzeit wiederholen“, antwortete er lässig. „Gern.“ Sie senkte den Blick, um ihr blödes Grinsen zu verbergen und strich sich erneut ein paar Haarsträhnen hinter das Ohr. „Mach's gut und...“ „... melde dich, wenn du zu Hause bist“, beendete er ihren angefangenen Satz amüsiert lächelnd. „Wird gemacht.“ Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und dann küssten sie sich noch einmal, bevor Kari mit einem Strahlen im Gesicht ins Haus ging. Kapitel 40: Eine Überraschung für Mimi -------------------------------------- Am Samstag wurde Kari von ihren Eltern ständig schräg angesehen, weil sie so unnatürlich gute Laune hatte. Sie bekam das breite Lächeln einfach nicht aus ihrem Gesicht und vor allem konnte sie nicht aufhören, an T.K. zu denken. Sie schrieben sich außerdem ständig SMS ohne bedeutungsvollen Inhalt. Und trotzdem hüpfte Karis Herz jedes Mal vor Freude, wenn ihr Handy mit einem Vibrieren eine neue Nachricht von ihm ankündigte. Am späten Nachmittag fing sie an, sich für den Abend mit den Mädchen fertig zu machen. Sie zog sich Jeansshorts und ein weites Oberteil mit halblangen Ärmeln an. Die Haare ließ sie wie immer offen und trug außerdem ein wenig Make-up auf. Dann machte sie sich mit Bus und Bahn auf den Weg zur Wohnung von Tai und Mimi. Etwas über eine Stunde würde sie dorthin brauchen. Sie hatte sich mit den anderen beiden Mädchen zu um sechs vor der Wohnung verabredet. Die Zeit, die sie in der Bahn verbrachte, nutzte sie natürlich, um mit T.K. Kurznachrichten auszutauschen. Sag mal, gehst du heute eigentlich auf Matts Konzert? Er hat gesagt, er hätte dich und deine Mutter eingeladen. Während sie auf eine Antwort wartete, beobachtete sie gut gelaunt die Menschen in der Bahn. Alle waren ruhig und schienen ihren eigenen Gedanken nachzuhängen und Kari fragte sich, ob einer von ihnen sich wohl auch so glücklich fühlte wie sie. Irgendwie machten alle recht ausdruckslose Gesichter oder wirkten sogar ein wenig genervt. Ihr Handy vibrierte und sie öffnete T.K.s SMS. Ja, wir werden hingehen. Warum fragst du? Und wieder wurde das Strahlen auf ihrem Gesicht breiter und sie fragte sich, ob sie eigentlich sehr idiotisch dabei aussah, wie sie hier in der Bahn stand und vor sich hin grinste ohne ersichtlichen Grund. Ich werde mit den Mädels auch da sein. Vielleicht sehen wir uns ja. :) Sie hielt ihr Handy fest in der Hand und presste es an ihren Körper. Vielleicht würde sie T.K. heute also sehen. Was war nur mit ihr los? Anscheinend hatte Davis doch Recht gehabt und sie war hoffnungslos in T.K. verknallt. Wobei sie sich vor gestern Abend nicht wie eine komplette Vollidiotin aufgeführt hatte. Heute fühlte sie sich fast schon, als wäre sie betrunken oder unter Drogen gesetzt worden. An der nächsten Station musste sie in eine andere Bahn umsteigen und blickte dann erst wieder auf ihr Handy. Das wäre schön. ;) Ja, das wäre es. Am liebsten würde sie den heutigen Abend wieder mit ihm verbringen, doch nein, heute stand Mimi im Mittelpunkt. Kari war schon ganz aufgeregt, weil sie in Kürze Sora und Yolei wiedersehen würde. Sie stieg aus der Bahn und fuhr das letzte Stück mit dem Bus, bevor sie schließlich noch fünf Minuten laufen musste. Doch sie konnte Yolei und Sora schon von weitem erkennen, wie sie dort vor dem Haus standen, in dem Tai und Mimi wohnten, und auf Kari warteten. Yolei stieß einen Schrei aus, als Kari bei ihnen ankam, und fiel ihr um den Hals. „Oh, Kari! Ich habe dich echt vermisst. Wie geht’s dir?“ Sie ließ sie wieder los und Kari hatte kurz Zeit, sie zu mustern. Sie hatte sich die langen, lilafarbenen Haare abgeschnitten und trug sie jetzt nicht einmal mehr schulterlang und mit einem geraden Pony. Doch ansonsten hatte sie sich nicht sehr verändert. „Sehr gut“, antwortete Kari wahrheitsgemäß und lächelte glücklich, bevor sie sich an Sora wandte und sich von dieser in die Arme schließen ließ. „Ich habe dich so lang nicht mehr gesehen“, sagte diese und musterte Kari. „Du siehst gut aus. Richtig erwachsen.“ „Danke, ebenfalls“, erwiderte Kari lachend. Wie sie schon bei Facebook festgestellt hatte, hatte Sora sich sehr verändert. Die Haare waren noch ungefähr so wie früher, doch ihren Klamottenstil hatte sie von sportlich zu modisch-elegant geändert und sah damit völlig verändert aus. Außerdem war sie wirklich gut geschminkt, sodass ihre Gesichtszüge zur Geltung kamen. Man sah ihr irgendwie an, dass sie in der Modebranche tätig war. „Lasst uns hoch gehen. Ich kann es nicht erwarten, Mimis Gesicht zu sehen“, rief Yolei euphorisch und stürmte schon voran zur Tür. Sora und Kari folgten ihr grinsend. Eilig stiegen sie die Treppen hinauf bis in den fünften Stock, wo sich die kleine Zweiraumwohnung von Tai und Mimi befand. „Okay“, sagte Yolei und starrte die Tür an. „Seid ihr bereit?“ „Ja“, antwortete Kari. „Nun klingel endlich“, forderte Sora sie ungeduldig auf. Yolei zögerte noch eine Sekunde, doch dann drückte sie schließlich auf den Klingelknopf. Erwartungsvoll standen die drei Mädchen vor der Tür und warteten, dass sie sich öffnete. Nach einigen Augenblicken waren endlich Schritte zu hören, die Tür ging auf und Mimi erschien mit fragendem Gesichtsausdruck im Türrahmen. „Überraschung!“, rief Yolei und breitete die Arme aus. Mimis Augen weiteten sich, sie schlug eine Hand vor den Mund und stieß einen gellenden Schrei aus, der im ganzen Hausflur widerhallte. „Oh mein Gott!“ Sie fiel Yolei in die Arme und wandte sich danach an Sora. „Sora! Ich fass' es nicht!“ Sie schlang die Arme um den Hals ihrer besten Schulfreundin und schien sie gar nicht mehr loslassen zu wollen. Als sie sich doch wieder von ihr löste, heulte sie bereits wie ein Schlosshund. Sora lachte und wischte sich ebenfalls Tränen aus den Augen, als Mimi nun auch Kari umarmte. In der Zwischenzeit war auch Tai an der Tür erschienen. „Ich bin taub“, kommentierte er und deutete auf sein Ohr. „Mein Gott, was macht ihr denn alle hier?“, fragte Mimi mit tränennassen Augen und einem glücklichen Strahlen im Gesicht. „Dürfen wir vielleicht erst mal reinkommen?“, fragte Yolei lachend und stemmte die Hände in die Hüften. „Oh, na klar“, antwortete Mimi und sie und Tai traten einen Schritt zur Seite. Yolei ging bestimmt an ihr vorbei, während Sora die Arme um Tai schlang. „Tai“, murmelte sie und drückte ihn fest an sich. „Ich hab' dich schon ewig nicht mehr gesehen.“ „Gleichfalls“, erwiderte Tai und ließ sie wieder los. Dann wandte er sich grinsend an Kari. „Hat ja alles prima geklappt.“ „Ja, die Überraschung ist geglückt“, antwortete Kari fröhlich und ging mit ihm zusammen den drei Mädchen hinterher, die ins Wohnzimmer stürmten und auf dem Sofa Platz nahmen. „Ich hole mal etwas zu trinken“, verkündete Tai und verschwand in die Küche. „Also?“, fragte Mimi. Ihre Stimme klang noch immer belegt von dem Weinen gerade eben. „Wir sind hier, weil wir dich überraschen und mit dir zusammen deinen Junggesellinnenabschied feiern wollten“, erklärte Sora. Mimi machte große Augen. „Ach wirklich? Oh, ihr seid ja süß.“ Und schon rannen ihr die Tränen wieder über die Wangen. Mit zittrigen Händen griff sie nach einer Packung Taschentücher auf dem Tisch. „Entschuldigt, dass ich schon wieder heule. Ich war schon ganz neidisch auf Tai. Der hat gestern mit Matt gefeiert. Und jetzt kommt ihr hier einfach vorbei und wollt auch mit mir feiern.“ Sie schluchzte und tupfte sich mit einem Papiertaschentuch die Augen ab. In diesem Moment kam Tai mit einem Tablett und vier Gläsern voll Wasser vorbei, die er auf dem Couchtisch abstellte. „Na klar feiern wir mit dir“, rief Yolei. „Und wir haben etwas ganz Besonderes geplant. Zuerst gehen wir gemütlich essen, danach...“ Sie wandte sich erwartungsvoll Kari, die in ihrer Tasche kramte. „... gehen wir auf ein Konzert der Teenage Wolves“, führte sie Yoleis Satz fort und hielt die Tickets hoch, die sie heute Vormittag von Matt bekommen hatte. „Und anschließend gehen wir noch was trinken“, beendete Sora die Erläuterung der Abendplanung. Mimi sah sie alle an, öffnete den Mund, schloss ihn wieder und machte ein Gesicht, als wäre heute der schönste Tag ihres Lebens. „Ihr seid so toll. Das klingt wirklich super.“ „Ja, aber wir müssen jetzt los. Der Tisch ist zu um sieben bestellt“, verkündete Yolei und sprang auf. „Oh!“, machte Mimi erschrocken. „Helft ihr mir schnell, was Passendes zum Anziehen zu finden?“ „Na klar“, antwortete Yolei überschwänglich und schon sprangen sie auf und stürmten ins Schlafzimmer. Kari ging ihnen hinterher und warf Tai einen entschuldigenden Blick zu. „Tja, du bist abgeschrieben“, sagte sie und zuckte mit den Schultern. „Ich merk' das schon. Aber das ist okay“, antwortete er und seufzte theatralisch. „Hauptsache, eure Überraschung ist geglückt.“ Kari lächelte und folgte dann Yolei und Sora ins Schlafzimmer. Mimi zog sich gerade aus und stand wenig später nur noch in Unterwäsche vor dem riesigen Kleiderschrank, der gut die Hälfte des Raumes für sich beanspruchte. Sora, Yolei und Kari hatten sich auf dem Bett niedergelassen. Kari begutachtete ihren Bauch, der nun sehr deutlich hervortrat und eindeutig als Babybauch identifiziert werden konnte. Jedes Mal, wenn sie Mimi sah, war er wieder ein Stück gewachsen und sie fragte sich, wie er wohl im November, wenige Wochen vor der Entbindung aussehen würde. Auch Yoleis Blick war auf Mimis Bauch geheftet, allerdings voller Überraschung. „Hm, auf was habe ich denn heute Lust?“, murmelte Mimi und zog ein paar Sachen aus ihrem Schrank hervor. „Mimi, sag mal“, fing Yolei an und deutete auf ihren Bauch. „Ist es das, was ich denke?“ Verwundert sah Mimi sie an. „Oh, anscheinend habe ich vergessen, es dir zu sagen. Wir bekommen ein Baby.“ Yolei kreischte, sprang auf und umarmte Mimi noch einmal. „Das ist ja toll! Herzlichen Glückwunsch! Oh Mann, was für eine Nachricht.“ „Danke“, seufzte Mimi glücklich, als Yolei sie wieder freigab und sich zurück auf ihren Platz setzte. „In welchem Monat bist du denn?“, fragte Yolei. „Und weißt du schon, was es wird?“ „Ich bin jetzt im sechsten. Und ja, es wird ein Junge“, antwortete Mimi, holte etwas von ihrem Nachttisch und drückte es Yolei in die Hand. Neugierig steckten auch Sora und Kari die Köpfe zusammen und betrachteten es. Es war ein Ultraschallbild, auf welchem man tatsächlich ein kleines Baby erkennen konnte. Und dass es ein Junge war, war auch nicht zu übersehen. „Wie süß“, murmelte Sora ergriffen. „Ja“, stimmte Mimi ihr lächelnd zu und schlüpfte in eine Shorts. „Wann ist eigentlich der genaue Entbindungstermin?“, fragte Kari. „Am siebzehnten Dezember. Bin mal gespannt, ob er sich auch dran hält“, antwortete Mimi kichernd. „Hach, wie schön“, seufzte Yolei. „Mensch, Kari, dann bist du ja Tante.“ „Ja“, erwiderte Kari stolz und reckte das Kinn. Mimi kicherte und zog sich eine Bluse über. „Schaut mal, kann ich so gehen?“ Die Bluse war roséfarben, hatte kurze Ärmel und war um den Bauch herum weit, sodass nicht sofort auffiel, dass Mimi schwanger war. „Klar“, antworteten sie alle drei sofort im Chor. „Sieht toll aus“, sagte Sora. „Ach,und da fällt mir ein, dass ich die Brautjungfernkleider mitgebracht habe.“ „Oh, wirklich?“ Kari sah sie mit leuchtenden Augen an. Seit Wochen fragte sie sich schon, wie die wohl aussahen. „Das müssen wir später machen. Wir müssen jetzt los“, unterbrach Yolei sie und war schon auf dem Weg zurück ins Wohnzimmer. „Da hat sie leider Recht. Wir kommen ja heute Nacht noch mal hier vorbei, dann kannst du deins mitnehmen“, sagte Sora zwinkernd. Ein wenig enttäuscht folgte Kari den anderen aus dem Schlafzimmer. Sie gingen zur Wohnungstür, verabschiedeten sich von Tai und zogen sich die Schuhe an. Tai stand gegen die Wand gelehnt dort und beobachtete sie, bevor er auf Mimi zuging. „Viel Spaß, Süße. Und pass auf Christiano auf“, sagte er. „Hör endlich auf, ihn Christiano zu nennen!“, fauchte Mimi. Tai grinste, doch dann küsste er sie liebevoll und streichelte ihr sanft über den Bauch. „Macht euch einen schönen Abend.“ „Du dir auch“, erwiderte Sora lächelnd. „Ach, der nüchtert noch aus“, sagte Mimi abwinkend. Kari drehte sich zu Tai um und sah ihn vielsagend an, woraufhin er ihr einen warnenden Blick zuwarf und den Kopf schüttelte. Anscheinend war er am vorigen Abend tatsächlich mit Matt in einem Stripclub gewesen und Mimi wusste davon nichts. Sie musste ihn bei Gelegenheit unbedingt mal darüber ausfragen. Yolei hatte ein normales, japanisches Restaurant in der Nähe der Konzerthalle ausgesucht, in welchem das Essen jedoch wirklich gut und günstig war. Kari kam sich seltsam vor, weil es schon der zweite Abend in Folge war, an dem sie im Restaurant aß. Sie merkten gar nicht, wie die Zeit verging, während sie zusammensaßen und über alles Mögliche redeten. Jede Einzelne von ihnen hatte so viel zu erzählen, wobei Kari Soras Leben am interessantesten fand. Sie lebte zwar in Mailand, war jedoch im Rahmen ihres Studiums schon fast durch ganz Europa gereist und hatte sich verschiedene Modenschauen angesehen, Kontakte zu Designern geknüpft und vor kurzem sogar selbst eine Modestrecke entworfen. Alles klang, als wäre sie gerade dabei, in eine große Karriere zu starten. Als Einzige der vier, die noch zur Schule ging, wurde Kari natürlich auch nach ihren Zukunftsplänen gefragt. Yolei und Sora zeigten sich überrascht, dass sie Tänzerin werden wollte, doch Mimi ergriff sofort Partei für sie und verdeutlichte, dass sie fest daran glaubte, dass Kari es schaffte. Mimi hingegen berichtete, dass sie ihr Studium der Ernährungswissenschaften wegen des Kleinen für ein Semester unterbrechen würde, doch sie wollte es unbedingt beenden und auch in diesem Beruf arbeiten. Sie war sich sicher, das Richtige für sich gefunden zu haben. Yolei konnte über ihr Hauswirtschaftsstudium noch nicht allzu viel berichten, denn es hatte ja gerade erst begonnen. Doch bisher war sie zufrieden damit. Einen Freund hatte sie nicht. „Sag mal, Kari, Ken ist nicht zufällig noch Single?“, fragte sie zwinkernd. „Nein, nicht mehr“, antwortete Kari und Yolei und Sora sahen sie überrascht an. „Er ist mit Nana zusammen. Ein Mädchen aus meiner Klasse.“ „Oh, wie schade“, seufzte Yolei und stützte das Kinn auf der Hand ab. „Du warst zu langsam. Man darf eben nichts anbrennen lassen“, meinte Mimi schulterzuckend. „Ach Mimi, nicht jeder ist wie du und krallt sich das Objekt der Begierde innerhalb weniger Wochen“, entgegnete Sora lachend. Mimi lächelte nur verschmitzt und auch Kari konnte sich noch gut daran erinnern. Sie war gerade sechzehn Jahre alt geworden, als sie festgestellt hatte, dass sie sich in Karis Bruder verliebt hatte. Der hatte zu der Zeit nicht mehr als eine Freundin in ihr gesehen und wäre von selbst wohl nie auf die Idee gekommen, jemals mit Mimi eine Beziehung zu führen. Zunächst war er auch nicht an ihr interessiert gewesen, doch Mimi hatte einfach alles getan. Nach wenigen Wochen intensiver Annäherungsversuche hatte sie ihn schließlich so weit gehabt, dass er mit ihr ausgegangen war, nur, damit sie endlich Ruhe gab. Kari wusste bis heute nicht, wie genau sie es angestellt hatte, doch nach diesem ersten Date war Tai auf einmal bereit gewesen, sich auf sie einzulassen und noch einmal wenige Wochen später war er plötzlich ganz verrückt nach ihr gewesen. Sie hatte es irgendwie geschafft, ihn um den Finger zu wickeln. Bei Gelegenheit musste Kari sie unbedingt fragen, wie sie das gemacht hatte. Vielleicht würde sie diese Fähigkeit eines Tages auch benötigen. Vielleicht ja sogar bei T.K. Nach dem Essen machten sie sich auf den Weg in die Konzerthalle, in der die Teenage Wolves heute auftraten. Als sie an der Halle ankamen, machten sie große Augen. Vor dem Eingang hatte sich eine riesige Schlange von lärmenden Fans gebildet. „Hier stehen wir ja Stunden“, stellte Yolei entgeistert fest und musterte die Menschenmasse. „Matt hat gesagt, wir sollen einfach den Hintereingang benutzen, wenn es zu voll ist“, sagte Kari und holte die Tickets hervor. Auf ihnen stand jedoch kein Vermerk, der ihnen erlaubte, auf anderen Wegen in die Halle zu gelangen als normal. „Na, dann lasst uns mal den Hintereingang suchen“, schlug Mimi vor. Sie gingen um die Halle herum und fanden ein Hinweisschild, das ihnen verriet, dass sie sich auf dem Weg zu den Umkleidekabinen befanden. Kari war sich unsicher, doch Yolei und Mimi marschierten vorneweg und blieben an einer Tür stehen, vor der ein breitschultriger Mann in einem schwarzen Anzug stand, der sie skeptisch musterte. „Guten Abend. Wir dürfen den Hintereingang nehmen“, verkündete Yolei. „Geht euch anstellen“, murrte er und wandte sich ab. „Wir sind Freunde von Yamato. Dem Sänger“, beharrte Mimi und stemmte die Hände in die Hüften. „Ob du es glaubst oder nicht, das erzählt mir jeder Zweite“, grummelte der Mann. „Und jetzt geht euch anstellen.“ „Yamato hat mir gesagt, ich soll einfach sagen, dass Hikari Yagami da ist und dann lassen Sie uns rein“, meldete Kari sich nun kleinlaut zu Wort. Eigentlich wollte sie sich lieber wieder umdrehen und gehen anstatt sich mit diesem Mann anzulegen. „Schön für dich“, antwortete er. „Ihr kommt hier trotzdem nicht rein.“ Mimi und Yolei drehten sich um und sahen Kari fragend an, da hörten sie drinnen jemanden laut reden. Das war eindeutig Matts Stimme. Yolei wirbelte herum und brüllte aus Leibeskräften: „MATT! Kannst du mich hören? Wir sind hier draußen! Matt! Ich bin's, Yolei!“ Der Mann hob eine Augenbraue. „Okay, das reicht. Verschwindet sofort oder ich lasse euch entfernen.“ „MAAAAAATT!“, schrie nun auch Mimi. „Komm gefälligst raus!“ Der Mann zückte ein Funkgerät aus seiner Hosentasche, doch in diesem Moment erschien endlich Matt hinter ihm und blickte fragend nach draußen. Er trug eine Jeans und ein schwarzes T-Shirt. „Oh, hi“, begrüßte er die Mädchen. „Du kannst sie reinlassen, die sind okay.“ Grimmig runzelte der Mann die Stirn, steckte sein Funkgerät wieder weg und trat zur Seite. Yolei streckte ihm die Zunge raus, als sie an ihm vorbei zu Matt gingen. Dann wurde Matt von allen umarmt, wie auch vorhin schon Tai. „Ich hoffe, ihr hattet keinen Stress“, sagte Matt und kratzte sich verlegen den Nacken. „Schon gut. Du hast uns ja rufen hören“, erwiderte Yolei abwinkend. „Ich freue mich, dass ihr da seid. Ich hab' jetzt leider keine Zeit. In zehn Minuten muss ich auf der Bühne stehen. Aber wenn ihr wollt, könnt ihr nach dem Konzert noch in den Backstagebereich kommen“, erklärte er. „Dafür haben wir leider keine Zeit. Wir gehen danach in eine Bar“, antwortete Kari. „Das hast du mir schon gesagt. Ich dachte nur, falls ihr es euch anders überlegt...“ „Heute ist Ladies' Night“, sagte Yolei grinsend. „Aber beim nächsten Mal gern.“ „Alles klar. Dann viel Spaß.“ Er lächelte das Lächeln, mit dem er wahrscheinlich auch die Mädchenherzen eroberte, und verschwand wieder in dem Raum, der als Umkleideraum beschildert war. Auf dem Weg in die Konzerthalle fischte Kari ihr Handy aus der Handtasche, um zu sehen, ob T.K. ihr geschrieben hatte. Das SMS-Symbol erschien auf dem Bildschirm und Kari tippte darauf. Seid ihr schon da? Wir stehen hier bei dem großen Schild, wenn ihr vorbeikommen wollt. ;) Sie betraten die Halle und Kari sah sich nach einem großen Schild um. Das größte, das sie sah, kündigte an, dass heute die Teenage Wolves um halb zehn spielen würden. „Habt ihr Lust, T.K. wiederzusehen? Er ist auch hier“, fragte Kari an die anderen drei Mädchen gewandt und packte ihr Handy wieder weg. „T.K.?“, fragte Yolei und sah sie mit großen Augen an. „Ist er wieder in Japan?“ „Ja, seit April“, antwortete Kari. „Also ich würde ihn gern mal wiedersehen“, antwortete Sora. „Ich glaube, ich würde ihn gar nicht mehr erkennen. Aber es interessiert mich sehr, wie er jetzt aussieht.“ „Wo steht er denn?“, fragte Mimi und sah sich um. „Da drüben bei dem Schild“, antwortete Kari und deutete in die Richtung, die sie meinte. Und schon quetschten sie sich durch die vielen Menschen hindurch auf dem Weg zum Schild. Es dauerte eine Weile, bis sie dort ankamen und Yolei musste mehrfach ihre Ellbogen einsetzen, doch schließlich schafften sie es. Aufgrund der blonden Haare waren T.K. und Natsuko recht einfach zu entdecken. Und dann musste auch T.K. ein paar stürmische Umarmungen über sich ergehen lassen, genau wie Tai und Matt vor ihm. „Oh mein Gott, T.K.! Ich habe dich ja schon seit hundert Jahren nicht mehr gesehen. Bist du das wirklich?“, rief Yolei und musterte ihn. „Du bist so groß und erwachsen geworden“, stellte Sora lächelnd fest. „Ja, er macht seinem Bruder langsam ernsthafte Konkurrenz“, erwiderte Mimi zwinkernd. „Ich staune auch immer wieder“, stimmte Natsuko ihnen zu und stupste T.K. an, der nur genervt die Augen verdrehte. „Ihr redet wie meine Oma“, murmelte er. Kari sah ihn mit einer Mischung aus Mitleid und Belustigung an. „Es ist schön, euch Mädchen wiederzusehen“, wandte Natsuko sich nun an die Mädchen. „Ihr feiert heute Junggesellinnenabschied, hab' ich gehört?“ „Ja, ich wurde überrascht“, erklärte Mimi strahlend. „Das weiß ich. Hat Yuuko mir schon erzählt“, antwortete Natsuko und zwinkerte Kari zu, die über ihre tratschende Mutter nur den Kopf schütteln konnte. Während Mimi und Natsuko über die nahende Hochzeit plauderten und Sora und Yolei etwas zu trinken holten, wandte Kari sich an T.K. „Matt freut sich bestimmt sehr, dass ihr heute hier seid“, sagte sie lächelnd. T.K. zuckte nur mit den Schultern. „Kann sein.“ Verwundert sah Kari ihn an. „Ich dachte, ihr habt miteinander geredet.“ „Kari, nicht jetzt, okay?“, erwiderte er abweisend und ohne sie anzusehen. Er sah nach vorn zur Bühne, auf der gerade unter tosendem Beifall die Band erschien und sich hinter die jeweiligen Instrumente begab. Etwas verletzt durch seinen kühlen Tonfall wandte Kari sich von T.K. ab und sah ebenfalls zur Bühne. Sie zuckte zusammen, als sie seine Stimme auf einmal ganz dicht an ihrem Ohr vernahm. „Hast du morgen schon was vor? Dann können wir darüber reden, wenn du willst.“ Während Matt auf der Bühne die Zuschauer begrüßte, überlegte Kari, ob sie für den morgigen Tag schon etwas geplant hatte. „Nein, ich hab' Zeit“, antwortete sie. „Wenn du willst, kannst du zum Mittagessen zu uns kommen.“ „Oh, prima. Meine Mutter wollte morgen ein neues Gericht namens Apfel-Karotten-Eintopf mit Garnelen probieren. Da möchte ich lieber nicht dabei sein.“ T.K. grinste. „Na toll, dann werde ich jetzt also als Ausrede missbraucht.“ „Ach, wenn sie hört, dass ich zu dir gehe, freut sie sich bestimmt“, erwiderte Kari abwinkend. Dann fingen die Teenage Wolves an zu spielen und die Lautstärke beendete das Gespräch zwischen ihnen. Kari freute sich, zu sehen, wie viel Spaß Mimi, Sora und Yolei bei dem Konzert hatten. Sie tanzten ausgelassen, jubelten begeistert und schossen dabei viele Fotos. Je später es wurde, desto alberner wurden sie und man konnte fast meinen, sie hätten Alkohol getrunken. Auch die Fotos wurden immer peinlicher und Kari hoffte, dass sie nicht auf der Hochzeit in Form einer Fotostrecke auftauchen würden. Sie schafften es nicht, ein vernünftiges Bild zu knipsen, auf welchem sie alle vier drauf waren. Jedes Mal hatte eine die Augen zu oder sah in eine andere Richtung oder machte einen komischen Gesichtsausdruck. „Wir sind so unfotogen“, beschwerte sich Yolei lachend. Von der Band auf der Bühne machten sie auch viele Fotos, die jedoch alle verwackelt waren. Man konnte nur erahnen, wen man dort sehen sollte. „Kari, T.K., von euch haben wir noch gar kein Foto gemacht!“, rief Mimi. „Rutscht mal zusammen.“ Verlegen rutschte Kari näher an T.K. heran und spürte seine Hand an ihrer Taille, als er sich für das Foto aufstellte. Das erinnerte sie ein wenig an den vergangenen Abend. „Oh, süß geworden“, kommentierte Mimi mit einem Blick auf das Display der Kamera. Sie zeigte es Kari und T.K., die einen Blick auf das Foto warfen. Sich selbst fand Kari sehr unvorteilhaft. Man sah ihr die Schüchternheit an, denn sie lächelte zaghaft. Außerdem hing ihr eine Haarsträhne ungünstig im Gesicht. T.K. jedoch sah unglaublich gut aus mit seinem leichten Lächeln und dem selbstbewussten Ausdruck in den Augen. „Und jetzt T.K. und Frau Takaishi“, bestimmte Yolei und T.K. und seine Mutter posierten für ein Foto. „T.K. ist heute der Hahn im Korb“, sagte Sora lachend. „Los, wir machen ein Gruppenfoto und er kommt in die Mitte“, bestimmte Mimi und schon drückte sie Natsuko die Kamera in die Hand. T.K. seufzte resigniert. Die vier Mädchen posierten rechts und links von ihm und Natsuko schoss ein Foto nach dem anderen, während Yolei Befehle rief, wie alle sich hinstellen oder gucken sollten. Nebenbei jubelten sie hin und wieder, wenn die Band auf der Bühne ein Lied beendete. Auch, wenn Kari ein wenig genervt von den vielen Fotos war, war sie doch froh, dass sie sich alle entschieden hatten, auf das Konzert zu gehen. Die Stimmung war großartig und sie hatten viel zu lachen über alle möglichen Kleinigkeiten. Nach dem Konzert ließen sie sich alle wild durcheinander redend langsam mit der Masse nach draußen treiben. „Und? Wie hat es dir gefallen?“, fragte Kari an Mimi gewandt. „Es war super. Bisher war es ein wirklich toller Abend“, rief Mimi begeistert. „Es war eine prima Idee, auf das Konzert zu gehen.“ „Das war Matts Einfall gewesen. Er hat uns auch die Karten geschenkt“, erklärte Kari. „Das ist wirklich nett von ihm“, fand Mimi. „Gestern hat er sich um Tais Junggesellenabschied gekümmert und heute um meinen.“ „Vielleicht sollte er sich das als zweiten Berufsweg im Hinterkopf behalten“, meinte Kari scherzhaft. Sie kamen draußen an und konnten endlich aus der Masse fliehen. „So, wir gehen jetzt noch was trinken“, verkündete Yolei an T.K. und Natsuko gewandt. „Ihr könnt gern mitkommen, wenn ihr wollt“, bot Sora lächelnd an, doch die beiden schüttelten synchron die Köpfe. „Nein, Mädels, das ist euer Abend“, antwortete Natsuko. „Aber es war schön, euch mal wiedergesehen zu haben.“ „Das fanden wir auch“, antwortete Mimi. Dann umarmten sie alle vier sowohl T.K. als auch Natsuko, als wäre sie eine Freundin. „Ich wünsche dir eine wunderschöne Hochzeit, Mimi. Und alles Gute für das Baby. Yuuko wird mich sicher auf dem Laufenden halten.“ Sie zwinkerte verschwörerisch. „Sie dürfen uns gern auch mal besuchen kommen“, erwiderte Mimi fröhlich. „Sag das nicht, das macht sie sonst wirklich“, mischte T.K. sich ein und kassierte von seiner Mutter einen Klaps gegen den Hinterkopf. Die Mädchen lachten. „Das war ja auch ein ernstgemeintes Angebot“, entgegnete Mimi grinsend. „Also dann, kommt gut nach Hause.“ „Ja, und euch noch einen schönen Abend“, antwortete Natsuko. „Bis morgen“, sagte T.K. an Kari gewandt, lächelte und drehte sich dann mit seiner Mutter zum Gehen um. „Ja, bis morgen“, murmelte Kari und sah ihm mit glühendem Blick hinterher. „Bis morgen?“, fragte Yolei verwundert. Auch Sora und Mimi musterten Kari nun neugierig. „Was habt ihr denn morgen vor?“ „Ach, nichts weiter“, sagte Kari hastig und machte eine wegwerfende Handbewegung. „Nur so.“ „Aha, aha.“ Mimis Lippen kräuselten sich und sie bedachte Kari mit einem vielsagenden Blick, als würde sie ihre Gedanken lesen. „Na los, lasst uns eine schöne Bar suchen und ein paar alkoholfreie Cocktails schlürfen“, lenkte Sora die Aufmerksamkeit von Kari ab. Als Mimi und Yolei sich in Bewegung setzten, lächelte sie Kari an, die ihr wirklich dankbar war. Nach ein paar Gehminuten fanden sie eine kleine, gemütlich aussehende Bar und gingen hinein, um sich einen freien Tisch zu suchen. Zum Glück fanden sie noch einen und nahmen auf den Stühlen Platz. Der Raum war erfüllt von ruhiger Musik und dem Stimmengewirr der Gäste. Auf den Tischen befanden sich Kerzen, die für schummriges Licht sorgten. „Die Teenage Wolves sind wirklich gut“, sagte Mimi und griff nach einer der Karten auf dem Tisch. „Ich habe sie echt schon ewig nicht mehr spielen hören.“ „Naja, sie waren ja jetzt auch schon eine Weile nicht mehr in Japan“, antwortete Kari. „Ja, ich weiß. Aber ab und an sieht man sie ja mal im Fernsehen“, meinte Mimi und studierte konzentriert die Karte. „Mann, wo sind denn hier die alkoholfreien Cocktails?“ „Es war echt nett von Matt, uns Freikarten zu schenken“, sagte Yolei, während Sora in Mimis Karte herumblätterte, um ihr die richtige Seite zu zeigen. „Ja, das könnte er eigentlich öfter machen“, stimmte Kari ihr zu. „Inklusive der Flugtickets für das Land, in dem er auftritt“, fügte Mimi hinzu. „Ich würde so gern mal nach Europa.“ „Du kannst mich jederzeit in Mailand besuchen kommen“, bot Sora ihr an. „Tja, das wird demnächst schwierig“, sagte Mimi und legte eine Hand auf ihren Bauch. „Hast du schon Angst vor der Geburt?“, fragte Yolei, schlug ihre Karte zu und stützte den Kopf auf den Händen ab. „Also wenn ich ehrlich bin... ja“, seufzte Mimi. „In den letzten Tagen habe ich mir ein paar Geburtsberichte im Internet durchgelesen und bei manchen ist mir wirklich schlecht geworden. Wenn ich mir vorstelle, dass ich stundenlang Wehen habe...“ Sie schüttelte sich. „Aber ich habe schon oft gehört, dass alle Schmerzen vergessen sind, sobald man das Baby im Arm hält“, warf Sora ein und machte ein verträumtes Gesicht, als hätte sie gerade erst ein Baby im Arm gehalten. „Ja, aber bis man erst mal da hingekommen ist...“ Ein Kellner kam, nahm ihre Bestellungen auf und verschwand wieder. „Es bringt jetzt eh nichts mehr, sich darüber Gedanken zu machen“, beendete Yolei das Thema. „Jetzt musst du da durch und dann ist es auch irgendwann wieder vorbei.“ „Da hast du Recht“, seufzte Mimi. „Habt ihr denn schon einen Namen?“, fragte Sora neugierig. Kari schnaubte. „Also wenn es nach Tai geht, haben wir schon um die zwanzig Namen“, grummelte Mimi und machte einen genervten Gesichtsausdruck. „Bitte lass keinen davon zu“, sagte Kari lachend. „Bestimmt nicht“, entgegnete Mimi mit hochgezogenen Augenbrauen. „Eher zerschneide ich mein Hochzeitskleid. Am Montag habe ich übrigens noch einen letzten Termin zum Anpassen und dann ist es fertig.“ Sie strahlte Sora an, die lächelnd nickte. „Das ist schön. Freut mich, dass es dir gefällt.“ „Wie sieht es denn aus?“, fragte Yolei und machte große Augen. „Das will ich jetzt auch wissen“, schloss Kari sich ihr an und sah zwischen Sora und Mimi hin und her, die nur einen geheimnisvollen Blick tauschten. „Das wird nicht verraten“, verkündete Mimi und verschränkte die Arme vor der Brust. Yolei und Kari ließen enttäuscht die Schultern hängen. „Ihr seht es doch in genau einer Woche. So lang ist das nicht mehr hin“, meinte Mimi zwinkernd. „Stimmt, nur noch eine Woche“, rief Yolei überrascht. „Wie schnell doch die Zeit vergeht.“ „Ja. Hast du eigentlich eine Begleitung, Yolei?“, fragte Sora. Yolei schüttelte nur den Kopf. „Nee. Ich bin einfach meine eigene Begleitung.“ „Oder du bist Soras Begleitung. Die musste ja auch ohne ihren Fabio kommen“, schlug Mimi vor und grinste Sora an. „Schade übrigens. Ich hätte ihn echt gern endlich mal kennen gelernt.“ „Ja, er wollte euch auch alle so gern kennen lernen“, seufzte Sora. „Aber vielleicht seid ihr ja die nächsten, die heiraten. Dann haben wir die Gelegenheit“, erwiderte Mimi zwinkernd. Sora lachte nur und hob abwehrend die Arme. „Ach, ich glaube, das dauert noch. Sag mal, Kari, hast du denn eigentlich eine Hochzeitsbegleitung?“ Kari zuckte zusammen, weil sie mit der Frage nicht gerechnet hatte und wurde prompt verlegen. Sie presste die Lippen aufeinander und versuchte, nicht dämlich zu grinsen. Sora hatte bestimmt nur versucht, von sich selbst abzulenken. Fragend sahen die anderen sie an. „Ja, also, T.K. hat mich gefragt, ob ich sein Date sein will“, murmelte sie verlegen und starrte auf die Tischplatte. Glücklicherweise tauchte in diesem Moment der Kellner auf und brachte ihnen die Cocktails. Eilig griff Kari nach ihrem Getränk und nippte daran. „T.K. also.“ Alle drei sahen sie vielsagend lächelnd an. „Hört auf, mich so anzustarren“, nuschelte Kari und sank tiefer in ihren Stuhl. „Es ist nur, weil das so süß ist. Ihr kennt euch schon hundert Jahre und jetzt sieht es aus, als würdet ihr euch annähern“, erklärte Mimi und lächelte verzückt. „Wir nähern uns doch gar nicht an“, behauptete Kari und stocherte mit dem Strohhalm konzentriert in ihrem Drink herum. „Ich wünschte, ich würde mich auch mal jemandem annähern“, seufzte Yolei resigniert und Kari war froh, dass sie das Gespräch auf sich lenkte. „Aber irgendwie scheint es niemanden zu geben, der zu mir passt.“ „Das stimmt doch gar nicht“, widersprach Sora. „Für jeden Menschen gibt es doch mindestens ein passendes Gegenstück. Du hast deins nur noch nicht gefunden.“ „Eins? Es gibt tausende passende Gegenstücke. Wäre doch traurig, wenn es nur eins gäbe“, sagte Mimi unwirsch und wedelte mit der Hand vor Soras Gesicht herum. „Mal schauen, was für Singlemänner auf der Hochzeit so herumlaufen. Vielleicht finden wir da einen für dich.“ „Also ich habe da noch einen Cousin im Angebot“, sagte Kari grinsend. „Sieht der gut aus?“, fragte Yolei und musterte Kari neugierig. „Ähm... keine Ahnung. Er ist mein Cousin“, antwortete Kari schulterzuckend. „Welchen meinst du denn?“, fragte Mimi. „Masaru.“ „Oh.“ Mimi hob anerkennend die Augenbrauen. „Ja, der sieht gut aus. Den stellen wir Yolei vor.“ Kari kicherte. Dass Mimi Masaru gut aussehend fand, war nicht weiter verwunderlich. Er sah nämlich Tai ziemlich ähnlich. „Na gut. Abgemacht“, sagte Yolei und schlug mit der Faust auf den Tisch. „Ich bin wirklich sehr gespannt auf eure Hochzeit.“ Kapitel 41: Kocko-was? ---------------------- Es war schon Mittagszeit, als Kari sich endlich dazu bewegen konnte, ihr gemütliches Bett zu verlassen. Gähnend setzte sie sich auf, starrte verschlafen ins Leere und schlurfte schließlich aus ihrem Zimmer. „Guten Morgen, Sonnenschein“, begrüßte ihre Mutter sie sarkastisch, als sie an ihr vorbeikam. Sie stand gerade in der Küche und kochte etwas, das einen Geruch verströmte, den man kurz nach dem Aufwachen nicht unbedingt riechen wollte. „Du siehst aus wie das blühende Leben.“ „Und das Essen riecht wie der Tod“, entgegnete Kari monoton. „Rede nicht so“, wies Susumu sie zurecht, der eben die Küche betreten hatte und ihre Mutter auf die Wange küsste. „Sie gibt sich Mühe. Das kannst du ruhig mal wertschätzen.“ Heuchler, dachte Kari. Sie wusste genau, dass er dem Essen seiner Frau auch lieber aus dem Weg ging, wenn es möglich war. „Genau. Heute koche ich extra für euch was Neues“, verkündete Yuuko. „Ja, ich weiß. Apfel-Möhren-Eintopf mit Garnelen. Hast du gestern schon gesagt“, antwortete Kari. „Ich esse aber nicht mit. T.K. hat mich gestern zum Mittag eingeladen.“ Ihre Eltern sahen sie überrascht an. „Ah, ihr habt euch auf Matts Konzert getroffen, nicht wahr?“, schlussfolgerte Yuuko. „Mhm“, machte Kari und setzte endlich ihren Weg ins Badezimmer fort. „Wann warst du eigentlich heute Nacht wieder da, dass du so spät aufstehst?“, fragte Susumu und musterte sie neugierig. Kari musste eine Weile überlegen. Sie hatte schon in der vorangegangenen Nacht nicht viel geschlafen, weil T.K. ihr Denken eingenommen hatte und war deshalb heute Nacht einfach nur todmüde ins Bett gefallen, ohne sich um die Uhrzeit zu scheren. „Ich glaube, das war so gegen vier. Oder halb fünf. Weiß nicht genau.“ „Hat dich jemand nach Hause gebracht?“, fragte Susumu scharf. „Jaja“, murmelte Kari abwinkend. Das war nur die halbe Wahrheit, denn das letzte Stück war sie allein nach Hause gefahren, doch das sagte sie ihren Eltern lieber nicht. Sonst würden die sich nur wieder unnötig Sorgen machen. Nach einer kalten Dusche und mit geputzten Zähnen fühlte sie sich endlich frisch und konnte sich auf den Weg zu T.K. machen. Sie warf einen wehmütigen Blick auf die Tüte in ihrem Zimmer, in der ihr Brautjungfernkleid noch immer darauf wartete, endlich einmal anprobiert zu werden. Gestern Abend war sie zu müde gewesen, um es auch nur aus seiner Tüte zu holen und jetzt hatte sie keine Zeit. Sie war ohnehin schon spät dran, weil sie so lang geschlafen hatte. Sobald sie von T.K. zurück war, würde sie es endlich anprobieren. Eilig verließ sie die Wohnung und ging den Weg zu T.K.s Wohnhaus. Sie lief die Stufen hinauf und drückte ein wenig außer Atem auf den Klingelknopf. T.K. öffnete nach ein paar Sekunden die Tür und sah sie gespielt streng an. „Verehrte Dame, wir sind hier nicht in Frankreich.“ „Hä?“, machte Kari verständnislos. Er grinste. „In Frankreich kommt man zu einer Verabredung mindestens eine halbe Stunde zu spät. In Japan aber nicht, soweit ich weiß.“ Er trat zur Seite und ließ sie herein. „Achso.“ Sie lächelte verlegen. „Tut mir Leid. Ich bin so spät aufgestanden.“ „Schon okay“, antwortete T.K. locker. „Meine Mutter ist eh nicht da.“ „Nicht? Wo ist sie denn?“ Kari zog sich die Schuhe aus und folgte T.K. in die Küche. „Ihr Chef hat vorhin angerufen. Einer ihrer Kollegen, der heute auf dem Straßenfest sein sollte für den Bericht morgen, ist krank geworden. Jetzt musste sie stattdessen hin“, erklärte er und nahm ein großes Messer in die Hand. Kari blieb staunend in der Küche stehen. Ihr Blick blieb nicht auf dem verführerisch duftenden Hähnchen hängen, das im Ofen schmorte, oder auf dem frischen Baguette, das auf der Anrichte bereitlag und darauf wartete, von T.K. in Scheiben geschnitten zu werden. Nein, ihr Blick galt dem hübsch gedeckten Esstisch für zwei Personen. Auf den großen weißen Tellern lagen ordentlich gefaltete, sandfarbene Stoffservietten. In der Mitte des Tisches stand eine Kerze und am Rand eine Vase mit weißen Lilien. „Setz dich doch. Das Essen ist gleich fertig“, forderte T.K. sie auf und schnitt das Baguette in Scheiben. „Hast du das gemacht?“, fragte Kari beeindruckt und nahm auf einem Stuhl Platz. „Wer denn sonst?“, entgegnete T.K. Darauf wusste Kari auch keine Antwort. Sie wusste nicht, womit genau sie gerechnet hatte, doch sie war überrascht. Es kam ihr fast vor wie ein Date. T.K. stellte einen Korb voll Baguette auf dem Tisch ab und holte anschließend das Hähnchen aus dem Ofen. Kari lehnte sich zur Seite, um ihn beim Anrichten des Gerichtes zusehen zu können. „Was gibt es denn?“ „Es gibt Coq au vin an gedünstetem Saisongemüse mit frischem Baguette“, antwortete er und lächelte verschmitzt. Kari hob die Augenbrauen. „Kannst du das bitte noch mal sagen? Den Anfang des Satzes, meine ich.“ „Es gibt Coq au vin?“, fragte er. „Kocko... was?“ T.K. lachte. „Coq au vin.“ „Coq au vin“, wiederholte Kari langsam und schüttelte den Kopf. „Ich komme mir vor wie ein Bauer. Aber ich mag es, wenn du Französisch sprichst.“ „Du hast mich doch noch gar nicht Französisch sprechen hören“, erwiderte er und hob eine Augenbraue. „Und 'Coq au vin' zählt nicht.“ „Wieso nicht? Ist doch Französisch“, meinte Kari schulterzuckend. „Ach, und was genau ist das Saisongemüse?“ „Möhren, Fenchel und Zwiebeln. Aber ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, ob die gerade Saison haben“, antwortete er schief grinsend, kam um den Tisch herum zu ihr und stellte einen etwas kleineren Teller auf dem großen weißen ab. „Dankeschön“, sagte Kari, als er zu seinem Platz ging und den anderen Teller bei sich abstellte. Anschließend goss er ihnen beiden Wasser aus einer Glasflasche ein, bevor er sich auf seinen Stuhl setzte. „Wie sagt man auf Französisch 'guten Appetit'?“, fragte Kari. „Bon appétit“, antwortete T.K. Als Kari den ersten Bissen von dem weichen Hähnchenfleisch probierte, bekam sie Mitleid mit ihrem Vater, der jetzt gerade Yuukos neues Gericht essen musste. Es schmeckte wirklich hervorragend, wenn auch ganz anders als das Essen, was sie sonst so aß. Das Fleisch war zart, das Gemüse noch etwas knackig und das Baguette leicht. „Sag mal, hast du das alles allein gekocht?“, fragte Kari und sah ihn über den Tisch hinweg verwundert an. Er schüttelte den Kopf und schluckte den Bissen herunter, den er gerade im Mund hatte. „Ich habe es nur fertig gekocht. Das meiste hat meine Mutter vorhin gemacht.“ „Na toll. Gerade wollte ich dich loben“, erwiderte Kari grinsend. „Es ist wirklich sehr lecker. Du kannst mich ruhig öfter zum Essen bei euch einladen.“ „Freut mich“, antwortete er lächelnd. Kari genoss das Essen Bissen für Bissen und vergaß darüber fast den eigentlichen Grund, warum sie hierher gekommen war. Schließlich war das Mittagessen nur ein Zusatz gewesen und T.K. hatte es ihr angeboten, um mit ihr über Matt zu reden. Allerdings wusste sie jetzt nicht, wie sie dieses Thema ansprechen sollte. Die Stimmung zwischen ihnen war gerade so gut und sie war sich sicher, dass sie sie mit dem Thema Matt zerstören würde. „Ist irgendwas oder warum starrst du mich so an?“, riss T.K. sie aus ihren Gedankengängen und musterte sie mit gerunzelter Stirn. Kari zuckte zusammen und wandte ertappt den Blick ab. „Nö, alles okay.“ „Wolltest du nicht noch irgendwas wissen?“, lenkte er nun selbst das Thema auf den eigentlichen Grund ihres Besuchs. Kari zögerte einen Augenblick und schüttelte dann langsam den Kopf. „Nein, nichts. Außer vielleicht das Rezept.“ Er lächelte und nickte. „Kannst du haben. Aber jetzt rück schon raus mit der Sprache. Was wolltest du eigentlich?“ „Es ging um Matt, aber ist schon in Ordnung, wenn du nicht drüber reden willst“, erwiderte Kari hastig und wedelte mit der Hand. „Ich verstehe das.“ Er nippte an seinem Wasserglas und starrte einen Augenblick lang nachdenklich in die Luft. Kari dachte schon, er würde nun gar nicht mehr mit ihr reden, doch dann ergriff er das Wort. „Ich glaube, hättest du mich nicht an diesem Tag dazu gedrängt, hätte ich nicht mit ihm geredet.“ Kari legte ihr Besteck auf den Teller und sah ihn gespannt an. Es klang so, als würde er tatsächlich mit ihr über Matt reden. „Wir sind in ein Café gegangen und es war echt komisch. Ich meine, wir haben seit Ewigkeiten nicht mehr geredet“, erzählte er. „Er hat mir noch mal alles erklärt. Wie viel er zu der Zeit, als wir Hilfe brauchten, um die Ohren hatte und so. Hat natürlich wieder nur von sich geredet.“ Er verstummte und starrte auf seinen inzwischen leeren Teller. Seine Finger spielten unruhig mit der Serviette. „Aber... was hätte er tun können?“, fragte Kari vorsichtig, als er nicht weitersprach. „Ich meine, es tut ihm sehr Leid, dass er euch nicht geholfen hat, das weiß ich.“ „Ja, das hat er mehrmals betont“, murmelte T.K., ohne den Blick zu heben. „Ich weiß nicht, was er hätte tun können. Uns besuchen und meiner Mutter beistehen. Einen Flug nach Japan buchen. Beim Sachenpacken helfen. Meine Mutter trösten. Irgendwas. Alles außer nichts.“ Seine Finger krallten sich in die Serviette, sodass die Knöchel weiß hervortraten. Sein Kiefer war angespannt und auf seiner Stirn hatte sich eine senkrechte Falte gebildet. Kari legte ihre Hand auf seine und sah ihn bedrückt an. Sie konnte sich nicht einmal ansatzweise vorstellen, wie er sich gefühlt haben musste zu jener Zeit. Allein gelassen mit einem so großen Problem ohne jede Hilfe von außen und selbst vom großen Bruder im Stich gelassen. Was hätte sie wohl getan an seiner Stelle? „Matt wollte dann natürlich noch wissen, wie genau es dann weiterging, was noch passiert ist und so weiter.“ Er stützte die Ellbogen auf dem Tisch auf, entwand Kari somit seine Hand und fuhr sich mit den Händen über das Gesicht als wäre er unendlich erschöpft. „Es war schlimm. Sie hat fast jeden Tag geweint und hatte Panik vor Jean. Sie wollte mich ständig zu meinen Großeltern schicken, aber ich hab' mich natürlich geweigert. Wie hätte ich sie mit diesem Arschloch allein lassen können? Sie bestand darauf, dass ich niemandem etwas erzählte, weil sie Angst hatte, Jean könnte mir etwas antun, wenn irgendjemand herausfand, was los war. Und sie hatte die ganze Zeit gehofft, er könnte sich noch einmal bessern. Nach den ersten paar Malen hatte er sich entschuldigt und versprochen, es würde nicht wieder passieren, aber irgendwann hat er sie wegen jeder Kleinigkeit geschlagen. Und vielleicht... vielleicht hat er sie auch vergewaltigt, ich weiß es nicht. Aber ich vermute es.“ Er lehnte sich zurück, legte den Kopf in den Nacken und fuhr sich durch die blonden Haare. Kari starrte ihn unterdessen wie gebannt an und kämpfte mit den Tränen. Sie war schockiert darüber, wie ein Mensch nur zu solchen Taten fähig sein konnte. Was war nur in diesem Jean vorgegangen? „Hat er dich auch... geschlagen?“, fragte sie mit erstickter Stimme, wusste aber nicht, ob sie die Antwort wirklich wissen wollte. T.K. zögerte, ohne sie anzusehen. „Einmal bin ich dazwischen gegangen. Da hat er mich weggestoßen. Meine Mutter hat mir danach eingebläut, das nie wieder zu tun. Das war der Abend, an dem sie beschlossen hat, dass wir bei der nächsten Gelegenheit abhauen. Also habe ich dann angefangen, heimlich meine Sachen einzupacken. Und Anfang März hatten wir dann endlich die Chance. Er war nachts mit seinen Kollegen unterwegs, das haben wir ausgenutzt.“ Kari wischte sich mit dem Handrücken über die Augen und versuchte angestrengt, die Tränen wegzublinzeln. „Tja, das habe ich alles Matt erzählt. Danach hat er noch mal erklärt, wie Leid es ihm tut und dass er es bereut, nichts getan zu haben. Ich glaube, er war drauf und dran, nach Paris zu fliegen und Jean zu erledigen. Wann immer etwas ist, können wir uns bei ihm melden und er wird alles versuchen, uns zu helfen und so weiter.“ Er schluckte hörbar. „Und wie werdet ihr jetzt weitermachen?“, fragte Kari, musste jedoch feststellen, dass ihre Stimme nur noch ein heiseres Krächzen war. T.K. zuckte ratlos mit den Schultern. „Keine Ahnung. Ich will ihn ja in meinem Leben haben. Er ist mein Bruder. Aber ich kann das jetzt nicht so einfach vergessen und so tun, als wäre nichts gewesen.“ „Aber ihr könntet es langsam angehen lassen“, erwiderte Kari. „Ihr könntet euch ab und an treffen, regelmäßig telefonieren oder Mails schreiben oder so. Das wäre doch ein Anfang. Und vielleicht kannst du ihm irgendwann verzeihen. Ich glaube, er würde alles dafür tun.“ Sie wischte sich erneut über die feuchte Augen. T.K. hob den Blick und sah sie an. „Sag mal, weinst du?“ Hastig drehte Kari den Kopf zur Seite und versuchte, mit der Hand ihr Gesicht abzuschirmen, indem sie so tat, als würde sie ihre Haare ordnen. „Nein, nein.“ Sie hörte, dass er aufstand, um den Tisch herumkam und vor ihr in die Hocke ging. „Kari“, murmelte er mit sorgenvollem Blick und griff nach ihrer Hand. „Das wollte ich nicht. Entschuldige.“ „Hör sofort auf, mich zu trösten“, rief Kari und sprang auf. „Es sollte ja wohl eher andersherum sein. Tut mir so Leid, was dir und deiner Mutter passiert ist. Das ist wirklich schrecklich.“ „Ja, aber du kannst ja nichts dafür“, antwortete T.K. und stand ebenfalls auf. „Außerdem ist es jetzt ja vorbei. Seit einem halben Jahr haben wir nichts mehr von Jean gehört. Und das ist gut so.“ Er lächelte leicht. Kari presste die Lippen aufeinander und nickte langsam. „Lass uns hier mal ein bisschen aufräumen, sonst kriegt deine Mutter nachher noch die Krise.“ Kapitel 42: Veränderungen ------------------------- Gemeinsam schafften sie es, die Küche schnell wieder in einen ansehnlichen Zustand zu bringen, sodass Natsuko keine Kopfschmerzen bekommen würde, wenn sie wiederkam. Dann gingen sie in T.K.s Zimmer. Eigentlich hatte Kari ja nur zum Essen und Reden bleiben wollen, doch irgendwie wollte sie noch nicht gehen, wenn sie schon einmal hier war. Und T.K. ließ sich auch in keiner Weise anmerken, dass er sie loshaben wollte. Sie hatte etwas in seinem Zimmer entdeckt, das sie bei ihrem letzten Besuch hier noch nicht gesehen hatte: ein DVD-Regal. Neugierig inspizierte sie seine Filmsammlung. Hauptsächlich Actionfilme und Komödien, aber auch ein paar Musik-DVDs von einzelnen Bands. Darunter die Teenage Wolves. „Also hast du trotz allem seine Musik gehört“, schlussfolgerte Kari und deutete auf die DVD. T.K. schaute ihr über die Schulter, um zu sehen, was sie meinte. Dann zuckte er mit den Schultern. „Ja. Es war irgendwie eine Verbindung zu ihm. Meine Mutter hat alles Mögliche gesammelt, wo er aufgetaucht ist. Zeitungsartikel, Internetberichte, CDs, DVDs, Poster, aufgenommene Fernsehberichte...“ Beeindruckt hob Kari die Augenbrauen. „Wow. Da hat sich sicher einiges angesammelt.“ „Kann man so sagen.“ Kari zog die DVD aus dem Regal und betrachtete das Cover. Fuck you right back, live in Los Angeles stand dort drauf und außerdem war ein Foto der Band während des Auftritts abgebildet. „Netter Titel“, kommentierte Kari grinsend und drehte die Hülle um. „Tja, so waren sie doch schon immer. Hauptsache rebellisch“, meinte T.K. „Stimmt.“ Sie las sich noch immer die Rückseite der DVD-Hülle durch. „Soll ich sie einlegen?“, fragte T.K. nach einigen Augenblicken und Kari sah ihn überrascht an. „Wenn's dir nichts ausmacht? Ich würde sie gern mal ansehen“, erwiderte sie und reichte ihm die Hülle. „Kein Problem.“ Er ging zu seinem Fernseher und legte die DVD in den DVD-Player ein, während Kari sich auf sein Bett fallen ließ. Sie beobachtete ihn, wie er die DVD zum Laufen brachte und sich neben sie setzte. Gespannt starrte sie auf den Bildschirm, auf dem gerade eine jubelnde Menschenmenge zu sehen war, die ungeduldig auf das Erscheinen der Teenage Wolves wartete. Kurz darauf betraten die einzelnen Bandmitglieder die Bühne und Matt machte die Begrüßungsansage. Dabei erfasste die Kamera ihn sehr dicht, sodass sein Gesicht ganz groß auf dem Bildschirm zu sehen war. Sein Haar war für seine Verhältnisse recht kurz, die Augen strahlten blau und die Zähne waren perfekt weiß. „Er sieht so gut aus. Und ihr seht euch so unglaublich ähnlich“, sagte Kari und sah T.K. an, um noch einmal sein Gesicht mit dem von Matt zu vergleichen. Er schnaubte nur und schüttelte den Kopf. „Heißt das etwa, ich sehe auch gut aus?“ Er setzte ein verwegenes Lächeln auf und fuhr sich genauso durch die Haare, wie Matt es immer tat. Kari kicherte. „Natürlich. Ich habe nie etwas anderes behauptet.“ Stirnrunzelnd betrachtete T.K. Matts Gesicht auf dem Bildschirm. „Ich finde nicht, dass wir uns ähnlich sehen.“ „Natürlich nicht. Ich finde auch nicht, dass ich wie meine Mutter aussehe und trotzdem behaupten alle, ich wäre ihr wie aus dem Gesicht geschnitten“, erwiderte Kari unwirsch. T.K. sah sie schief an. „Machst du Witze? Deine Mutter sieht aus wie eine ältere Ausgabe von dir.“ Kari verdrehte die Augen und stieß ihm mit dem Ellbogen in die Seite. „Ich kann das nicht mehr hören!“ Er grinste nur und betrachtete sie weiter, sodass es Kari fast schon unangenehm wurde. „Obwohl... deine Haare sind ein bisschen heller als ihre. Und du hast da einen kleinen Leberfleck.“ Er tippte ihr leicht auf die Wange und machte sie verlegen. „Und du siehst aus wie eine Kopie von Matt. So!“, erwiderte sie trotzig und verschränkte die Arme vor der Brust. Er lachte. „Willst du etwa Streit?“ „Mit dir, oder was?“, entgegnete sie spöttisch. „Da könnte ich mich auch mit unserer Katze streiten. Das würde aufs Gleiche hinauslaufen.“ „Hey!“, rief er gespielt empört und verpasste ihr einen leichten Schubs. „Du fliegst gleich raus, wenn du so weitermachst.“ „Versuch doch, mich rauszuschmeißen.“ Er hob eine Augenbraue und musterte sie von Kopf bis Fuß und zurück. „Willst du das wirklich?“ Nun musterte sie ihn ebenso auffällig. Natürlich war er viel stärker als sie und könnte sie, wenn er wollte, einfach hinaustragen. „Ich glaube, ich hab's mir anders überlegt.“ Er nickte. „Gut. Ich will nämlich nicht, dass du noch heulst.“ Gespielt entrüstet sah sie ihn an. „Bloß keine falsche Bescheidenheit, Takaishi.“ „Ach, ich doch nicht“, erwiderte er abwinkend. Kari kicherte und wandte sich wieder an den Fernseher. Dort grölte die Menge gerade ein Lied der Teenage Wolves mit, hielt Plakate hoch und warf Gegenstände wie Plüschtiere und Unterwäsche auf die Bühne. „Unglaublich, dass sie es geschafft haben, so berühmt zu werden“, meinte Kari nach einer Weile beeindruckt. „Das hätte ich nie gedacht.“ „Nein, ich auch nicht. Aber Matt war von Anfang an davon überzeugt, dass sie berühmt werden würden“, antwortete T.K. „Er wäre ja auch nicht Matt, wenn er das nicht geglaubt hätte“, sagte Kari grinsend und dachte an Matt und sein Selbstbewusstsein. „Da hast du Recht“, seufzte T.K. und lehnte sich gegen die Wand. Kari tat es ihm gleich und so saßen sie nebeneinander gegen die Wand gelehnt und sahen sich die Teenage Wolves live in Los Angeles an. Kari lauschte den Texten und versuchte, etwas zu verstehen, doch so gut war ihr Englisch nicht. Sie beobachtete Matt, wie er auf seiner E-Gitarre spielte und gleichzeitig auch noch singen konnte. Neben ihm gab es noch einen zweiten Gitarristen, einen Bassist und einen Schlagzeuger. Wann immer die Kamera ins Publikum schwenkte, zeigte sie Menschen, die bewundernd zur Bühne starrten, manche sogar mit Tränen in den Augen und die Lieder mitsingend. Kari erwischte sich dabei, wie sie im Takt der Musik wippte. Sie hielt still und sah T.K. an. „Danke, dass du mit mir die DVD guckst, obwohl du wahrscheinlich gar keine Lust darauf hast.“ Er zuckte mit den Schultern und erwiderte ihren Blick. „Schon okay.“ Einen Moment lang sahen sie sich an, dann streckte Kari die Beine aus, griff schüchtern nach seiner Hand und spielte mit seinen Fingern. Sie verglich seine Hand mit ihrer eigenen. Seine war natürlich größer, die Fingergelenke wirkten kantiger als ihre und die Nägel waren so kurz, dass Kari sich fragte, ob das eigentlich weh tat. „Was machst du da?“, fragte T.K., der sie beobachtet hatte, und sah sie schief an. „Ich habe mir nur deine Hand angeschaut“, antwortete Kari verlegen und verschränkte ihre Finger mit seinen. Es fühlte sich gut an – als wären sie nicht nur körperlich miteinander verbunden. Er drehte sich ein wenig zur Seite, sodass er sie besser ansehen konnte. Er musterte sie eindringlich und schüttelte langsam den Kopf, sodass sie die Stirn runzelte. „Du bist irgendwie süß, weißt du das?“, meinte er. „Süß?“ Entgeistert sah Kari ihn an. Sie wollte doch nicht süß sein. Tierbabys waren süß. Kleine Kinder waren süß. Wenn ein junger Mann seiner Oma einen Blumenstrauß vorbeibringt, war das süß. Und wenn T.K. Kari süß fand, bedeutete das wohl, dass sie zwar niedlich und knuffig war, aber eher nicht hübsch oder gar heiß. Er lachte. „Das war wohl nicht gerade ein Kompliment? Sorry.“ Er kratzte sich am Hinterkopf, während Kari noch über das Wort „süß“ nachdachte. „Nicht so richtig“, beschloss sie dann. „Dann mache ich dir eben ein anderes Kompliment“, verkündete er. Kari fragte sich schon, was er jetzt sagen würde, als er plötzlich den Kopf leicht schräg legte, sich ihr langsam näherte und behutsam seine Lippen auf ihre legte. Und wie auch bei den letzten beiden Malen explodierte ein Feuerwerk in ihrem Inneren, ihr Herz machte einen Hüpfer und ihr Gehirn verabschiedete sich. Sie schloss die Augen und erwiderte den Kuss, schlang die Arme um seinen Nacken und rutschte ein wenig an der Wand herunter. T.K. zu küssen löste in ihr das wohl schönste und intensivste Gefühl aus, das sie jemals hatte. Dies war so ein Moment, den sie am liebsten in ein Marmeladenglas einschließen und für schlechte Zeiten aufbewahren würde. Sie fühlte sich unendlich glücklich. Sie rutschte so weit an der Wand herunter, bis sie schließlich schräg auf dem Bett lag und er sich über ihr befand. Noch immer hatte sie die Arme fest um seinen Hals geschlungen, sodass er kaum eine Chance hatte, den Kuss zu beenden, selbst wenn er es gewollt hätte. Aber er schien es ohnehin nicht zu wollen. Wie auch am Freitag fing er an, über ihre Seite zu streicheln, knapp an ihrer Brust vorbei und wieder nach unten zu ihrer Hüfte. Heute trug sie ein eng anliegendes T-Shirt, unter das er gerade seine Hand schob. Diesmal war er nicht so schüchtern, sondern fuhr ihr mit der Hand über den Bauch zu ihrer Brust. Langsam strichen seine Finger die Kante ihres BH entlang. Ein nervöses Zittern erfasste Karis Körper und breitete sich von ihrem Herzen her bis in die äußersten Winkel ihrer Füße und Hände aus. Es fühlte sich an, als würde ihre Haut unter seinen Fingern verbrennen, als er seine Hand langsam unter ihren BH schob. „Bin wieder da!“ Er gab einen leisen, genervten Laut von sich, als die Stimme seiner Mutter im Flur ertönte und ihre Rückkehr verkündete. Er zog seine Hand zurück, löste den Kuss und stand auf. Auch Kari setzte sich auf und versuchte, sich die Haare zu richten und ihre Gedanken zu ordnen. Ihr Herz klopfte wie wild. Was machte dieser Junge nur mit ihr? Er löste Gefühle in ihr aus, die ihr bisher völlig unbekannt waren, brachte sie mit seinen Berührungen und Küssen um den Verstand. Sie fühlte sich fast wie ein anderer Mensch, wenn sie mit ihm zusammen war. „Oh, ach Kari ist ja noch da“, sagte Natsuko gerade. T.K. hatte die Tür geöffnet und seine Mutter blickte neugierig ins Zimmer und lächelte Kari an, die verwirrt zurücklächelte. „Ja. Ähm... wie war's?“, fragte T.K., lehnte sich gegen den Türrahmen und schob die Hände in die Taschen seiner kurzen Hose. „Ach, es war furchtbar viel los“, seufzte Natsuko abwinkend. „Dieser eine Sänger ist da aufgetreten. So ein Alter. Über den soll ich jetzt berichten. Ganz schön langweilig. Habt ihr mir was zu essen übrig gelassen? Ich habe einen Mordshunger.“ „Klar. Mehr als genug“, antwortete T.K. kurz angebunden. „Super. Dann werde ich gleich mal reinhauen“, meinte Natsuko grinsend. Dann musterte sie erst T.K. und dann Kari mit gerunzelter Stirn. „Sagt mal, hab' ich bei irgendwas gestört? Ihr macht so betretene Gesichter.“ „Oh, nein, nein“, antwortete Kari hastig und stand auf. „Ich wollte sowieso gerade gehen. Hab' noch Hausaufgaben und so.“ „Okay, schade. Aber bestell Yuuko schöne Grüße“, erwiderte Natsuko fröhlich. „Mach' ich“, murmelte Kari und ließ sich von T.K. zur Wohnungstür begleiten, während Natsuko in die Küche ging. Kari schlüpfte in ihre Schuhe und wandte sich verlegen an T.K. „Na dann bis morgen in der Schule“, sagte sie und drehte sich zum Gehen um. Doch er ergriff ihr Handgelenk, zog sie an sich und küsste sie noch einmal, bevor er sie wieder losließ. „T.K.“, seufzte Kari leise. Schon wieder fühlte sich ihr Kopf benebelt an, als hätte man sie unter Drogen gesetzt. „Was?“, fragte er irritiert. „Entschuldige, ich dachte...“ „Nein, nein“, unterbrach sie ihn leise und lächelte. „Es ist alles bestens.“ Sie drückte kurz seine Hand und machte dann auf dem Absatz kehrt. Beschwingt kam Kari zu Hause an. Mit einem zufriedenen Lächeln im Gesicht betrat sie die Wohnung und wollte gleich weiter in ihr Zimmer gehen, doch ihre Mutter hielt sie auf. „Das war ja ein ausgedehntes Mittagessen“, kommentierte sie und hob eine Augenbraue. Verwirrt warf Kari einen Blick auf die Uhr und stellte überrascht fest, dass es tatsächlich schon fünf war. „Wir haben uns verquatscht“, antwortete sie schulterzuckend. „Das scheint ja ein tolles Verquatschen zu sein, so wie du strahlst“, entgegnete Yuuko. Kari spürte ihre Wangen heiß werden und ging weiter in ihr Zimmer. Nein, mit ihrer Mutter wollte sie jetzt nicht über T.K. und ihre Gefühle für ihn reden. Erst einmal musste sie sich selbst darüber klarwerden, was mit ihr los war. In ihrem Zimmer fiel ihr Blick auf die Tüte, in der ihr Brautjungfernkleid darauf wartete, endlich anprobiert zu werden. Jetzt aber! Neugierig griff Kari nach der Tüte, öffnete sie und zog das Kleid heraus. Der Stoff war hell, golden und matt und fühlte sich glatt und seidig an in ihrer Hand. Es war natürlich ein kurzes Kleid und es hatte keine Träger. Unter der Brust befand sich eine Schleife. Ansonsten sah es recht eng aus. Kari entledigte sich ihrer Sachen, die sie gerade an hatte und schlüpfte in das Kleid. Sie zog den Reißverschluss an der Seite zu und stellte sich vor den großen Spiegel in ihrem Zimmer. Ja, das Kleid gefiel ihr ausgesprochen gut. Es endete knapp über ihren Knien, war eng anliegend und die Farbe passte überraschenderweise zu ihr. Sie wäre selbst nie auf die Idee gekommen, ein goldenes Kleid anzuziehen, doch nun, da sie sich selbst darin betrachtete, stellte sie fest, dass es wahrscheinlich für sie alle drei die beste Farbe war. Zudem passte es wie angegossen, sodass Kari es nicht ändern lassen musste. Sie lächelte und drehte sich hin und her, um sich und das Kleid aus allen möglichen Winkeln zu mustern. Ja, dies war durchaus ein passendes Kleid für eine Brautjungfer. „Hübsch siehst du aus. Ist das das Kleid, das Sora für euch entworfen hat?“ Kari fuhr herum und warf ihrer Mutter, die im Türrahmen lehnte, einen grimmigen Blick zu. „Du sollst dich hier nicht so einfach rein schleichen, sondern klopfen.“ „Das letzte Mal, als ich geklopft habe, war das auch nicht richtig“, antwortete Yuuko und machte eine wegwerfende Handbewegung. „Das lag vielleicht daran, dass du reingekommen bist, bevor ich geantwortet habe“, murrte Kari und zog den Reißverschluss ihres Kleides wieder auf. Hatte sie eigentlich passende Schuhe? Yuuko dachte anscheinend nicht daran, noch weiter auf sie einzugehen. „Sag mal, ist das mit T.K. und dir eigentlich was Ernstes?“ „Mit... mit T.K. und mir?“ Hastig wandte Kari den Blick ab, schlüpfte aus ihrem Kleid und konzentrierte sich ganz und gar darauf, es ordentlich zusammenzufalten und wieder in der Tüte zu verstauen, ohne wirklich zu realisieren, was sie tat. „Tu nicht so, als wüsstest du nicht, wovon ich rede“, erwiderte Yuuko und Kari sah aus den Augenwinkeln, wie sie die Arme vor der Brust verschränkte und sie genau beobachtete. „Am Freitag nach eurem Treffen bist du erst spät nachts heim gekommen. Da habe ich mir schon meinen Teil gedacht. Ich meine, du bist siebzehn und T.K. wird in diesem Monat achtzehn. Ihr seid also alt genug.“ Kari spürte, wie ihr Gesicht knallrot anlief. Sie riss ihren Kleiderschrank auf und kramte aus dem unteren Fach sämtliche Schuhe hervor, die sie besaß, nur um irgendetwas zu tun zu haben. „Und heute wolltest du eigentlich nur zum Mittagessen zu den Takaishis gehen und bist eben erst wiedergekommen. Außerdem strahlst du seit gestern übers ganze Gesicht“, fuhr Yuuko unbeirrt fort, während Kari immer akribischer ein Paar Schuhe in die Hand nahm, es von allen Seiten musterte und wieder wegstellte. Konnte ihre neugierige Mutter sich nicht einfach um ihren eigenen Kram kümmern? „Da ist nichts“, log sie. „Wir sind einfach nur gute Freunde.“ Schweigend beobachtete Yuuko sie eine Weile weiter, bis sie schließlich seufzte und die Arme sinken ließ. „Natürlich. Nur Freunde. Ich wollte dir eigentlich nur sagen, dass du bitte nichts Unüberlegtes tun sollst.“ „Nichts Unüberlegtes?“, fragte Kari und biss sich sofort auf die Zunge. Warum konnte sie nicht einfach die Klappe halten? „Mensch, ich rede von Sex“, murrte Yuuko und Kari fragte sich, ob das Gespräch irgendwie noch unangenehmer werden konnte. Das waren einfach Dinge, die man nicht mit seiner Mutter besprach. „Wenn es etwas Ernstes ist und ihr ein Paar seid, dann ist das ja vollkommen okay und normal. Aber ich denke mal, du weißt noch, was mit Shinji passiert ist und...“ „Mama, T.K. ist nicht Shinji“, unterbrach Kari ihre Mutter unwirsch. „Das ist etwas vollkommen Anderes.“ „Ich weiß, ich weiß. Ich will ja nur, dass du vorsichtig bist.“ Mit diesen Worten verließ Yuuko das Zimmer wieder und ließ Kari mit knallrotem Kopf auf dem Boden ihres Zimmers inmitten von wahrscheinlich zwanzig Paar Schuhen allein zurück. Kapitel 43: Vor der Hochzeit ---------------------------- In dieser Woche schien sich alles um die bevorstehende Hochzeit zu drehen, auch zwangsweise Karis Leben. Von Tai aber auch von Mimi selbst wusste sie, dass diese allmählich durchdrehte. Sie wachte nachts auf, weil sie träumte, dass ihr Kleid nicht mehr passte, dass sie keine Location hatten, dass der Standesbeamte krank war und kein Ersatz aufzutreiben war, dass die Welt unterging. Und sie hatte noch nichts Blaues. Kari wusste nicht, was es mit diesem Brauch überhaupt auf sich hatte, dass eine Braut zu ihrer Hochzeit etwas Altes, etwas Neues, etwas Geborgtes und etwas Blaues tragen sollte. Sie hatte Mimi schon vorgeschlagen, diesen Brauch doch einfach zu ignorieren, doch das kam überhaupt nicht in Frage, wie Mimi betont hatte. Etwas Neues hatte sie von Sora bekommen, nämlich das Hochzeitskleid, das extra für sie designt und geschneidert worden war. Von ihrer verstorbenen Großmutter hatte Mimi eine Halskette und dazu passende Ohrstecker geerbt, die sie zur Hochzeit tragen wollte. Sie symbolisierten etwas Altes. Etwas Geborgtes hatte sie von ihrer Mutter erhalten, nämlich ein Diadem, das diese bei ihrer eigenen Hochzeit getragen hatte. Und nun machte Mimi seit Tagen ein Drama, weil sie nichts Blaues hatte. Yolei hatte ihr vorgeschlagen, einfach ein blaues Strumpfband zu verwenden, wie das viele Bräute taten, doch Mimi wollte nichts tun, was viele andere taten. Und Strümpfe wollte sie auch nicht tragen. Yuuko redete ebenfalls von nichts anderem mehr als der Hochzeit. Sie wusste nicht, wie sie ihre Haare frisieren sollte und überlegte, ob sie sie färben sollte, da sie immer mehr graue Haare entdeckte. Kari hatte versucht, ihr klarzumachen, dass das mit Mitte vierzig ganz normal war, doch davon hatte sie nichts hören wollen. Und auch Susumu hatte sich von dem Stress wegen der Hochzeit anstecken lassen. Selbst Nanas Gedanken waren die ganze Woche über bei der Hochzeit. Sie wusste einfach nicht, ob Ken mit einer Krawatte, einer Fliege oder ohne beides am besten aussehen würde. Sie hatte mit ihm zusammen einen Anzug gekauft und schwärmte Kari ungefähr einhundert Mal am Tag vor, wie gut er damit aussah. Vor zwei Tagen, als Kari mit Nana nachmittags gemeinsam durch die Shoppingmeile geschlendert war, hatte sie endlich durch einen Zufall passende Schuhe gefunden. Sie hatte gar nicht danach gesucht und dann hatte sie sie plötzlich im Schaufenster eines Schuhgeschäfts entdeckt. Nana hatte einige Sekunden gebraucht, um zu bemerken, dass Kari stehen geblieben war, denn sie hatte gerade die Vor- und Nachteile von Blau als Krawattenfarbe erläutert, doch als sie die Schuhe erblickte, die Karis Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hatten, hatte sie sie dazu gedrängt, sie anzuprobieren. Es handelte sich um schlichte, cremefarbene High Heels, die Kari zwar gut passten, in denen sie jedoch kaum einen Schritt laufen konnte, ohne wie ein kompletter Körperklaus auszusehen. Nana jedoch hatte sie so lang bequatscht, diese Schuhe zu kaufen, bis Kari schließlich auf sie gehört hatte. „Ich wusste nicht, dass du dich tatsächlich für High Heels interessieren könntest“, hatte sie bemerkt und Kari mit leuchtenden Augen gemustert. „Naja“, hatte Kari geantwortet, „T.K. ist so groß und wenn wir tanzen sollten, dann sieht es doch komisch aus, wenn ich so winzig bin.“ „So klein bist du doch gar nicht. Und ich glaube, das hätte keinen gestört.“ „Doch, mich.“ Und nun stakste Kari, wenn sie nach der Schule nach Hause kam, in ihren neuen High Heels durch die Wohnung und versuchte, sich an sie zu gewöhnen. Morgen war die Hochzeit und ihr bisheriges Ergebnis war nur mäßig. Seufzend musterte sie sich in ihrem Spiegel und musste zugeben, dass sie lächerlich aussah. Leggins, ein zu weites T-Shirt, unordentlich zusammengebundenes Haar und dazu laufsteggeeignete High Heels. Traumhaft. Es klopfte an ihre Zimmertür. „Ja?“, antwortete sie und ging ein paar Schritte auf ihren Spiegel zu, bevor sie sich zur Tür umdrehte. „Tai.“ „Hallo, Schwesterchen“, begrüßte er sie lächelnd. „Ich hatte gedacht, du würdest mich gebührend an der Wohnungstür empfangen und stattdessen bewunderst du dich im Spiegel.“ „Ich habe nicht gehört, dass du gekommen bist“, antwortete Kari. Ihr Bruder würde die Nacht heute hier in seinem alten Zimmer verbringen. Gemäß einer Tradition musste das Brautpaar die Nacht vor der Hochzeit getrennt verbringen und auf dieser Tradition bestand auch Mimi zu Tais Verdruss. Deshalb hatte sie ihn kurzerhand aus ihrer gemeinsamen Wohnung verbannt. „Vielleicht solltest du das, was du Musik nennst, mal leiser drehen“, erwiderte Tai und hob eine Augenbraue. Dann musterte er sie von Kopf bis Fuß. „Also, ich hab' ja keine Ahnung von Mode, aber ich glaube, Heidi Klum wäre nicht begeistert.“ „Ich übe ja auch nur Laufen“, murmelte Kari und winkelte ein Bein an, um Tai auf ihre Schuhe aufmerksam zu machen. „Oh“, machte Tai. „Ich hoffe, du knickst nicht um. Ich will nicht, dass du am Tag meiner Hochzeit im Krankenhaus liegst.“ „Keine Angst. Ein paar Mal bin ich schon umgeknickt, aber es ist nichts passiert“, antwortete Kari schulterzuckend, entfernte sich einige Schritte vom Spiegel und ging wieder auf ihn zu, wobei sie ihren Gang beobachtete. „Das sieht doch schon ganz gut aus“, lobte Tai sie. „Danke. Wie geht es Mimi?“ Tai zuckte mit den Schultern, ließ seine Tasche fallen, durchquerte ihr Zimmer und machte es sich auf ihrem Bett bequem. „Wenn man davon absieht, dass sie den ganzen Tag panisch durch die Gegend rennt und kontrolliert, ob auch ja alles glatt gehen wird, fabelhaft. Aber ich wäre trotzdem lieber bei ihr geblieben.“ „Ist Sora schon bei ihr?“ „Ja, ich habe gewartet, bis sie da ist, bevor ich losgefahren bin. Sie wollen noch mal alles durchgehen für morgen und so.“ Kari schnaubte belustigt. Das würde sicher eine lange Nacht für die beiden Mädchen werden. „Wo ist eigentlich Mama?“, fragte Tai, der Kari dabei zusah, wie sie vor ihrem Spiegel auf und ab lief. „Beim Friseur“, seufzte Kari und verdrehte die Augen. „Haare färben.“ „Haare färben? Welche Farbe denn?“, fragte Tai irritiert. „Na braun.“ „Hä? Aber sie hat doch schon...“ Beim Anblick von Tais verwirrtem Gesichtsausdruck musste Kari lachen. „Ach, sie ist der Meinung, dass sie immer mehr graue Haare kriegt und will jetzt was dagegen machen“, erklärte Kari und machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ich glaube, sie kommt langsam in die Midlife-Crisis.“ Tai runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. „Frauen.“ Kari und Tai verbrachten den Abend gemeinsam damit, sich romantische Komödien anzuschauen und dazu Chips und Schokolade zu essen. Die Filme sahen sie jedoch auf völlig unterschiedliche Arten. „So ein Quatsch“, beschwerte sich Tai und schüttelte unwirsch den Kopf. „Wieso rennt sie denn jetzt trotzdem wieder zu ihm zurück? Doch nicht wegen dieser läppischen Entschuldigung.“ „Mann, Tai!“, stöhnte Kari und sah ihn genervt an. „Könntest du endlich aufhören, über die Filme zu meckern? Das macht keinen Spaß mehr. Ich habe extra wegen dir T.K. abgesagt und jetzt muss ich mir die ganze Zeit dein Gemurre anhören.“ „Ich sage doch nur die Wahrheit“, erwiderte er unbeeindruckt und schob sich eine Handvoll Chips in den Mund. „Die Frau hat null Selbstachtung.“ „Es ist nur ein Film“, grummelte Kari. „Trotzdem.“ Er schmatzte. „Wenn Mimi so wäre, würden wir morgen nicht heiraten. Ich meine, sie kann manchmal anstrengend und nachtragend sein, aber...“ „Aber genau das brauchst du“, beendete Kari seinen Satz und grinste ihn an. „Du brauchst jemanden, der sich mit dir anlegt und dir mal in den Hintern tritt. Und Mimi braucht jemanden, der ihr etwas entgegensetzen kann und sie wieder auf den Teppich holt. Und genau deswegen passt ihr auch so gut zusammen.“ Tai musterte sie nachdenklich. „Ja, du hast Recht. Wir streiten uns auch ganz schön oft, aber meistens vertragen wir uns schnell wieder. Wenn man weiß, wie, kriegt man sie echt leicht rum.“ Er grinste und Kari wollte lieber gar nicht erst darüber nachdenken, wie genau Mimi wohl rumzukriegen war. „Naja, du bist ja anscheinend genauso leicht rumzukriegen, wenn ich daran denke, wie ihr zusammengekommen seid“, stichelte Kari und stupste ihn leicht gegen den Arm. „Tja, sie hat eben auch gewusst, wie“, meinte er schulterzuckend. „Aber damals hätte ich nicht im Traum daran gedacht, dass das so weit geht, dass wir heiraten.“ Kari musterte ihn interessiert. In seinen dunklen Augen spiegelte sich das Fernsehbild wieder. Sein Haar war unordentlich wie eh und je. Seine Lippen umspielte ein leichtes Lächeln. „Bist du glücklich, dass es so gekommen ist?“ „Ja“, antwortete er, ohne zu zögern. „Sie ist definitiv die Richtige.“ Dann warf er ihr einen argwöhnischen Blick zu. „Was soll denn diese Frage überhaupt?“ Unschuldig zuckte Kari mit den Schultern. „Naja, manche werden ja kurz vor ihrer Hochzeit auf einmal unsicher und zweifeln. Ich wollte nur sichergehen, dass das bei dir nicht so ist.“ Er lachte, verpasste ihr einen leichten Schubs und kippte dabei die Chipstüte zwischen ihnen um. Krümel verteilten sich auf dem ausgeklappten Sofa in Tais altem Zimmer, das mittlerweile zu einem Arbeits- und Gästezimmer mit einem Fernseher umfunktioniert worden war. „Nein, nein, keine Angst. Ich glaube, sowas gibt es auch nur in deinen dämlichen Schnulzenfilmen.“ Kapitel 44: Ein unverhofftes Ehegelübde --------------------------------------- Für Karis Begriffe viel zu früh machte sie sich auf den Weg zu Mimi. Die Brautjungfern trafen sich alle in ihrer und Tais Wohnung, um ihr beim Anziehen, Frisieren und Schminken zu helfen. Halb acht musste Kari bei Mimi sein. „Hast du alles?“, fragte Yuuko und musterte sie, wie sie ihre Tasche kontrollierte. „Ich glaube schon“, murmelte Kari. Kleid und Schuhe waren da, alles andere war nebensächlich. Sie schulterte die Tasche und sah ihre Mutter an. „Na dann bis nachher.“ „Ich bin schon gespannt. Habe kaum geschlafen heute Nacht“, sagte Yuuko und rieb sich über die Stirn. „Hoffentlich geht alles glatt.“ Kari nickte und ging aus der Wohnung. Auch sie war ein bisschen aufgeregt. Sie hoffte, dass sie keinen Fehler machte, der Mimi dazu veranlassen würde, unzufrieden mit ihr zu sein. Es musste einfach alles perfekt laufen. Sie realisierte kaum die Dauer der Fahrt zu Tais und Mimis Wohnung und war fast ein wenig überrascht, als sie ankam. Wie schnell eine Stunde doch vergehen konnte. Ihre Gedanken waren komplett bei der Trauung gewesen und wie diese wohl ablaufen würde. Und wie Mimis Kleid wohl aussah. Sie hatte bisher ein riesiges Geheimnis darum gemacht und nur Sora wusste, wie es aussah, was daran lag, dass sie es entworfen hatte. Andernfalls wäre Mimi wahrscheinlich die Einzige, die wusste, wie ihr Kleid aussah. Kari stieg die Treppen zur Wohnung hinauf und drückte auf den Klingelknopf. Es dauerte eine Weile, bis die Tür geöffnet wurde und Kari fragte sich schon, ob Mimi bereits die Nerven verloren hatte. Schließlich erschien Sora im Türrahmen und sah ein wenig gestresst aus. „Hi. Komm rein“, begrüßte sie Kari lächelnd und trat zur Seite. „Yolei ist auch vor einer Sekunde gekommen.“ Kari betrat die Wohnung und stellte ihre Tasche ab. Das Wohnzimmer sah aus wie ein Schlachtfeld. Überall waren Tüten und diverse Kosmetika verteilt. Die Brautjungfernkleider von Sora und Yolei lagen auf dem Sofa bereit und warteten darauf, endlich angezogen zu werden. Mimi rannte in Unterwäsche und mit feuchten Haaren quer durchs Wohnzimmer und wirkte alles andere als entspannt. „Das mit den Blumen geht klar, Sora?“, fragte sie und holte ein paar Gläser aus dem Schrank in der Küche. „Der Brautstrauß ist doch das Wichtigste. Oh, hallo Kari.“ „Ja, das geht klar“, antwortete Sora mit sanfter Stimme. „Mach dir keine Sorgen. Ich habe vorhin noch mit meiner Mutter telefoniert.“ „Ich hoffe, mit dem Essen läuft nachher alles. Der Typ hat sich nicht mehr gemeldet. Dabei sollte er mir noch sagen, ob wir die Pilzsuppe auch ohne Petersilie bekommen können. Oh, und die Fischplatte! Da sollte doch...“ Mimi murmelte irgendetwas vor sich hin, während sie geistesabwesend vier Gläser mit Wasser füllte. „Mann, die Frau macht mich fertig“, bemerkte Yolei, die Mimi stirnrunzelnd beobachtete. „Hoffentlich kriegt sie keinen Nervenzusammenbruch.“ „Sie ist heute Nacht aufgewacht und hat mich gefragt, wo ihr Kleid ist“, seufzte Sora. „Sie hat geträumt, ich hätte es einer anderen Braut geschenkt. Sie war kurz davor, loszulaufen und es sich zurückzuholen.“ Kari kratzte sich am Kopf. „Oje oje. Tai ist das komplette Gegenteil. Als ich vorhin losgegangen bin, hat er noch seelenruhig geschlafen.“ Sora und Yolei lachten. „Das sieht ihm ähnlich“, kommentierte Sora. „Der soll gefälligst aufstehen und sich darum kümmern, dass alles gut geht“, rief Mimi empört und drückte Yolei und Kari je ein Glas Wasser in die Hand. „Der spinnt wohl. Ich glaub's nicht.“ „Mimi möchtest du dein Kleid schon anziehen? Dann musst du das nicht mehr machen, wenn deine Haare fertig sind“, fragte Sora und lenkte somit geschickt vom Thema Tai ab. „Oder wollen wir uns erst um Haare und Make-up kümmern?“ „Erst das Kleid“, bestimmte Mimi. „Obwohl... nicht, dass es Haarspray abkriegt. Vielleicht doch erst die Haare. Aber nein, dann zerstöre ich vielleicht die Frisur beim Anziehen.“ Mit weit aufgerissenen Augen drehte sie sich um und sah zwischen ihren Brautjungfern hin und her, die ihren Blick verwirrt erwiderten. „Ich weiß es nicht! Sagt ihr es mir!“ Sie schnappte nach Luft, raufte sich die Haare und sah aus, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen. „Okay, Süße“, ergriff Yolei das Wort, ging auf Mimi zu, drängte sie sanft zur Couch und brachte sie dazu, sich hinzusetzen. „Alles wird gut. Hol mal Luft und trink einen Schluck.“ Sora reichte ihr eines der übriggebliebenen Wassergläser und motivierte sie dazu, daran zu nippen. Unterdessen griff Yolei nach ihrer Hand und drückte sie fest und Kari streichelte ihr beruhigend die Schulter. „Jetzt mach dir nicht so einen Stress“, sagte sie. „Es ist alles gut. Wir warten jetzt zehn Minuten, bis du dich beruhigt hast und dann machen wir weiter.“ „Denk an das Baby“, forderte Sora sie auf. „Was soll der Kleine in deinem Bauch denn denken, wenn du hier so viel Wind machst? Da bekommt er doch Angst.“ „Mein Baby.“ Mit besorgtem Blick legte Mimi die Hände auf ihren Bauch und streichelte ihn sanft. „Entschuldige. Ich wollte dir keine Angst machen.“ „Siehst du? So ist es gut“, sagte Sora und strich Mimi durch das noch immer feuchte Haar. „Und jetzt ziehen wir dir erst mal dein Kleid an, bevor wir uns um den Rest kümmern, in Ordnung?“ Mimi nickte und stand auf, während Kari und Yolei aufatmeten. Wie sollte das nur weitergehen? Der Tag hatte gerade einmal begonnen. Es war ein wenig mühselig, Mimi beim Anziehen des Kleides zu helfen, das aus zu viel Stoff bestand. Sora schnürte es hinten zu und Kari und Yolei zupften es vorn und an den Seiten zurecht. „So“, sagte Sora und trat einen Schritt zurück. „Ich hoffe, es ist nicht zu fest oder zu locker.“ Mimi entfernte sich einen Schritt von ihr, strich mit den Händen über ihr Kleid und drehte sich langsam um die eigene Achse. Unwillkürlich hielt Kari die Luft an. Das Kleid war ein Traum. Es hatte keine Träger und der Brustbereich war bestickt mit winzigen Perlen. Ähnlich wie auch bei den Brautjungfernkleidern befand sich unter der Brust ein Band, unter welchem das Kleid dann lang, weit und mit viel Tüll nach unten fiel. Dabei umspielte es sanft Mimis Babybauch und machte ihn fast schon unsichtbar. Zumindest stach er nicht sofort heraus, wenn man Mimi so sah. „Es ist wunderschön“, flüsterte Yolei und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Kari nickte langsam und Mimi lächelte. „Wollt ihr mal sehen, welche Schuhe ich dazu anziehen werde?“, fragte sie mit leuchtenden Augen. Auf einmal wirkte sie wieder viel entspannter und besser gelaunt, wie eine Braut an ihrem Hochzeitstag auch sein sollte. „Klar“, erwiderten die anderen Mädchen wie aus einem Munde und Mimi lief ins Schlafzimmer und kam kurz darauf mit einem Paar marineblauer Pumps zurück. „Ich hatte noch immer nichts Blaues und da fiel mir ein, ich könnte doch einfach blaue Schuhe anziehen“, erklärte sie und hielt die Pumps hoch. „Toll, oder?“ „Ja, super Idee. Die sind echt schön“, antwortete Yolei eifrig nickend. „Gute Wahl“, meinte Sora lächelnd. „Jetzt müssen wir uns aber um deine Haare kümmern. Nicht, dass wir noch in Zeitnot geraten.“ Die folgende Stunde verbrachten sie damit, Mimi zu frisieren. Sie flochten kleine Strähnen in ihre langen, braunen Haare, toupierten hier und da ein wenig, arbeiteten mit einem Lockenstab etwas nach, steckten an die zwanzig Haarklammern fest, verwendeten Unmengen Haarspray, bis sie schließlich zufrieden waren, einen Schritt von Mimi zurücktraten und sie musterten. Sie hatten ihre Haare halboffen gelassen, indem sie nun lockig über ihre rechte Schulter auf ihre Brust fielen. „Also mir gefällt's“, meinte Kari. „Das Wichtigste fehlt noch“, sagte Sora, verschwand im Schlafzimmer und kam mit dem Diadem von Mimis Mutter in den Händen zurück. Es war schmal, schlicht und mit perlmuttfarbenen Steinchen versehen. Behutsam befestigte sie es auf Mimis Kopf. „Jetzt ist es perfekt.“ „Ich gehe mich mal ansehen“, verkündete Mimi, sprang auf und lief ins Schlafzimmer. „Und wir sollten uns auch mal fertig machen“, sagte Sora an Yolei und Kari gewandt. Sie schlüpften alle drei in ihre Brautjungfernkleider und musterten sich gegenseitig. Soras Augen leuchteten. „Ich wusste, dass euch die Farbe stehen würde“, meinte sie und strich eine Falte an Yoleis Kleid glatt. „Ich muss zugeben, ich war erst sehr skeptisch wegen der Farbe“, räumte Yolei ein. „Gold kam mir irgendwie overdressed vor. Aber als ich es dann anprobiert habe, war ich überzeugt davon. Es ist echt hübsch geworden.“ „Ich habe auch eine Weile mit verschiedenen Farben herumprobiert, bis ich auf Gold kam“, erwiderte Sora und lachte. „Aber ihr seht echt toll aus. Alle beide.“ „Du auch“, sagten Kari und Yolei im Chor. Verlegen verschränkte Sora die Hände hinter dem Rücken. „So. Was machen wir jetzt mit euren Haaren? Yolei, deine können eigentlich so bleiben. Aber bei dir können wir was anderes probieren, Kari.“ Verwundert fuhr Kari sich durch die Haare. Sie hatte eigentlich geplant, sie einfach offen zu lassen, wie immer. „Was hast du denn vor?“ „Wir könnten ihr eine Hochsteckfrisur verpassen“, schlug Yolei vor und strich ebenfalls durch Karis Haare. „Das könnte ich mir gut vorstellen.“ „Ja, das können wir versuchen“, stimmte Sora zu. „Setz dich mal.“ Ohne, dass Kari eine Chance gehabt hätte, sich zu widersetzen, schob Yolei sie zu dem Stuhl, auf dem Mimi vorhin gesessen hatte und drückte sie auf die Sitzfläche. Sora hatte unterdessen schon eine Bürste gezückt und nun machten sie sich zu zweit über Karis Haar her, die einfach auf dem Stuhl saß und die Prozedur über sich ergehen ließ. Es dauerte nicht so lang wie bei Mimi, was auch daran lag, dass Karis Haare kürzer und glatt waren, doch trotzdem nahm es einige Zeit in Anspruch. Zwischendurch lösten Sora und Yolei die angefangene Frisur zwei Mal und fingen wieder von vorn an, doch schließlich ließen sie von Kari ab und musterten sie zufrieden. „Ja, das sieht süß aus“, bemerkte Sora lächelnd. „Ich gehe mich auch mal ansehen“, murmelte Kari argwöhnisch. „Wo ist eigentlich Mimi abgeblieben?“, fragte Yolei. Kari ging ins Schlafzimmer und die anderen beiden folgten ihr. Im Türrahmen blieben sie jedoch wie angewurzelt stehen. Mimi stand vor dem Spiegel an ihrem Kleiderschrank und sah sie mit roten, verquollenen Augen an. In den Händen hielt sie ein zusammengeknülltes Papiertaschentuch. „Ich kann ihn nicht heiraten“, schluchzte sie. _ Er stand vor dem Spiegel im Zimmer seiner Schwester und musterte sich mit hochgezogenen Augenbrauen und weichen Knien. In etwa zwei Stunden würde er das Mädchen seiner Träume heiraten. Eben. Das Mädchen seiner Träume, die Mutter seines ungeborenen Sohnes. Warum war er also aufgeregt? Es gab keinen Grund. Er atmete tief durch und verließ Karis Zimmer, um in der Küche noch einen Schluck zu trinken. Yuuko rannte schon den ganzen Morgen kreuz und quer durch die Wohnung wie ein aufgescheuchtes Huhn. Doch jetzt, als sie Tai erblickte, blieb sie stehen und starrte ihn an. Dann füllten sich ihre Augen plötzlich mit Tränen. „Du siehst so... toll aus“, murmelte sie ergriffen, streckte die Hand aus und strich ein paar unsichtbare Falten an seinem schwarzen Jackett glatt. „Wie hast du nur deine Haare so hinbekommen?“ „Geübt“, gestand Tai und betastete vorsichtig sein glatt gekämmtes und mit Gel und Haarspray befestigtes Haar. Schon seit längerer Zeit trug er es wesentlich kürzer als früher, doch es stand trotzdem noch in alle Richtungen ab, egal wie sehr er sich auch um eine halbwegs normale Frisur bemühte. Doch heute hatte er es geschafft, es zu bändigen. Heute musste es auch sein. Yuuko lächelte und blinzelte die Tränen weg. „Ich glaube, jede Frau würde dich heute gern heiraten.“ „Bist du neidisch auf Mimi?“, fragte Tai und hob eine Augenbraue. Yuuko lachte nur und verpasste ihm einen Klaps gegen die Schulter. „Vergiss die Rose nachher nicht.“ „Wie könnte ich? Mimi hat mich ja nur tausend Mal freundlich daran erinnert“, antwortete er sarkastisch. Zu seinem schwarzen Smoking trug er ein cremefarbenes Hemd und eine goldene Krawatte. Diese Farben hatte Mimi von ihm verlangt zu tragen und er hatte keine Ahnung, warum eigentlich. Abgerundet werden sollte diese Zusammenstellung von einer weißen Rose, die er in die Brusttasche seines Jacketts stecken sollte. Tai selbst war es im Großen und Ganzen egal, wie er aussah, doch er wusste, dass Mimi viel Wert auf all das legte. Ohne Hunger wandte er sich seinem Frühstück zu. _ „Was soll das heißen, du kannst ihn nicht heiraten?“, fragte Yolei schrill und starrte Mimi entsetzt an. „Dafür ist es jetzt etwas spät, meinst du nicht?“ Sie sah zu Kari, der die Farbe aus dem Gesicht gewichen war. Es glich nun einem Kalkstein. Ihre Kinnlade war heruntergefallen. „Ich kann es nicht. Ich kann nicht. Nein. Das geht nicht“, murmelte Mimi vor sich hin. Tränen rannen ihr über die Wangen. Yolei war fassungslos. Kari und Sora schienen erstarrt und Yolei verlor die Nerven. Wie konnte Mimi nur so etwas sagen? Und dazu noch zwei Stunden vor der Hochzeit? Wie sollten sie denn jetzt noch den ganzen Gästen Bescheid sagen, dass sie doch nicht zu kommen brauchten? „Mimi, du musst!“, kreischte Yolei, packte Mimi an den Schultern und schüttelte sie. „Du kannst jetzt keinen Rückzieher machen! Was ist denn in dich gefahren? Spinnst du?“ „Yolei!“, rief Sora, packte sie am Arm und zog sie von der schluchzenden Braut weg, die nun nur noch mehr weinte. Sie schlang die Arme um Mimis Hals, küsste sie auf die Wange und zog sie eng an sich. „Ist ja gut. Beruhige dich erst mal. Alles wird gut.“ „Was soll das?“, fragte Yolei an Kari gewandt und holte sie damit aus ihrer Starre. Sora redete unterdessen mit leiser Stimme auf Mimi ein. „Ich weiß es nicht“, krächzte Kari und schüttelte den Kopf. „Wir können die Hochzeit doch jetzt nicht absagen.“ „Was wird Tai dazu sagen?“ „Er wird es nicht erfahren“, zischte Sora, bevor sie sich wieder an Mimi wandte. „Ich kann das nicht“, flüsterte diese nur wieder. „Doch, du kannst das. Du bist nur nervös, aber glaub mir, du tust das Richtige. Du liebst Tai doch“, antwortete Sora und streichelte Mimi vorsichtig über die zurechtgemachte Frisur. „Aber... aber... ich kann nicht“, erwiderte Mimi schniefend. Nun trat auch Kari auf sie zu und streichelte ihr über den Arm. „Hör mal, erst gestern habe ich mit Tai geredet und weißt du, was er zu mir gesagt hat?“ Sie wartete einige Sekunden, bevor sie weitersprach, obwohl Mimi natürlich nicht wissen konnte, was Tai zu ihr gesagt hatte. „Er meinte, dass er sich sicher ist, dass du definitiv die Richtige für ihn bist. Er weiß, wie gut ihr euch gegenseitig ergänzt und ich bin mir sicher, dass er alles für dich tun würde. Einfach alles. Du brauchst also keine Angst zu haben, denn du heiratest Tai.“ „Ich wüsste auch nicht, wer ein besserer Ehemann sein sollte als Tai. Und ein besserer Vater“, fügte Sora hinzu und lächelte Kari an. Yolei seufzte. „Mimi, eine Hochzeit ist doch außerdem kein Weltuntergang. Wenn es nicht klappt, könnt ihr euch ja wieder scheiden lassen. Es ist ja nicht so, als wärt ihr jetzt für den Rest eures Lebens voneinander abhängig.“ Sora und Kari sahen sie entgeistert an, doch Mimi hörte auf zu schniefen und kicherte stattdessen. „Yolei, manchmal bist du echt witzig“, murmelte sie und wischte sich über die Augen. „Oh nein, nicht doch. Jetzt müssen wir dein Make-up neu machen. Die Tränen hat es einigermaßen ausgehalten, aber nicht das Wischen“, stellte Sora fest und musterte Mimis Gesicht. „Dann machen wir das halt noch mal“, bestimmte Mimi. „Ich möchte schließlich heute die Schönste sein für Tai.“ _ Kari war heilfroh, dass die Mädchen Mimi doch noch dazu gebracht hatten, die Hochzeit nicht abzublasen, obwohl sie sich nun Sorgen machte, Mimi könnte während der Trauzeremonie wieder einfallen, dass sie Tai doch nicht heiraten wollte. Sie war sich sicher, ihr Bruder wäre am Boden zerstört. Und ihre Eltern auch. Nein, das durfte nicht passieren. Nervös stand Kari vor dem Raum im Standesamt, in welchem die Trauung stattfinden sollte, und trat von einem Fuß auf den anderen. Aus dem Raum drang unruhiges Tuscheln. Alle warteten darauf, dass die Zeremonie endlich begann. Wenn Kari schon so nervös war, wie musste Mimi sich dann erst fühlen? Kari brauchte ja nur zusammen mit Sora und Yolei vor Mimi zum Tisch des Standesbeamten herlaufen. Sie drehte sich zu Mimi um, die ein wenig blass war, aber gefasst wirkte. Sie sah einfach umwerfend aus. Eigentlich brauchte sie kein Make-up, denn sie gehörte zu der Sorte Mädchen, die von Natur aus sehr hübsch aussahen. Große Augen, lange Wimpern, volle Lippen, sanfte Gesichtszüge. Doch das dezente Make-up unterstrich ihre Schönheit noch. „Deine Schuhe sind wirklich toll gewählt“, kommentierte Sora mit einem Blick auf Karis Schuhe und lächelte sie an. „Danke“, sagte Kari verwirrt, aber froh, dass sie mit ihren Schuhen anscheinend die richtige Wahl getroffen hatte. Ein Räuspern von drinnen ließ sie zusammenzucken. Wenige Sekunden später ertönten die sanften Klaviertöne des Stücks „River flows in you“, gespielt von Matt, und verkündeten den Beginn. Kari umklammerte fest den kleinen Strauß orangefarbener und gelber Rosen in ihren Händen und schritt durch die offene Tür, genau wie es ihr gesagt wurde. Als Erste waren natürlich alle Augen zunächst auf sie gerichtet und sie hoffte inständig, dass sie nicht stolperte oder sich sonst irgendwie blamierte. Sie ließ den Blick flüchtig über die Leute im Raum schweifen, richtete ihn dann jedoch wieder geradeaus auf Tai, der dort vor seinem Stuhl stand, die Zähne zusammengepresst und ihren Blick erwiderte. Kari lächelte leicht und versuchte, ihm damit etwas von seiner Anspannung zu nehmen. Er sah wirklich sehr gut aus und mit der zurechtgemachten Frisur hätte sie ihn fast nicht erkannt. Schräg hinter Tai saß Matt in einen schwarzen Anzug gekleidet an einem großen schwarzen Flügel und spielte die Musik, die Mimi sich für ihren Einmarsch gewünscht hatte. Ein leises Aufseufzen der Menge signalisierte Kari, dass Mimi soeben hinter Yolei den Raum betreten hatte und die volle Aufmerksamkeit nun auf sich gelenkt hatte. Kari hingegen fixierte Tai. Er schien hin und weg von Mimi, sein Blick sprach geradezu von Liebe und Ergriffenheit. Zusammen mit den anderen beiden Brautjungfern stellte Kari sich neben dem Stuhl auf, auf dem Mimi in wenigen Augenblicken sitzen würde und wartete, bis sie am Tisch angekommen war. Mit leuchtenden Augen lächelte Mimi Tai an, der ihre Hand nahm. Gemeinsam setzten sie sich auf die extra für sie mit Schleifen verzierten Stühle und auch Kari, Sora und Yolei nahmen Platz. Matt hatte aufgehört zu spielen und ging von seinem Platz am Klavier zu dem Stuhl neben Tai. Dann begann die Zeremonie und der Standesbeamte begann mit seiner Ansprache. Kari konnte sich so gar nicht auf seine Worte konzentrieren. Ständig warf sie verstohlene Blicke zu Tai und Mimi. _ Angestrengt versuchte sie, nicht in Tränen auszubrechen. Während der Standesbeamte allen die Geschichte erzählte, wie aus ihr und Tai ein Paar geworden war, kaute Mimi auf ihrer Unterlippe herum und dankte Sora, dass sie sie daran erinnert hatte, kussechten Lippenstift aufzutragen. Von dem würde hoffentlich nach der Zeremonie noch etwas zu sehen sein. Angespannt spielte Mimi mit dem Brautstrauß in ihren Händen. Was dachte Tai wohl gerade? War er genauso nervös wie sie? Saß ihre Frisur eigentlich noch? Und das Augen-Make-up? Wie würde sie wohl aussehen, wenn sie weinte? Verschmierte dann alles und musste sie sich erst einmal eine halbe Stunde auf die nächste Toilette verziehen, um sich wieder herzustellen? Würde Tai vielleicht im letzten Moment doch noch ablehnen, sie zu heiraten? Würde sie sich sogar selbst noch einmal umentscheiden? „Ich möchte euch nun, liebes Brautpaar, bitten, euer Ehegelübde vorzutragen“, riss der Standesbeamte Mimi aus ihrer Starre und lächelte sie freundlich an. Tai erhob sich sofort, doch Mimi brauchte einige Sekunden, um zu reagieren und ebenfalls aufzustehen. Ihre Knie fühlten sich an wie Wackelpudding und sie war sich nicht sicher, ob das an dem immer größer werdenden Bauch oder an ihrer Nervosität lag. Sie sah Tai in die schokoladenbraunen Augen, die so sanft und gleichzeitig verschmitzt wie immer aussahen. Augenblicklich fühlte sie sich ein klein wenig sicherer. Ein Stupser gegen ihren Arm erinnerte sie daran, dass sie ihr Gelübde ja noch brauchte. Sora reichte es ihr unauffällig und nahm ihr gleichzeitig den Brautstrauß ab. Mit zittrigen Händen nahm Mimi ihr Ehegelübde in die Hände, an dem sie Monate geschliffen und gefeilt hatte und hielt es so fest, als wollte sie sich daran klammern. Sie räusperte sich und begann mit hoher Stimme zu lesen. „Taichi, ich kenne dich nun schon eine gefühlte Ewigkeit. Das erste Mal habe ich dich im Kindergarten gesehen. Da warst du immer der kleine ungezogene Junge, der den Erziehern das Leben schwer gemacht hat.“ Zurückhaltendes Lachen im Publikum. „Und mein Leben hast du auch manchmal ganz schön schwer gemacht. Du gingst mir ziemlich oft auf die Nerven mit deiner ungestümen und wilden Art. Und damit, dass du dich mit jedem anfreunden konntest. Selbst mit jemandem wie mir.“ Sie machte eine Pause und sah Tai kurz in die Augen. Er erwiderte ihren Blick. „Gleichzeitig hat mir diese Art aber auch sehr imponiert. Du bist so ganz anders als ich. Ich habe schon immer deinen Optimismus bewundert und deine positive Art. Wann immer etwas schief ging, warst du derjenige, der gesagt hat: 'Mach dir keinen Kopf. Das wird schon wieder.' Das hat mich zwar immer genervt, aber meistens hast du Recht behalten und es wurde wirklich wieder. In genau diese Art habe ich mich verliebt. Somit kann ich sagen, dass ich das, was ich an dir nicht mag, gleichzeitig auch am meisten liebe. Ich weiß, das klingt verrückt, aber es ist die Wahrheit. Du bedeutest mir einfach alles und ich bin so froh, heute hier zu stehen und deine Frau zu werden. Mit dir möchte ich bis zum Ende meines Lebens zusammen bleiben.“ Mimi ließ den Zettel sinken und atmete tief durch. Geschafft. Auch im Publikum war gerührtes Seufzen zu hören. Tai lächelte liebevoll und wurde von dem Standesbeamten aufgefordert, nun sein Gelübde vorzutragen. Fahrig griff er in seine Hosentasche und fischte einen Zettel heraus, der sehr abgegriffen wirkte. Er faltete ihn auseinander und Mimi konnte nicht glauben, was sie da sah. Tais krakelige Handschrift und ständig waren irgendwo Wörter durchgestrichen oder überschrieben worden. Die Ecken waren umgeknickt und auch in der Mitte hatte das Blatt einen großen Knick. Argwöhnisch runzelte Mimi die Stirn und sah Tai an. Typisch. Sie hatte sich so viel Mühe mit ihrem Gelübde gegeben, es sogar auf dem Computer geschrieben und ausgedruckt, sich um die Schriftart, Schriftgröße, Ausrichtung und Hervorhebungen Gedanken gemacht. Und Tai hatte einfach irgendetwas dahingeschmiert. „Liebe Mimi“, fing er an und holte Luft, „wir sind jetzt schon... seit... drei... nein, was steht da?“ Er zog die Augenbrauen zusammen und versuchte, seine eigene Schrift zu entziffern. Mimi krallte verärgert die Finger in ihr Ehegelübde. Das durfte doch nicht wahr sein! Wie konnte er ihr das nur antun? Sie biss sich auf die Zähne, um ihrer Wut nicht freien Lauf zu lassen. „Ich fang' noch mal an, okay?“, meinte Tai nun schiefgrinsend. Der Standesbeamte schien verwirrt, lächelte aber höflich und nickte Tai aufmunternd zu. Nervöses Kichern im Publikum. „Liebe Mimi, wir sind jetzt schon seit drei Jahren zusammen und nun wollen wir... äh...“ Er hielt das Blatt schräg und legte auch den Kopf schief. Mimi platzte fast der Kragen. Gerade öffnete sie den Mund, um etwas zu sagen, da knüllte Tai auf einmal den Zettel zusammen und warf ihn zu Boden. „Ach, Mist hier“, murmelte er und sah nun Mimi an, die seinen Blick feindselig erwiderte. „Im Grunde genommen geht es hierbei doch darum, zu sagen, warum ich dich liebe, nicht wahr? Ich habe wirklich oft versucht, meine Gedanken dazu irgendwie aufzuschreiben, aber die Wahrheit ist, dass ich einfach keine Worte für das habe, was ich für dich empfinde. Aber die brauche ich auch nicht, weil ich weiß, dass du mich auch so verstehst. Du bist so etwas wie meine Seelenverwandte, nicht nur meine Freundin, sondern auch mein Kumpel. Du verstehst mich einfach immer und wenn nicht, dann bist du trotzdem für mich da und hältst zu mir. Du holst mich wieder auf den Teppich, wenn ich mal wieder abhebe und ich liebe dich auch dann, wenn du gerade deine Tage hast. Dann kannst du nämlich ganz schön unausstehlich werden.“ Mimi riss die Augen auf und lief knallrot an. Aus dem Publikum war Gelächter zu hören. Eigentlich hatte sie Tais Rede bis hierher gar nicht schlecht gefunden. „Und das ist noch lange nicht alles. Wenn ich dich nur ansehe, möchte ich dir am liebsten sofort die Klamotten vom Leib reißen und... naja, du weißt schon. Dass ich das auch gemacht habe, sieht man ja mittlerweile.“ Verlegen grinsend deutete er auf ihren Bauch. „Und wie gut du erst kochen kannst. Echt, ich liebe deine Gerichte! Und ich liebe es, wenn du 'Tai, du Faulpelz, das Essen ist fertig' durch unsere Wohnung brüllst. Das ist einer meiner Lieblingssätze von dir. Oh und weißt du, was ich noch liebe? Wenn du an unseren DVD-Abenden immer unbedingt den Film aussuchen musst, dann aber nach zehn Minuten einschläfst und ich mir eine dämliche Schnulze reinziehen muss. Ach und ich liebe es, wie du dir immer diesen blöden Zopf vor dem Zähneputzen machst, damit dir die Haare nicht ins Gesicht fallen. Der Zopf sieht echt blöd aus und ich weiß auch, dass du den mittlerweile nur noch machst, um mich zu ärgern.“ Er lächelte verlegen und auch Mimi musste sich ein Lachen verkneifen. Sie presste die Lippen aufeinander und versuchte, die Tränen zurückzuhalten. Nach einigen Sekunden sprach Tai weiter. „Ich liebe einfach alles an dir so sehr. Für mich gibt es auf der Welt keine tollere Frau als dich. Du machst mich komplett und ich will mir kein Leben mehr ohne dich vorstellen.“ Mimi presste sich eine Hand auf den Mund und spürte, wie ihr heiße Tränen über die Wangen liefen. Wie hatte sie nur jemals auch nur eine Sekunde daran zweifeln können, dass Tai der Richtige für sie war? Sie gaben sich gegenseitig das Ja-Wort, wobei sie sich tief in die Augen sahen. Sie tauschten die Ringe aus, die Symbole der Ewigkeit ihrer Liebe. Sie waren silbern und auf der Innenseite war das Datum ihrer Hochzeit und der Vorname des jeweils anderen eingraviert. Dann endlich durften sie sich küssen. Tai setzte zu einem zurückhaltenden Kuss an, doch Mimi schlang die Arme um seinen Hals, drückte ihn fest an sich und presste ihre Lippen auf seine. Sie spürte, wie er seine Hände an ihre Taille legte und konzentrierte sich nur noch auf ihn. Erst der Beifall der Gäste brachte sie in die Wirklichkeit zurück und erinnerte sie daran, dass sie hier nicht allein waren. Kapitel 45: Die Hochzeit I -------------------------- Die Hochzeitsfeier sollte in der Nähe des Standesamtes in einem Hotel mit angrenzendem Park stattfinden. Alle Gäste waren, nachdem sie den frisch gebackenen Eheleuten gratuliert hatten, zum Hotel gelaufen, während Tai und Mimi mit ihrer Fotografin unterwegs waren und Fotos schossen. Es war ein warmer, sonniger Tag, sodass Kari in ihrem kurzen Kleid nicht fror. Staunend stand sie mit Sora und Yolei vor dem Hotel, einem prunkvollen, weißen Gebäude mit großen Fenstern. Sie wollte gar nicht wissen, wie viel das hier gekostet hatte. Mimis Vater musste wirklich unglaublich gut verdienen. „So würde ich auch gern mal heiraten“, murmelte Sora und schüttelte langsam den Kopf. „Naja, du wirst dir das doch bestimmt mal leisten können“, meinte Yolei und hob eine Augenbraue. „Bei mir sieht es da eher schlecht aus.“ „Mein Gott, ihr seht so unglaublich süß aus.“ Die Mädchen drehten sich um und wurden prompt von Yuuko Yagami fotografiert. „Mama!“, rief Kari. Sie war sich sicher, gerade nicht besonders intelligent geguckt zu haben. „Was denn? Es muss doch alles festgehalten werden. Und ihr seht einfach toll aus. Das hast du wirklich gut gemacht, Sora.“ Sie schenkte Sora ein anerkennendes Lächeln. „Vielen Dank“, erwiderte Sora verlegen. „Wollen wir vielleicht mal reingehen und unsere Plätze suchen?“, fragte Yolei in die Runde. Einige der anderen Gäste waren schon durch die große Doppeltür nach innen gegangen. Kurz darauf standen Kari, Yolei und Sora in einem riesigen, geschmückten Saal. Die Tische waren mit weißen Tischdecken verziert worden und wurden von Kerzen und aufwändigen Blumengestecken in rosa und weiß gekrönt. An den Wänden hingen Girlanden und Luftballons und in der Mitte des Saals sogar ein Kronleuchter. Die Stühle waren ebenfalls weiß bezogen worden. „Wow, das sieht echt schick aus“, bemerkte Yolei und sah sich staunend um. „Lasst uns mal unsere Plätze suchen“, sagte Sora und deutete auf eine Tafel im Eingangsbereich. Hier war die Sitzordnung festgehalten, sodass man nicht durch den ganzen Saal laufen und sein Namenskärtchen suchen musste. Yolei und Sora saßen am gleichen Tisch, Kari saß als Schwester des Bräutigams natürlich am Tisch des Brautpaares. Die Mädchen betrachteten noch eine Weile den Saal, bevor Yolei verkündete, dass sie auf die Toilette müsste und Sora sich ihr anschloss. Unschlüssig blieb Kari stehen und sah sich nach bekannten Gesichtern um. Wo waren eigentlich ihre Eltern abgeblieben? „Hey.“ Kari drehte sich zur Seite, um T.K., der sie gerade angesprochen hatte, anzusehen. Er trug einen schwarzen Anzug und ein weißes Hemd. Sehr schlicht, aber auch sehr elegant. Kari musste zugeben, dass er wirklich unglaublich gut aussah. Noch besser als sonst. „Du siehst echt umwerfend aus“, sagte er und lächelte. Verlegen lächelnd verschränkte Kari die Hände hinter dem Rücken und wich seinem Blick aus. Sie hatte es in Tais und Mimis Wohnung doch noch geschafft, einen Blick in den Spiegel zu werfen, um zu sehen, was Sora und Yolei mit ihren Haaren angestellt hatten. Sie waren nun locker hochgesteckt und verliehen ihrem Gesicht sogleich etwas Neues. „Danke, gleichfalls.“ „Ach, nur ein Anzug.“ Er schob die Hände in die Hosentaschen und zuckte mit den Schultern. „Oh, hier seid ihr ja. Stellt euch mal zusammen, damit ich ein Foto machen kann.“ Schon wieder war Yuuko aufgetaucht und hielt schon die Kamera in die Höhe. Genervt und peinlich berührt verdrehte Kari die Augen. Trotzdem rutschte sie näher an T.K. heran, setzte ein gezwungenes Lächeln auf und ließ sich knipsen. Einmal im Hochformat, einmal im Querformat. „Du brauchst gar nicht so genervt zu gucken, Kari. So ist das nun mal, wenn jemand heiratet“, kommentierte Yuuko und warf Kari einen schiefen Blick zu. „Schon okay“, nuschelte Kari und drehte sich zu T.K. um. „Sag mal, hast du Lust, mal bei den anderen vorbeizuschauen, was die so machen?“ „Klar, wieso nicht?“, erwiderte T.K. Sie sahen sich im Saal nach dem Tisch um, an welchem die Freunde untergebracht waren und erblickten ein paar bekannte Gesichter. Zielstrebig steuerten sie auf Joe zu, der mit einer jungen Frau an seiner Seite am Tisch saß. Kari und T.K. gesellten sich zu ihnen, sodass Joe das Gespräch mit der Frau unterbrach und aufblickte. „Hey, Kari! Wie geht’s dir so? Und oh Mann, ich glaub's nicht! T.K.? Dich habe ich ja eine Ewigkeit nicht mehr gesehen!“ Joe strahlte, stand auf und umarmte Kari. „Wie geht’s euch? Ihr seht gut aus.“ „Gut geht es uns. Und danke, du siehst auch gut aus“, antwortete Kari und musterte Joe. Er trug sein Haar nun wieder kürzer und hatte außerdem eine rechteckige Brille mit schwarzem Rahmen. Sein Anzug war dunkelgrau und er hatte ihn mit einem blauen Hemd kombiniert. „Ach was“, erwiderte Joe abwinkend. „Darf ich euch meine Begleitung vorstellen? Das ist Kaori. Kaori, das sind Tais Schwester Kari und ihr Freund T.K. Er gehört auch zu unserer alten Gruppe.“ Kari riss die Augen auf. „Oh, wir sind nicht... er ist nicht mein Freund. Also wir sind befreundet, ja. Aber wir sind kein... also... ich meine...“ Sie spürte, wie sie knallrot anlief, während Joe und Kaori sie fragend ansahen und aus den Augenwinkeln bekam sie mit, dass auch T.K. sich zu ihr gedreht hatte. „Wie läuft das Studium, Joe? Mit der Medizin, meine ich. Arzt und so. Ist bestimmt schwer, oder?“ Sie lächelte und versuchte somit, ihr Gestammel zu überspielen. Was für eine peinliche Situation. Warum hatte sie seine Bemerkung nicht einfach ignoriert? „Ähm...“, machte Joe und schien verwirrt. „Das läuft gut. Ich habe im vergangenen Semester alle Prüfungen bestanden, also alles bestens.“ „Und was machst du? Studierst du auch?“, fragte T.K. an Kaori gewandt. „Ja, ich studiere auch Medizin. Daher kennen wir uns“, antwortete diese lächelnd und warf Joe einen liebevollen Blick zu. „Naja eigentlich kennen wir uns von dieser Party“, korrigierte Joe sie. Kaori kicherte und schien in Erinnerungen zu schwelgen. „Oh ja.“ „Das klingt nach einer schönen Geschichte“, warf Kari ein und setzte sich auf den Stuhl Joe gegenüber. T.K. nahm neben ihr Platz. „Ach, so viel gibt’s da gar nicht zu erzählen. Da war eben eine Party, auf der wir uns kennen gelernt haben“, meinte Kaori abwinkend. „Und Joe war so unangemessen höflich, dass es mich einfach umgehauen hat.“ „Anscheinend hat es ja geklappt“, bemerkte Kari lächelnd. Sie freute sich, dass der früher so steife Joe eine Freundin gefunden hatte. „Das hat es. Und es ist nun einmal meine Art, höflich zu sein“, erwiderte Joe gewichtig. „Wir planen gerade, zusammenzuziehen“, verkündete Kaori lächelnd. „Uh, dann steht ja vielleicht bald die nächste Hochzeit an“, grinste Kari und sah Joe vielsagend an, der nun rot wurde. „Oh, ich glaube, das hat noch ein bisschen Zeit“, murmelte er verlegen. „Ach, übrigens, Mimi ist also tatsächlich schwanger?“ T.K. und Kari nickten. „Das wusste ich noch gar nicht“, meinte Joe und hob die Augenbrauen. „Im wievielten Monat ist sie denn?“, fragte Kaori interessiert. „Im sechsten“, sagte Kari. „Oder sogar fast schon im siebten. Auf jeden Fall soll das Kind im Dezember kommen.“ Den Nachmittag verbrachten alle damit, Tai und Mimi ihre Geschenke zu überreichen, Kaffee zu trinken, zu plaudern und in der Parkanlage des Hotels zu spazieren und dabei das schöne Wetter zu genießen. Kari musste sich von Yolei über ihren Cousin Masaru ausquetschen lassen. Zunächst wollte Yolei wissen, wer er ist und nun fragte sie sie über alles Mögliche aus. Seufzend stützte Kari ihren Kopf auf einer Hand ab und nippte an ihrer Cola. Sie hoffte, dass es bald Zeit für das Abendessen war, sodass Yolei den Mund halten musste. „Denkst du, er steht auf Mädchen wie mich?“, fragte Yolei und musterte Kari mit großen Augen. „Mädchen wie dich?“, fragte Kari und hob eine Augenbraue. „Naja, ich bin ja schon ziemlich impulsiv. Und ich weiß, dass ich viel rede. Und manchmal bin ich ganz schön aufgedreht. Glaubst du, er mag das? Oder würde ich ihn damit eher nerven?“ Sie drehte sich um, als würde sie nach Masaru Ausschau halten, um zu erfahren, ob sie ihn vielleicht jetzt schon nervte. „Keine Ahnung“, antwortete Kari schulterzuckend. Die Wahrheit war, dass sie sich vorstellen konnte, dass Yolei Masaru tatsächlich ein wenig auf den Zeiger gehen könnte. Er war eher ein ruhiger, zurückhaltender Typ, jedoch nicht schüchtern. Er wirkte oft, als hätte er schlechte Laune. „Du bist seine Cousine, du musst doch wissen, was für Mädels er mag!“, erwiderte Yolei energisch und musterte Kari vorwurfsvoll. „Mensch, Yolei, ich weiß ja noch nicht einmal selbst, was für Typen ich so mag. Woher soll ich das dann bei anderen Menschen wissen?“, sagte Kari etwas gereizt. Yolei seufzte resigniert und lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. „Sprich ihn doch einfach im Laufe des Abends mal an“, schlug Kari ihr versöhnlich vor. „Dann wirst du ja sehen, ob er dich vielleicht mag.“ „Ja, das werde ich wohl tun“, meinte Yolei und nickte. In diesem Moment ertönte aus dem Saal eine Glocke, die den Gästen verkündete, dass das Abendessen nun bereit war. Kari, Yolei und auch die anderen Gäste, die sich draußen befanden, machten sich nun auf den Weg in den Saal. Tai und Mimi hatten sich erhoben und hielten eine kurze Ansprache, in der sie betonten, wie sehr sie sich über die Anwesenheit der Gäste freuten. Dann war das Buffet eröffnet. Es war sehr reichhaltig und enthielt sowohl japanische als amerikanische Speisen als Hinweis auf Mimis Aufenthalt in den USA. Sie hatte darauf bestanden, typisch amerikanisches Essen in das Buffet einzubauen. „Mein Gott, ich bin fast verhungert“, meinte Tai neben Kari mit vollem Mund. „Was auch sonst“, erwiderte Kari grinsend und schob sich eine Portion Reis in den Mund. Sie blieb lieber beim japanischen Teil des Essens. „Mach dich ruhig lustig“, murmelte Tai. „Du kannst dich ja heute berieseln lassen.“ „Aber du dich doch ab jetzt auch. Das Schlimmste ist doch geschafft“, antwortete Kari. Tai schluckte seinen Bissen herunter. „Naja, die Party steht noch an und es ist erst wirklich geschafft, wenn sich keiner langweilt und die Stimmung gut ist.“ „Ach, das wird schon.“ Kari lächelte zuversichtlich. „Wenn nicht, sorgst du halt für Stimmung. Das kannst du doch ganz gut.“ „Nein, ich nicht. Aber Matt.“ Tais Blick flackerte zu Matt hinüber, der neben T.K. am Tisch der Freunde saß. „Deswegen habe ich ihn überhaupt eingeladen.“ Kari lachte. „Und du meinst, wenn alle sich langweilen, lässt du einfach Matt singen?“ „Nein, um Gotteswillen. Ich stelle ihn dann in die Mitte des Saals, sage ihm, er soll sich ausziehen, dann fallen die Frauen alle der Reihe nach in Ohnmacht und die Männer müssen sich um sie kümmern. Problem gelöst.“ „Das wirst du schön bleiben lassen“, zischte Mimi an Tais anderer Seite. „Du verdonnerst unsere Gäste nicht dazu, für gute Stimmung zu sorgen! Und schon gar nicht, indem du jemanden sich ausziehen lässt!“ „Naja, du darfst natürlich nicht hingucken“, erwiderte Tai und grinste sie an. „Dich hat ab heute nur noch mein Astralkörper zu interessieren. Da gibt es eh viel mehr zu sehen als bei Matt.“ Kari verdrehte die Augen und Mimi murmelte „Spinner“, bevor sie sich wieder ihrem Essen zuwandte. Nachdem alle gegessen hatten, begaben Tai und Mimi sich auf die Tanzfläche. Alle Gäste standen auf und postierten sich um die beiden herum, da sie nun den Eröffnungstanz tanzen würden. „Glaubst du, Tai hat tatsächlich Tanzen gelernt?“, fragte Yuuko an Kari gewandt. „Ich kann mir das irgendwie nicht vorstellen.“ „Das werden wir gleich sehen“, antwortete Kari und beobachtete gespannt Mimi und Tai, die sich aufstellten. Sie glaubte jedoch, dass Mimi Tai schon dazu gebracht hatte, Tanzen zu lernen. Sie hatte da immer ihre eigenen Mittel. Als alle Gäste verstummt waren und ihre volle Aufmerksamkeit dem Brautpaar gewidmet hatten, setzte der Walzer „Frühlingsstimmen“ von Johann Strauss ein und Tai und Mimi begannen zu tanzen. Mit großen Augen starrte Kari die beiden an. „Oh mein Gott! Siehst du, was ich sehe?“, fragte Yuuko baff. „Ja.“ Kari war fassungslos. War das wirklich ihr Bruder, der da gerade Walzer tanzte und dabei nicht einmal sonderlich steif aussah? Steckten in ihm womöglich verborgene Talente, von denen niemand etwas geahnt hatte? Doch nach etwa einer halben Minute war der Spuk vorbei, denn plötzlich stoppte die Musik und Tai und Mimi blieben stehen. Die Gäste sahen sich verwirrt an. War die Musik ausgefallen? Was war passiert? Dann setzte plötzlich ein Medley ein, beginnend mit „Rock this party“ von Bob Sinclar, gefolgt von Michael Jacksons „Thriller“ und Cyndi Laupers „Girls wanna have fun“. Außerdem enthielt das Medley noch „Lady Marmalade“ von Christina Aguilera, „Played a live“ von Safri Duo, „Barbie Girl“ von Aqua und zum Abschluss „Everybody“ von den Backstreet Boys. Zu jedem dieser Lieder gab es einen eigenen Tanz, den Tai und Mimi entweder synchron oder aber miteinander agierend tanzten und damit zur Erheiterung der Gäste beitrugen. Alle lachten sich kaputt, als Tai in „Barbie Girl“ die Barbie mimte und Mimi den Ken oder wie beide versuchten, bei „Thriller“ einen Moonwalk hinzulegen. Als die beiden schließlich in ihre Endposition gingen und die Musik verstummte, brachen die Gäste in Beifall und Jubelstürme aus. Sofort herrschte gute Laune und das erste Lied setzte ein, zu welchem sich nun alle Gäste auf die Tanzfläche begeben durften. Die jüngeren Gäste setzten sich jedoch wieder und ließen der älteren Generation den Vortritt. _ Mimi seufzte erschöpft und ließ sich auf den nächstbesten Stuhl fallen. Sie hatte die letzte Stunde damit zugebracht, mit allen möglichen Leuten zu tanzen: Tai, ihrem Vater, ihrem Großvater, ihrem Onkel und sogar mit Tais Vater. Doch nun war sie völlig erschöpft, als wäre sie soeben einen Marathon gelaufen. Sie schob das auf die Schwangerschaft. Geistesabwesend strich sie über ihren Bauch. „Hey, ist alles okay?“ Sie zuckte zusammen und hob den Blick. Izzy hatte sich neben sie gesetzt und sah sie besorgt an. „Ja, keine Sorge. Ich bin nur erschöpft“, antwortete Mimi lächelnd. „Also ist das da“, er deutete auf ihren Bauch, „nicht nur eine Folge von zu viel Essen?“ Verstört sah Mimi ihn an, musste dann aber lachen. Typisch Izzy. „Nein, das ist wirklich ein Baby. Ein Junge, um genau zu sein.“ „Wow. Herzlichen Glückwunsch“, murmelte er und stützte den Kopf auf der Hand auf. Sein Blick war ein wenig wehmütig. „Danke“, erwiderte Mimi und nippte an ihrem Orangensaft. „Du siehst übrigens wunderschön aus.“ Ein wenig mehr Wehmut schlich sich in seinen Gesichtsausdruck. Etwas betreten erwiderte Mimi seinen Blick. Seit Mimi aus Amerika zurückgekommen war, waren sie in die gleiche Klasse gegangen und seitdem war Izzy auch in Mimi verliebt gewesen. Doch sie hatte seine Gefühle nie erwidert. Sie mochte ihn sehr, ja. Aber nicht so sehr wie er sie. Er hatte versucht, sich nichts anmerken zu lassen, als Mimi damit begonnen hatte, offensichtlich mit Tai zu flirten, doch es musste ihn sehr verletzt haben. Er war ohne Begleitung auf der Hochzeit erschienen. „Ich freue mich sehr, dass du gekommen bist. Wie geht es dir so? Gibt es jemanden in deinem Leben?“, fragte Mimi. „Nein“, sagte Izzy schief lächelnd. „Sonst hätte ich diejenige bestimmt mitgebracht.“ Mimi nickte langsam. „Und wie läuft dein Informatikstudium so? Kommst du zurecht?“ „Läuft gut.“ Er nippte an seinem Bier. „Ist einfacher, als ich dachte, wenn ich ehrlich bin.“ „Du bist eben ein Genie.“ Mimi kicherte. _ Die Sonne war untergegangen und die Party in vollem Gange. Kari saß mit ihren Cousins Masaru und Satoshi zusammen und plauderte über alles Mögliche. Sie genoss es, mit den beiden zu reden. Sie standen sich zwar nicht sonderlich nahe, da sie sich stets nur an Familienfeiern gesehen hatten, doch jedes Mal hatten sie sich gut verstanden und viel Spaß gehabt. T.K. war auf sie zugekommen und fragend wandte Kari sich an ihn. Auch Masaru und Satoshi sahen ihn an. T.K. grüßte die beiden mit einem Kopfnicken und bot Kari dann eine Hand an. „Möchtest du tanzen?“ Es war sein Lächeln, das Kari beinahe dazu brachte, seine Hand zu ergreifen und aufzuspringen, doch sie wandte sich an ihre Cousins. „Na geh schon“, sagte Satoshi grinsend und machte eine Handbewegung, als wollte er sie wie eine Fliege verscheuchen. „Der Abend ist ja noch lang genug.“ Kari lächelte, nahm T.K.s Hand und stand auf. Gemeinsam gingen sie auf die Tanzfläche und mischten sich mitten unter die Discofox tanzenden Pärchen. „Waren das deine Cousins?“, fragte T.K. nach einigen Augenblicken des Schweigens. „Ja“, antwortete Kari und sah ihm eine Sekunde später überrascht in die Augen, als ihr eine Erkenntnis kam. „Was dachtest du denn, wer das ist?“ „Keine Ahnung“, sagte T.K. schulterzuckend. „Ich hatte die beiden nur irgendwie anders in Erinnerung.“ „Warst du etwa eifersüchtig?“ Kari lächelte ihn herausfordernd an. „Ach, red keinen Mist“, murmelte T.K., wich ihrem Blick aus und zog sie in eine etwas ruckartige Drehung. „Du warst wirklich eifersüchtig!“, schlussfolgerte Kari kichernd. T.K. verdrehte die Augen und schob sie mit einer Hand von sich, um sie dazu zu bringen, eine Drehfigur auszuführen. „Hab dich doch nicht so“, meinte Kari lachend, als sie sich wieder direkt vor ihm befand. „Ich war auch schon eifersüchtig auf Aya, wenn ich ehrlich bin.“ „Wirklich? Hat man fast nicht gemerkt“, antwortete er sarkastisch und grinste. „Blödmann“, erwiderte Kari und streckte ihm die Zunge raus. „Du hättest auch einfach zugeben können, dass du eifersüchtig warst.“ „Ich möchte aber nicht lügen.“ Er lächelte verschmitzt. „Warum tust du's dann?“ Er stöhnte genervt auf. „Hikari Yagami, würdest du jetzt bitte einfach mit mir tanzen und den Mund halten?“ Entrüstet zog Kari eine Schnute, sodass er lachte. „Jetzt siehst du wieder süß aus. Aber das soll ich ja nicht sagen.“ „Richtig.“ Er sah sie nachdenklich an. Kari erwiderte seinen Blick und ertappte sich dabei, wie sie sich in seinen blauen Augen verlor. Sie erschienen ihr immer so unergründlich und Kari könnte sie den ganzen Tag ansehen. „Du siehst sehr hübsch aus. Gefällt dir das besser?“, fragte er schließlich. „Hm.“ Kari dachte kurz nach. „Ja, ein wenig.“ T.K. hob die Augenbrauen. „Ein wenig? Das klingt nicht gerade begeistert.“ „Das 'umwerfend' von heute Nachmittag fand ich gut“, meinte sie grinsend. „Das wollte ich aber nicht schon wieder sagen“, erwiderte er. Sie spürte, wie seine Hand von ihrem Brustwirbelbereich, wo sie eigentlich hingehörte, in den Lendenwirbelbereich rutschte und er sie ein wenig näher an sich zog. Er beugte sich so weit vor, dass seine Lippen fast ihr Ohr berührten und sie seinen Atem spüren konnte. „Wie wäre es mit 'atemberaubend'?“ Dieses Wort beschrieb zumindest das, was er mit ihr gerade machte. Er raubte ihr den Atem, sodass sie nach Luft schnappte, als er sich wieder so weit von ihr entfernte, dass er sie ansehen konnte. Ein wohliger Schauer war ihr über den Rücken gekrochen. „Vielleicht ein wenig übertrieben?“, meinte sie. Er hob eine Augenbraue und schüttelte den Kopf. „Dir kann man es auch nicht recht machen.“ Sie lächelte schwach und versuchte, sich auf das Tanzen zu konzentrieren, das sie in den letzten Sekunden, in denen sie ihm so nahe war, völlig automatisch getan hatte. Auch auf die Musik lauschte sie nun. Ja, tanzen und Musik. Allmählich wich die Hitze aus ihrem Körper. _ Das Geschehen um sich herum ausblendend tippte Sora eine SMS an Fabio. Er hatte sie gefragt, wie es ihr ging und ob die Hochzeit schön war. Und er beteuerte, wie sehr er sie vermisste. Sie hatte geseufzt und schrieb ihm gerade, dass sie ihn auch vermisste. Sie wünschte wirklich, er wäre hier. Sie hätte ihn zu gern ihren Freunden vorgestellt und auch andersherum ihm gern ihre Freunde gezeigt, damit er die Leute endlich einmal kennenlernte, von denen sie immer so viel redete. Natürlich kannte er Fotos, doch das war immer noch etwas Anderes. „Die Jugend von heute klebt aber auch wirklich an ihren Handys.“ Sora blickte auf und sah in Matts Gesicht, der sich neben sie setzte. Vor ein paar Minuten hatte sie ihn noch mit Ken zusammensitzen sehen. „Entschuldige, Großvater. Ich wusste nicht, dass ich so viel jünger bin als du“, antwortete Sora keck grinsend, schickte die SMS ab und schob ihr Handy zurück in ihre cremefarbene Handtasche. Er zuckte mit den Schultern, stützte einen Arm auf dem Tisch ab und musterte sie mit seinen blauen Augen. Wie auch schon vor drei Jahren fiel ihm das strohblonde Haar ins Gesicht. „Willst du gar nicht tanzen?“, fragte er. „Ehrlich gesagt nein“, gestand sie. „Ich bin furchtbar schlecht im Tanzen.“ „Und ich dachte, du hättest es mittlerweile gelernt“, erwiderte er spöttisch lächelnd. Sora hob eine Augenbraue. „Und wie sieht's mit dir aus, Mister Ich-stolpere-über-meine-eigenen-Füße?“ „Also erstens war ich ein besserer Tänzer als du, falls du dich an unseren Abschlussball erinnerst, und zweitens musste ich für ein paar Musikvideos Tanzen lernen“, antwortete er schief lächelnd. „Für Musikvideos? Da hüpfst du doch meistens nur durch die Gegend und tust so, als würdest du singen“, stichelte Sora und sah ihn herausfordernd an. „Du siehst sie dir also an?“ „Gelegentlich.“ Ertappt wandte Sora den Blick ab und nippte an ihrer Weinschorle. „Wenn man einen Musiksender einschaltet, bekommt man sie praktisch aufgezwungen.“ „Tja, es steht jedem frei, einfach wegzuschalten“, erwiderte Matt schulterzuckend. Das Problem war nur, dass Sora nie wegschalten wollte. In Wirklichkeit sah sie sich Musiksender an in der Hoffnung, die Teenage Wolves zu sehen. Das hatte nichts damit zu tun, dass sie Matt noch liebte. Sie waren einfach Freunde und sie freute sich für ihn, wenn sie sah, dass er mit seiner Band Erfolg hatte. Aber irgendwie wollte sie das ihm gegenüber nicht zugeben. Es war seltsam, hier in seiner Nähe zu sitzen und über belanglose Dinge zu reden, wo sie doch einmal so verknallt ineinander gewesen waren. Ja, sie hatten sich einvernehmlich getrennt, weil sie beide keine gemeinsame Zukunft für sich gesehen hatten. Sie in Italien, er in der ganzen Welt. Das war einfach aussichtslos gewesen. Und trotzdem war zumindest Sora gerade in den ersten zwei Wochen am Boden zerstört gewesen. Dass sie die Trennung so sehr mitnehmen würde, hatte sie nicht erwartet. Sie hatten miteinander ausgemacht, dass sie zumindest ein paar Wochen lang keinen Kontakt zueinander haben würden, um Zeit zu haben, darüber hinwegzukommen. Dies war die Zeit, in der Sora sich in Mailand eingelebt und neue Leute kennengelernt hatte. Plötzlich war sie so sehr damit beschäftigt gewesen, sich an ihr neues Leben zu gewöhnen, dass sie die Trennung Stück für Stück verarbeitet hatte, ohne es wirklich zu merken. Sie war dauerhaft abgelenkt und hatte schon gegen Ende ihres ersten Semesters Fabio kennen gelernt. Drei Monate später waren sie ein Paar. Und noch einen Monat später hatte sie das erste Mal eine E-Mail an Matt geschrieben, in der sie ihn fragte, wie es ihm so ging. Daraus hatte sich ein sporadischer, unregelmäßiger Mailkontakt entwickelt, der jedoch immer karger geworden war. Gesehen hatten sie sich ein einziges Mal in den Weihnachtsferien, doch da waren auch ein paar der anderen dabei gewesen, sodass sie nicht wirklich viel miteinander geredet hatten. Und nun saßen sie hier als Freunde. Mehr oder weniger. Sora seufzte. „Ich muss mal frische Luft schnappen gehen.“ Matt nickte nur langsam und trank einen Schluck von seinem Bier, während Sora aufstand. „Wenn du willst, kannst du auch mitkommen. Allein ist es so langweilig“, fügte sie noch etwas verlegen hinzu. Er zögerte, doch dann zuckte er mit den Schultern und stand auf. „Klar, warum eigentlich nicht?“ _ Cody hatte ihn vor einer Sekunde stehen gelassen, weil er mal bei Joe vorbeischauen wollte, der soeben von der Tanzfläche gekommen war. Doch Ken fand das nicht schlimm. Er hatte ohnehin einen Plan zu verfolgen. Er lehnte sich gegen den Tisch, nippte an seinem Wasser und beobachtete Davis. Für heute hatte er sich fest vorgenommen, mit Davis zu reden und ihn nicht gehen zu lassen, bis er ihm endlich sein Problem verraten hatte. Hochzeiten waren doch der ideale Zeitpunkt, um Streitigkeiten zu klären, oder nicht? Jeden beschissenen Tag der vergangenen beiden Monate hatte Ken darüber nachgedacht, was er falsch gemacht hatte. Er war enttäuscht von Kari, die wusste, was es war und es ihm nicht sagte. Klar war sie mit Davis befreundet, aber er fühlte sich ein wenig außen vor. Immerhin war er doch genauso gut mit Kari befreundet wie Davis, oder etwa nicht? Davis unterhielt sich gerade mit einem ehemaligen Fußballkumpel von Tai. Wie sollte Ken nur einen geeigneten Moment abpassen, um ihn anzusprechen? Einfach auf ihn zugehen mit den Worten „Kann ich mal mit dir reden?“ Oder warten, bis er zur Toilette musste und ihn dort abfangen? Warten, bis er allein war? Aber was, wenn das an diesem Abend nicht passierte? „Hey Kumpel, geht’s dir gut?“ Tai hatte Ken aus seinen Gedanken gerissen. Mit einem Glas Bier in der Hand war er gerade an ihm vorbeimarschiert und musterte ihn nun neugierig. „Ja, klar“, antwortete Ken schulterzuckend. „Und warum stehst du dann so allein herum?“, fragte Tai weiter. „Tu ich nicht. Ich wollte gerade zu Davis gehen, aber der ist in ein Gespräch vertieft“, antwortete Ken wahrheitsgemäß. „Ich bin nur höflich und warte.“ Wer wusste, was in Tais Kopf vorging, aber plötzlich wurde sein Blick ein wenig mitleidig, als er zu Davis und dem Fußballtypen hinübersah. „Ich regle das“, verkündete er und ehe Ken fragen konnte, was genau er regeln wollte, war Tai auf dem Weg zu Davis. Verdutzt sah Ken ihm nach, dann eilte er hinterher, um ihn aufzuhalten, doch es war zu spät. „Hey Keisuke“, rief Tai dem anderen jungen Mann zu, der seine Aufmerksamkeit von Davis abwandte. „Lass uns einen trinken, okay? Ich hab' dir doch gesagt, du sollst die Leute nicht so vollquatschen.“ Keisuke grinste und schüttelte den Kopf. „Na komm schon“, redete Tai weiter und boxte ihm gegen den Arm. „Ich bin der Bräutigam. Du kannst mir heute nichts ausschlagen.“ „Schon okay“, hörte Ken Davis sagen. Keisuke zuckte mit den Schultern, stand auf und folgte Tai, der sich noch einmal kurz umdrehte, Ken angrinste und dann ging. Völlig irritiert stand Ken dort ein paar Schritte von Davis entfernt und starrte ihm nach. Typisch Tai. Hätte er mal lieber nichts gesagt. So hatte er sich das nicht vorgestellt, auch wenn es einfach gewesen war. Er fing Davis' Blick auf und erinnerte sich wieder an sein eigentliches Vorhaben. Davis wandte den Blick schon wieder ab und machte Anstalten, aufzustehen, doch in diesem Moment bewegte Ken sich endlich wieder. „Nein“, sagte er entschieden und setzte sich auf den Stuhl, auf dem Keisuke bis eben noch gesessen hatte. „Was nein?“, fragte Davis. „Bleib“, antwortete Ken einsilbig und sah ihn eindringlich an. Davis runzelte verwirrt die Stirn, hielt seinem Blick ein paar Sekunden stand und wollte dann erneut aufstehen, doch Ken packte grob sein Handgelenk und zog ihn zurück. „Du wirst jetzt nicht abhauen“, sagte er schärfer, als er es geplant hatte. „Erzähl mir endlich, was los ist, verdammt!“ „Nein“, antwortete Davis schlicht und befreite sich aus seinem Griff. „Was soll das, Davis? Ganz ehrlich, was habe ich dir getan?“, fragte Ken und musste sich zusammenreißen, um nicht zu wütend zu klingen, obwohl er es war. Er verstand Davis einfach nicht. „Nichts“, murmelte Davis ausweichend. „Nichts? Das ist deine Antwort? Und warum benimmst du dich dann in letzter Zeit wie ein kompletter Vollidiot?“, platzte Ken heraus. Erschrocken riss Davis die Augen auf. Ja, solche Ausbrüche war man von einem Ken Ichijouji nicht gewöhnt. Doch ihm war einfach der Kragen geplatzt. Zu oft hatte er versucht, ruhig mit Davis zu reden, einfühlsam zu sein, Verständnis zu zeigen für ein Problem, das er nicht kannte. „Was ist los mit dir? Ich dachte, wir wären Freunde, aber das ist eine Seite an dir, die ich noch nicht kannte. Wer bist du eigentlich? Was ist mit dem Davis passiert, der immer gesagt hat, was er denkt? Wenn das jetzt dein wahres Gesicht ist, dann weiß ich nicht, ob ich überhaupt noch mit dir befreundet sein will!“, fuhr Ken fort und wurde mit jedem Satz ein wenig lauter. Zum Glück war die Musik so laut, dass die umsitzenden Menschen nicht auf sie aufmerksam wurden. „Dann kannst du mich doch auch einfach in Ruhe lassen“, brachte Davis zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Nein, kann ich nicht!“, polterte Ken. „Findest du denn nicht wenigstens ein bisschen, dass ich es verdient habe, zu wissen, warum du mir aus dem Weg gehst, von einem Tag auf den anderen? Hat es was mit Nana zu tun?“ „Nein.“ „Womit dann?“ „Mit nichts.“ „Verdammt!“ Ken schlug mit der Faust auf den Tisch, sodass Davis' Glas klirrte. „Was geht nur in dir vor? Was hat sich verändert, dass du mich jetzt hasst?“ „Ich hasse dich nicht!“, rief Davis plötzlich lauter als Ken zuvor. „Eher das Gegenteil ist der Fall. Ich empfinde mehr für dich, als ich sollte, kapiert? Ich will das nicht, aber ich kann nichts dagegen machen! Es macht mich krank, dich mit ihr zusammen zu sehen, okay? Und jetzt hör endlich auf, mir bescheuerte Fragen zu stellen!“ Mit diesen Worten sprang Davis auf und stürmte davon. Wie vor den Kopf gestoßen blieb Ken auf seinem Stuhl sitzen und starrte noch immer auf den Fleck, an dem sich bis vor wenigen Sekunden noch Davis' Gesicht befunden hatte. Was hatte er ihm da gerade versucht zu erklären? Er empfand mehr für ihn, als er sollte? War Davis etwa... _ „Mein Gott, ich kann nicht mehr“, seufzte Kari erschöpft und fächelte sich mit der flachen Hand Luft zu. Soeben hatte sie aufgehört zu tanzen. Erst war T.K. eine Weile ihr Partner gewesen, dann ihr Vater und dann Satoshi. Nun stand sie draußen gegen die steinerne Brüstung gelehnt, die die Terrasse des Hotels umgab und genoss die kühle Abendluft. T.K. war mit ihr gekommen und musterte sie amüsiert. „Ich dachte, du bist das viele Tanzen gewöhnt.“ „Nicht in diesen Schuhen“, erwiderte Kari und deutete auf ihre High Heels. „Meine Füße tun echt weh.“ „Du hättest ja auch flache Schuhe anziehen können“, meinte T.K. und lehnte sich neben ihr an die Brüstung. „Nein, das geht nicht“, antwortete Kari entschieden. „Warum nicht?“ „Darum.“ Verwirrt runzelte er die Stirn, dann schüttelte er den Kopf. „Ich glaube, es ist besser, wenn ich nicht darüber nachdenke.“ Kari kicherte nur. „Wollen wir ein Stück gehen? Ich würde mir gern den Park ansehen.“ „Im Dunkeln?“ „Da sind doch überall Lichter.“ „Und was ist mit deinen Füßen, die dir so weh tun?“ Kurzerhand zog Kari sich die Schuhe aus, nahm sie in die Hand und lächelte ihn an. „Also kommst du mit, oder was?“ „Klar.“ Sie verließen die Terrasse über eine kleine Treppe und gingen einen Weg gesäumt von Büschen und Blumen entlang, der direkt zu einem großen Springbrunnen führte, der über Nacht jedoch ausgestellt war. Je weiter sie sich vom Hotel entfernten, desto leiser und dumpfer wurden die Musik und die Stimmen der Gäste und desto lauter das Zirpen der Zikaden. Sie bogen ab und gingen nun auf einen kleinen, weißen Pavillon zu, der von einer Lichterkette umgeben war. Drei Stufen führten dort hinauf, doch als sie sich noch ein wenig näherten, sahen sie, dass der Pavillon bereits besetzt war. Enttäuscht wollte Kari einen anderen Weg einschlagen, als sie die beiden Personen dort erkannte. „Sind das nicht Matt und... Sora?“, fragte sie und blieb stehen. „Ich glaube schon“, antwortete T.K. Kari kniff die Augen zusammen. Ja, die linke Person war ein Mann mit blondem Haar und die rechte eine Frau mit kurzem, goldenen Kleid. Das waren eindeutig Matt und Sora. „Was die wohl reden? Komm, lass uns näher rangehen und...“ „Nein.“ Kari hatte schon Anstalten gemacht, auf den Pavillon zuzulaufen, doch T.K. hatte ihr Handgelenk gepackt und sie festgehalten. Verwirrt drehte sie sich um. „Näher rangehen und was? Willst du sie belauschen?“, fragte T.K. und hob die Augenbrauen. „Naja, ich dachte nur... ich meine, es ist ja schon irgendwie komisch“, stammelte Kari. „Nein, das kannst du allein machen. Ich belausche garantiert nicht meinen eigenen Bruder und seine Ex“, entgegnete T.K. entschieden. Aus seinen Worten schlussfolgerte Kari, dass auch er annahm, dass da irgendwas im Busch war. Sie warf einen unschlüssigen Blick zu den beiden jungen Menschen im Pavillon und nickte schließlich enttäuscht. Yolei und Mimi wären garantiert dabei. „Na komm schon. Ich dachte, du wolltest dir den Park ansehen“, sagte T.K. nun, nahm ihre Hand und zog sie in die entgegengesetzte Richtung, um einen anderen Weg zu gehen. Sie liefen ein Stück schweigend durch den Park und Kari bewunderte die Anlage. Alles war voller hübscher Blumen und Bäume, gespickt mit weißen Bänken hier und da. Kleine Lampen beleuchteten die Wege und tauchten alles in ein goldenes Licht. Dies war wirklich ein traumhafter Ort für eine Hochzeit. T.K. hielt noch immer ihre Hand. Sie fühlte sich warm und sicher an und veranlasste Kari dazu, Geborgenheit zu spüren. Gleichzeitig fragte sie sich jedoch, ob es langsam an der Zeit war, mit ihm über das zu sprechen, was sie miteinander hatten. Ganz normale Freunde waren sie schließlich nicht mehr, aber ein Paar waren sie auch nicht. Kari wusste nicht, was sie für ihn empfand. War es Liebe? War es einfach nur Verknalltsein, das in ein paar Wochen wieder aufhören würde? Oder verwechselte sie vielleicht sogar nur die innigen Gefühle einer Freundschaft mit dem Verliebtsein? Und wie sah T.K. die Sache? Ob er sich wohl auch Gedanken darüber machte? Und was wollte Kari eigentlich? Bis vor kurzem hatte sie nicht einmal mit ihm geredet und nun verdrehte er ihr den Kopf. Wollte sie eine Beziehung mit ihm oder reichte es ihr so, wie es gerade war? Sie versuchte, sich vorzustellen, wie es sich anfühlen würde, wenn T.K. genau jetzt zu diesem Zeitpunkt plötzlich eine Beziehung mit einem anderen Mädchen eingehen würde. Womöglich Aya oder dieser Isabelle. Auf einmal fühlte es sich an, als würde etwas ihr Herz umklammern und versuchen, es herauszureißen. T.K. mit einem anderen Mädchen zu sehen erschien ihr im Moment unvorstellbar. „Woran denkst du gerade?“ Aus ihren Gedanken gerissen wandte Kari den Blick zur Seite und sah T.K. an, der sie neugierig musterte. „Du wirktest gerade so nachdenklich.“ „Ach, nur an die Hochzeit“, log Kari. „Und an was denkst du so?“ Sie hatte nicht wirklich eine Antwort erwartet, sondern diese Frage nur gestellt, um die Aufmerksamkeit von sich zu lenken. Doch er blieb stehen und sah sie an. Verwirrt erwiderte Kari seinen Blick. „Gerade denke ich daran, dass du einen Knall hast.“ Kari brauchte einen Moment, um zu reagieren. Sollte das ein Scherz sein? Sein Gesichtsausdruck war todernst. „Wie bitte?“ „Du hast mich schon verstanden“, erwiderte er. „Ich meine, ich verstehe einfach nicht, warum du anscheinend solche Probleme mit deinem Selbstbewusstsein hast. Hast du dich schon mal angesehen? Du bist wunderschön, klug, nett, hilfsbereit und hast Freunde. Warum zweifelst du eigentlich immer so viel an dir?“ Kari öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch ihr fiel nichts ein. Sie fühlte sich gerade überrollt. Warum musste er sie ausgerechnet auf ihr Selbstbewusstsein ansprechen? Und warum ausgerechnet jetzt? „Was ist es, das dir solche Probleme macht?“, fragte T.K. weiter und starrte sie unverwandt an, sodass Kari einen Schritt zurücktrat. „Ich...“ Sie fühlte sich in die Enge getrieben und trat noch einen Schritt zurück. T.K. wiederum kam einen Schritt auf sie zu. „Ist es wegen Shinji?“, wollte er wissen. „Oder war das schon vorher so? Hat irgendjemand anderes irgendeinen Scheiß mit dir gemacht?“ Kari wich noch einen Schritt zurück und stieß mit dem Rücken gegen einen breiten Baumstamm. Sie spürte die raue Rinde auf der nackten Haut ihrer Schulterblätter. „T.K., bitte...“ „Was?“, fragte er aufgebracht. „Hör auf“, murmelte sie leise. Seine Hand schob ihr eine Haarsträhne aus der Stirn, strich sanft über ihre Wange und blieb an ihrem Hals ruhen. Er trat noch einen kleinen Schritt an sie heran, sodass ihre Körper sich nun berührten. Langsam legte er seine Stirn an ihre und schlug die Augenlider nieder. Karis Herz schlug ihr bis zum Hals. „Ich meine ja nur, dass du gar keinen Grund hast, dich so unsicher zu fühlen. Ich glaube, du weißt gar nicht, wie du auf manche Menschen wirkst“, hauchte er. Sie war überrumpelt von seinen Stimmungsschwankungen. Erst locker, dann aufgebracht und jetzt auf einmal ruhig. Sie konnte seinen warmen Atem auf ihren Lippen spüren, was sie ganz kribbelig machte. Ihr wurde heiß und kalt zugleich und in ihrem Magen breitete sich ein prickelndes Gefühl aus. Als sie seine Lippen schließlich auf ihren spürte, unterbrach sie den noch nicht begonnenen Kuss jedoch. „Ähm... warte“, sagte sie und drückte ihre Hände gegen seine Brust, um ihn somit von sich wegzuschieben. Verwirrt sah er sie an. „I-ich glaube, wir sollten lieber wieder auf die Hochzeit zurück gehen.“ T.K. hob überrascht die Augenbrauen, kratzte sich am Nacken und brauchte eine Weile, um zu reagieren. Kari freute sich fast schon, dass sie ihn scheinbar völlig aus dem Konzept gebracht hatte. Sie drängte sich an ihm vorbei und machte sich auf den Weg zurück ins Hotel. T.K. folgte ihr. „Ist alles... okay?“, fragte er nach einer Weile. „Mhm“, murmelte Kari unsicher. Sie wusste selbst nicht, was genau sie dazu gebracht hatte, die Szene unterm Baum zu beenden. Sie hatte sich von ihm bedrängt gefühlt und wusste außerdem nicht, was sie wollte, jetzt, wo es gerade ernst werden konnte. Kapitel 46: Die Hochzeit II --------------------------- Es war seine eigene Hochzeit. Seine und Mimis. Und trotzdem konnte man die Minuten, die sie miteinander verbrachten, an zwei Händen abzählen. Ständig wurde Tai von irgendjemandem in ein Gespräch verwickelt, in dem es um seine Zukunftsplanung ging, oder aber von verschiedenen Frauen zum Tanzen aufgefordert. Und immer, wenn er gerade zu Mimi gehen wollte, kam ihm irgendjemand in den Weg oder aber Mimi war auf der Toilette. So wie jetzt gerade. Er hatte ein paar Sekunden der Ruhe, aber Mimi war unauffindbar. Langsam machte sich Tai selbst auf den Weg zu den Toiletten. Vielleicht konnte er sie ja abfangen. Er wollte mit ihr tanzen, mit ihr reden, mit ihr essen, irgendwas. Die Hauptsache war, mit ihr zusammen zu sein. Tatsächlich verließ sie gerade die Damentoiletten, als Tai in den Gang einbog, in dem sich diese befanden. Mimi lächelte, als sie ihn erkannte. „Mein werter Ehemann“, sagte sie und blieb unmittelbar vor ihm stehen. Zum ersten Mal an diesem Tag hatte er wirklich Zeit, sie anzusehen, ihr Kleid zu bewundern, ihre Haare, ihr Gesicht, alles. Sie sah wirklich umwerfend aus. „Hey, Mrs Yagami“, raunte er, zog sie an sich und verwickelte sie in einen Kuss. Mimi kicherte und sah ihn an. „Wir sind hier auf dem Gang zum Klo, Tai“, erinnerte sie ihn überflüssigerweise. „Schlimm genug, dass ich dich auf unserer Hochzeit nur auf dem Weg zum Klo erwische“, murmelte er und ließ sie los. „So ist das eben“, meinte Mimi mit Bedauern in der Stimme. „Als Gastgeber hat man doch immer am wenigsten Zeit.“ „Dann muss man sie umso besser nutzen“, erwiderte Tai bestimmt, drückte sie gegen die Wand und küsste sie erneut. Er spürte, wie sie die Arme um seinen Hals schlang und ihre Hände in seinen Haaren vergrub, die längst nicht mehr so ordentlich wie am Morgen aussahen. Für einen kleinen Moment gab es nur sie beide, hier auf dem schmalen Gang zu den Toiletten auf der Feier ihrer Hochzeit. „Ähm... hallo? Nehmt euch 'n Zimmer! Hier gibt’s doch genug.“ Sie lösten den Kuss und sahen beide Satoshi an, der mit verschränkten Armen dort stand und sie angrinste. „Ach, Klappe“, grummelte Tai und drängte sich neben Mimi an die Wand, um ihn vorbeizulassen. Dann wandte er sich wieder an seine frischgebackene Ehefrau. „Wie geht’s dir? Ist alles in Ordnung?“ „Ja, mach dir keine Sorgen. Alles prima“, antwortete sie und strich sich über den Bauch. „Ich glaube, er weiß, dass heute ein wichtiger Tag ist.“ „Na, das will ich hoffen, ansonsten kann er da für immer drin bleiben“, erwiderte Tai scherzhaft und stupste Mimis Bauch an. „Was? Sag mal, spinnst du?“, rief Mimi empört und drehte sich von ihm weg, um ihren Bauch in Sicherheit zu bringen. „War doch nur Spaß“, meinte Tai versöhnlich und zog sie wieder zu sich, doch sie marschierte an ihm vorbei zurück in den Festsaal. „Jaja, von wegen. Du kannst für immer draußen bleiben“, hörte er sie knurren, bevor er ihr nacheilte. „Jetzt sei nicht so. Du weißt doch, wie ich das meine“, seufzte er. Mimi schnaubte. „Dafür kannst du mir jetzt noch einen Orangensaft holen.“ „Wird erledigt, werte Gemahlin.“ _ „Davis, warte!“ Unsanft packte Ken ihn an der Schulter und drehte ihn zu sich herum, sodass Davis gezwungen war, ihn anzusehen. Dabei wollte er ihm nach seinem unfreiwilligen Geständnis eigentlich nur noch aus den Augen gehen. Sie standen nun draußen auf der Terrasse des Hotels und Davis hatte gerade Anstalten gemacht, diese zu verlassen, um sich ein bisschen die Beine im Park zu vertreten und wieder einen klaren Kopf zu bekommen. „Ich hatte ja keine Ahnung!“, erklärte Ken. „Wieso hast du das nicht gleich gesagt?“ „Was hätte das denn geändert?“, blaffte Davis aufgebrachter, als er wollte. „Nichts!“ „Ich hätte gleich verstanden, worum es geht und hätte von Anfang an gewusst, warum du kein Wort mehr mit mir redest“, erwiderte Ken überzeugt. Seine blauen Augen bohrten sich in Davis' und er musste sich zwingen, diesem Blick standzuhalten. „Was sollte das bitte? Ich dachte, wir sind Freunde.“ Davis war verwirrt. Ken schien der Tatsache, dass Davis nicht nur schwul, sondern auch in ihn verliebt war, weniger Aufmerksamkeit zu schenken als der, dass er nicht mit ihm über sein Problem geredet hatte. Dabei hätte Davis gedacht, Ken wäre schockiert, vielleicht sogar angeekelt. „Es hätte doch nichts gebracht!“, fuhr Davis ihn an. „Was hättest du denn gemacht, wenn ich es dir gleich gesagt hätte? Etwa dein Wesen geändert, von hetero auf homo, Nana verlassen und mir gestanden, dass du schon seit Jahren das Gleiche für mich empfindest? Wohl kaum!“ Ken sah ihn eine Weile schweigend an. Sein Blick ließ vermuten, wie enttäuscht er war. „Ich hätte es einfach gewusst. Und wir hätten zusammen irgendeinen Weg finden können. So, wie wir es immer gemacht haben.“ „Was denn für einen Weg?“, polterte Davis ungehalten. Wollte dieser Junge ihn nicht verstehen oder konnte er es nicht? „Ich kann dich nicht mit ihr zusammen sehen, aber ich würde auch nicht wollen, dass du dich von ihr trennst. Es gibt einfach keinen Weg da raus! Das ist sinnlos!“ Einige Sekunden starrten sie einander schweigend an. Davis hätte gern gewusst, woran Ken gerade dachte. „Und was heißt das jetzt für dich? Dass die Freundschaft vorbei ist?“, fragte Ken leise. Davis antwortete nicht. Er wusste ja selbst nicht, was das für ihre Freundschaft bedeuten sollte. Er hasste sich dafür, dass er schwul war und dann auch noch ausgerechnet in Ken, seinen besten Freund, verliebt. Er fühlte sich, als wäre er schon seit einiger Zeit im falschen Film. _ Mit viel Betteln hatte Yolei Joe dazu gebracht, ihr ein Glas Wein zu bestellen, mit dem sie sich Mut antrinken wollte. Sie hatte sich fest vorgenommen, Karis Cousin Masaru anzusprechen. Sie wollte endlich mal etwas Glück in der Liebe haben. Noch hatte sie keine feste Beziehung geschweige denn einen richtigen Kuss gehabt. Dabei war sie nun schon neunzehn. Längst überfällig. Eine alte Jungfer. Alle um sie herum hatten einen Freund, oder zumindest kam es ihr so vor. Nur sie war Single. Doch das konnte sich heute ändern. Vielleicht reichte es auch nur für ein nettes Gespräch, aber das wäre ja zumindest schon mal ein Anfang. Sie trank den letzten Schluck aus ihrem Glas, fühlte sich im Kopf etwas benebelt und ging direkt auf Masaru zu. Dieser saß gerade mit einem Jungen zusammen, den Yolei nicht kannte, doch das war ihr egal. Unaufgefordert setzte sie sich auf den Stuhl neben Masaru und sah die beiden Jungen an, die sie verwirrt musterten. „Hi, ich bin Yolei. Eine Freundin von Kari“, stellte sie sich vor. „Hi“, erwiderten die beiden im Chor und sahen sie abwartend an. Allmählich kam Yolei der Gedanke, dass sie sich wahrscheinlich gerade total zum Löffel machte. „Ja ähm... wie findet ihr die Hochzeit so?“, fragte Yolei mit hoher Stimme und lächelte gezwungen. Sie hoffte, dass die beiden auf ihren Gesprächsversuch eingehen würden. „Cool“, antwortete der andere Junge, der sie noch immer verwundert anstarrte. „Und du so? Du bist eine der Brautjungfern, oder?“ „Genau.“ Yolei nickte eifrig. „Ich finde die Hochzeit super! Ich habe mich nur gerade ein bisschen gelangweilt und da habe ich euch gesehen und dachte, ihr seht so... äh... so... so aus, als hättet ihr gerade nichts zu tun und deshalb wollte ich mal 'hallo' sagen.“ Sie spürte, wie ihr Gesicht rot anlief. Masaru hatte eine Augenbraue gehoben und warf dem anderen Kerl einen fragenden Blick zu. Dieser zuckte mit den Schultern. „Ja, stimmt. Ist ganz cool, wenn man die anderen Gäste mal ein bisschen kennenlernt“, erwiderte er. „Da hast du Recht.“ Sie wandte sich nun direkt an Masaru, der irgendwie etwas gelangweilt wirkte. „Du bist Karis Cousin, stimmt's? Kari hat schon viel von dir erzählt.“ „Ach, ehrlich?“, fragte er, wirkte aber nicht so, als würde ihn die Antwort tatsächlich interessieren, was Yolei verunsicherte. „Natürlich nur Gutes“, versicherte Yolei ihm und lächelte schwach. „Und da wollte ich dich unbedingt mal kennen lernen. Ach, und wer bist du?“ Nun sah sie höflicherweise den anderen Jungen an, auch wenn der sie nicht interessierte. „Kenta. Und eigentlich bin ich nur die Begleitung für Rin“, antwortete er und Yolei hatte keine Ahnung, wer Rin war, wollte aber auch nicht nachfragen. Das war ohnehin unwichtig für ihr Vorhaben. Daher nickte sie nur und lächelte, bevor sie sich wieder an Masaru wandte. „Hast du auch eine Begleitung?“, fragte sie ihn. „Nein“, antwortete dieser, ohne eine Miene zu verziehen. Allmählich fragte Yolei sich, ob er sich in den letzten Stunden vielleicht Botox hatte spritzen lassen, so unbeweglich wie sein Gesicht war. „Na, das passt ja perfekt. Ich nämlich auch nicht“, erwiderte Yolei fröhlich. Masaru nickte beiläufig und nippte an seinem Getränk, während Kenta Yolei anscheinend richtig verstanden hatte. „Tja, ich gehe mal Rin suchen. Habe sie schon ewig nicht mehr gesehen“, erklärte er, stand auf und verschwand. Yolei fing Masarus Blick auf. Seine Augen waren denen von Tai tatsächlich sehr ähnlich. Sie hatten das gleiche, tiefgründige Braun. Yolei schlug die Beine übereinander, stützte den Kopf auf einer Hand ab und musterte ihn. „Also, Masaru, was machst du so?“ _ Es war bereits tief in der Nacht und Kari hatte sich gerade noch ein Stück Hochzeitstorte schmecken lassen. Über die Hälfte der Gäste war schon gegangen oder hatte sich auf eines der Hotelzimmer verzogen, sodass größtenteils nur noch jüngere Gäste anwesend waren. Diese befanden sich auf der Tanzfläche, wo sie wild durch die Gegend sprangen, die Lieder mitgrölten, zu denen man nun schlecht als Paar tanzen konnte und sich einfach amüsierten. Um sich ein paar der gerade verschlungenen Kalorien wieder abzutanzen, gesellte Kari sich zu einer Gruppe Mädchen, zu der auch Mimi gehörte. Yolei saß in einer Ecke und redete mit Masaru, während Sora schon seit einer Weile verschwunden war. Vielleicht war sie noch immer im Park. Mimi klatschte in die Hände, als Kari zu ihr stieß, und umarmte sie stürmisch. „Meine Lieblingsschwägerin! Ich hoffe, dir geht’s gut?“, fragte sie und grinste Kari an. „Mein Gott, bist du betrunken? Ich dachte, du bist schwanger“, lachte Kari. „Ich bin nur übermüdet“, erwiderte Mimi abwinkend, legte den Kopf in den Nacken und lachte ebenfalls. „Und vielleicht auch ein bisschen überzuckert. Die Torte!“ Sie rieb sich den Bauch und leckte sich über die Lippen. „Oh ja, die ist echt super“, stimmte Kari ihr zu. „Weißt du, wie die entstanden ist?“ Mimi kicherte, als Kari den Kopf schüttelte. „Tai und ich sind zum Bäcker gegangen, haben gesagt, wir wollen eine Hochzeitstorte haben und dann haben wir ihnen alle Zutaten genannt, die wir dabei haben wollen. Der Rest war uns egal. Und das ist dabei herausgekommen.“ „Das war eine super Idee“, meinte Kari. „So mache ich das auch, wenn ich mal heiraten sollte.“ „Bestimmt wirst du mal heiraten“, antwortete Mimi zwinkernd, dann machte sie plötzlich große Augen. „Oh mein Gott, der Brautstrauß!“ „Was ist damit?“, fragte Kari verwirrt. „Ich muss ihn doch noch werfen!“, erwiderte Mimi, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. „Wohin?“ Mimi sah sie amüsiert an. „Du kriegst aber auch gar nichts mit. Alle unverheirateten Frauen müssen sich aufstellen und ich werfe den Brautstrauß. Diejenige, die ihn fängt, wird als Nächste heiraten.“ Mimi stürmte los und die anderen Mädchen aus der Gruppe sahen ihr verwundert hinterher. Auch Kari verfolgte sie mit ihren Blicken. Sie war zum DJ gelaufen, redete kurz mit ihm, woraufhin er nickte und die Musik ausstellte. Alle übrigen Gäste hielten inne und wandten sich nun neugierig an Mimi. Diese hielt ein Mikrofon in der Hand und stellte gerade sicher, dass ihr alle ihre Aufmerksamkeit schenkten. „Ihr Lieben, ich hätte es fast vergessen! Aber ich sehe, es ist noch nicht zu spät. Ich bitte jetzt alle unverheirateten Mädels sich auf der Tanzfläche aufzustellen“, rief sie ins Mikrofon. Die Mädchen, bei denen Kari stand, jubelten los und klatschten Beifall, als hätte Mimi soeben ein Heilmittel für HIV gefunden. Sie rannten in die Mitte der Tanzfläche und stellten sich auf. Kari wollte gerade unauffällig verschwinden, als Yolei ihr über den Weg lief, sich bei ihr einhakte und sie mit sich zog. „Na komm schon, du bist genauso unverheiratet wie ich, meine Liebe“, sagte sie zwinkernd und stellte sich mit Kari auf. Kurz darauf tauchte auf einmal auch Sora wieder auf und wurde von Mimi unter Protest direkt zu den anderen Mädchen dirigiert. Auch Kaori, Joes Freundin, stand in der Gruppe, die nun aus etwa zwölf Mädchen bestand. Kari drückte sich an den Rand der Gruppe. Sie wollte den Strauß unter keinen Umständen fangen. Auf diese Aufmerksamkeit konnte sie gut verzichten. „Okay, seid ihr bereit?“, fragte Mimi mit leuchtenden Augen, dann lief sie auf die Gruppe zu und stellte sich in einem Abstand von etwa drei Metern vor ihnen auf und drehte ihnen den Rücken zu. Es wurde auf einmal still und alle warteten darauf, dass Mimi ihren Brautstrauß warf. Der DJ legte einen Trommelwirbel auf, Mimi wartete einige Sekunden und warf schließlich den Brautstrauß in hohem Bogen über ihren Kopf nach hinten. Kari wollte sich wegducken, doch das war nicht nötig, da alle Mädchen um sie herum die Arme in die Höhe streckten und versuchten, den Strauß zu erhaschen. Außerdem flog der Strauß nicht in ihre Richtung. Jemand fing den Strauß und alle im Saal klatschten Beifall und jubelten. „Oh mein Gott, ich werde nach Italien fliegen!“, kreischte Mimi, rannte auf die Gruppe zu und umarmte Sora, die mit verdutztem Gesichtsausdruck und dem Strauß in den Händen dort stand. Kari sah sich nach Matt um und entdeckte ihn zusammen mit Tai an einem der Tische, wie sie zu den Mädchen hinübersahen und ebenfalls klatschten. Und wo war eigentlich T.K.? Sie hatte ihn nicht mehr gesehen, seit sie ihn draußen stehen gelassen hatte. Die Musik wurde wieder eingeschaltet, die Tanzfläche füllte sich wieder und Kari beschloss, sich hinzusetzen, da ihr die Hochzeitstorte schwer im Magen lag. Sie suchte sich einen Tisch aus, an dem sonst niemand saß, und ließ sich auf einen der Stühle fallen. Auf die Tanzfläche starrend goss sie sich ein Glas Wasser ein und nippte daran. Von den älteren Gästen war nur noch eine Handvoll da, der Rest bestand aus jungen Leuten. Amüsiert beobachtete sie die Grüppchen auf der Tanzfläche, zu denen neben Mimi mittlerweile auch Tai, Cody und Ken gehörten. Besonders über Ken wunderte Kari sich, wie er dort stand und tanzte. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, dass sich ihr jemand näherte. Es war T.K. Er zog den Stuhl neben Kari zurück und setzte sich. Er beugte sich etwas nach vorn, stützte die Arme auf dem Tisch ab und musterte Kari. „Sei ehrlich, du hast nicht mal versucht, den Brautstrauß zu fangen, oder?“, fragte er. „Nicht wirklich“, erwiderte sie schief lächelnd. „Stimmt irgendwas nicht, oder warum sitzt du hier so allein herum?“ „Zu viel Torte“, antwortete Kari abwinkend. „Du musst mir also keine Gesellschaft leisten, wenn du nicht willst.“ „Ich bin deine Begleitung. Schon vergessen?“ Er grinste. „Also kommst du gerade nur deiner 'Pflicht' nach?“, fragte Kari zweifelnd und formte mit den Zeige- und Mittelfingern beider Hände Anführungszeichen. Gespielt hilflos zuckte er mit den Schultern. „Man tut, was man tun muss, nicht wahr?“ Er nahm einen Schluck von seinem Getränk, dann wurde er wieder ernst. „Sag mal, was war das eigentlich vorhin draußen im Park?“ Ratlos sah Kari ihn an. Nicht, weil sie nicht wusste, wovon er sprach, sondern weil sie nicht wusste, was sie antworten sollte. „Du bist so plötzlich abgehauen“, erklärte er und beobachtete sie weiter. „Ja, ich... ich bin nur ein bisschen verwirrt. Und du hast mich bedrängt“, murmelte sie ausweichend und wandte den Blick ab. Schon wieder waren seine Augen so durchdringend. „Entschuldige. Ich wollte dich nicht bedrängen.“ Nun widmete auch er seine Aufmerksamkeit scheinbar der Tanzfläche und nippte wieder an seinem Drink. „Ich wollte eigentlich nur versuchen, dich besser zu verstehen. Aber okay, war eine blöde Idee.“ „Nein, schon gut. Ich weiß ja selbst nicht, warum ich so bin“, seufzte Kari. „Ich erst recht nicht.“ Sie beugte sich nach vorn, stützte den Kopf auf den Händen ab und gemeinsam beobachteten sie die ausgelassenen Tänzer. Diese beklatschten jubelnd jedes neue Lied, als hätten sie seit Jahren nur darauf gewartet, dazu zu tanzen. Kari drehte den Kopf zur Seite und musterte T.K.s Profil. Seine Nase war gerade, sein Haar etwas unordentlich und seine Wimpern dunkel. In seinen Augen spiegelte sich das bunte Licht wider, das die Tanzfläche beleuchtete. Das Sakko hatte er ausgezogen und die Ärmel seines weißen Hemds zu den Ellbogen hochgekrempelt. Er fing Karis Blick auf und hob fragend die Augenbrauen. „Was?“ „Nichts“, erwiderte Kari, wandte den Blick diesmal jedoch nicht ab. Sie lächelte leicht, er schien nur verwirrt. „Sag schon.“ „Du solltest öfter ein Hemd tragen“, erwiderte Kari schließlich. Ihr Blick fiel auf den geöffneten oberen Knopf und die Haut, die darunter freigelegt war. „Zu unbequem für den Alltag“, antwortete T.K. schulterzuckend. „Schade“, murmelte Kari. Seit sie sich vorgebeugt hatte, saßen sie schon dicht beieinander, doch nun näherte sie sich ihm noch ein wenig und sah ihm in die Augen. Sofort schlug ihr Herz höher und ihre Knie fühlten sich wackelig an. In ihrem Magenbereich kribbelte es, und das hatte nichts mit der Torte zu tun. „Kannst du bitte mal damit aufhören?“, sagte Kari kaum hörbar. „Womit?“, fragte er, wich aber keinen Millimeter zurück. „Mich verrückt zu machen.“ Und obwohl sie nicht allein waren und theoretisch jeder sie beobachten konnte, überwand Kari den letzten Abstand zwischen ihnen und küsste ihn. Es hatte sie einfach überkommen. Es war kein solch inniger Kuss wie die am letzten Wochenende, doch er reichte aus, um Karis Gehirn auszuschalten und dieses verrückte Flattern im Bauch zu spüren. Was machte dieser Junge nur mit ihr? _ „Du hast sie nicht gesehen? Das kannst du mir nicht erzählen. Komm schon, Mimi. Ich hab' mir das doch nicht eingebildet!“ Schon seit zehn Minuten redete Tai auf Mimi ein und wollte ausdiskutieren, was er gesehen hatte. „Tai, du bist betrunken. Da sieht man viele Dinge“, meinte Mimi abwinkend. In Wirklichkeit hatte sie es auch gesehen. T.K. und Kari hatten sich geküsst. Wahrscheinlich hatten sie gedacht, niemand würde auf sie achten, doch die Wahrheit war, dass alle sie gesehen hatten. Naja zumindest alle, die noch da waren. Doch trotzdem wollte sie jetzt nicht mit Tai darüber sprechen. Sie befürchtete, dass dieser nur seinen Beschützerinstinkt seiner kleinen Schwester gegenüber herausholen und sich Sorgen machen würde. Mimi glaubte, dass er am nächsten Morgen sowieso wieder vergessen haben würde, was er gesehen hatte. „Ich bin nicht betrunken!“, lallte er. „Nur ein bisschen angeheitert. Und ich weiß, was ich gesehen habe. Glaubst du, da läuft was Ernstes? Ich will nicht, dass sie noch mal verarscht wird.“ Mimi seufzte, drehte sich um und sah ihn an. „Willst du jetzt über Kari reden oder wollen wir das tun, was man normalerweise in der Hochzeitsnacht tut?“ Sein Blick war erst verwirrt, dann lächelte er verwegen, kam auf sie zu, legte seine Hände an ihre Taille und zog sie an sich. „Was für eine Frage“, raunte er und wollte sie küssen, doch Mimi legte ihm einen Zeigefinger auf die Lippen. „Ich gehe mich nur kurz frisch machen“, entschuldigte sie sich und huschte ins Badezimmer, während Tai sich auf das breite Bett warf. Im Badezimmer stellte sie sich vor den Spiegel und musterte sich selbst. Sie war begeistert von der Qualität der Make-up-Produkte. Nichts war verlaufen, alles hatte den ganzen Tag gehalten. Lediglich den Lippenstift hatte sie hin und wieder nachgezogen. Trotzdem sahen ihre Augen eindeutig müde aus. Aber das war ja auch kein Wunder. Immerhin war es fast fünf Uhr und sie war seit vierundzwanzig Stunden auf den Beinen. Gähnend wusch sie sich die Hände und tupfte sich das Gesicht vorsichtig mit Wasser ab. Dann fuhr sie sich mit den Fingern durch die Haare und legte sie so, wie sie sie gern haben wollte. Auf die Toilette musste sie auch noch und die Zähne mussten geputzt werden. Dann war sie fertig und verließ das Badezimmer wieder in der Erwartung, Tais Blick auf sich gerichtet zu haben. Doch als sie das Schlafzimmer betrat, sah sie, dass dieser auf dem Bett ausgebreitet lag und tief und fest eingeschlafen war. Mimi runzelte die Stirn, ging zu ihm und wollte ihn schon wütend wecken, doch als sie sich aufs Bett setzte und sich über ihn beugte, beobachtete sie sein Gesicht. Sein Mund war leicht geöffnet, sein Brustkorb hob und senkte sich regelmäßig und eine Hand lag auf seinem Bauch. Bis auf die Schuhe trug er seinen Anzug noch vollständig. Mimi schüttelte den Kopf, lächelte aber. Typisch Tai. Vorsichtig legte sie sich neben ihn und kuschelte sich behutsam an ihn, um ihn nicht zu wecken. Innerhalb von wenigen Minuten war auch sie eingeschlafen. _ So viel hatte er mit Sora an diesem Abend geredet. Über alles Mögliche. Schließlich hatten sie sich seit Ewigkeiten nicht mehr unterhalten und die wenigen E-Mails, die sie ausgetauscht hatten, konnte man wirklich nicht als Unterhaltung bezeichnen. Außerdem hatten sie zusammen Wein getrunken, was ihnen beiden den Kopf vernebelt hatte. Eigentlich trank Matt nicht gern Wein, aber aus irgendeinem Grund hatte er ihn heute für genau das richtige Getränk gehalten. Erschöpft stand er unter der Dusche und ließ das heiße Wasser auf sich herabprasseln, während er vor sich hin starrte. Er hatte sie so unglaublich vermisst. Über drei Jahre war es nun schon her, dass sie sich getrennt hatten und doch hatte er heute gemerkt, wie sehr er sie noch liebte. Eigentlich hatte er gedacht, nun langsam über sie hinweg zu sein. Immerhin hatte er mehr als genug Ablenkung in seinem Alltag. Doch der heutige Abend hatte all seine verdrängten Gefühle wieder hervorgekramt. Es hatte wehgetan, als sie ihn ganz beiläufig gefragt hatte, ob er eigentlich eine Freundin hätte und fast schon enttäuscht schien, als er ihre Frage verneint hatte. Sie hatte Fabio recht schnell gefunden, daran konnte er sich noch gut erinnern. Und auch an das, was er gefühlt hatte, als er von Fabio erfahren hatte. Wahrscheinlich hatte sein Unterbewusstsein all die Zeit gehofft, dass ihre Beziehung noch eine Chance erhalten würde. Dass sie trotz der Entfernung zusammen sein konnten, auch wenn es nicht einfach werden würde. Aber das war wirklich mehr als unwahrscheinlich. Wütend schlug er mit der Faust gegen die Wand, versuchte, tief durchzuatmen und stellte schließlich das Wasser ab. Der Spiegel war vollkommen beschlagen, aber Matt verspürte ohnehin gerade nicht den Drang, sich selbst ansehen zu müssen. Er fuhr sich gerade durch die nassen Haare, als er ein zaghaftes Klopfen an seiner Zimmertür vernahm. Wer um alles in der Welt wollte denn jetzt noch etwas von ihm? Hatten etwa doch ein paar Fans erfahren, dass er heute hier war? Er band sich das Handtuch um die Hüften, verließ das Bad, lief quer durch sein winziges Schlafzimmer und öffnete die Tür einen Spalt breit. „Sora?“, fragte er verdutzt, als er ihr Gesicht erkannte. Ihr Blick wirkte unsicher. „Ich hoffe, ich habe dich nicht geweckt?“, fragte sie leise. „Ich komme gerade aus der Dusche“, erwiderte er und öffnete die Tür ganz, um sie herein zu lassen. „Ist alles in Ordnung?“ Unschlüssig stand sie in dem Raum, die Arme um den Körper geschlungen und sah sich um. Sie trug den weißen Morgenmantel des Hotels, den auch Matt im Badezimmer hängen hatte. „Ja, ich konnte nur nicht schlafen und dachte, vielleicht geht es dir genauso.“ „Hab's noch nicht versucht.“ Er zuckte mit den Schultern, war sich aber sicher, dass es ihm nicht anders ergangen wäre. Dann kratzte er sich unschlüssig im Nacken, nicht wissend, weshalb sie genau hier war. „Tja also... ich würde dir ja etwas zu trinken anbieten, aber ich habe nichts hier. Also vielleicht willst du ja einfach nur...“ Er unterbrach sich selbst, als er ihren Blick bemerkte. Sie starrte ihn so eindringlich an, als versuchte sie, seine Gedanken zu lesen. Gerade wollte er sie fragen, ob irgendetwas nicht stimmte, da lösten ihre Arme plötzlich die verkrampfte Haltung um ihren Oberkörper und ihre Hände öffneten ihren Morgenmantel. Überrascht hob Matt die Augenbrauen, sah ihr noch einmal kurz in die Augen – ihr Blick hatte sich nicht verändert – und verfolgte dann weiter ihre Bewegungen. Unter ihrem Morgenmantel trug sie... nichts. Sie war vollkommen nackt. Langsam ließ sie den Stoff von ihren Schultern gleiten, sodass er zu Boden fiel und dort unbeachtet liegen blieb. Matt konnte nicht anders, als ihren Körper zu betrachten. Schlank, sportlich, gebräunt. Kein Gramm Fett zu viel. Wie auch früher schon. Rasch kam sie auf ihn zu und presste ihre Lippen auf seine, während ihre Hände sich ungeduldig an dem Handtuch zu schaffen machten, das um seine Hüften gewickelt war. Matt packte sie an den Armen und schob sie gerade so weit von sich, dass er sie ansehen konnte. „Wow, warte mal!“, sagte er perplex und runzelte die Stirn. „Was zum...?“ „Sag einfach nichts“, unterbrach Sora ihn und wollte ihn wieder küssen, doch er hielt sie auf Abstand. „Was ist mit Fabio?“ „Sag einfach nichts“, wiederholte sie nur nachdrücklich und presste die Lippen wieder auf seine. Er spürte, wie ihre Zunge versuchte, sich einen Weg in seinen Mund zu bahnen, legte die Hände an ihr Gesicht und schob sie somit wieder ein wenig von sich. „Matt, halt' einfach die Klappe, sonst fange ich wieder an, nachzudenken, und das will ich gerade so überhaupt nicht“, raunte sie und sah ihm in die Augen. Er erwiderte ihren glühenden Blick, der aussah, als würde sie ihn verschlingen wollen. Die vernünftigste Reaktion seinerseits wäre wohl gewesen, sie zurück in ihr eigenes Zimmer zu schicken und ihr zu erklären, dass das hier keine gute Idee war. Es wäre auch vernünftig gewesen, jetzt mit ihr zu reden und ihr zu sagen, dass er noch starke Gefühle für sie hatte. Es wäre sogar vernünftig gewesen, auf der Stelle ihren Fabio anzurufen und ihm zu verklickern, was seine Freundin gerade im Begriff war zu tun. Aber Matt war noch nie sonderlich vernünftig gewesen. Er zog sie an sich, um sie in einen leidenschaftlichen Kuss zu verwickeln, während er selbst das Handtuch entfernte, das momentan als einziges Kleidungsstück in diesem Raum fungierte. Kapitel 47: Hochzeitsbrunch --------------------------- „Scheiße!“, fluchte Sora leise, als sie am nächsten Morgen nackt neben Matt aufwachte. Was hatte sie sich denn bloß dabei gedacht? Ja, sie hatten beide Alkohol getrunken, aber das war keine Entschuldigung. Jetzt hatte sie nicht nur ihren Freund betrogen, sondern auch mit ihrem Ex geschlafen, der anscheinend noch Gefühle für sie hatte. Und was hatte sie für Gefühle? Sie liebte Fabio, das wusste sie. Aber was war mit Matt? Sie beobachtete ihn beim Schlafen. Er lag auf der Seite, sein blondes Haar verdeckte teilweise seine geschlossenen Augen. Sie legte den Kopf schief und betrachtete das Tattoo, das seinen kompletten rechten Oberarm bedeckte. Es war ihr in der Nacht schon aufgefallen, doch zu diesem Zeitpunkt hatte sie dem keine besondere Beachtung geschenkt. Nun stellte sie fest, dass es ein wirres Gebilde war, das sich aus vielen einzelnen Motiven zusammensetzte. Sie konnte eine Gitarre und Noten erkennen, einen Totenschädel, Flammen, so etwas wie Dornenranken und einen Papierflieger mit dem Schriftzug „always on my mind“, eindeutig seine Handschrift. Sora schlug sich eine Hand vor den Mund. Sie wusste sofort, was es bedeutete. Damals, wenige Monate vor ihrer Trennung, hatte er ihr genau diesen Papierflieger während einer langweiligen Unterrichtsstunde gebastelt und ihr quer durch den Raum zugeworfen. Er war genau auf ihrem Tisch gelandet. Der Schriftzug war eine Stelle aus einem Lied, das er für sie geschrieben hatte. Sie wusste, dass er die Aktion mit dem Papierflieger nur zum Spaß gemacht hatte, doch sie hatte es unglaublich romantisch gefunden. Das Original bewahrte sie noch immer in ihrer Schreibtischschublade in Mailand auf. Dass nun genau dieser Papierflieger auf seinem Arm verewigt war, konnte eigentlich kaum falsch gedeutet werden. Was hatte sie nur getan? So leise sie konnte kletterte sie aus dem Bett und schlich zu ihrem Morgenmantel, der genau dort lag, wo sie ihn in der Nacht fallen gelassen hatte. Sie schlüpfte hinein und zog das Band fest zu. Vielleicht konnte er sich ja nicht mehr an die Nacht erinnern. Yolei würde vielleicht blöd gucken, wenn sie sich jetzt auf einmal in ihr gemeinsames Zimmer schlich. „Sora?“ Wie angewurzelt blieb sie auf dem Weg zur Tür stehen, drehte sich aber nicht um. Es vergingen einige unendliche Sekunden, dann hörte sie ihn leise seufzen. „Schon okay.“ Nun drehte sie sich doch um und warf ihm einen hilflosen Blick zu. „Matt, hör mal, das mit heute Nacht, das war...“ „Geh einfach“, unterbrach er sie und wandte den Blick ab. Er hatte sich aufgesetzt und starrte nun die Bettdecke an. „Es tut mir...“ „Ich will's nicht hören.“ Für einige Sekunden stand sie wie ein begossener Pudel dort mitten im Raum und wusste nicht, was sie sagen sollte. Seine Stimme klang ruhig, doch das hatte er schon immer gut gekonnt. Sie konnte sich nur ungefähr vorstellen, wie es in seinem Inneren aussah. Mit Tränen in den Augen verließ sie das Zimmer. _ „Ich kann nicht mit zum Brunchen kommen.“ „Du kommst mit!“ „Mimi, ich kann mich nicht mal bewegen.“ „Komm schon! Wer trinken kann, der kann am nächsten Tag auch brunchen.“ „Was ist das denn für 'ne Logik?“ „Hör auf zu diskutieren und steh endlich auf!“ Sie bewarf ihn mit einem Kissen, woraufhin er gequält stöhnte und sich noch ein wenig mehr zusammenrollte. Sein Kopf schmerzte und er hatte sich in den wenigen Stunden, die er jetzt in der Hochzeitssuite verbracht hatte, schon drei Mal übergeben. Wenn er nur daran dachte, gleich etwas essen zu müssen, drehte sich ihm der Magen um. Mimi hatte jedoch wenig Mitleid. Sie war vor über einer Stunde aufgestanden und duschen gegangen. Nun stand sie wieder in normalen Klamotten, ungeschminkt und mit noch feuchten Haaren vor ihm und musterte ihn mit strengem Blick. Der Zauber des gestrigen Tages war erloschen. „Tai, wir haben nur einmal in unserem Leben die Chance auf einen Hochzeitsbrunch. Die werde ich mir nicht entgehen lassen und du ebensowenig!“, sagte sie drohend. „Boah, nerv nicht, Tachikawa“, grummelte Tai und schloss die Augen. „Yagami, wenn ich bitten darf“, korrigierte sie ihn sofort. Er öffnete die Augen, sah sie an, so gut er eben konnte, und brachte ein schiefes Lächeln zustande. „Der Nachname macht dich leider nicht weniger nervig.“ Mimi verengte die Augen zu Schlitzen und setzte sich direkt vor ihn auf den Boden. „Ich glaube, ich werde zum Frühstück ein wenig Fisch essen. Mit Mayonnaise. Vielleicht schmiere ich mir noch eine Schicht Nutella oben drauf. Oh, und auf Spiegeleier hätte ich irgendwie auch Lust. Ich mag es, wenn das Eigelb noch ganz weich ist und verläuft, wenn man die dünne Haut mit der Gabel anpikst. Und auf das Spiegelei werde ich ein wenig Zucker streuen und...“ Tai unterbrach sie mit einem angewiderten Laut und hielt sich die Ohren zu. „Hör auf! Das ist selbst für eine Schwangere abgedreht. Ganz zu schweigen von jemandem mit Kater.“ „Und den Fisch mit der Mayonnaise und der Nutella werde ich dann in das Zuckerspiegelei einwickeln und das ganze als Wrap essen! Und bevor ich rein beiße, werde ich es noch in eine Mischung aus Ketchup, Wasabi, Öl und Leberpastete dippen!“ Tai konnte sich nur noch eine Hand vor den Mund halten, aufspringen und ins Badezimmer flüchten. _ Der Brunch fand im Festsaal statt, jedoch war die Sitzordnung aufgelöst und die Tische umgestellt worden, da nicht mehr alle Gäste anwesend waren. Kari war als eine der Ersten erschienen. Sie hatte ohnehin kaum schlafen können, da T.K. wieder einmal ihre Gedanken eingenommen hatte. Auch er war zeitig zum Brunch erschienen. Nun saßen sie nebeneinander, aßen und unterhielten sich mit den Gästen, die noch anwesend waren, als Tai und Mimi den Saal als Letzte betraten. Alle wandten die Blicke zu den beiden um und applaudierten, dass sie es endlich geschafft hatten, zu erscheinen. Tai sah aus wie der Tod persönlich. Er war blass, seine Augen waren vom Schlaf verquollen und seiner Körperhaltung nach zu urteilen schlief er innerlich noch. Er verzog das Gesicht, als er sich ohne Essen an den Tisch setzte und nach einem Glas Wasser griff. Mimi warf ihm nur gelegentlich einen bösen Blick zu. „Was ist denn mit dem passiert?“, fragte Yolei, die an Karis anderer Seite saß, und ihr intensives Gespräch mit Masaru für einen Moment unterbrochen hatte. „Ich glaube, er ist einfach nur verkatert“, antwortete T.K., der Tai belustigt musterte. „Jap“, stimmte Kari ihm zu. „Kein Wunder nach allem, was wir gestern sehen mussten“, mischte Matt, der an T.K.s anderer Seite saß, sich nun grinsend in das Gespräch ein. Kari hob die Augenbrauen und nickte. Tai war in der Nacht noch wie ein Wilder über die Tanzfläche gesprungen, hatte einen kleinen Striptease hingelegt und seine Krawatte am Ende um den Kopf getragen. Kari konnte es kaum erwarten, die Fotos der Hochzeit zu bewundern. Als sie Matt ansah, fiel ihr ein, dass sie und T.K. ihn und Sora zusammen im Park gesehen hatten, wo sie anscheinend für eine ganze Weile geblieben waren. Und auch, nachdem sie wieder zurück im Festsaal waren, hatten sie aneinander geklebt wie Kaugummi. Jetzt jedoch saßen sie an verschiedenen Enden des Tisches und Kari hatte Sora schon ein paar Mal dabei erwischt, wie sie Matt heimliche Blicke zugeworfen hatte. Dieser jedoch sah nicht in ihre Richtung. Yolei hingegen schien es irgendwie geschafft zu haben, Masaru für sich zu begeistern. Schon in der Nacht hatte sie die beiden zusammensitzen und reden sehen und auch jetzt unterhielten sie sich die ganze Zeit, wobei jedoch Yolei eindeutig den größeren Teil zum Gespräch beitrug. Kari war gespannt, was sich da noch entwickeln würde. Matt schob seinen Stuhl zurück und stand auf. „Ich muss jetzt los. Habe nachher mit der Band noch einen Pressetermin“, sagte er an Tai und Mimi gewandt. „Ich bringe dich noch raus. Tai ist ja nicht in der Lage, sich überhaupt zu bewegen“, verkündete Mimi spitz in Tais Richtung und stand ebenfalls auf. Matt verabschiedete sich von den anderen Gästen, die seinen Gruß im Chor murmelnd erwiderten, und machte sich mit Mimi auf den Weg nach draußen. Plötzlich sprang Sora auf. „Ich muss auch los. Muss noch packen. Für morgen und so.“ Sie eilte Matt und Mimi hinterher und Kari blickte ihr verwundert nach. _ „Oh, du gehst auch schon?“, fragte Mimi und sah Sora aus großen Augen an. Zu dritt standen sie draußen vor dem Hotel. „Ja, ich muss“, erwiderte Sora. „Ich kann heute Abend noch mal bei euch vorbeikommen, wenn du möchtest.“ „Das wäre schön.“ „Tja, also, ich hab's eilig. Mach's gut, Mimi. Erholt euch gut von gestern“, sagte Matt und schloss Mimi in die Arme. „Sieh zu, dass Tai wieder ein Mensch wird.“ „Das werde ich“, antwortete Mimi mit einem Unterton in der Stimme, der Sora einen schwierigen Tag für Tai vermuten ließ. Matt drehte sich um und ging. „Also dann bis heute Abend“, sagte Sora hastig und umarmte Mimi ebenfalls. „Mach's gut.“ Und schon eilte sie Matt hinterher. Sie musste einfach mit ihm reden, auch wenn Mimi sie heute Abend garantiert auf ihr seltsames Verhalten ansprechen würde. „Matt, warte mal“, rief sie und brachte ihn dazu, stehen zu bleiben. Er hielt tatsächlich an und sah sie ausdruckslos an. „Was denn?“ „Können wir nicht darüber reden?“, fragte Sora eindringlich. „Worüber?“ „Du weißt schon. Heute Nacht.“ Er zuckte mit den Schultern. „Fang an.“ Sora kratzte sich unschlüssig im Nacken. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich wollte dich nicht verletzen. Es war nur so, dass gestern Abend... ich weiß auch nicht, es war so schön mit dir.“ Sie sah ihm in die Augen, doch er erwiderte nichts, sondern sah sie nur abwartend an. Nach ein paar Sekunden redete sie schließlich weiter. „Ich schätze, es sind ein paar alte... Erinnerungen hoch gekommen, die mich überwältigt haben. Du bedeutest mir sehr viel, weißt du?“ „Anscheinend nicht genug“, entgegnete er kühl, sodass Sora unwillkürlich eine unangenehme Gänsehaut bekam. „Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Ich hätte nicht bei dir auftauchen sollen, das weiß ich. Ich meine, ich bin vergeben und ich hatte eigentlich vor, für immer mit Fabio zusammen zu bleiben, aber...“ „Schon gut, daran brauchst du nichts ändern“, unterbrach Matt sie. „Von mir wird er nichts erfahren.“ Er drehte sich um und ging weiter, doch sie lief ihm nach und stellte sich ihm in den Weg. „Aber anscheinend ist das nicht die richtige Lösung, wenn ich mir überlege, was letzte Nacht passiert ist“, beendete sie ihren Satz. Er hob die Augenbrauen. „Und was soll das heißen?“ Sie druckste herum, trat von einem Fuß auf den anderen und spielte mit ihren Fingern. „Ich wollte nur, dass du weißt, dass das nicht bedeutungslos war, okay?“ Er seufzte leise, schüttelte den Kopf und wandte den Blick von ihr ab. „Klar.“ Er wollte an ihr vorbeigehen, doch wieder stellte sie sich ihm in den Weg. „Ich sehe doch, dass es nicht okay für dich ist“, sagte sie und suchte seinen Blick. Er stöhnte genervt auf und fuhr sich durch die Haare. „Mein Gott, was willst du jetzt von mir hören? Was?“, fuhr er sie an, sodass sie zusammenzuckte. „'Klar, kein Problem. Ich halte gern für die Befriedigung deiner nächtlichen Gelüste her, solange du nicht zu deinem Macker kannst. Das machen alle Kerle für ihre Ex-Freundin, wenn sie noch verdammte Gefühle für sie haben.' Gefällt dir das besser?“ Sie starrten sich gegenseitig in die Augen und Sora schluckte hart. „Gefühle?“ „Ja, verdammt nochmal! Ich liebe dich, verstehst du das? Ich habe nie damit aufgehört! Ich vermisse dich jeden Tag so sehr, dass es weh tut! Wann immer ich ein Lied schreibe, denke ich dabei an dich! Deswegen kann ich auch schlecht nein sagen, wenn du mitten in der Nacht splitternackt in meinem Zimmer aufkreuzt!“ Sprachlos starrte sie ihn an und er starrte noch ein paar Sekunden zurück, bevor er an ihr vorbeiging. Diesmal hielt sie ihn nicht auf. _ Der Brunch war durchaus ein würdiger Abschluss für eine gelungene Hochzeit, auch wenn Tai zwischendurch ab und an eilig den Saal verlassen musste. Allgemein herrschte jedoch gute Stimmung und das Essen schmeckte allen. Anschließend machten sich alle nach und nach auf den Weg nach Hause. Schließlich hatte sich auch der harte Kern, alle der Freunde bis auf Matt und Sora, und die Eltern des Brautpaares draußen versammelt. Tai und Mimi verabschiedeten sich und machten sich auf den Weg in ihre gemeinsame Wohnung. Sie würden noch den Tag damit verbringen, all die Geschenke, mit denen sie überhäuft wurden, vom Festsaal zur Wohnung zu transportieren und sie dort unterzubringen. Mimis Eltern begleiteten sie. Der Rest verabschiedete sich nun voneinander und alle überlegten, wann sie sich das nächste Mal sehen würden. „Wir sehen uns morgen“, verabschiedete Kari sich von Davis und Ken und ging weiter zu Yolei. „Und wir?“ „Ich weiß nicht, aber wir müssen uns unbedingt öfter treffen. Du fehlst mir, Kari.“ „Du mir auch.“ Sie umarmten sich und Kari nahm sich vor, tatsächlich öfter mit Yolei Kontakt aufzunehmen. Sie verabschiedete sich auch von Joe und seiner Freundin, Izzy und Cody. Dann gesellte sie sich wieder zu T.K. „Hach, du wirst mir so fehlen. Wir sehen uns erst morgen wieder“, sagte sie gespielt dramatisch und warf ihm einen übertrieben traurigen Blick zu. „Was soll ich nur so lang ohne dich machen?“, ging er auf sie ein. „Aber mal im Ernst: Hast du heute Abend schon was vor?“ Überrascht hob Kari die Augenbrauen. „Nein, wieso?“ Er zuckte mit den Schultern. „Wir könnten uns treffen und du kannst meine Langeweile vertrieben.“ „Okay, klar. Gern.“ Sie lächelte. „Und wo treffen wir uns?“ Kapitel 48: Ein ungewöhnliches Date ----------------------------------- Sie beide hatten im Zuge der Hochzeit so viel gegessen, dass sie tatsächlich einstimmig beschlossen hatten, gemeinsam joggen zu gehen. Somit hatten sie sich bei Einbruch der Dunkelheit im Park getroffen und waren zusammen losgelaufen, um sich ein paar der Kalorien wieder abzutrainieren. Es war ein sternenklarer, aber dafür auch kalter Abend, als Kari im Park ankam, wo T.K. schon an einer Bank auf sie wartete, die Hände in den Taschen seiner Shorts vergraben, die ihm nur bis zu den Knien reichten. „Ist dir nicht kalt?“, begrüßte Kari ihn und rieb sich fröstelnd die Arme. „Ich friere schon, wenn ich dich nur ansehe.“ „Du sollst mich ja jetzt auch nicht ansehen“, erwiderte er grinsend. Sie liefen los in eine unbestimmte Richtung und achteten darauf, nicht zu schnell zu joggen. Kari ging nur äußerst selten laufen. Es war einfach nicht ihre Sportart. Zu langweilig, doch heute irgendwie genau das Richtige. Vielleicht konnte sie ihren Kopf ein wenig freibekommen, doch das würde ohne T.K. definitiv besser klappen. „Und? Wie fandest du die Hochzeit?“, fragte sie nach einer Weile. „Echt gut. Die Stimmung war super“, antwortete er. „Ja, fand ich auch. Alles ist so gut verlaufen. Mimi hat sich ganz umsonst Sorgen gemacht“, erwiderte Kari. Sie plauderten eine Weile ungezwungen über die Hochzeit und über die Vorbereitungen, die Kari miterlebt hatte. Währenddessen joggten sie kreuz und quer durch den Park, bogen unsystematisch irgendwo ab und liefen einige Wege doppelt. Doch das bekam keiner von ihnen so wirklich mit. Nach einer Weile fror Kari nicht mehr, sondern begann zu schwitzen. Das Laufen brachte sie mehr aus der Puste, als sie erwartet hatte. Zudem waren ihre Füße noch ein wenig angeschlagen vom gestrigen Tag. Sie hatte sich an jeder Ferse eine Blase gelaufen und außerdem schmerzten ihre Ballen von der unnatürlichen Fußhaltung. Die Turnschuhe, die sie gerade trug, waren um so vieles bequemer als die High Heels. „Können wir bitte eine Pause machen?“, japste Kari nach etwa einer halben Stunde. Mittlerweile war sie völlig außer Atem und musste dringend Luft schnappen. „Oh, klar“, antwortete T.K. und verlangsamte sein Tempo, sodass sie nun weitergingen. „Ich dachte, ihr Tänzer seid ein bisschen mehr gewohnt.“ Er grinste sie herausfordernd an. „Ach, halt die Klappe“, murrte Kari. Zwar keuchte T.K. ein wenig, wirkte ansonsten aber noch topfit. Aber als Basketballer benötigte er ja auch besonders viel Ausdauer. Sie gingen zu einer Bank und ließen sich darauf fallen. „Das ist echt das seltsamste Date, das ich jemals hatte“, stellte Kari fest, zog die Beine an den Oberkörper und lehnte sich zurück. „Ist es denn eins?“, fragte T.K. „Was?“ Verwirrt sah sie ihn an. „Ist es denn ein Date?“ Ertappt weitete Kari die Augen. „Ich... keine Ahnung. Ich dachte es.“ Er schnaubte belustigt. „Echt romantisch. Verschwitzt nachts auf einer Bank im Park neben den Mülleimern.“ „Es ist, was wir daraus machen“, antwortete Kari schulterzuckend und sah ihn unsicher lächelnd an. „Man könnte auch sagen, wir sitzen im Sternenlicht nach einer gemeinsamen Aktivität auf einer Bank im Park.“ „Wie poetisch“, erwiderte T.K. sarkastisch. Sie kicherte und lehnte den Kopf gegen seine Schulter. Der Stoff seines dunkelgrauen Kapuzenpullis fühlte sich angenehm weich an ihrer Schläfe an und sein Duft stieg ihr in die Nase. Von Schweiß war da jedoch keine Spur. Es war einfach nur der typische T.K.-Duft, den sie den ganzen Tag schnuppern könnte. Vielleicht sollte sie ihm bei Gelegenheit ein T-Shirt klauen. Eine Weile saßen sie schweigend in dieser Position auf der Bank und lauschten einfach in die Nacht hinein. In einem Gebüsch raschelte ein Tier, in irgendeinem Baum schrie ein Kauz, im Himmel ertönte dumpf das Geräusch eines über sie hinweg gleitenden Flugzeugs. Kari hatte die Augen geschlossen und atmete tief ein und aus. Inzwischen hatte sie sich wieder ein wenig erholt. Sie spürte, wie T.K. eine Hand auf ihr Knie legte und von dort aus langsam über ihren Oberschenkel strich, bis er ihre Hand erreichte, die in ihrem Schoß lag. Er verschränkte seine Finger mit ihren. Er seufzte leise. „Was machen wir hier eigentlich?“ „Wir sitzen auf einer Bank?“, antwortete Kari, ohne die Augen zu öffnen. „Nein, ich meine, was haben wir? Was wird das mit uns, wenn es fertig ist?“, fragte er leise. Kari öffnete nun doch die Augen, vermied es aber, ihn anzusehen. Stattdessen starrte sie in die Dunkelheit und überlegte, was sie antworten sollte, wo sie es doch selbst nicht wusste. Sie wollte so ein Gespräch nicht führen, obwohl sie einsah, dass es wohl früher oder später nötig war. „Keine Ahnung“, murmelte sie. „Kari“, sagte er, sodass sie sich aufsetzte und ihn fragend ansah. „Ich bin ziemlich... ich meine, du bist... also... boah.“ Er schloss die Augen und fuhr sich leicht über sich selbst lachend durch die Haare. Kari runzelte nur unsicher die Stirn. „Das ist irgendwie schwieriger als ich dachte“, stellte T.K. schief lächelnd fest. Dann löste er seine Hand von ihrer und vergrub die Finger beider Hände in den Stoff ihrer Jacke. Somit zog er sie an sich und küsste sie fordernd. Es war, als würde sie durch seinen Geschmack auch seine Stimmung schmecken. Sie spürte die Ungeduld und die Leidenschaft, die ihn offenbar ergriffen hatten. Sie fuhr mit den Fingern durch sein Haar und zog ihn somit noch ein wenig näher an sich. Ihr wurde ganz heiß und ein wildes Prickeln erfasste ihren gesamten Körper. Schon wieder brachte er sie um den Verstand und dabei saßen sie nur verschwitzt auf einer Parkband und küssten sich. Wie sollte das werden, falls sie tatsächlich irgendwann einmal weitergingen? Atemlos lösten sie sich so weit voneinander, dass sie sich ansehen konnten. Kari strich sich eine Strähne aus der Stirn, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatte und beobachtete T.K. Seine Augen waren glasig, sein Mund leicht geöffnet und Haarsträhnen klebten an seiner Stirn. Sie war über sich selbst erschrocken, als sie bemerkte, dass sie ihn am liebsten sofort wieder an sich reißen würde. Er hatte sie ganz kribbelig gemacht. Wie gern wäre sie jetzt mit ihm allein in einem Zimmer... Sie zuckte zusammen. Was hatte sie da gerade gedacht? Sie waren doch noch nicht einmal offiziell ein Paar. Fragend sah er sie an. „Mir wird langsam kalt“, murmelte Kari, machte sich von ihm los und stand auf. „Und ich brauche dringend eine Dusche.“ „Jap, ich auch“, stimmte er ihr zu und stand ebenfalls auf. Gemeinsam joggten sie den Weg zurück zu der Bank, an der sie sich getroffen hatten. „Vielleicht sollten wir das regelmäßig machen“, meinte Kari, nachdem sie wieder zu Atem gekommen war. „Ich meine, wenn jemand mitkommt, kann ich mich eher dazu aufraffen.“ „Ja, können wir gern machen“, erwiderte er. Für einen Moment standen sie sich schweigend gegenüber, bis T.K. schließlich seufzte und sich am Kopf kratzte. „Okay, bist du sicher, dass du allein nach Hause kommst?“, fragte er und musterte sie zweifelnd. Kari hob eine Augenbraue. „Ich bin siebzehn. Ich denke, ich finde mein Zuhause allein.“ „Naja, was, wenn dich jemand überfällt? Wegrennen kannst du nicht, du bist ja jetzt schon außer Atem.“ „Idiot“, murmelte sie und boxte ihm gegen den Oberarm. „Außerdem überfällt mich keiner, so, wie ich gerade aussehe.“ „Wenn derjenige auf der Suche nach etwas Süßem ist, schon“, antwortete T.K. schulterzuckend. Sie legte den Kopf schief. „Takeru Takaishi, wenn du so weitermachst, war das unser letztes Joggingdate.“ Er grinste. „Entschuldige.“ Sie warf ihm nur einen mahnenden Blick zu. „Na dann, bis morgen“, verabschiedete er sich von ihr, beugte sich zu ihr hinab und küsste sie. „Und schreib mir, wenn du zu Hause bist. „Das ist mein Spruch“, beschwerte sich Kari, lächelte aber. „Ihr wart zusammen joggen? Bei einem Date? Ist das dein Ernst?“ Ungläubig starrte Nana sie an, als sie am Montag zusammen zur Mittagspause in der Mensa saßen. „Ich hatte gestern auch ein Date mit Ken, aber joggen waren wir nicht. Wir haben anderen Sport gemacht.“ Sie zwinkerte verschwörerisch und Kari versuchte, ihr Kopfkino auszuschalten. „Ah, hör auf“, erwiderte sie und hielt sich demonstrativ die Ohren zu. „Schon gut.“ Nana winkte ab. „Also vielleicht ist Takeru ja doch schwul. Ich meine, wer geht denn schon joggen bei einem Date?“ „Menschen, die sich gemeinsam sportlich betätigen wollen vielleicht?“, murrte Kari. „Das wäre gar nicht so schlecht. Dann könnten wir ihn mit Davis verkuppeln und er und Ken können wieder ganz normale Freunde sein“, redete Nana weiter, ohne auf Karis Einwurf einzugehen. „Für mich wäre das schlecht“, erwiderte Kari verletzt darüber, wie locker Nana diese Sache sah. Anscheinend waren Kari und T.K. aus ihrer Sicht nicht wirklich dazu bestimmt, eine Beziehung einzugehen. „Aber du streitest doch sowieso immer ab, dass du was von ihm willst“, meinte Nana und musterte sie neugierig. Kari seufzte und schob sich eine Tomate in den Mund. Während sie kaute und schluckte, überlegte sie, was sie darauf antworten sollte. „Ich glaube, ich hab' mich in ihn verliebt“, räumte sie schließlich ein. Es war das erste Mal, dass sie diesen Gedanken laut aussprach. Es war sogar das erste Mal, dass sie sich diese Tatsache selbst eingestand, aber allmählich war es nicht mehr zu leugnen. „Das dachte ich mir“, erwiderte Nana unbeeindruckt. „Und ich bin mir sicher, dass es ihm mit dir genauso geht.“ Kari sah sie schief an. „Hast du nicht eben noch geglaubt, er wäre vielleicht schwul?“ „Das hab' ich doch nur so gesagt, damit du endlich mal zugibst, dass du verliebt bist“, antwortete sie und stupste Kari an. „Aber joggen bei einem Date finde ich trotzdem komisch.“ „Naja wir sind ja außerdem noch Freunde. Und Freunde machen doch Sport zusammen. Also wo ist das Problem?“, entgegnete Kari trotzig. Nana schüttelte nur den Kopf. „Wie war eigentlich die Hochzeit?“ „Hat Ken dir noch nichts erzählt?“ „Doch, aber ich will ja wissen, wie du sie fandest.“ Kari lächelte beim Gedanken an die zurückliegende Hochzeit. „Sehr schön. Alles hat gut geklappt und ich glaube, Tai und Mimi waren sehr glücklich. Und die Gäste waren auch alle zufrieden.“ „Das ist super. Wie kamst du mit deinen Schuhen zurecht?“, fragte Nana. Kari machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ich habe sie irgendwann ausgezogen und bin barfuß herumgelaufen. War zu anstrengend. Nana lachte. „Hätte ich mir denken können. Und was hat Takeru zu deinem Outfit gesagt?“ „Er... fand mich umwerfend“, nuschelte Kari und spürte, wie ihre Wangen heiß wurden. „Uuuuuhhhh“, machte Nana und grinste übertrieben. „Na wenn das mal kein Kompliment ist.“ „Ach, er sah viel besser aus. Du hättest ihn mal sehen sollen“, erwiderte Kari. „Männer im Anzug sehen doch immer gut aus. Aber sei nicht so bescheiden. Ich bin sicher, du sahst toll aus.“ „Keine Ahnung. Ich bin mal auf die Fotos gespannt.“ „Schön, dich mal wieder zu sehen, T.K.“, begrüßte Yuuko T.K., ohne Kari zu beachten, obwohl sie beide gleichzeitig die Wohnung betreten hatten. „Möchtest du etwas essen? Ich habe gerade Ingwerplätzchen gebacken.“ „Ja, gern“, erwiderte T.K. höflich. Kari warf ihm einen entsetzten Blick zu. Was tat er da? Er wusste doch, dass man Yuukos Kreationen besser nur von weitem bewundern sollte. Oder eher verachten. Yuuko machte ein Gesicht, als hätte man ihr soeben einen Tag mit Martha Stewart angeboten und eilte zu ihren Ingwerplätzchen, die noch auf einem Blech ruhten und darauf warteten, verspeist zu werden. „Setz dich. Möchtest du ein Glas Milch zum Essen?“ „Ja, bitte.“ „Okay. Kari, gib ihm ein Glas Milch“, wandte Yuuko sich nun an Kari. „Oh, ich dachte schon, du hättest noch nicht bemerkt, dass ich auch da bin“, erwiderte Kari bissig. „Ich bin ja nicht blind. Aber du sagst sowieso immer 'nein', wenn ich dir etwas zu essen anbiete“, antwortete Yuuko schnippisch und holte einen Teller aus einem der Hängeschränke hervor. Warum nur?, fragte Kari sich im Stillen und machte sich daran, Gläser für sich und T.K. zu holen, um diese mit Milch zu füllen. T.K. hatte sich an den Esstisch gesetzt und bekam nun von Yuuko einen Teller mit zwei großen braunen Ingwerplätzchen darauf vor die Nase gestellt. Sich selbst hatte sie auch einen vorbereitet und nahm T.K. gegenüber Platz, während Kari sich neben ihn setzte. „Also, guten Appetit“, sagte Yuuko fröhlich, griff nach einem ihrer Plätzchen und biss herzhaft hinein. Kari beobachtete unterdessen T.K., der ebenfalls einen Bissen nahm, und nippte an ihrer Milch. Die erschien ihr wesentlich vertrauenerweckender. Den Kaugeräuschen, die T.K. und Yuuko machten, war zu entnehmen, dass die Plätzchen viel zu hart waren. Es klang, als würden sie Steine kauen. „Vielleicht waren sie zwei Minuten zu lang im Ofen“, räumte Yuuko etwas beschämt ein. „Oder zwei Stunden“, warf Kari ein. „Du sei still. Du probierst ja nicht einmal“, zischte Yuuko und sah sie scharf an. „Schmecken sie dir, T.K.?“ „Ja, sie sind wirklich... besonders“, erwiderte T.K. zögerlich und bot Kari sein Plätzchen an. Unter Yuukos erwartungsvollem Blick nahm Kari nach einigen Sekunden schließlich widerwillig das Plätzchen entgegen und biss ein kleines Stück ab. Es war tatsächlich viel zu hart und schmeckte, als hätte jemand altes Brot, zu viel Ingwer und eine Prise Erde in einen Topf geworfen und auf ein Wunder gehofft. Kari verzog das Gesicht und gab T.K. das Plätzchen zurück. Damit konnte er schön allein fertig werden. Immerhin war er so dumm gewesen, Yuukos Angebot anzunehmen, obwohl er es besser wusste. „Du übertreibst“, murmelte Yuuko mit einem genervten Blick auf Kari und aß munter ihr Gebäck, doch Kari glaubte, dass sie nur so tat, als würde es ihr schmecken. „Also, habt ihr zwei irgendwas für die Schule zu tun?“ „Ja, wir müssen ein Plakat zum Thema 'Sicherheit auf Facebook' machen“, antwortete Kari, da T.K. gerade damit beschäftigt war, einen Bissen herunterzuwürgen. „Oh, das klingt interessant. Ich hoffe, ihr lernt was dabei. Was müsst ihr machen?“ Interessiert hob Yuuko die Augenbrauen. „Naja, im Grunde genommen sollen wir schauen, wie einfach es ist, auf Facebook an die falschen Leute zu geraten. Perverse und so. Wir haben uns überlegt, wir erstellen ein Fake-Profil und gucken, was passiert“, erklärte Kari. „Verstehe.“ Yuuko nickte. „Bis wann müsst ihr fertig sein?“ „Mitte Oktober müssen wir das Plakat vorstellen“, antwortete Kari. „Da habt ihr ja noch ein bisschen Zeit. Aber das ist wirklich ein spannendes Thema. Sagt mir dann, was ihr herausgefunden habt.“ Yuuko stand auf, räumte ihren Teller in die Spülmaschine und schnappte sich ihre Jacke. „Ich muss noch einkaufen gehen und danach treffe ich mich mit einer Freundin. Bin zum Abendessen wieder da. Macht keinen Blödsinn.“ Sie zwinkerte verschwörerisch und rauschte aus der Wohnung. „Macht keinen Blödsinn“, wiederholte Kari ihre Worte spöttisch. „Was denkt sie, was wir machen? Die Wohnung auseinandernehmen? Oh mein Gott, du hast das nicht ernsthaft aufgegessen?!“ T.K. sah sie hilflos an. „Was hätte ich denn machen sollen?“ „Ablehnen?“ „Im Gegensatz zu dir bin ich aber höflich“, entgegnete er. „Im Gegensatz zu dir will ich mir nicht den Magen verderben“, antwortete Kari. „So schlimm war's gar nicht. War eigentlich ganz okay.“ Sie sahen sich an, dann mussten sie beide lachen. „Lass uns endlich mit diesem Plakat anfangen“, sagte T.K. dann. Sie räumten ihr Geschirr weg und setzten sich dann an den Computer in Karis Zimmer, um das falsche Profil zu erstellen. Kari klickte auf den Link zur Erstellung eines neuen Profils. Voller Tatendrang starrte sie die auszufüllenden Kästchen an. „Okay, was ist der naivste Name, der dir einfällt?“, fragte sie an T.K. gewandt. „Hikari Yagami?“, antwortete er ohne zu zögern. Kari drehte sich zu ihm um und starrte ihn entgeistert an, sodass er lachte. „War doch nur ein Scherz“, lenkte er ein und stützte den Kopf auf der Hand ab. „Witzig.“ „Wie wäre es mit... Momoko?“, schlug er nun ernsthaft vor. „Nein, Momoko ist ein schöner Name. Der hört sich nicht naiv an“, antwortete Kari und schüttelte den Kopf. „Na gut. Dann vielleicht Eri?“ „Das klingt nach einer alten Oma.“ T.K. seufzte. „Schlag du doch was vor.“ „Wie wäre es mit Hitomi?“, sagte Kari. T.K. runzelte die Stirn. „In der Parallelklasse ist eine und die ist alles andere als unschuldig.“ Verwundert sah Kari ihn an. „Woher weißt du das?“ „Hörensagen. Was hältst du von Sakura?“, lenkte er das Thema wieder auf ihr eigentliches Vorhaben, doch Karis Interesse war geweckt. Sie wusste, dass es eine Hitomi in der Parallelklasse gab, aber sie kannte sie nicht. „Was ist mit Hitomi?“, fragte sie, ohne auf seinen Vorschlag einzugehen. „Nichts“, antwortete er einsilbig und lehnte sich zurück. „Also heißt unser naives Mädchen jetzt Sakura oder nicht?“ Kari tippte den Namen Sakura ein, sah dann jedoch T.K. wieder an. „Hast du mit Hitomi gesprochen?“ Er verdrehte die Augen. „Okay, wir brauchen einen Nachnamen. Fällt dir einer ein?“ „Du hattest was mit ihr, oder?“ Überrascht riss er die Augen auf. „Was? Nein! Wie kommst du darauf?“ „Weil du nicht darüber sprechen willst, woher du weißt, wie sie ist.“ Er seufzte erneut. „Irgendwann im April oder Mai war ich mal mit ein paar Jungs vom Basketball unterwegs und da war sie auch dabei. Sie hat ein paar eindeutige Anspielungen mir gegenüber gemacht, aber ich bin nicht darauf eingegangen. Irgendwann war sie dann mit einem von den Jungs eine Weile auf dem Klo und der hat hinterher damit geprahlt.“ „Oh, echt?“ Kari hob überrascht die Augenbrauen. „Mit wem?“ „Können wir jetzt weitermachen?“ Er drängte Kari ein wenig zur Seite und tippte einen Nachnamen ein, doch Kari achtete nicht darauf, sondern musterte ihn nur interessiert. Er war nun sehr dicht neben ihr, ihre Arme berührten sich. Er betrachtete scheinbar konzentriert den Computerbildschirm. „Mit wem?“, wiederholte Kari ihre Frage, ohne den Blick von ihm abzuwenden. „Mit Sakura, unserem naiven Pädophilenopfer“, antwortete er trocken und erwiderte ihren Blick. Ihre Gesichter waren sich so nah, dass sie die feinen Härchen auf seiner Haut erkennen konnte und ein paar einzelne Sommersprossen auf seiner Nase. Ihr Blick fiel auf seine Augen, dann auf seine Lippen. „Nein, ich meine...“ Bevor sie ihren Satz beenden konnte, hatte er ihre Lippen mit seinen verschlossen und sie in einen Kuss verwickelt. Seine Hand fuhr in ihr Haar, in ihren Nacken und zog sie ein wenig mehr an sich. Der Kuss wurde intensiver, Kari schlang die Arme um seinen Hals, doch plötzlich löste T.K. sich von ihr und schob sie ein klein wenig von sich. „Lass uns erst das hier fertig machen, okay?“, fragte er leise und deutete auf den Computer. Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen. Ein wenig enttäuscht nickte Kari, doch er hatte Hitomi und auch alles andere aus ihrem Kopf verbannt mit seinem Kuss. „Also, was ist ein passender Nachname für eine naive Sakura?“, fragte T.K. und betrachtete nachdenklich den Bildschirm. „Ähm“, Kari musste sich erst einmal wieder kurz sammeln, „Sakurada?“ T.K. hob eine Augenbraue und sah sie an. „Sakura Sakurada?“ Kari kicherte. „Wäre doch witzig.“ „Total.“ „Spaßbremse. Dann eben Miyoshi“, schlug Kari vor. T.K. zuckte mit den Schultern und tippte den Namen ein. „Fällt dir ein naives Geburtsdatum ein?“ „Wie kann ein Datum denn naiv sein?“, fragte Kari verwirrt. „Keine Ahnung. Vielleicht gibt es einen Tag, der zu einem naiven Mädchen passt“, erwiderte T.K. „Der vierzehnte Februar. Valentinstag“, fiel Kari plötzlich ein. „Wenn das kein naiver Tag ist, dann weiß ich auch nicht.“ „Guter Vorschlag.“ Er wählte das Datum aus. „Und wie alt soll sie sein?“ „Jung genug, um Pädophile anzulocken. Vielleicht zwölf?“ „Okay, also Geburtsjahr siebenundneunzig“, murmelte T.K. vor sich hin und suchte das Jahr aus der Liste heraus. „E-Mail-Adresse?“ „Oh, wir brauchen wirklich eine, damit wir das Profil bestätigen können“, sagte Kari. Sie erstellten schnell eine E-Mail-Adresse mit dem Namen pinkypie97@anet.ne.jp und fügten diese in das vorgesehene Kästchen ein. „Okay. Wohnt in Tokio, geht zur Schule, ist Single“, murmelte T.K., während er alle Daten auf dem Profil ergänzte. Er schickte die Anmeldung ab, bestätigte das Profil und machte sich an die Suche nach einem geeigneten Anzeigebild. „Was für ein Foto wollen wir nehmen?“ „Keine Ahnung. Bei Google Bilder von zwölfjährigen Mädchen raussuchen?“, schlug Kari ratlos vor. T.K. runzelte skeptisch die Stirn. „Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee wäre.“ „Aber wo sollen wir jetzt eine Zwölfjährige herkriegen, die sich dazu bereit erklärt, ihre Fotos für ein falsches Profil zur Verfügung zu stellen, mit dem wir Perverse anlocken wollen?“ „Keine Ahnung“, gab er zu, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Nachdenklich starrte er den Bildschirm an. „Vielleicht nehmen wir einfach ein Foto von einem Stofftier oder so“, überlegte er. „Machen das die Zwölfjährigen heutzutage noch so?“, fragte Kari argwöhnisch und hob eine Augenbraue. „Ich hätte eher vermutet, sie posten ein Foto ihrer Unterwäsche.“ T.K. schnaubte verächtlich. „Ja, ist vielleicht realistischer.“ Dann grinste er Kari an. „Dann müssen wir wohl deine Unterwäsche fotografieren.“ Kari riss die Augen auf und lief knallrot an. „Spinnst du? Kommt nicht in Frage!“ Er lachte. „War ja auch nur ein Witz. Ich bin allgemein gegen Unterwäsche als Profilbild.“ „Aber was wollen wir sonst nehmen? Was interessiert denn zwölfjährige Mädchen?“, fragte Kari weiter und versuchte, die Röte aus ihrem Gesicht wieder zu vertreiben. „Du bist das Mädchen von uns beiden“, erinnerte er sie überflüssigerweise. „Vielleicht Schminksachen? Herzen? Boybands?“, zählte Kari auf und benutzte dabei ihre Finger zur Veranschaulichung. „Landschaftsfotos? Klamotten? Tattoos?“ „Herzen finde ich gut“, meinte T.K. „Und irgendwelche Initialen darin. S plus irgendwas.“ „Für die beste Freundin“, ergänzte Kari. „Das ist gut.“ Sie kramte aus einer Schublade ein Blatt Papier und Filzstifte hervor und machte sich daran, ein großes Herz zu zeichnen. „Zeichne noch Flügel dran“, sagte T.K., der sie amüsiert beobachtete. Kari kicherte und ergänzte Flügel. Dann schrieb sie den Buchstaben S und ein Pluszeichen hinein. „Und mit welchem Buchstaben soll die beste Freundin beginnen?“ „Ach, keine Ahnung. Nimm einfach irgendeinen.“ Kari entschied sich für ein A. Sie fotografierte das Bild, kopierte es auf ihren Computer und bearbeitete es ein wenig, so wie sie schon einige Fotos auf Facebook gesehen hatte. Dann stellte sie das Foto als Profilbild ein und fügte die Beschreibung „für meine BFF !!!!!“ hinzu. „Du bist gut.“ T.K. nickte anerkennend. Er hatte einen Arm über die Lehne ihres Stuhls gelegt und sich leicht nach vorn gebeugt. „Man könnte fast meinen, man hätte tatsächlich eine Zwölfjährige vor sich.“ Kari lächelte nur amüsiert und machte sich daran, einen ersten Post auf die Pinnwand von Sakura Miyoshi zu schreiben. Sie tippte „hallo, ich bin noch ganz neu hier, addet mich einfach, wenn ihr mich kennenlernen wollt :))))) “ und speicherte es, sodass es auf der Pinnwand erschien. Dann wandte sie sich mit fragendem Blick an T.K. „Super“, meinte dieser nur, stand auf und streckte sich. „Wenn darauf keine Perversen anspringen, dann weiß ich auch nicht.“ „Ja. So lasse ich das jetzt einfach. Mal sehen, was passiert“, beschloss Kari und schaltete den Computer ab. „Bin gespannt“, erwiderte T.K. gähnend und ließ sich der Länge nach auf Karis Bett fallen. „So siehst du aus“, antwortete Kari sarkastisch und stand ebenfalls auf. Etwas unsicher ging sie ebenfalls zu ihrem Bett. „Können wir jetzt endlich was anderes machen?“ T.K. sah zu ihr hinauf. Er hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt und musterte sie leicht lächelnd. „Was du willst.“ Einige Sekunden stand Kari unschlüssig vor ihrem Bett und starrte ihn an, dann gab sie sich einen Ruck. Langsam kletterte sie über ihn und setzte sich rittlings auf seine Hüften. Dabei musste sie aufpassen, dass ihr Rock nicht zu sehr verrutschte, denn sie trugen beide noch immer ihre Schuluniformen. Er sagte nichts, sondern sah ihr nur in die Augen, als sie sich nach vorn beugte und die Hände links und rechts neben seinem Kopf abstützte. „Alles, was ich will?“, fragte sie leise. Er schluckte und nickte kurz. „Dann gehe ich mir jetzt was zu essen machen“, verkündete Kari und setzte sich grinsend wieder auf. „Hä?“ Verwirrt und ein wenig enttäuscht sah T.K. sie an. Kari kicherte und beugte sich wieder nach vorn. „War nur ein Scherz.“ Dann schloss sie die Augen und küsste ihn. Natürlich erwiderte er ihren Kuss und verbannte damit alle anderen Gedanken aus Karis Kopf. Es gab nur noch sie und ihn auf dem Bett in ihrem Zimmer. In einer Wohnung, die sie noch bis zum Abend für sich allein hatten. Kari spürte ein nervöses Kribbeln in ihrem Inneren, das sich in ihrem ganzen Körper ausbreitete und nun selbst ihre Hände und Füße betraf. Ihre Finger zitterten, als sie sie in den Stoff des Kopfkissens krallte, um ein wenig mehr Halt zu bekommen. Sie hatte nämlich das Gefühl, sie könnte gleich vor lauter Herzrasen in Ohnmacht fallen. Sie spürte T.K.s Hand an ihrem Gesicht, wie sie sanft über ihre Wange strich und anschließend durch ihre Haare fuhr. Seine andere Hand strich über ihren Arm hinauf zu ihrer Schulter und drückte sie ein wenig zu sich herunter. Kari löste sich von seinen Lippen, küsste seine Mundwinkel und seine Wange, bevor sie ein klein wenig Abstand zwischen sich brachte und ihn ansah. Er öffnete die Augen und erwiderte ihren Blick. Einige Sekunden sahen sie sich in die Augen, dann küsste Kari erneut seine Lippen, widmete sich anschließend aber zu ihrer eigenen Überraschung seinem Hals. An dieser Stelle war sein Duft noch intensiver und sie sog ihn tief ein, während sie eine unsichtbare Spur entlang zum Schlüsselbein küsste. Ihre Finger machten sich zitternd an den oberen Knöpfen seines Hemds zu schaffen. Gleichzeitig spürte sie seine Hände ihre Oberschenkel hinauf unter ihren Rock gleiten. Sie fühlten sich warm an und hinterließen ein Prickeln auf ihrer Haut. Kurz darauf waren sie jedoch verschwunden und nestelten nun am Saum ihres Rocks herum, um diesen herunterzuziehen. Kari fühlte es. Sie wollte mehr. Sie wollte weitergehen. Sie wollte mit ihm schlafen. Doch gerade, als sie von ihm herunterkletterte, um den störenden Rock ausziehen zu können, ließ die Türklingel sie zusammenzucken und sich daran erinnern, wo sie sich befand. Kapitel 49: Egoismus -------------------- Diesmal gaben sie beide einen leisen, genervten Laut von sich. Kurz überlegte Kari, ob sie nun aufstehen und die Tür öffnen oder das Klingeln einfach ignorieren sollte. Sie entschied sich für Letzteres. Der Besucher würde sich schon noch einmal melden, wenn es wichtig war. Sie wollte fortfahren, sich den Rock einfach auszuziehen, doch T.K. legte seine Hände auf ihre und sah sie an. „Du solltest gehen“, murmelte er. „Das finde ich nicht“, widersprach Kari, ließ jedoch von ihrem Rock ab. „Vielleicht ist es etwas Wichtiges“, gab T.K. zu bedenken. Kari betrachtete ihn, wie er dort unter ihr lag mit einem halb geöffneten Hemd, geröteten Wangen und vielsagendem Blick. Sie zögerte einige Sekunden, dann verfluchte sie den Besucher innerlich und stieg aus dem Bett. „Bin gleich wieder da“, entschuldigte sie sich und huschte aus ihrem Zimmer durch den Flur zur Wohnungstür. Sie atmete tief durch, versuchte, mit einer Handbewegung ihre Haare zu richten und öffnete schließlich die Wohnungstür, wobei sie hoffte, dass wer auch immer geklingelt hatte, inzwischen die Geduld verloren hatte und gegangen war. Tatsächlich hatte derjenige sich schon zum Gehen umgewandt, drehte sich nun jedoch wieder um, da er die Tür hörte. „Ken“, sagte Kari verwundert. „Hey“, erwiderte er und kam zurück. „Ich dachte schon, es ist keiner zu Hause.“ „Ja. Nein. Ich war gerade... nicht so wichtig. Ist alles okay?“ Nervös trat Kari von einem Bein aufs andere und lehnte sich gegen die halb geöffnete Tür. Ken hatte einen besorgten Gesichtsausdruck. „Naja, ich wollte dich eigentlich fragen, ob ich mit dir reden kann, aber wenn du gerade beschäftigt bist, ist das kein Problem. Ist auch eigentlich nicht so wichtig und... naja.“ Kari runzelte die Stirn. Eigentlich wollte sie nichts lieber, als einfach die Tür zuzuknallen und zurück in ihr Zimmer zu laufen, doch wenn Ken hier schon auftauchte und mit ihr reden wollte, dann war es wichtig. Auch wenn er etwas anderes behauptete. „Ich bin nicht beschäftigt. Komm rein“, bot Kari ihm an und öffnete die Tür ganz. „Danke.“ Ken wirkte erleichtert. Kari umarmte ihn kurz, als er in der Wohnung stand. Einfach, weil sie das Gefühl hatte, dass er es gerade brauchte. Sie fragte sich, ob es vielleicht um Nana ging. Möglicherweise hatten sie einen Streit. Ken zog sich die Schuhe aus und folgte Kari durch den Flur in ihr Zimmer. Im Türrahmen blieb er jedoch überrascht stehen. T.K. hatte sein Hemd mittlerweile wieder zugeknöpft und sich aufgesetzt. „Hi“, begrüßte er Ken und lächelte. „Oh, ich ähm...“ Er sah von T.K. zu Kari und wieder zurück. „Habe ich gestört?“ Ein schiefes Lächeln huschte über sein Gesicht, so als wüsste er genau, was passiert war. Kari lief rot an und winkte hysterisch ab. „Nein, nein! Gar nicht. Wir haben nur...“ „... Hausaufgaben gemacht“, beendete T.K. ihren angefangenen Satz nüchtern. „Das Plakat. Aber wir wollten sowieso gerade aufhören.“ „Jap. Keine Lust mehr auf Schule für heute“, pflichtete Kari ihm bei und lächelte unsicher. Ken schien ebenfalls unschlüssig. Er stand im Türrahmen und schien nicht zu wissen, ob er bleiben oder lieber wieder gehen sollte. T.K. nahm ihm die Entscheidung ab, indem er aufstand. „Okay, ich muss nach Hause. Meine Mutter hat mich gebeten, heute das Abendessen vorzubereiten“, erklärte er und Kari war sich nicht sicher, ob das eine Ausrede war oder der Wahrheit entsprach. Sie wollte ihn bitten, zu bleiben, doch höchstwahrscheinlich wollte Ken mit ihr allein reden. „Also dann, bis morgen. Ich find' schon allein raus“, fügte T.K. hinzu, als Kari Anstalten machte, ihm zu folgen. Er berührte leicht ihren Rücken und warf ihr im Vorbeigehen einen verwegenen Blick zu. Dann ging er durch den Flur und kurz darauf hörte Kari die Haustür zufallen. „Tut mir echt Leid, dass ich in was auch immer geplatzt bin“, ergriff Ken nun das Wort und schob die Hände in die Hosentaschen. „Ich schwöre, ich rufe das nächste Mal vorher an.“ „Anrufen ist nie eine schlechte Idee“, stimmte Kari verlegen zu und nickte. „Aber mach dir keinen Kopf. Alles gut. Möchtest du was trinken?“ „Nein, danke.“ „Okay, dann setz' dich einfach.“ Kari beobachtete, wie Ken für eine Sekunde das Bett musterte und schließlich auf einem der beiden Stühle am Schreibtisch Platz nahm. Sie fragte sich, was er gerade dachte und setzte sich beschämt neben ihn. „Also, was gibt es denn zu bereden?“, fragte Kari, als Ken von allein keine Anstalten machte, das anzusprechen, was ihm auf dem Herzen lag. „Geht es um Nana?“ „Nein, tut es nicht“, antwortete Ken kopfschüttelnd. „Es geht um Davis.“ Kari seufzte tief. „Ach, Ken, ich habe dir doch schon gesagt, dass ich dir Davis' Problem nicht verraten kann. Ich würde ja gern, aber...“ „Ich weiß, dass er in mich verliebt ist“, unterbrach Ken sie und sah sie an. „Was?“ Verdutzt erwiderte sie seinen Blick, völlig aus der Fassung gebracht. Hatte Nana etwa getratscht? „Woher?“ „Er hat es mir selbst gesagt. Am Abend der Hochzeit“, erwiderte Ken, nahm einen Stift in die Hand, der auf Karis Schreibtisch lag, und drehte ihn zwischen den Fingern. „Nachdem ich ihn dazu gedrängt habe. Vielleicht hätte ich das nicht tun sollen.“ „Oh, okay“, murmelte Kari, unsicher, was sie jetzt sagen sollte. „Nein, ich finde, er musste es dir sagen. Immerhin betrifft es dich und eure Freundschaft ja.“ „Ja, schon. Aber jetzt, wo ich es weiß, habe ich keine Ahnung, wie ich damit umgehen soll“, gab er zu und kratzte sich im Nacken. Kari musterte ihn mitleidig. Nein, sie hätte auch keine Ahnung, wie sie damit umgehen sollte. „Wie kann ich dir helfen?“, fragte sie. Er zuckte müde mit den Schultern. „Einfach reden. Vielleicht hast du ja einen Tipp. Ich brauche einfach nur jemanden, der nicht drin steckt, aber trotzdem Bescheid weiß.“ „Okay. Also ich denke, ihr solltet trotzdem befreundet bleiben. Ich meine, ihr seid doch schon seit der Grundschule so gut befreundet. Es wäre schade, das jetzt hinzuschmeißen“, meinte Kari ratlos. „Wem sagst du das? Aber Davis sieht das anscheinend anders. Er meinte, es hätte keinen Sinn. Und er kann mich nicht mit Nana zusammen sehen. Oh Mann, Nana.“ Er rieb sich den Nasenrücken und schloss für einen Moment die Augen. „Ich sollte es ihr erzählen, aber ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist. Sicher will Davis nicht, dass sie es weiß.“ „Ähm um ehrlich zu sein, sie weiß es schon“, gestand Kari kleinlaut. Verdutzt sah Ken sie an. „Ich hab's ihr gesagt.“ Er erwiderte nichts, sondern hob nur eine Augenbraue. Sein Blick wurde auf einmal durchdringend und Kari fühlte sich geröntgt. „Es war an dem Abend mit dem Überraschungsessen. Als wir auf der Toilette waren“, erklärte Kari langsam. Ken brauchte eine Weile, um zu antworten. „Ich möchte nicht beleidigt klingen, aber ihr hast du es erzählt und mir nicht?“ Kari biss sich auf die Unterlippe. „Das war so ein großes Geheimnis. Ich konnte damit nicht umgehen. Ich wollte damit nicht allein sein.“ „Du wolltest damit nicht allein sein?“, wiederholte Ken und zog die Augenbrauen zusammen. Augenblicklich fühlte Kari sich unter Kens Blick und konfrontiert mit seinen Worten wie ein schlechter Mensch. Ja, sie hätte es nicht weitererzählen dürfen. Das war ein Fehler gewesen. Es tat ihr Leid und sie würde es nie wieder machen, aber ändern konnte sie es nun nicht mehr. „Es tut mir Leid“, sagte sie und fühlte sich auf einmal sehr klein und schwach. „Ich hätte es dir erzählen sollen.“ „Nein, hättest du nicht“, erwiderte Ken. „Und Nana hättest du es auch nicht erzählen dürfen. Es war ein Geheimnis, dazu noch ein sehr persönliches. Und um ehrlich zu sein verstehe ich deine Logik immer noch nicht. Warum hast du es Nana gesagt, aber nicht mir?“ „Ich weiß nicht. Ich dachte, sie könnte mir vielleicht helfen, das zwischen euch irgendwie zu regeln“, stammelte Kari und starrte auf ihre Hände, die in ihrem Schoß lagen. „Und dass wir das allein regeln sollten, ist dir nicht in den Sinn gekommen?“ „Doch, ich wollte mich nicht einmischen.“ Ken seufzte und stand auf. „Entschuldige, aber ich gehe jetzt lieber.“ Verzweifelt lief Kari ihm bis zur Wohnungstür hinterher, doch er änderte seine Meinung nicht. Wenn Ken einmal sauer war, dann musste das was heißen. Normalerweise wurde er nämlich nie sauer und wenn, dann schaffte er es immer, das zu verbergen. Kari schlurfte zurück in ihr Zimmer und schnappte sich ihr Handy. Sie suchte Tai aus ihrer Liste heraus und rief ihn an. „Hey Kari. Du rufst genau richtig an“, begrüßte er sie fröhlich. „Was? Warum?“, fragte Kari verwirrt. Sie war darauf vorbereitet gewesen, über ihr Thema zu reden. Nun musste sie sich erst einmal umorientieren. „Wir haben gerade die Eismaschine ausprobiert, die wir geschenkt bekommen haben. Funktioniert super. Das Eis ist ein Traum. Wenn du das nächste Mal vorbeikommst, mach' ich dir welches“, erzählte Tai und sie hörte ihn schmatzen. „Welche Eissorte habt ihr denn probiert?“, fragte Kari. „Wir haben gemischt. Es ist jetzt ein Apfel-Blaubeer-Eis“, antwortete Tai stolz. „Hey, lass mir was übrig! Nur, weil du schwanger bist, musst du nicht fressen wie das Krümelmonster.“ Kari hörte Mimi etwas erwidern, woraufhin Tai nur lachte. Dann war ein kurzes Gerangel zu hören und er gab einen genervten Laut von sich. „Nervensäge“, grummelte er. „Sorry, Kari, weshalb rufst du an?“ „Weil ich ein schlechter Mensch bin“, antwortete Kari nun niedergeschlagen. „Also rufen nur schlechte Menschen ihre großen Brüder an? Da habe ich ja Glück gehabt“, meinte er spöttisch. „Ich mein's ernst. Ich habe Mist gebaut“, seufzte Kari. „Okay, warte mal kurz.“ Sie hörte es am anderen Ende der Leitung rascheln, eine Tür wurde geschlossen, dann meldete Tai sich zurück. „Was hast du denn angestellt? Bist du schwanger?“ „Was? Nein!“, antwortete Kari genervt. „Davis hat mir vor einer Weile ein Geheimnis anvertraut. Ein ziemlich großes Geheimnis. Naja und ich habe es an Nana ausgeplaudert, obwohl ich das nicht hätte tun sollen.“ Sie machte eine kurze Pause, doch Tai blieb stumm. „Jedenfalls betrifft dieses Geheimnis auch Ken. Vielleicht ist es dir mal aufgefallen, aber die beiden haben eine Weile nicht miteinander geredet. Oder zumindest hat Davis nicht mit Ken geredet. Und ich war die Einzige, die wusste, was los ist. Ken kam zu mir und hat mich gebeten, es ihm zu sagen, aber ich habe es nicht getan. Stattdessen habe ich es Nana gesagt, damit ich jemanden habe, mit dem ich darüber reden kann und der mir helfen kann.“ Noch immer war kein Laut am anderen Ende der Leitung zu hören und Kari fragte sich schon, ob Tai vielleicht aufgelegt hatte, doch dann reagierte er schließlich doch noch. „Okay? Und warum hast du es Nana erzählt, aber nicht Ken?“ „Ich wollte es Ken nicht sagen, weil es ihn betrifft und Davis es ihm selbst sagen sollte. Aber Nana habe ich es gesagt, weil ich dieses Geheimnis nicht allein herumschleppen wollte“, erklärte Kari lahm. „Kari, das ist egoistisch“, erwiderte Tai nun ganz ohne jeden Witz. „So kenne ich dich gar nicht. Wenn ein Freund dir ein Geheimnis anvertraut, dann kannst du das doch nicht einfach ausplaudern. Egal, an wen.“ „Ich weiß, ich hätte es nicht machen sollen“, sagte Kari reuevoll. „Ken war eben hier, weil Davis ihm sein Geheimnis am Samstag erzählt hat. Er wollte mit mir darüber reden, weil er ja wusste, dass ich es auch weiß. Naja und dann habe ich ihm gesagt, dass Nana es auch weiß, weil ich es ihr erzählt habe. Jetzt ist er sauer auf mich.“ „Ken kann sauer werden?“, fragte Tai verwirrt. „Naja jedenfalls kann ich ihn verstehen. Ich glaube, an seiner Stelle wäre ich auch enttäuscht von dir. Und eigentlich bin ich auch so enttäuscht von dir, weil ich immer dachte, du kannst die Klappe halten, wenn man dir was erzählt.“ „Kann ich ja normalerweise auch. Es tut mir doch auch Leid, dass ich es Nana gesagt habe“, erwiderte Kari verzweifelt. „Aber was willst du jetzt von mir hören? Arme Kari, ist nicht so schlimm, Ken ist blöd, weil er jetzt sauer ist?“, fragte Tai. „Nein, ich wollte...“ „Doch, ich habe das Gefühl, genau das willst du hören“, schnitt Tai ihr das Wort ab. „Kari, nicht du bist in dieser Geschichte die Geschädigte, wenn ich das richtig verstanden habe. Also fang' jetzt bloß nicht an, dich selbst zu bemitleiden.“ „Tai!“ Kari stiegen Tränen in die Augen. Was redete er denn da? Sie bemitleidete sich doch gar nicht selbst, es tat ihr doch Leid, was sie gemacht hatte. „Was denn? Da du mich angerufen hast, gehe ich nun einmal davon aus, dass du meine Meinung hören wolltest“, erwiderte er sachlich. „Ach, vergiss es.“ Ohne ein Wort des Abschieds legte sie auf. Sie warf sich auf ihr Bett und vergrub das Gesicht in ihrem Kissen. Innerlich hatte sie natürlich gewusst, dass sie egoistisch gehandelt hatte, doch aus irgendeinem Grund hatte sie gehofft, Tai würde ihr das nicht noch bestätigen, sondern seinen Großer-Beschützerbruder-Instinkt auspacken und ihr sagen, dass sie kein schlechter Mensch war. Eigentlich hätte sie wissen müssen, dass er das nicht tun würde. Kapitel 50: Jungenprobleme -------------------------- „Mann, Kari, was hast du mit Ken gemacht?“, fragte Nana vorwurfsvoll am nächsten Morgen in der Schule. „Er ist echt komisch drauf heute. Irgendwie abweisend.“ „Er weiß das mit Davis“, murmelte Kari. Sie und Nana saßen vor der ersten Stunde zusammen und werteten den gestrigen Tag und den Morgen aus. „Was?“ Verwundert sah Nana sie an. „Davon hat er mir gar nichts gesagt.“ „Naja, ich habe ihm gestern gesagt, dass du es auch weißt“, gestand Kari. „Oh, achso.“ Nana verzog das Gesicht zu einer Grimasse. „Ist er sauer deswegen?“ „Auf mich, ja, weil ich es dir erzählt habe, aber nicht ihm“, seufzte Kari und ließ den Kopf hängen. „Ich muss mich echt bei ihm entschuldigen.“ „Wieso hast du ihm das überhaupt gesteckt? Wir hätten uns doch einen schönen Plan ausdenken können und Ken hätte nie herausgefunden, dass wir es wissen“, erwiderte Nana und schüttelte den Kopf. „Aber was für einen Plan hättest du dir denn ausgedacht?“, fragte Kari und sah sie schief an. „Ich meine, es ist wirklich eine schwierige Situation. Würdest du dich denn von Ken trennen, damit die Freundschaft zwischen ihnen nicht kaputt geht?“ Zu Karis Überraschung legte Nana den Kopf schief und schien nachzudenken. Eigentlich hatte sie erwartet, dass Nana sofort „nein“ sagen würde. „Ehrlich gesagt weiß ich es nicht“, antwortete sie. „Ich meine, ich hätte natürlich erst mal auf anderen Wegen versucht, die beiden wieder einander näher zu bringen, aber wenn alles nichts gebracht hätte... vielleicht würde ich mich von ihm trennen.“ Verdutzt sah Kari sie an. „Ich meine, ich will nicht schuld sein, dass ihre Freundschaft zerbricht, verstehst du? Ich liebe Ken wirklich. Er ist so süß, sieht so gut aus, ist so schlau. Aber ich weiß, wie unglücklich ihn diese Sache mit Davis macht und wie schlimm es für ihn wäre, wenn diese Freundschaft ganz vorbei wäre“, erklärte sie und wandte den Blick aus dem Fenster. „Ich würde einfach nicht der Grund dafür sein wollen.“ Das Läuten der Schulglocke ließ Kari sich nach vorn drehen, wo Herr Kugo gerade erschien und mit dem Unterricht begann. In der nächstbesten Pause eilte Kari Ken hinterher. Sie musste einfach mit ihm reden. Sie holte ihn ein und lief stumm neben ihm her auf den Schulhof inmitten der Menge fröhlich schnatternder Schüler. „Ken?“, fing sie vorsichtig das Gespräch an und sah ihn an. „Ja?“, erwiderte er. Sie blieben an einer Stelle stehen, an der sich nicht viele Schüler befanden, um ein wenig Ruhe zu haben. „Es tut mir echt Leid, dass ich dir nichts gesagt habe“, sagte sie nun mit reuevoll gesenktem Kopf. „Ich wollte die ganze Sache wirklich nicht noch komplizierter machen, als sie sowieso schon ist.“ „Schon gut“, erwiderte Ken und als Kari den Kopf hob, sah sie ein leichtes Lächeln auf seinen Lippen. „Mir tut es Leid, dass ich gestern einfach so abgehauen bin.“ „Nein, nein, du hattest allen Grund dazu“, widersprach Kari und hob die Hände. „Das war schon richtig so.“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich werde auch noch mit Davis reden und ihm sagen, dass ich sein Geheimnis ausgeplaudert habe“, meinte Kari nun demütig. „Hinterher wird er mich wahrscheinlich hassen.“ Ken nickte langsam. „Wahrscheinlich schon, aber trotzdem wird er mit dir eher wieder reden als mit mir.“ Mitleidig musterte sie Ken. Da hatte er wahrscheinlich Recht. Als sie ihn ansah, fiel ihr wieder ein, was Nana vor der ersten Stunde zu ihr gesagt hatte. Dass sie sich unter Umständen von Ken trennen würde, um nicht der Grund für die zerbrechende Freundschaft zwischen ihm und Davis zu sein. Aber würde das wirklich helfen? Sollte das etwa eine Lösung für dieses Problem sein? Es würde Nana definitiv unglücklich machen und Ken mit Sicherheit auch. Außerdem konnte es kein Dauerzustand sein, dass Ken Single blieb, nur um Davis nicht zu verletzen. Kari erschien diese Lösung wenig sinnvoll. Sie schüttelte leicht den Kopf. „Was hast du jetzt vor?“, fragte sie. Ken zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. So lange auf ihn einreden, bis er wieder mit mir spricht?“ Kari zog skeptisch die Augenbrauen zusammen. „Ja, ich weiß, das wird wahrscheinlich nicht klappen“, räumte Ken ein. „Vielleicht solltest du ihm einfach etwas Zeit geben, mit sich selbst ins Reine zu kommen. Ich bin sicher, er weiß auch nicht, was er machen soll. Vielleicht braucht er einfach nur ein wenig Zeit für sich und ist hinterher wieder normal“, überlegte Kari. „Normal?“ „Naja, ich meine, schwul, aber wieder der alte Davis.“ Ken seufzte. „Mir ist total egal, ob er hetero, homo oder sonstwas ist. Ich hätte einfach nur gern Davis zurück.“ Den ganzen Tag dachte Kari über Davis und Ken nach. Beim Training konnte sie sich kaum konzentrieren und machte ständig Fehler, weshalb Nobuko sie schließlich für eine kurze Pause in die Umkleide schickte. Sie verließ die Halle, setzte sich in der Umkleidekabine auf die Bank und stützte die Ellbogen auf den Knien ab. Wie sollte das nur alles weitergehen? Sie sehnte sich zu den sorglosen Tagen und Nächten zurück, die sie mit Davis und Ken verbracht hatte. Sie drei waren einfach Freunde gewesen, die über alles reden konnten und immer viel Spaß hatten. Verliebtheit war zwischen ihnen nie ein Problem gewesen. Kari interessierte sich für keinen der Jungs, genauso wie sich keiner der Jungs für sie interessierte. Es war fast wie eine Art stummes Abkommen gewesen, dass sie alle die Finger voneinander ließen. Nie hätte sie gedacht, dass es nun zwischen den Jungs zu einem solchen Streit kommen könnte. Wie sollte das gelöst werden? Und wie würde die Geschichte zwischen Ken und Nana ausgehen? Sollten sie sich tatsächlich trennen, um alles wieder ins Lot zu bringen? Sie seufzte, fuhr sich über das Haar und stand auf, um zurück in die Halle zu gehen. Die Jungs fegten über ihr Basketballfeld und Kari wünschte sich, bei ihnen mitmachen zu können. Momentan war ihr auch mehr nach rennen als nach tanzen zumute. Nach dem Training in der Umkleidekabine sprach Nana sie auf ihr Verhalten an. „Hast du irgendwelche Probleme mit Takeru oder denkst du immer noch über Ken und Davis nach?“ „Letzteres“, murmelte Kari. „Vielleicht solltest du dich einfach raushalten und den Dingen ihren Lauf lassen“, schlug Nana sachlich vor. „Aber ich bin ihre Freundin. Ich habe das Gefühl, ich sollte mich um sie kümmern“, erwiderte Kari nachdenklich, während sie aus ihrer Sportkleidung schlüpfte. „Kannst du ja auch“, sagte Nana. „Wenn sie das wollen.“ Fragend sah Kari sie an. „Naja, sie sind doch beide alt genug und werden sich schon melden, wenn sie Hilfe brauchen, meinst du nicht? Ich finde es keine so gute Idee, sich ihnen aufzudrängen, weil es eine Sache ist, die nur sie betrifft“, erklärte Nana schulterzuckend und zog sich ihre Schuluniform an. „Aber du wolltest sie doch auch wieder zusammenbringen“, entgegnete Kari verwirrt. „Ich habe meine Meinung eben geändert.“ Kari runzelte die Stirn und musterte Nana von der Seite. Sie fragte sich, was sie wohl gerade dachte. Plante sie womöglich schon eine Trennung? „Vielleicht solltest du mal mit Ken reden, jetzt, da er ja weiß, dass du es weißt“, schlug Kari vor. „Das werde ich wohl müssen“, murmelte Nana und erhob sich von der Bank. Auch Kari zog sich schnell die Schuhe an und stand dann ebenfalls auf. Langsam schlenderten sie über den Schulhof, jede in ihre eigenen Gedanken vertieft. Dann jedoch blieb Kari abrupt stehen. „Ach, Mist, mein Mathebuch ist noch im Schließfach. Warte nicht auf mich, wir sehen uns morgen, okay?“ Nana verdrehte die Augen. „Ich hatte schon fast wieder vergessen, dass wir noch Mathehausaufgaben aufhaben. Na dann mach's gut und viel Spaß.“ „Danke, ebenfalls“, grummelte Kari und eilte ins Schulgebäude. Es war leer und verlassen und leichter Geruch von Putzmittel lag in der Luft. Aus der oberen Etage hörte sie das Klappern eines Eimers und Wasserplätschern. Die Reinigungskräfte waren also schon zu Gange. Kari lief zu ihrem Spind, öffnete ihn und kramte darin herum, bis sie ihr Mathebuch fand. Sie schlug die Seite auf, die sie brauchte und überflog, was zu erledigen war. Eindeutig zu viel. Seufzend schlug sie die Tür ihres Spinds zu und erschrak fast zu Tode. T.K. hatte sich unbemerkt an sie herangeschlichen und erst jetzt bemerkte sie ihn, da die Tür ihn nicht mehr verdeckte. „Bist du wahnsinnig?“, krächzte sie und presste eine Hand auf ihren Brustkorb. „Mann, hab' ich mich erschrocken.“ „Sorry“, erwiderte er schief lächelnd. „War nicht meine Absicht.“ Kari stopfte ihr Mathebuch in ihre Schultasche. „Sag mal, spionierst du mir nach?“ „Möglich.“ Sie schulterte ihre Tasche, verschränkte die Arme vor der Brust und hob eine Augenbraue. „Du musst zugeben, es ist ein wenig unheimlich, Mädchen in einem leeren Schulgebäude aufzulauern.“ Er zuckte lässig mit den Schultern und lehnte sich gegen die Schließfächer. „Ich habe nie etwas anderes behauptet.“ Kari zog die Augenbrauen zusammen und musterte ihn. Sein Gesichtsausdruck war schwer zu deuten. Ein wenig spöttisch. Machte er sich etwa über sie lustig? „Ich wollte dich eigentlich nur fragen, was Ken gestern mit dir gemacht hat, dass du den ganzen Tag ein Gesicht machst, als bräuchtest du bis morgen einen Plan gegen den Klimawandel“, erklärte er schließlich. „Ken? Ähm... nichts“, stotterte Kari. „Alles in Ordnung.“ Nun war es an T.K., einen skeptischen Gesichtsausdruck aufzulegen. „Klar.“ „Ich kann nicht drüber reden, okay?“, sagte Kari bedauernd. „Verstehe“, erwiderte er. „Ich hoffe nur, du machst dich nicht wegen irgendetwas fertig, das du entweder nicht ändern oder nicht allein schaffen kannst.“ Kari sah ihm in die Augen. Jetzt wirkte er ernst, von Spott keine Spur mehr. Machte er sich etwa Sorgen um sie? Sie räusperte sich und kratzte sich verlegen am Hinterkopf. „Also... hast du heute noch was vor? Wir könnten... wir könnten noch ein bisschen am Projekt arbeiten. Und du könntest mir mit Mathe helfen. Falls du willst.“ Er öffnete den Mund, doch bevor er etwas sagen konnte, wurde er unterbrochen. „Takeru, kommst du? Ich bin soweit.“ Er drehte sich um und Kari spähte an ihm vorbei, nur um Aya im Flur zu entdecken, die Kari keinerlei Beachtung schenkte. Sie spürte einen Stich im Herzen. „Klar.“ Er wandte sich wieder an Kari. „Wir sehen uns.“ Der Anflug eines Lächelns, dann ging er zu Aya, um mit ihr gemeinsam das Schulgebäude zu verlassen. Kari blieb wie versteinert stehen und starrte ihm nach. Der Stich in ihrem Herzen hatte sich in einen kalten Klammergriff verwandelt, der es nach unten zu ziehen versuchte. Er traf sich also noch immer mit Aya? Nach allem, was zwischen ihm und Kari gewesen war? Und er sagte ihr noch nicht einmal etwas davon. Nicht einmal auf ihre Frage hatte er wirklich geantwortet, sondern war einfach mit einem dämlichen „Wir sehen uns“ verschwunden. Wir sehen uns. Karis Hände verkrampften sich, sie biss die Zähne zusammen, presste die Lippen aufeinander. Sie kam sich vor wie der letzte Trottel. Erst, als sie bemerkte, dass eine Putzfrau gerade die Treppe wischte und sie dabei argwöhnisch beobachtete, setzte sie sich endlich in Bewegung, um das nun auf einmal noch düsterere und einsamere Schulgebäude zu verlassen. Dieser Tag war einfach nicht ihr Tag. Schlecht gelaunt kam Kari zu Hause an und setzte sich an ihren Computer, um sich in ihren falschen Facebook-Account zu loggen. Vielleicht hatte ja schon jemand angebissen und sie konnte den Nachmittag damit verbringen, wie eine Zwölfjährige zu chatten. Nichts. Enttäuscht loggte sie sich in ihren normalen Account und überflog ihre Startseite. Mimi und Tai hatten ihren Beziehungsstatus von „vergeben“ zu „verheiratet“ geändert, was etwa hundert Leuten gefiel. Zudem hatte Mimi noch einige Hochzeitsbilder hochgeladen und dabei unter anderem auch Kari verlinkt. Neugierig klickte sie sich durch die Fotos und entdeckte ein paar, auf denen auch sie abgebildet war. Ein Foto zeigte zum Beispiel Mimi und ihre drei Brautjungfern und hatte die Beschreibung „die besten Brautjungfern überhaupt!“ bekommen. Auf einem anderen Foto waren Sora und Mimi zu sehen, wie sie sich in den Armen hielten und in die Kamera strahlten. Mimi hatte als Beschreibung lediglich ein Herz hinzugefügt und Sora hatte in den Kommentaren mit einem Herz geantwortet. Anscheinend war sie also heil wieder in Mailand angekommen, denn der Kommentar stammte von vor einer Stunde. Kari stöberte weiter und fand ein Foto von sich und T.K., wie sie am Tisch saßen und sich unterhielten. Sie sahen sich an, T.K. sagte etwas und Kari lächelte nur, den Kopf auf einer Hand abgestützt. Keiner von beiden schien mitbekommen zu haben, dass sie fotografiert worden waren, wodurch das Bild natürlich wirkte. Wären es zwei fremde Menschen, die Kari gerade anschaute, dann würde sie vermuten, dass es zwischen ihnen knisterte. Vielleicht war es die Art, wie sie sich ansahen, das Lächeln auf den Lippen des Mädchens, der schelmische Ausdruck in den Augen des Jungens. Aber das waren keine Fremden. Es handelte sich hier um sie selbst und den Jungen, der sie vor einer Stunde in der Schule hatte stehen lassen, um den Nachmittag mit einer anderen zu verbringen. Wieder spürte Kari den kalten Klammergriff um ihr Herz und klickte das Foto weg. Von der Party selbst hatte Mimi nur unverfängliche Fotos hochgeladen und dabei anscheinend darauf geachtet, dass niemand einen albernen Gesichtsausdruck machte, denn alle sahen unglaublich gut aus. Das Vibrieren ihres Handys lenkte sie vom Computer ab. Sie öffnete eine SMS, die sie soeben erreicht hatte. Ich hoffe, es ist alles okay. Sorry, dass ich dich vorhin so stehen gelassen habe. Kari verzog das Gesicht, nicht wissend, was sie davon halten sollte. Und sollte sie überhaupt etwas antworten? Sie entschied sich dagegen, warf ihr Handy auf ihr Bett und packte lustlos ihr Mathebuch aus. Wenn sie schon allein war und nichts zu tun hatte, konnte sie auch Hausaufgaben machen. Kapitel 51: Klatsch und Tratsch ------------------------------- Am Ende der Woche hatte Kari Davis noch immer nicht gestanden, dass sie sein Geheimnis ausgeplaudert hatte, doch sie hatte beschlossen, es auch erst einmal dabei zu belassen. Sie wollte es ihm später mitteilen, wenn er wieder emotional stabiler wirkte. Sie befürchtete, er könnte erst einmal den Kontakt mit ihr verweigern, obwohl er den brauchte. Sie trafen sich oft und redeten über alles Mögliche und einmal ließ Davis verlauten, dass Kari momentan der einzige Mensch wäre, mit dem er so reden könnte. Natürlich war ihr Gewissen nun noch schlechter als ohnehin schon. Den Kontakt zu T.K. hatte sie in dieser Woche in Grenzen gehalten. Einmal hatte er sie gefragt, ob sie am Wochenende schon was vorhatte. Und sie hatte bejaht. Sie hatte behauptet, sie wäre komplett ausgebucht, weil sie Schulkram erledigen müsste, sich mit Tai und Mimi treffen wollte, einkaufen gehen wollte und mit Nana wollte sie auch etwas unternehmen. T.K. hatte nur genickt und „Okay“ gesagt, was Kari ärgerte. Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte, aber irgendwie wartete sie auf eine Erklärung von ihm. Ein Liebesgeständnis. Ein Zeichen, dass er sie wollte. Irgendwas. Des Weiteren hatte Kari am Samstag tatsächlich eine Nachricht von einem älteren Herrn erhalten, der Sakura Miyoshi gern näher kennenlernen würde. Er schrieb: Hallo Sakura, ich habe dein Profil gerade durch Zufall gefunden. Ich bin auch neu auf Facebook und dachte, wir Neulinge müssen doch zusammenhalten. ;-) Dein Profilbild finde ich sehr schön. Wie heißt denn deine beste Freundin? Es ist nur ein bisschen schade, dass man dich nicht sehen kann. Ich würde gern wissen, wie du aussiehst. Vielleicht stellst du mal ein Foto von dir ein? Du kannst mir natürlich auch privat eines schicken, wenn du nicht willst, dass jeder dein Foto sieht. :-) Wie ich aussehe, kannst du dir auf meinem Profil anschauen. Ich würde mich über eine Antwort von dir freuen. Liebe Grüße Akihito Kari schüttelte sich vor Ekel bei dieser Nachricht und klickte das Profil des Mannes an. Er war sechsundvierzig Jahre alt, kam ebenfalls aus Tokio und hatte eine Handvoll Freunde. Sein Profilfoto war nicht sehr vielversprechend. Er wirkte nicht wie jemand, den man unbedingt kennenlernen wollte. Kari öffnete das Nachrichtenfenster wieder und tippte eine Antwort ein, in der sie behauptete, sie hätte noch keine schönen Fotos von sich auf ihrem Computer, aber würde sein Foto „cool“ finden. Sie wollte ihn auch gern kennenlernen und fragte ihn nach seinen Hobbys. Dann loggte sie sich mit gemischten Gefühlen wieder aus. Es war natürlich ein Fortschritt, dass das falsche Profil tatsächlich Aufmerksamkeit erregt hatte und allen Anschein nach genau solche, wie Kari und T.K. sie sich erhofft hatten. Doch trotzdem machte sich ein mulmiges Gefühl in ihrer Magengegend breit bei dem Gedanken daran, die zwölfjährige Sakura könnte genauso gut echt sein und auf so eine Masche wirklich hereinfallen. Und wer wusste schon, wie viele Mädchen und sicher auch Jungen es da draußen gab, die schon Opfer eines solchen Täters mit ebendieser Masche wurden? Den Freitag verbrachte Kari mit Davis in einer Bar und anschließend in einem Club, am Samstag war sie mit Nana shoppen und am Sonntag besuchte sie Tai und Mimi. Somit hatte sie tatsächlich all das unternommen, von dem sie T.K. erzählt hatte, sie würde es unternehmen, obwohl es zu diesem Zeitpunkt noch nicht festgestanden hatte. „Hi Lieblingsschwägerin“, begrüßte Mimi Kari lächelnd, als sie ihr die Tür aufmachte, und umarmte sie herzlich. „Ebenso“, erwiderte Kari grinsend und folgte Mimi ins Wohnzimmer. Sofort fiel ihr Blick auf eine große weiße Vase mit hübscher Bemalung, die die beiden von irgendjemandem zur Hochzeit bekommen hatten. In ihr steckten gerade rosafarbene und weiße Blüten und verströmten einen süßlichen Duft, der sich im ganzen Wohnzimmer und in der Küche ausbreitete. Auf der Anrichte in der Küche standen die Eismaschine und ein glänzender neuer Kaffeeautomat, ebenfalls Hochzeitsgeschenke. „Darf ich dir ein Eis anbieten? Wir haben heute Schoko-Bananeneis gemacht“, bot Mimi an und deutete auf die Eismaschine. „Ja, gern“, antwortete Kari und folgte Mimi in die Küche. Diese holte gerade zwei Schälchen, ebenfalls neu, aus dem Schrank und füllte sie mit Eis. „Was habt ihr eigentlich alles zur Hochzeit bekommen?“, fragte Kari, die sie beobachtete. „Konntet ihr die Küche komplett neu einrichten?“ „So ungefähr“, antwortete Mimi lachend. „Also da wären die Eismaschine und der Kaffeeautomat, außerdem noch einen Entsafter, ganz viel Geschirr und Besteck, die Vase im Wohnzimmer, Gläser, Gutscheine für alles Mögliche, Fotos und natürlich Geld. Möchtest du einen Kaffee?“ „Ähm... ich trinke keinen Kaffee, danke.“ „Cappuccino? Latte Macchiato? Caramel Macchiato? Vanille Macchiato? Kakao? Tee? Moccacino? Ach, sag' mir einfach irgendwas. Es gibt eigentlich nichts, was ich nicht habe.“ Überfordert klappte Kari der Mund auf und zu. Das waren definitiv zu viele italienische Wörter für einen Tag. „Äh... Moccacino.“ „Kommt sofort.“ Mimi wandte sich dem Kaffeeautomaten zu und drückte ein paar Knöpfe. „Du kannst dich ruhig schon setzen.“ Kari nahm die beiden Eisschüsseln und ging hinüber zur Couch, wo sie sie auf dem niedrigen Tisch abstellte. „Ihr seid jetzt also reich, ja?“ „Was? Achso, ja. Könnte man so sagen. Von meinen und euren Eltern haben wir zum Glück Gutscheine für Babyausstattungsläden bekommen. Demnächst können wir also anfangen, das Kinderzimmer einzurichten und alles Wichtige zu kaufen. Mann, das wird aufregend“, plauderte Mimi und schüttelte den Kopf. „Ich glaube, ich werde mich niemals für eine Wandfarbe für sein Zimmer entscheiden können. Oder für einen Kinderwagen. Nicht mal für eine passende Wickeltischauflage.“ Kari kicherte. Das konnte sie sich bei Mimi sehr gut vorstellen. „Wenn ihr bei irgendetwas Hilfe braucht, sagt mir bitte Bescheid, okay?“ „Gut, dass du das sagst. Ich denke, ich werde mir öfter mal deine Meinung einholen müssen. Tai vertraue ich in diesen Sachen nicht. Ich habe zwar noch meine Mutter, aber eine zweite weibliche Meinung kann ja nicht schaden“, erwiderte Mimi und kam mit zwei Tassen hinüber zu Kari und nahm neben ihr auf der Couch Platz. „Wo ist Tai eigentlich?“, fragte Kari und nahm Mimi ihre Tasse ab. „Krisensitzung mit Matt“, seufzte Mimi und verdrehte die Augen. „Ich weiß nicht, wann er wiederkommt. Kann gut sein, dass wir noch eine Weile zu zweit sind.“ „Krisensitzung?“ Kari sah sie verständnislos an. „Wer hat denn eine Krise?“ „Matt. Eine ziemlich große sogar, wie es scheint“, antwortete Mimi und nippte an ihrem Kakao. „Oh“, machte Kari und war alarmiert. „Geht es ihm gut? Was ist passiert?“ „Du hast das nicht von mir, aber anscheinend hat er in unserer Hochzeitsnacht mit Sora geschlafen“, sagte Mimi leise, als könnte jemand sie belauschen. Kari riss die Augen weit auf. „Was?!“ „Ja, das habe ich mir auch gedacht. Sora hat es mir erzählt, als sie am Sonntagabend noch hier war. Sie war ganz aufgelöst. Und naja, Tai hat daraufhin Matt angesprochen“, erklärte Mimi. „Aber... Sora hat ihren Freund noch?“, fragte Kari völlig irritiert. „Zumindest hatte sie ihn vor jener Nacht noch“, antwortete Mimi und hob eine Augenbraue. „Ich habe keine Ahnung, wie es inzwischen aussieht, aber eigentlich hatte sie nicht vor, mit ihm Schluss zu machen. Zumindest hat sie es mir am Sonntag so erzählt.“ Kari kratzte sich am Kopf und nippte an ihrem Moccacino, bevor sie sich dem Eis zuwandte. Geistesabwesend löffelte sie es und bekam den leckeren Geschmack nur am Rande mit. Diese Neuigkeiten brachten sie durcheinander. Sora und Matt, Davis und Ken. Was war in dieser Nacht wohl noch alles passiert, von dem sie nichts wusste? „Ich weiß nicht, was mit ihr los ist. Fabio zu betrügen sieht ihr gar nicht ähnlich. Immer, wenn sie von ihm geredet hat, hat sie so geschwärmt und sie wirkte so glücklich mit ihm. Und Matt genauso. Er hat doch so lange gebraucht, um über sie hinwegzukommen. Ich frage mich, wie das nur passieren konnte“, plapperte Mimi vor sich hin. „Schmeckt dir das Eis?“ „Mhm. Total lecker“, murmelte Kari, war jedoch nur halb anwesend. Matt hatte also lange gebraucht, um über die Trennung hinwegzukommen. Vielleicht war er ja... „Vielleicht ist er gar nicht über die Trennung hinweggekommen.“ Mimi sah sie fragend an. „Naja, ich habe mich mal mit ihm unterhalten. Das ist noch nicht lang her. Da haben wir über die Mädchen geredet, die bei ihm Schlange stehen müssten und ich sagte, dass er ja jede haben könnte. Und da sagte er: 'Nicht jede'. Vielleicht hat er Sora damit gemeint.“ Mit nachdenklichem Blick kratzte Mimi sich das Kinn. „Ja, vielleicht. Das wäre ziemlich traurig. Ich wusste nicht, dass er noch so an ihr hängt.“ „Ich auch nicht“, erwiderte Kari kopfschüttelnd. „Tja, jedenfalls hat Sora ihn anscheinend danach ziemlich abserviert und nun ist er schlecht drauf und Tai versucht, ihn aufzumuntern“, beantwortete Mimi die eigentliche Frage und schloss somit das Thema ab. Dann sah sie Kari mit leuchtenden Augen an. „Und du und T.K., ihr seid jetzt also ein Paar, ja?“ Überrascht hob Kari die Augenbrauen. „Was? Ähm naja... nicht so wirklich.“ Sie spürte, wie sie rot anlief. „Was soll das denn heißen? Ich habe gesehen, wie ihr euch geküsst habt. Am Abend der Hochzeit.“ Mimi durchbohrte sie mit ihren Blicken, sodass Kari den Blickkontakt unterbrechen musste. Sie starrte in ihre nun leere Eisschüssel und kratzte in den Resten herum. „Ich glaube, wir haben irgendwie was am Laufen, aber keiner von uns hat das bisher wirklich angesprochen. Ist ein bisschen kompliziert.“ Mimi stützte den Ellbogen auf dem Knie und den Kopf auf der Hand ab und sah Kari erwartungsvoll an. Diese seufzte und erzählte Mimi dann schließlich alles Mögliche, was in den letzten Wochen zwischen ihr und T.K. passiert war. Die Dates, die Gespräche, das Rummachen und sie erzählte sogar, dass sie nun schon drei Mal fast miteinander geschlafen hatten. Sie erwähnte jedoch auch, dass sie sich nie sicher war, was T.K. gerade dachte und er sich manchmal wirklich merkwürdig verhielt. Und auch von Aya und der Begegnung mit den beiden am Anfang der Woche berichtete sie ebenfalls. Und von der seltsamen Freundschaft, die die beiden anscheinend verband. Mimi hörte die ganze Zeit aufmerksam zu, unterbrach sie kein einziges Mal, sondern sah sie schweigend an, runzelte gelegentlich skeptisch die Stirn oder hob erstaunt die Augenbrauen. Als Kari ihre Geschichte beendete, setzte sie sich wieder auf und nickte entschlossen. „Ihr solltet dringend miteinander reden“, sagte sie. „Sag ihm, dass du verliebt bist.“ „Ich weiß nicht“, murmelte Kari unsicher. „Was, wenn ich mich zum Löffel mache?“ „Warum solltest du dich zum Löffel machen?“, fragte Mimi verständnislos. Kari seufzte und kratzte sich unbehaglich am Hinterkopf. „Naja, vielleicht habe ich ja irgendwas total missverstanden und er empfindet nicht das Gleiche wie ich. Das wäre einfach nur total peinlich und ich müsste doch noch die Schule wechseln.“ „So ein Quatsch“, erwiderte Mimi abwinkend. „Also mal ehrlich, wenn er nicht das Gleiche für dich empfindet, dann ist er ein Arsch. Nach allem, was ihr schon gemacht habt. Und nach der ganzen Mühe, die er sich für dich gibt. Nein, das glaube ich nicht. Wahrscheinlich ist er noch schlimmer in dich verknallt als du in ihn.“ „Glaubst du das wirklich?“ „Hallo? Er hat dir fünf Jahre lang Briefe geschrieben, obwohl du nicht einmal geantwortet hast. Er prügelt sich für dich, lädt dich zum Essen ein, ist dein Date auf einer Hochzeit und hätte dich schon drei Mal fast flachgelegt. Ich glaube nicht, dass er das alles zum Spaß macht“, erwiderte Mimi überzeugt und verschränkte die Arme vor der Brust. „Vielleicht wartet er nur auf ein Zeichen von dir, damit er dir seine unendliche Liebe gestehen kann.“ „Wow, übertreib's nicht.“ Abwehrend hob Kari, die bei dem Wort unendlich schauderte, die Hände. „Heiraten will ich ihn ja gar nicht.“ „Jetzt noch nicht“, erwiderte Mimi zwinkernd. „Warte noch ein paar Monate ab. Dann sieht das bestimmt schon ganz anders aus.“ Mit leuchtenden Augen griff sie nach Karis Händen und umschloss diese fest mit ihren. „Hach, es ist so schön, zuzuschauen, wie eine junge Liebe erwacht.“ „Mimi“, grummelte Kari peinlich berührt. „Wie alt bist du? Achtzig?“ „Unsinn. Es ist nur so romantisch, das zu beobachten, weißt du? Nachdem ich gesehen habe, wie ihr euch geküsst habt, wusste ich, dass da was sein muss. Du hättest euch mal beobachten sollen. Das war so leidenschaftlich, so gefühlvoll. Traumhaft.“ Mit verkniffenem Gesicht starrte Kari in ihre Tasse. Sie nahm sich vor, sollte sie T.K. je wieder küssen, es weit weg von jeglicher menschlicher Nähe zu tun. Sie mochte sich gar nicht vorstellen, wer sie wohl noch alles beobachtet hatte und wie die Gedanken desjenigen darüber aussahen. Zum Glück hörten sie in diesem Moment das Türschloss und wenig später standen Tai und zu Karis und Mimis Überraschung auch Matt im Wohnzimmer. „Hey Zickenschwester“, begrüßte Tai Kari und zerzauste ihr das Haar, bevor er Mimi küsste. „Sei nett“, wies diese ihn zurecht und stand auf, um auch Matt zu begrüßen. „Hi. Schön, dass du hier bist. Möchtest du Kaffee?“ „Ich habe ihn gefragt, ob er herkommen will. Das Schoko-Baneneneis hat ihn überzeugt“, erklärte Tai grinsend und machte sich in der Küche daran, Tassen und Schüsseln aus den Schränken zu holen. „Ja, bitte“, antwortete Matt lächelnd. Kari suchte in seinem Gesichtsausdruck nach irgendeinem Zeichen von gebrochenem Herzen, doch er sah aus wie immer. Kein Wunder. Durch seine vielen Auftritte war er es sicher gewohnt, seine Gefühle im Zaum zu halten und niemanden wissen zu lassen, wie es ihm wirklich ging. Vielleicht war Tai sogar der Einzige, mit dem er redete. „Was für welchen? Ich hätte da Cappuccino, Latte Macchiato, Caramel Macchiato, Vanille Macchiato, Moccacino, Caffè Latte...“ „Äh“, machte Matt und hob verwirrt eine Augenbraue. Kari kicherte, weil sie wahrscheinlich genauso ausgesehen hatte, als Mimi sie mit ihrer Kaffeevielfalt überfahren hatte. „Kaffee schwarz, bitte. Ohne Latte.“ „Die hat er selbst schon“, meldete sich Tai aus der Küche und lachte über seinen eigenen Witz. „Beim Anblick deiner schwangeren Frau oder deiner kleinen Schwester? Was wäre dir da lieber?“, erwiderte Matt mit einem schiefen Lächeln, das dem von T.K. so unglaublich ähnlich sah. Die Art, wie der rechte Mundwinkel nach oben gezogen war, wie seine Augenbrauen standen, der Ausdruck in den blauen Augen. Kari wurde erst bewusst, dass sie ihn anstarrte, als Matt ihren Blick verwirrt erwiderte. Schnell sah sie in eine andere Richtung. „Touché“, meinte Tai nur und verteilte Eis in zwei Schüsseln, während Mimi sich mit dem Kaffeeautomaten beschäftigte. Sie betrieb fröhlichen Smalltalk mit Matt und Tai kam mit zwei Schüsseln Eis hinüber zu Kari auf die Couch. „Und? Wie geht’s dir? Alles klar?“, fragte er und machte sich über sein Eis her. „Ja, alles klar“, antwortete Kari. „Hast du mit Ken gesprochen?“, fragte Tai weiter. „Ja“, murmelte Kari. „Ich glaube, er hat mir verziehen. Er fand es am nächsten Tag dann doch nicht mehr so schlimm.“ „Das klingt schon eher nach dem Ken, den ich kenne“, fand Tai und nickte. „Und auch eher nach der Kari, die ich kenne.“ Er zwinkerte ihr zu, doch sie verdrehte nur die Augen. Kapitel 52: Klartext -------------------- Am Dienstag nach dem Tanztraining wurde sie von T.K. abgefangen, als sie gerade gemeinsam mit Nana die Umkleidekabine verließ. Er hatte draußen auf sie gewartet. „Hey“, hielt er sie auf. Kari hätte gern so getan, als hätte sie ihn nicht gehört, doch Nana war stehen geblieben und sah ihn erwartungsvoll an, weshalb auch Kari stehen blieb. „Hast du kurz Zeit?“, fragte T.K. mit einem kurzen Seitenblick auf Nana. „Eigentlich muss ich... also die Hausaufgaben für morgen und so. Hab's ein bisschen eilig“, murmelte sie ausweichend. „Dauert nur zwei Sekunden“, erwiderte er. „Ich geh' schon mal vor. Treffe mich eh gleich mit Ken“, meinte Nana locker und ging los. Mit düsterer Miene sah Kari ihr hinterher und überlegte kurz, ob sie nicht einfach mitgehen sollte. Schließlich seufzte sie jedoch resigniert und wandte sich an T.K. „Komm mit. Das hier ist irgendwie ein blöder Platz“, meinte er mit einem Blick auf die Schüler, die noch immer grüppchenweise die Umkleidekabine verließen, und berührte flüchtig ihre Hand. Dann ging er voraus in Richtung der Bänke auf dem Schulhof. Kari zögerte kurz, folgte ihm dann jedoch. Sie setzten sich nebeneinander auf eine der Bänke. Kari hatte ihre Schultasche auf dem Schoß und klammerte sich daran fest, als bräuchte sie einen Schutz vor T.K. Sie fing seinen Blick auf, der so aussah, als hätte er bereits eine Frage gestellt und würde nun auf die Antwort warten. „Was?“, fragte Kari verwirrt. „Möchtest du erst so tun, als wüsstest du nicht, wovon ich rede, oder willst du mir gleich sagen, was los ist?“ Kari runzelte skeptisch die Stirn. Irgendwie fühlte sie sich von seiner Frage angegriffen. So tun, als wüsste sie nicht, wovon er sprach? Dafür müsste er überhaupt erst einmal sprechen. Und die Frage, die er nun gestellt hatte, war auch nicht wirklich eindeutig. Und überhaupt der kühle Unterton in seiner Stimme! „Nichts ist los“, erwiderte sie trotzig. „Oh, richtig. Ich habe eine Option vergessen. So tun, als wäre alles okay, obwohl du seit einer Woche fast kein Wort mit mir geredet hast“, sagte T.K., ohne den Blick von ihr abzuwenden. Kari antwortete nicht, sondern sah ihn nur grimmig an, woraufhin er langsam den Kopf schüttelte. „Na schön. Ist es wegen Aya?“ „Ist was wegen Aya?“ Er stöhnte. „Kari, ich bin nicht bescheuert.“ „Glaubst du, ich bin bescheuert? Glaubst du, ich finde es toll, dass wir den einen Tag was auch immer miteinander machen und am nächsten Tag lässt du mich wie eine dumme Nudel für Aya stehen? Ich habe darauf keine Lust!“ Na toll. Es war einfach aus ihr herausgeplatzt, dabei hatte sie es gar nicht sagen wollen. Nun stand sie da wie eine eifersüchtige Ziege. Ihre Finger krallten sich in den Stoff ihrer Schultasche. „Du bist eifersüchtig“, stellte er nüchtern fest. War das alles, was er dazu zu sagen hatte? „Nein, ach was. Jeder wird gern von seiner Flamme für eine Andere stehen gelassen“, entgegnete sie sarkastisch und stand auf. „Wenn du mich jetzt entschuldigst, ich habe Hausaufgaben.“ Doch bevor sie sich in Bewegung setzen konnte, hatte er ihre Hand ergriffen und sie zu sich umgedreht. Er war ebenfalls aufgestanden, legte nun die Hände an ihr Gesicht und presste seine Lippen auf ihre. Er hielt sie so fest, dass Kari sich kaum bewegen konnte, ganz abgesehen davon, dass ihr ohnehin der Atem stockte. Mit einem Kuss hatte sie in diesem Moment nicht gerechnet. Ihr Bauch kribbelte, ihr Herz flatterte und ihre Knie wurden weich. Dabei hatte sie noch bis gerade eben ganz entschlossen vom Schulhof stolzieren und ihm zeigen wollen, dass sie nicht alles mit sich machen ließ. Es war, als hätte sich ihr Körper gegen ihren Kopf verschworen. Er löste den Kuss, doch hielt sie noch immer fest und auch den Abstand zwischen ihren Lippen vergrößerte er nur geringfügig. „Ich dachte, ich hätte dir das mit Aya erklärt“, erwiderte er leise. „Hast du, aber...“ Sie seufzte leise und machte sich von ihm los. Sie wusste selbst nicht genau, wie sie diesen Satz beenden sollte. Fragend sah er sie an. „Was aber?“ „Versetz' dich doch mal in meine Lage. Wie würdest du es finden, wenn ich mich dauernd allein mit einem Typen treffen würde, der zufällig auch noch was von mir will? Ich weiß, wir sind nicht zusammen oder so. Aber es ist trotzdem blöd“, murmelte sie ohne ihn anzusehen. „Tust du doch. Ich weiß, wie sich das anfühlt.“ Sie blickte auf und sah ihn verständnislos an. „Hä? Was tue ich?“ „Dich mit einem Typen treffen, der anscheinend was von dir will“, erwiderte T.K. schulterzuckend und nun war es an ihm, den Blick abzuwenden. Er hatte die Hände in den Taschen seiner Jacke vergraben und beschäftigte sich damit, kleine Steine wegzukicken. „Was?“ Völlig verdattert starrte sie ihn an. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wovon er da sprach. „Was meinst du?“ „Du weißt genau, was ich meine“, antwortete er ohne aufzublicken. „Ich schwöre, ich habe keine Ahnung. Echt nicht. Ich weiß nicht, von wem du sprichst.“ „Davis?“ Perplex riss Kari die Augen auf. „Davis? Wie kommst du denn...“ „Du triffst dich doch oft mit ihm, oder etwa nicht? Meistens erzählst du mir sogar davon. Und versuch' jetzt nicht, mir weiszumachen, dass Davis nicht auf dich steht. Du bist das einzige weibliche Wesen, mit dem ich ihn Zeit verbringen sehe“, erklärte T.K. und sah sie nun herausfordernd an, als erwartete er einen Konter, eine vernünftige Erklärung. Verdutzt erwiderte Kari seinen Blick, dann brach sie plötzlich in Gelächter aus. T.K. hatte da offensichtlich etwas sehr missverstanden und das war Kari erst vor einer Sekunde bewusst geworden. Er dachte tatsächlich, der schwule Davis würde auf Kari stehen. „Was ist so witzig?“, fragte er und hob eine Augenbraue. „Das ist was vollkommen Anderes, okay?“, sagte sie, als sie sich wieder beruhigt hatte. „Davis steht garantiert nicht auf mich, glaub' mir.“ „Wirklich? Das sieht für mich aber komplett anders aus. Das sieht man allein schon an der Art, wie er mit dir redet“, erwiderte T.K. nüchtern. „Nein, nein, nein“, sagte Kari kopfschüttelnd und hob die Hände. „Das verstehst du falsch. Davis ist nur...“ „... ein Kumpel, schon klar. Aya ist auch nur ein Kumpel und trotzdem bist du eifersüchtig.“ Verärgert runzelte Kari die Stirn. „Das kannst du nicht vergleichen. Das sind zwei völlig unterschiedliche Situationen.“ „Ach ja? Ich sehe keinen Unterschied, bis auf den, dass es anscheinend okay ist, wenn du dich mit anderen triffst, ich das aber nicht darf.“ Er nahm seine Tasche von der Bank, hing sie sich über die Schulter und ging an ihr vorbei. Fassungslos starrte Kari ihm nach. Er hatte sich schon einige Meter von ihr entfernt, bevor sie ihre Sprache wiederfand. „T.K.!“ Er blieb stehen und drehte sich zu ihr um. Kari seufzte hilflos und ließ sich wieder auf die Bank fallen. „Ich kann dir das nicht erklären, auch wenn ich es gern würde.“ „Genauso geht es mir mit Aya“, antwortete er kühl. Nein, ging es nicht. Es war etwas völlig Anderes. Warum wollte er das denn nicht verstehen? Davis war schwul und somit garantiert nicht in Kari verliebt, während Aya T.K. wahrscheinlich am liebsten sofort die Klamotten vom Leib reißen würde, sobald sie allein in einem Zimmer waren. Er hatte Kari zwar gesagt, dass er nichts für Aya empfand, doch das konnte sich schließlich ändern, wenn man viel Zeit miteinander verbrachte, oder etwa nicht? Vielleicht waren Kari und T.K. ja einfach nicht dazu bestimmt, eine ernste Beziehung miteinander zu haben. Sie stützte die Ellbogen auf den Knien ab und vergrub das Gesicht in den Händen. Warum war das nur alles so kompliziert? Warum konnte sich diese blöde Aya nicht einfach jemand anderen suchen? Die konnte doch alle haben. Warum musste es ausgerechnet T.K. sein? „Geht's dir gut?“, hörte sie T.K. zögerlich fragen. Anscheinend hatte er sich ihr wieder ein paar Schritte genähert. „Nein“, nuschelte Kari in ihre Hände. Nach einigen Sekunden spürte sie, wie er ihre Handgelenke ergriff und ihre Hände sanft von ihrem Gesicht wegzog. Er hatte sich direkt vor sie auf den Boden gehockt und musterte sie besorgt. „Hör mal“, begann er, „während ich in Frankreich war, konnte ich dich die ganze Zeit einfach nicht vergessen, auch wenn ich nicht einmal etwas von dir gehört habe. Fast jeden Tag habe ich an dich gedacht. Es war nicht so, dass ich irgendwie in dich verliebt war oder so. Ich habe dich einfach als Freundin vermisst. Und als ich dann am Anfang des Schuljahres in die Klasse kam, habe ich dich sofort erkannt, auch wenn du erwachsen geworden bist. Und als ich dich gesehen habe, war es einfach nur... ich kann es gar nicht beschreiben. Ich wollte dich unbedingt wieder als Freundin zurückhaben. Du nimmst einfach einen Platz bei mir ein, den kann dir niemand wegnehmen. Nicht Aya und auch nicht sonst irgendwer.“ Kari sah ihm in die Augen. Sein Blick war durchdringend und ernst. Ihr war der Mund aufgeklappt bei alldem, was er ihr gerade offenbart hatte. Er hatte mittlerweile ihre Handgelenke losgelassen, war jedoch nicht aufgestanden, sondern hockte immer noch vor ihr auf dem Boden und sah zu ihr hinauf. „U-und... was heißt das jetzt?“, fragte Kari mit krächzender Stimme. Sie sah, wie er tief ein- und wieder ausatmete. Seine Schultern hoben und senkten sich. Dann legte sich plötzlich sein typisches schiefes Lächeln auf seine Lippen. „Das heißt, dass ich total in dich verknallt bin.“ Überrascht hob Kari die Augenbrauen, kratzte sich mit fahrigen Bewegungen an der Wange und fuhr sich durch die Haare. „Ich... ähm... echt?“ T.K. runzelte die Stirn. „Nein.“ Auf Karis irritierten Blick hin sagte er jedoch: „Ja, Mensch. Was denkst du denn, warum ich das sage?“ Sie sah ihn an, versuchte, zu verarbeiten, was er ihr gerade gestanden hatte, und dann lächelte sie. Schließlich musste sie kichern, was ihn wiederum verwirrte. Er schnippte ihr gegen das Knie. „Hey, Lachen ist nicht gerade die beste Reaktion auf so ein Geständnis, du Sozialgenie“, sagte er entrüstet. „Entschuldige, ich lache nicht wegen dir. Es ist nur... ach, egal“, kicherte sie, räusperte sich und wurde wieder ernst. „Ich weiß nur nicht, was ich sagen soll.“ „Wie wäre es mit: Oh, T.K., mir geht es schon seit Wochen genauso und ich habe nur darauf gewartet, dass du endlich den Anfang machst?“, schlug er vor und ahmte dabei ihre Stimme nach. Nun musste Kari wieder lachen. „So klingt meine Stimme überhaupt nicht.“ „Hast du dich mal selbst gehört?“ Sie grinste nur und spielte mit dem Saum ihres Rocks. T.K. stand wieder auf, schob die Hände in die Hosentaschen und sah sie an. „Also könntest du jetzt endlich mal was dazu sagen, damit ich nicht wie ein kompletter Volltrottel dastehe?“ Nun erhob Kari sich ebenfalls und verschränkte die Hände hinter dem Rücken. „Na schön.“ Sie trat von einem Bein auf das andere. „Ich war mir bis vor kurzem nicht so sicher, was ich eigentlich will und was das mit uns ist. Ob das was Ernstes sein könnte und so. Aber... du hast mir echt den Kopf verdreht. Also alles in allem heißt das... ja, ich bin verliebt.“ Für einen Moment lang standen sie sich gegenüber und sahen sich unsicher an wie zwei Dreizehnjährige. Dann ergriff T.K. das Wort. „Cool. Tja also... dann sind wir jetzt sozusagen...“ „Ja“, beantwortete Kari die nicht gestellte Frage. Wieder sahen sie sich an und mussten dann beide lachen. Was für eine merkwürdige, erleichternde und gleichzeitig bedrückende Situation. „Und was machen wir jetzt?“, fragte Kari unsicher. „Hast du nicht gesagt, du hast noch Hausaufgaben? Dann lass uns einfach nach Hause gehen“, meinte T.K. und sie setzten sich langsam in Bewegung. „Wenn du willst, kannst du mir ja helfen“, sagte Kari nach einigen Momenten des Schweigens. „Mathe und so. Du weißt schon. Nicht so meine Stärke.“ „Klar, kein Problem“, erwiderte T.K. „Ich bin sicher, meine Mutter hat auch wieder irgendwas Tolles gekocht, das du in dich hineinstopfen kannst, als wäre dir dein Leben nichts wert“, sagte Kari grinsend und stieß ihm leicht mit dem Ellbogen in die Seite. „Ich kann's kaum erwarten.“ Den sarkastischen Unterton in seiner Stimme konnte er nicht unterdrücken. Kapitel 53: Geburtstagsplanung der besonderen Art ------------------------------------------------- Sie verbrachten die Zeit bis zum Abend tatsächlich damit, Karis Mathehausaufgaben zu erledigen, auch wenn Kari der Sinn eher nach anderen Dingen stand. Doch T.K. hatte darauf bestanden, ihr zu helfen. Dabei plauderten und lachten sie jedoch auch viel und bemerkten gar nicht, wie die Zeit verflog. Irgendwann machte T.K. sich auf den Nachhauseweg, obwohl Kari ihn gern noch länger bei sich behalten hätte. Mit einem Kuss und einem glühenden Blick verabschiedete sie ihn, bevor sie zurück in die Wohnung taumelte. Yuuko stand in der Küche gegen den Kühlschrank gelehnt, blätterte in einem Magazin und warf Kari über den Rand der Seiten hinweg einen prüfenden Blick zu. „Mama“, sagte Kari und blieb in der Küche stehen. „Kari“, erwiderte ihre Mutter und ließ die Zeitschrift sinken. „Ich glaube, wir sind jetzt offiziell zusammen“, gestand Kari und spürte, wie sich ein verträumtes Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete. „Du und T.K.?“ „Nein, ich und der Kaiser von China. Natürlich ich und T.K.“ „Ja!“, rief Yuuko triumphierend und stieß eine Faust in die Luft. „Wow ähm... danke, dass du dich so für mich freust“, erwiderte Kari und hob verwirrt eine Augenbraue. „Ach, sei nicht albern. Natsuko schuldet mit fünftausend Yen. Deswegen freue ich mich“, sagte Yuuko und machte eine wegwerfende Handbewegung. „Naja, natürlich freue ich mich auch für dich. Das ist ganz toll, Kleines.“ „Wie? Was? Fünftausend Yen?“ Mit einer düsteren Vorahnung im Kopf verengte Kari die Augen zu Schlitzen. Hatte ihre Mutter etwa... „Sie hat gesagt, ihr schafft es bis Weihnachten nicht, euch endlich eure Liebe zu gestehen. Ich habe ihr gleich gesagt, das ist Unsinn. Man musste dich nur beobachten, wenn du gerade von einem Treffen mit T.K. kamst.“ Yuuko grinste selbstbewusst und verschränkte die Arme vor der Brust. Das Magazin hatte sie längst weggelegt. Entgeistert starrte Kari ihre Mutter an. „Ihr habt im Ernst darum gewettet, wie lange es dauert, bis T.K. und ich ein Paar sind?“ „Ja. Naja. Wir hatten ein bisschen zu viel Wein getrunken, als wir das abgeschlossen haben und...“ „Du bist die schlechteste Mutter der Welt“, unterbrach Kari ihr Gestammel und schüttelte ernüchtert den Kopf. „Was? Eigentlich war die Wette Natsukos Idee“, verteidigte Yuuko sich. „Im Gegensatz zu dir kann Natsuko aber wenigstens kochen!“, erwiderte Kari schnippisch und ging ohne ein weiteres Wort in ihr Zimmer. In den nächsten Tagen ignorierte Kari ihre Mutter nahezu komplett. Sie konnte einfach nicht glauben, dass sie und T.K.s Mutter tatsächlich eine Wette darauf abgeschlossen hatten, wie lange es dauern würde, bis aus ihren Kindern ein Paar wurde. Hatten die Frauen keine anderen Hobbys? Vielleicht sollte sich Yuuko endlich einen Job suchen. Was hatte sie denn als Hausfrau noch zu tun? Das jüngere Kind war fast ausgezogen und sie musste sich zu Tode langweilen zu Hause. Vielleicht sollte Kari sie heimlich auf einer Jobvermittlungsseite im Internet anmelden. Dann hätte sie endlich einmal etwas zu tun und würde aufhören, in Karis Leben herumzuschnüffeln und sinnlose Wetten abzuschließen. „Worüber grübelst du schon wieder nach?“, riss T.K. sie aus ihren Gedanken. „Schreib doch einfach, dass wir ihn treffen wollen.“ Sie und er saßen gerade in Karis Zimmer vor dem Computer und chatteten mit Akihito, dem potentiellen Pädophilen, der sich für Sakura Miyoshi interessierte. In den letzten Tagen hatten sie sich gegenseitig ein bis zwei Nachrichten geschickt, doch nun waren sie zufällig gleichzeitig online und er hatte sie im Chat angeschrieben. „Okay“, murmelte Kari und tippte etwas in den Chat. Ich würde dich gern mal kennenlernen. Scheinst echt nett zu sein :) Fragend sah sie zu T.K., obwohl sie nichts mehr ändern konnte, denn sie hatte die Nachricht schon abgeschickt. Dieser runzelte die Stirn und betrachtete das Geschriebene kritisch, während Akihito schon dabei war, eine Antwort einzutippen. „Wenn ich es mir recht überlege, hätten wir vielleicht darauf warten sollen, bis er fragt“, meinte T.K. „Aber du hast doch gerade eben gesagt, ich soll das schreiben“, entgegnete Kari verwirrt. „Ich habe meine Meinung gerade geändert. Aber jetzt ist es ja eh zu spät.“ „Mein Gott, du bist schlimmer als 'ne Frau“, murmelte Kari kopfschüttelnd und wartete ungeduldig auf Akihitos Antwort. „Und du weißt wirklich, wie man Komplimente macht. Charmant wie ein Eisblock“, erwiderte T.K. trocken. Kari kicherte und richtete ihre Aufmerksamkeit dann ganz auf die soeben erschienene Antwort. Gern! :) Wir können uns ja mal auf ein Eis treffen. „Jetzt lass' mich mal“, forderte T.K. und drängte sie ein wenig zur Seite, um die Tastatur bedienen zu können. Klingt super. Wann hast du denn immer so Zeit? Also ich habe immer bis um 4 Schule :( „Wenn er jetzt darauf kommt, dass hinter Sakura Miyoshi zwei Leute stecken, bist du schuld“, meinte Kari und musterte den Satz, den er getippt hatte. „Wieso?“, fragte T.K. „Weil ich die Substantive immer klein geschrieben habe und du sie jetzt groß schreibst“, antwortete Kari sachlich und sah T.K. an, der ihren Blick skeptisch erwiderte. „Was?“ „Ich glaube, der hat andere Dinge im Kopf, als Sherlock Holmes für Arme zu spielen“, meinte er spöttisch. Na dann könnten wir uns doch morgen um 5 treffen. Was hältst du davon? Kari riss die Augen auf und sah T.K. an. Was sollten sie jetzt machen? Morgen war T.K.s Geburtstag. Den konnten sie doch nicht damit verbringen, einem Pädophilen aufzulauern. Eigentlich wollte Kari den heutigen Nachmittag auch nicht damit verbringen, mit ihm zu schreiben. Sie hatte vorgehabt, T.K. schnell wieder loszuwerden, um ihm einen Kuchen für morgen backen zu können. „Was? Sag' schon zu“, forderte T.K. sie schulterzuckend auf. „Aber morgen ist doch...“ „Ich kann mir an meinem Geburtstag nichts Besseres vorstellen, als mit dir zusammen einem Pädophilen hinterherzuschleichen“, unterbrach er sie amüsiert lächelnd. „Dann ist dein Leben ja noch viel trauriger als meins“, erwiderte Kari grinsend. Wieder zuckte er lässig mit den Schultern. „Wenn du dabei bist, ist es erträglich.“ Er beugte sich zu ihr und verwickelte sie in einen zärtlichen Kuss, der Kari sofort alles andere vergessen ließ. Seine Lippen fühlten sich weich an und schmeckten nach... ihm. Woran hatten sie gerade eigentlich gearbeitet? Sie spürte seine Zähne an ihrer Unterlippe. Wo waren sie eigentlich? Sein Haar kitzelte ihre Stirn. Ihr Herz hämmerte gegen ihre Brust und Glücksgefühle strömten durch ihren Körper. Warum hatten sie sich noch mal getroffen? Geburtstag. Kuchen. Facebook. Projekt. Widerstrebend löste Kari den Kuss und sah ihn an. Warum machte er sie nur so wahnsinnig? Wenn er sie küsste, fühlte sie sich jedes Mal wie ein Stück Butter, das in der Sonne liegen gelassen wurde und fröhlich vor sich hin schmolz, bis es nur noch eine Pfütze war. Würde er sie jetzt sofort aufs Bett werfen und ihre Aktivität fortführen und ausbauen, Kari wäre ihm hilflos ausgeliefert. Sie war sich sicher, dass sie sich nicht wehren könnte, selbst wenn sie es wollte. Wenn er sie nur auf diese gewisse Weise ansah, brachte er sie damit schon fast um den Verstand. „Lass uns weitermachen, okay?“, sagte Kari und wandte sich dem Computer zu, damit er erst gar nicht auf die Idee kommen konnte, sie könnte eventuell von der Knutscherei sprechen. Hallo? Bist du noch da? Kari machte keine Anstalten zu antworten, da sie erst einmal ihre Gedanken ordnen und wieder zurück in die Realität finden musste. Also übernahm T.K. das Zepter. Ja, das passt mir gut. Ich freue mich schon :) Gut. Wo wollen wir uns denn treffen? Du kannst mich ja direkt von meiner Schule abholen. Das wäre cool :) Erschrocken sah Kari T.K. an. „Bist du verrückt? Was, wenn er zustimmt? Was sollen wir denn dann sagen?“ „Wenn er wirklich ein Pädophiler ist, wird er nicht zustimmen“, antwortete T.K. überzeugt. „Warum bist du dir da so sicher?“, fragte Kari verwirrt. „Ein Mann Mitte vierzig, der eine Zwölfjährige von der Schule abholt, mit dem sie noch nie ein Lehrer zusammen gesehen hat? Er würde sofort unter Verdacht stehen. Das Risiko geht er sicher nicht ein.“ Kari runzelte die Stirn und musterte ihn skeptisch. „Was?“ „Ich weiß nicht, ob ich das praktisch oder eher beängstigend finden soll, dass du das alles weißt.“ T.K. schnaubte nur und wandte sich wieder an den PC. Also um ehrlich zu sein, mag ich Schulen nicht so gern. Ich würde mich lieber mit dir im Café oder so treffen wollen. :) T.K. warf Kari einen vielsagenden Blick zu. „Ich glaube, ich habe gerade entschieden, dass ich es beängstigend finde“, sagte sie. „Kleine Mädchen entführen ist mein geheimes Hobby“, meinte T.K. sarkastisch. „Aber zwölf ist mir viel zu alt.“ Kari konnte nicht anders, sie musste lachen. Mit Akihito vereinbarten sie, sich um fünf in einem Café in Odaiba zu treffen, dann schalteten sie endlich den Computer ab. Kari konnte das Ding schon nicht mehr sehen, so oft wie sie in den letzten Tagen davor gesessen hatte. „Weißt du, ich möchte dich ja nicht rausschmeißen, aber...“, fing Kari an und wich seinem Blick aus. Dabei versuchte sie, möglichst unschuldig auszusehen. Erstaunt sah T.K. sie an. „Aber was?“ Kari stand auf und ging auf ihre Zimmertür zu. „Naja, du weißt doch, wie das ist. Mit dem Schulkram und so. Ich wollte noch mal in Ruhe alles für morgen durchgehen, ob ich auch ja nichts vergessen habe. Heute zum Beispiel hatte ich meinen Geschichtshefter vergessen. Das wäre nicht passiert, hätte ich gestern noch mal alles kontrolliert. Und außerdem muss ich mir noch die Haare waschen und das dauert immer so lang. Meine Haare brauchen einfach ewig zum Trocknen, aber wenn ich sie föhne, sehe ich immer aus wie ein geplatztes Sofakissen. Also lasse ich sie einfach an der Luft trocknen und... und...“ T.K. hatte sie aus dem Konzept gebracht, indem er auf sie zugekommen war und sie nun gegen die Tür drückte. Er hatte seine Hände links und rechts neben ihr an der Tür abgestützt und sah ihr eindringlich in die Augen. Kari schluckte. Schon wieder machte er es. „Du schmeißt mich also ohne Grund raus?“, fragte er leise. In seiner Stimme lag ein bedrohlicher Unterton. „N-nicht ohne Grund. Ich h-hab' dir doch gerade erklärt, dass...“ „Schon klar. Die Schule und deine Haare“, unterbrach er sie und verzog das Gesicht. Er trat einen Schritt zurück und ließ sie somit wieder frei. „Wie auch immer. Dann gehe ich mal lieber, bevor du morgen noch dein Wie-man-Menschen-schonend-beibringt-dass-man-sie-gerade-nicht-im-Haus-haben-will-Buch vergisst.“ „Witzig.“ Kari stemmte die Hände in die Hüften und sah ihn grinsend an. „Ich lache später, okay?“ „Okay. Hast ja genug Zeit, während deine Haare trocknen.“ Er grinste zurück. Kapitel 54: Ein seltsamer Geburtstag ------------------------------------ Stundenlang hatte Kari am Abend noch in der Küche gestanden, um für T.K. den perfekten Kuchen zu backen. Erst nachts war sie endgültig fertig geworden und schlafen gegangen, sodass sie am nächsten Morgen müde bei den Schließfächern auf T.K. wartete. „Morgen, Kari“, begrüßte Nana sie und blieb bei ihr stehen. „Wartest du auf deinen Schatzi?“ „Nenn' ihn bitte nicht so“, murmelte Kari peinlich berührt. Sie hatte Nana schon einen Tag, nachdem sie und T.K. offiziell ein Paar geworden waren, erzählt, dass sie jetzt zusammen waren. Davis und Ken wussten es auch. Sonst hatte Kari jedoch niemandem etwas erzählt und sie bereute fast schon, dass sie es Nana erzählt hatte. Sie hasste den Spitznamen „Schatzi“ abgrundtief und würde T.K. garantiert niemals so nennen. „Na gut. Wo bleibt denn dein Schmusebärchen?“, korrigierte Nana sich und kicherte, während Kari die Augen verdrehte. „Nana!“, zischte sie und verpasste ihr einen unsanften Stoß mit dem Ellbogen. „Autsch! Ist ja gut, ich hör' auf“, grummelte diese und rieb sich die Seite. „Also, wartest du auf Takeru? Hast du ein Geschenk für ihn?“ „Nicht hier. Das bekommt er, wenn wir nach der Schule bei mir sind“, antwortete Kari und sah sich unter den in das Schulgebäude strömenden Schülern nach T.K. um. Dabei bekam sie aus den Augenwinkeln mit, wie Nana sie mit großen Augen anstarrte. „Oh, ihr wollt es tun? Ist das dein Geburtstagsgeschenk? So hätte ich dich gar nicht eingeschätzt“, meinte sie verblüfft. „Wa-... nein!“ Kari spürte, wie sie rot anlief. „Ich habe... oh, da kommt er.“ Nana wandte sich von ihr ab und gemeinsam hielten sie nach T.K. Ausschau, der gerade gemeinsam mit Ken durch das Foyer zu den Schließfächern geschlendert kam. „Sieh mal, dein Hasi hat meins mitgebracht“, murmelte Nana Kari zu und kassierte einen weiteren Ellbogenstoß in die Rippen. Dann wandte sie sich an die Jungs. „Hi, Kenni.“ Kari verschränkte ein wenig verlegen die Hände hinter dem Rücken und sah T.K. an. In der Schule hatten sie sich bisher, zumindest in Anwesenheit anderer Schüler, noch nicht geküsst oder sonst irgendetwas getan, das anderen zeigte, dass sie zusammen waren. „Alles Gute zum Geburtstag.“ „Von mir auch“, rief Nana strahlend. „Danke“, antwortete T.K. lächelnd. Plaudernd machten sie sich auf den Weg in ihren Klassenraum und setzten sich auf ihre Plätze. Kari unterhielt sich mit T.K. über den Nachmittag, an dem sie Akihito auflauern wollten und dabei malten sie sich aus, was sie wohl erleben würden und ob überhaupt irgendetwas passieren würde. „Du musst aber vorher noch mal kurz zu mir kommen“, sagte Kari schließlich und sah ihn eindringlich an. „Ich habe noch was für dich, das ich nicht mit in die Schule nehmen konnte.“ Er hob die Augenbrauen. „Klingt ja geheimnisvoll.“ „Ach, erwarte nicht zu viel“, meinte Kari und winkte ab. „Ich hoffe, du bist nicht enttäuscht.“ „Wie könnte ich enttäuscht darüber sein, dass mir jemand etwas schenkt?“, fragte er grinsend. „Ich freue mich drauf.“ „Das will ich für dich hoffen. Ich habe mir extra besonders viel Mühe gegeben“, erwiderte Kari und stützte den Kopf auf der Hand ab. T.K. lächelte. „Danke.“ „Du weißt doch noch nicht mal, was es ist.“ „Was auch immer es ist, ich werde es lieben.“ Kari runzelte die Stirn und fragte sich, was er sich wohl vorstellte, was es sein könnte. Sie glaubte wirklich, dass er zu viel erwartete. Nach der Schule verabschiedete Kari sich eilig von Davis, Ken und Nana und machte sich mit T.K. sogleich auf den Weg nach Hause. Sie mussten sich beeilen, wenn sie vorher noch Kuchen essen wollten. „Vielleicht hätten wir das lieber auf hinterher verschieben sollen“, meinte T.K., als sie atemlos vor dem Wohnhaus standen, in dem die Yagamis wohnten. „Nein, da musst du zu deiner Mutter. Die will bestimmt mit dir deinen Geburtstag feiern“, erwiderte Kari. Sie liefen die Treppen nach oben und Kari schloss die Wohnungstür auf. „Oh!“ Sie hatten kaum die Wohnung betreten, da kam ihnen Yuuko schon strahlend entgegen gelaufen und warf die Arme um T.K., ohne Kari zu beachten. „Alles Gute, Geburtstagskind! Mann, ich kann es gar nicht glauben, dass du schon achtzehn bist. Du bist so groß geworden.“ Stirnrunzelnd und peinlich berührt beobachtete Kari, wie ihre Mutter T.K. wieder losließ und ihn angrinste. Auch T.K. schien etwas verwirrt, lächelte aber höflich. „Danke.“ „Komm' schon rein, wir haben Geschenke für dich“, forderte Yuuko ihn auf und zwinkerte Kari zu, die genervt schnaubte. Sie hatte gehofft, wenigstens ein paar Minuten mit T.K. allein sein zu können, doch das konnte sie sich wohl abschminken. Yuuko lief schon in die Küche und befahl T.K., die Augen zu schließen. „Und mach' sie erst wieder auf, wenn wir es dir sagen“, sagte sie gespielt streng. Kari schüttelte nur den Kopf, ging ihrer Mutter hinterher in die Küche und zündete die achtzehn Kerzen an, die sie auf ihrem Kuchen verteilt hatte. Yuuko brachte ihre neueste Kreation, Karotten-Zimt-Kekse, in Position und dann durfte T.K. die Augen wieder öffnen. „Der Kuchen ist von mir“, erklärte Kari, die seinen forschenden Blick beobachtet hatte. „Wow“, sagte er verblüfft und starrte die Kerzen an. Das Licht der Flammen spiegelte sich in seinen Augen wider. „Sehe ich irgendwie zu dünn aus oder so?“ Kari prustete und Yuuko lachte. „Naja, vielleicht könntest du das ein oder andere Kilo mehr vertragen“, meinte Yuuko abwinkend. „Vielen Dank. Das sieht echt lecker aus. Darf ich gleich probieren?“, fragte T.K. und beugte sich über den Kuchen und die Kekse. „Ja, aber erst musst du die Kerzen auspusten. Und vergiss nicht, dir was zu wünschen“, antwortete Kari und sah ihn erwartungsvoll an. Er schien kurz zu überlegen, dann holte er tief Luft und blies die Kerzen aus. Yuuko klatschte und Kari machte sich daran, den Kuchen in Stücke zu schneiden. „Was ist das für ein Kuchen, wenn ich fragen darf?“ Er lehnte sich gegen den Tisch und sah Kari dabei zu, wie sie einzelne Stücke aus dem Kuchen herausschnitt und auf Tellern platzierte. „Das ist der schokoladigste Schokokuchen überhaupt. Garniert mit Schokolade und Schokolade. Und Puderzucker.“ Sie hob einen der Teller und deutete auf den dunkelbraunen Kuchen, der mit Kuvertüre, Schokostückchen und Puderzucker verziert war. Sie hatte diesen Kuchen vor einiger Zeit mal bei Mimi zu Hause probiert und sich von ihrer Mutter das Rezept geben lassen. Satoe nannte diesen Kuchen liebevoll Tod durch Schokolade. Ein sehr passender Name, wie Kari gefunden hatte. „Schokokuchen ist mein Lieblingskuchen“, sagte T.K. mit leuchtenden Augen und nahm Kari den Teller ab, den sie ihm unter die Nase hielt. Sie lächelte. Das hatte sie natürlich gewusst. Oder eher darauf spekuliert, denn der kleine T.K. hatte Schokokuchen auch immer als seinen Lieblingskuchen bezeichnet. Kari hatte einfach gehofft, dass sich das in fünf Jahren nicht geändert hatte. „Das sind gefühlte dreitausend Kalorien“, kommentierte Yuuko und beäugte ihr Stück. „Aber er sieht auf jeden Fall superlecker aus.“ Es stellte sich heraus, dass der Schokokuchen tatsächlich auch superlecker schmeckte, auch wenn Kari nach einem Stück glaubte, sie müsste sich übergeben. Es war einfach zu viel des Guten. Nach dem Essen verabschiedeten sie sich von Karis Mutter und machten sich auf den Weg in das Café, in dem sie glaubten, Akihito zu treffen. Es war zehn vor fünf. „Okay“, sagte T.K., als sie vor dem Café ankamen, und blieb stehen, sodass auch Kari innehielt und sich umdrehte. „Wir gehen einfach rein und suchen nach einem freien Platz. Wir schauen uns nicht auffällig nach ihm um.“ „Klar. Mach' keine Wissenschaft draus“, erwiderte Kari grinsend und ging T.K. voran in das Café. Sie schnappten sich den nächstbesten freien Tisch in der Mitte des Raums und nahmen auf den Stühlen Platz. „Er hat geschrieben, er würde ein rotes Hemd tragen, oder?“, fragte Kari und versuchte, sich unauffällig umzusehen. „Jap“, antwortete T.K. Sie saßen sich gegenüber, sodass sie alle Richtungen im Auge behalten konnten. Das Café war gut gefüllt, aber nicht zu voll. Stimmengewirr und der Duft von frisch gebrühtem Kaffee lagen in der Luft und vermittelten eine angenehme Atmosphäre. Nirgends war ein Mann Mitte vierzig in einem roten Hemd zu entdecken. Karis und T.K.s Blicke begegneten sich. Er lächelte, sie lächelte zurück. „Komischer Geburtstag“, meinte er. „Ja“, antwortete sie grinsend. „Was machen wir eigentlich, wenn er nicht kommt?“ Er zuckte mit den Schultern. „Es auf unserem Plakat so festhalten?“ „Hm“, machte Kari ratlos. Das wäre ziemlich langweilig. Als ein Kellner bekam, bestellten sie jeder ein Glas Wasser. Mehr konnte keiner von ihnen mehr in sich hineinzwängen. „Da ist er“, sagte T.K. plötzlich. Kari wirbelte auf ihrem Stuhl herum und hielt nach dem Gesuchten Ausschau. Tatsächlich hatte gerade ein Mann das Café betreten, der etwa Mitte vierzig war. Unter seiner offenen Jacke trug er ein rotes Hemd. Und er schien Ausschau nach jemandem zu halten, warf jedoch Kari einen irritierten Blick zu, als diese sich so plötzlich umgedreht hatte. Hastig wandte sie sich wieder ab und fing T.K.s mürrischen Blick auf. „Aus dir wird kein Spion mehr“, kommentierte er. „Entschuldige. Du hättest das eben nicht so plötzlich sagen dürfen“, erwiderte sie entschuldigend lächelnd. „Okay, nächstes Mal bereite ich dich schonend darauf vor.“ „Was macht er?“, fragte Kari aufgeregt. Sie spürte, wie ihr Herz schneller schlug und ihre Hände feucht wurden, obwohl es keinen Grund für sie gab, nervös zu werden. Akihito kannte sie ja überhaupt nicht. Für ihn war sie nur irgendein Schulmädchen in einem Café. „Er hat sich an einen Tisch am Fenster gesetzt und schaut sich gerade um“, antwortete T.K., den Blick an Kari vorbei auf Akihito gerichtet, der irgendwo schräg hinter ihr saß. „Jetzt schaut er auf seine Armbanduhr.“ „Warte, ich schreib' mit“, sagte Kari und kramte aus ihrer Tasche einen zerknitterten Zettel und einen Stift hervor. „Gut mitgedacht“, lobte T.K. sie. Kari verdrehte nur die Augen, notierte die Uhrzeit und Akihitos Verhalten. „Jetzt schaut er aus dem Fenster. Er lehnt sich zurück. Holt sein Handy aus der Hosentasche hervor. Schaut drauf. Steckt es wieder ein. Vielleicht hat er auf eine SMS gewartet?“ Den Stift in der Hand haltend sah Kari T.K. entgeistert an. „Was? Ich dachte, du schreibst mit“, sagte er. „Das alles? Ist das denn wichtig?“, fragte Kari verwirrt. T.K. nickte mit ernster Miene, doch als Kari den Stift ansetzte, grinste er und sagte: „War nur ein Witz.“ Kari hob eine Augenbraue. „Ihr Franzosen habt einen seltsamen Humor.“ „Für's Protokoll: Ich bin nur Halbfranzose, klar?“, erwiderte er gespielt streng. „Aber anscheinend hat Frankreich zu viel Einfluss auf dich“, sagte Kari trocken. Er lachte leicht und nippte an seinem Wasser, während er seine Aufmerksamkeit wieder Akihito zuwandte. Dann war er selbst es, der sein Handy aus der Hosentasche hervorholte und es auf Kari richtete. „Lehn' dich mal ein bisschen nach links.“ „Was? Warum? Willst du etwa ein Foto machen?“, fragte sie verständnislos. „Ja. Wer weiß, wozu das noch gut ist“, antwortete T.K. auf den Bildschirm seines Handys starrend und etwas darauf tippend. „Ein bisschen mehr nach links. Ja, jetzt habe ich ihn drauf. Guck' nicht so ernst.“ „Ist doch egal, wie ich gucke. Es geht doch um ihn“, erwiderte Kari. „Naja, wenn ich schon ein Foto mache, auf dem du drauf bist, kannst du auch nett gucken“, meinte er verschmitzt. „Danke“, antwortete Kari sarkastisch, lächelte aber für das Foto. Er drückte auf den Auslöser und streckte ihr dann das Handy entgegen, damit sie sich das Foto ansehen konnte. „Ich gucke total bescheuert.“ „Ging ja auch nicht um dich“, entgegnete T.K. keck grinsend. „Und außerdem guckst du immer so.“ Kari klappte die Kinnlade herunter. „Wie bitte?“ Er lachte und griff nach ihrer Hand, die auf dem Tisch lag. „Sorry. Ich wollte damit nur sagen, dass du nicht bescheuert guckst.“ „Jetzt kannst du dich auch nicht mehr rausreden“, grummelte Kari, zog jedoch ihre Hand nicht weg. Seine Finger fühlten sich so angenehm warm an. „Mann, Kari. Ich meine, du kannst machen, was du willst, du siehst für mich immer super aus“, sagte er und sah sie nun ernst an. „Mach' dich doch nicht immer so schlecht.“ Kari lief rot an und nippte an ihrem Wasser, um einen Vorwand zu haben, nichts zu sagen. „Es ist übrigens zehn nach fünf und er sieht sich gerade um“, sagte T.K. und kam damit wieder auf den eigentlichen Grund zurück, warum sie hier waren. Kari notierte Uhrzeit und Handlung auf ihrem Zettel. „Was hat er sich bestellt?“, fragte sie. Unauffällig reckte er den Hals. „Kann ich nicht genau erkennen. Sieht aus wie Kaffee oder Cappuccino.“ „Können wir uns eigentlich sicher sein, dass er das ist?“, fragte Kari unsicher. „Was, wenn er einfach nur ein zufälliger Cafébesucher mit einem roten Hemd ist?“ „Das ist er hundertpro.“ T.K. zückte sein Handy, tippte darauf herum und reichte es an Kari weiter. Er hatte das Foto geöffnet, das Akihito als Profilbild auf Facebook diente. Ja, es gab keinen Zweifel. Es handelte sich um den gleichen Mann. Kari gab T.K. das Handy zurück. „Vielleicht sollten wir ihn ansprechen.“ „Ja, sehr unauffällig“, erwiderte er sarkastisch. „Ob wir zur Polizei gehen sollten mit dem, was wir wissen?“, überlegte Kari laut. T.K. zuckte skeptisch mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Ich glaube, dafür reichen unsere Beweise nicht aus.“ „Beweise? Er will sich allein mit einem zwölfjährigen Mädchen treffen. Wahrscheinlich hätte er sie nach dem Café zu sich nach Hause gelockt und wer weiß was mit ihr angestellt.“ „Ja, aber das können wir nicht beweisen. Wir könnten ihnen nur die Nachrichten zeigen, die beweisen, dass dieser Mann sich mit einem zwölfjährigen Mädchen treffen will. Er könnte alles von ihr wollen. Vielleicht will er nur ihr neuer erwachsener Kumpel sein, der sie ab und an mal von der Schule abholt und nach Hause bringt, ihr ein Eis spendiert und ihr Geld zum Geburtstag schenkt.“ „Das glaubst du doch selbst nicht.“ „Tu' ich auch nicht, aber Tatsache ist, dass wir nicht beweisen können, dass er etwas Böses im Schilde führt. Wenn wir zur Polizei gehen, könnten wir ganz schnell als Verleumder dastehen. Deswegen lassen wir das lieber sein und behalten unsere Erkenntnisse für unser Projekt.“ Kari legte den Kopf schief und grinste. „Was?“, fragte er verwirrt. „Du solltest wirklich Kriminalromane schreiben“, sagte sie und stützte den Kopf auf der Hand ab. T.K. schnaubte belustigt und schüttelte den Kopf. „Bin gespannt, wie lange er bleibt.“ In den nächsten Minuten unterhielten sie sich über belanglose Dinge, während T.K. Akihito unablässig im Auge behielt und Kari hin und wieder Bescheid gab, wenn er auf die Uhr sah, sich im Café umblickte oder sein Handy kontrollierte. Es war schon nach halb sechs, als er schließlich bezahlte und das Café verließ. Kari kritzelte eine Notiz auf ihren Zettel und steckte ihn hastig zurück in ihre Tasche. Dann sprang sie auf. „Ich sehe mal nach, wohin er geht, okay?“ „Was? Nein! Kari!“ Doch zu spät, sie war schon aus dem Café gelaufen und sah sich nach Akihito um. Sie würde ihm ein wenig hinterher schleichen und dann zurück zu T.K. gehen. Akihito stand einen Augenblick lang vor dem Café und sah sich um, bevor er in eine Richtung losging. Unauffällig schlenderte Kari ihm hinterher. Was hatte er jetzt nur vor? Nach Hause gehen? Zum nächstbesten Spielplatz und sich ein neues Opfer suchen aus lauter Frust? Ins nächste Internetcafé und versuchen, herauszufinden, wo Sakura steckte? Er blieb schließlich an einer Bushaltestelle stehen und machte ganz den Eindruck, als würde er in den nächsten Bus einsteigen wollen. Enttäuscht blieb auch Kari stehen. Mit ihm Bus fahren würde sie auf keinen Fall. „Sag mal, spinnst du?“ T.K. hatte sie eingeholt und starrte sie entgeistert an. „Was sollte das?“ „Reg' dich ab. Ich wollte nur sehen, wo er jetzt hingeht. Das könnten wir doch für unser Plakat gebrauchen“, entgegnete Kari verwundert über seinen Gefühlsausbruch. „Und für unser Plakat schleichst du allein einem Pädophilen hinterher?“, zischte er. Ein paar vorbeigehende Leute sahen sich schon nach ihnen um. „Ich passe doch gar nicht in sein Beuteschema“, meinte Kari schulterzuckend. „Das weißt du doch gar nicht. Wir haben doch keine Ahnung, wo der seine Grenze zieht“, erwiderte T.K. ungehalten. Er nahm ihre Hand und zog sie in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Kari machte sich von ihm los. „Könntest du bitte aufhören so zu tun, als wärst du mein persönlicher Bodyguard? Ich hasse das.“ Er sah sie an und seufzte resigniert. „Sorry. Aber bitte mach' das nie wieder.“ „Naja, ich glaube nicht, dass ich noch mal einen mutmaßlichen Pädophilen beschatten werde in meinem Leben“, sagte Kari trocken. „Man kann nie wissen.“ Ein wenig frustriert machten sie sich auf den Nachhauseweg. Kari fand es schade, dass sie Akihito nicht weiter folgen konnten. Nur zu gern hätte sie gewusst, was er als nächstes vorhatte und was ins einem Kopf vorging. Wahrscheinlich würde er ihnen eine Nachricht schicken. Was sollten sie sagen? Sollten sie den Schwindel auffliegen lassen und damit herausrücken, dass sich hinter Sakura zwei Oberschüler verbargen, die versuchten, auf Facebook Pädophile für ihr Schulprojekt anzulocken? Oder sollten sie vielleicht so tun, als habe Sakura etwas falsch verstanden und ein neues Treffen vorschlagen? Oder sollten sie den Kontakt vielleicht abbrechen lassen? Würde er sich überhaupt noch einmal melden? „Irgendwie bin ich froh, dass das jetzt vorbei ist“, meinte T.K. nach einer Weile. „Mir war nie wohl dabei, wie du mit diesem Typen schreibst.“ „Wieso? Was hätte denn schon passieren sollen?“, fragte Kari verwundert. „Ist doch nur Internet. Der weiß doch gar nichts über uns.“ „Keine Ahnung. Hat sich einfach blöd angefühlt“, erklärte T.K. schulterzuckend. Sie blieben stehen, da sie an einer Abzweigung ankamen, an der sie sich trennen mussten. „Na dann... vielen Dank für diesen... besonderen Geburtstag“, verabschiedete er sich schief lächelnd. „Nichts zu danken“, lachte Kari. „Immer wieder gern.“ Er beugte sich zu ihr herunter und küsste sie flüchtig. „Ach übrigens“, fing er zögerlich an, „meinte Mutter ist am Freitag nicht da. Ist mit Arbeitskollegen unterwegs oder so. Wenn du Lust hast, kannst du ja zu mir kommen. Wir können was kochen und ein paar DVDs schauen.“ Kari riss die Augen auf. DVDs schauen. Da war es. Als Ken Nana nach einem DVD-Abend gefragt hatte, war sie sich sicher gewesen, dass er mit ihr schlafen wollte. Und tatsächlich hatten sie es an jenem Abend auch getan. Kari war sich fast vollkommen sicher, dass T.K. das Gleiche meinte. Noch dazu, da Natsuko nicht da sein würde. Ihr Herz schlug wild gegen ihre Brust und sie strich sich mit zittrigen Fingern ein paar Haarsträhnen hinter das Ohr. Warum wurde sie auf einmal so nervös? Sie hatten doch schon drei Mal fast miteinander geschlafen. So viel fehlte doch gar nicht mehr. „Ä-ähm... DVDs, klar. Ja. Warum nicht? Ich meine... gern“, stotterte sie und wich seinem Blick aus. „Du kannst hinterher auch bei mir schlafen. Dann musst du nachts nicht mehr nach Hause“, fügte T.K. hinzu und gab Kari nur noch mehr Bestätigung. Eindeutig. Sie nickte langsam. „Ja. Guter Plan. Also... dass ich dann nicht mehr nach Hause laufen muss, meine ich. Cool.“ Sie kratzte sich am Hinterkopf. „Also äh... ja, machen wir so.“ „Alles okay?“, fragte er und musterte sie skeptisch. „Du siehst so blass aus.“ „Nee. Wirklich? Ja, alles okay, wollte ich sagen.“ Sie lächelte dämlich und spielte nervös mit ihren Fingern. „Ich bin nur... müde.“ „Ah ja.“ Er hob eine Augenbraue. „Kein Wunder. Ich werde auch immer müde, wenn ich versuche, einem Pädophilen hinterherzulaufen.“ „Anstrengendes Hobby.“ Kari nickte und kicherte verlegen. „Also dann ähm... bis morgen.“ „Ja.“ Er berührte kurz ihre Hand, bevor er abbog und seinen Weg nach Hause fortsetzte. Kapitel 55: Let's talk about sex! --------------------------------- „Sag mal... was, glaubst du, kann ein Mädchen beim ersten Mal alles falsch machen?“ „Hä? Warum genau knutschen die jetzt? Bis gerade eben haben sie sich doch noch gehasst. Bescheuert. Was?“ Mit fragendem Blick drehte Davis sich zu Kari. „Sorry, was hast du gesagt“? „Mann, Davis. Ich habe ein ernstzunehmendes Problem. Also hör' mir gefälligst zu.“ „Vielleicht sollten wir, wenn du ernstzunehmende Probleme diskutieren willst, nicht nebenbei einen Film wie 27 Dresses gucken“, entgegnete Davis stirnrunzelnd. „Das ist einer meiner Lieblingsfilme, also halt' die Klappe und hör' mir zu“, gab Kari zurück. „Wenn ich die Klappe halte, kann ich dir aber keine guten Ratschläge geben“, erwiderte Davis altklug und verschränkte die Arme vor der Brust. Kari seufzte und nippte an ihrem Wein. Wieder einmal verbrachten sie einen Abend bei Kari zu Hause, sahen sich einen Film an und tranken Wein. Dabei diskutierten sie über alles Mögliche. Zum perfekten Abend fehlte nur noch Ken, doch das hatte sich wohl erst einmal erledigt. „Was kann ein Mädchen beim ersten Mal alles falsch machen?“, wiederholte Kari ihre Frage. „Woher soll ich das wissen?“ Skeptisch musterte er sie. „Und warum fragst du überhaupt?“ „Naja, du bist ein Kerl. Du hast das Ding da zwischen deinen Beinen“, erklärte Kari und deutete auf Davis' Intimbereich. „Wie würdest du dir dein erstes Mal vorstellen, wenn es mit einem Mädchen wäre?“ „Ich... will nichts mit einem Mädchen haben“, antwortete er. „Davis, bitte. Versuch' nur mal, es dir vorzustellen“, bat Kari ihn eindringlich. Davis dachte eine Weile angestrengt nach. „Naja, ich würde es oral wollen. Und auch nicht nur einmal, sondern mehrmals. Und sie sollte nicht rumjammern, sondern auf meine Wünsche eingehen. Und ich würde wollen, dass sie laut stöhnt. So richtig laut. Am besten meinen Namen schreien. Ach ja, auf ein Vorspiel hätte ich nicht so Bock. Also nur kurz.“ Entgeistert und peinlich berührt starrte Kari ihn an, sodass er lachte. „Mann, das war nur ein Witz“, sagte er, tätschelte ihren Arm und wandte sich wieder dem Film zu. „Jetzt schlafen die auch noch miteinander. Lass mich raten, am nächsten Tag sind sie ineinander verknallt.“ „Könntest du mir jetzt bitte mal eine ernst gemeinte Antwort geben?“, zischte Kari und lenkte damit seine Aufmerksamkeit wieder auf sich. „Sag' mir doch mal, warum du das wissen willst. Willst du es morgen mit T.K. machen, oder was?“ Kari antwortete nicht, sondern machte nur ein betroffenes Gesicht. „Oh, da habe ich ja voll ins Schwarze getroffen“, stellte er grinsend fest. Sie lief rot an und versuchte, dem Film zu folgen, war mit den Gedanken jedoch ganz woanders. „Mensch, Kari, so viel kann man da doch gar nicht falsch machen. Rein das Ding und fertig“, meinte Davis lässig. „Was?! Oh Gott, warum habe ich dich überhaupt gefragt“, stöhnte Kari und ließ den Kopf auf die Knie sinken. „Das frage ich mich auch.“ „Rein das Ding und fertig“, wiederholte sie murmelnd seine Worte und schüttelte kaum merklich den Kopf. „Wenn ich morgen die ganze Zeit daran denken muss und es deswegen total schrecklich wird, mache ich dich dafür verantwortlich.“ „Von mir aus“, meinte Davis schulterzuckend und nippte an seinem Wein. „Aber es wird sicher nicht total schrecklich. Vielleicht auch nicht total schön, aber du wirst es überleben.“ „Wow. Klingt, als müsste das unbedingt jeder mal ausprobieren“, antwortete Kari sarkastisch. „Also mal ehrlich. Nur mal angenommen, ich würde auf Mädchen stehen und hätte morgen mit einem mein erstes Mal. Ich würde einfach erwarten, dass sie sie selbst ist und sich nicht verstellt. Und dass sie mir Bescheid sagt, wenn ich ihr wehtue oder so.“ Kari hob den Kopf und sah ihn nachdenklich an. „Und das wäre alles?“ „Hm... ja, glaub' schon. Ich weiß natürlich nicht, was T.K. so denkt, aber... wovor hast du denn eigentlich Angst?“, fragte Davis nun. „Ich weiß auch nicht so genau. Dass es weh tun könnte. Dass er es langweilig findet. Dass es schlecht ist“, zählte sie auf. „Wann genau ist es denn schlecht?“, hakte Davis nach. „Keine Ahnung. Wenn keiner von uns beiden... auf seine Kosten kommt?“, überlegte Kari. „Ach“, machte Davis abwinkend, „darum würde ich mir nicht so viele Gedanken machen. Ich glaube, bei uns Jungs geht das recht schnell. Wie das bei euch Mädchen ist, weiß ich nicht.“ „Ich auch nicht“, gab sie zu. Davis sah sie grinsend an und hob vielsagend die Augenbrauen. „Was?“ „Nichts.“ Noch immer grinsend wandte er sich wieder dem Film zu. „War ja klar, dass jetzt sein gemeiner Artikel über sie in allen Zeitungen auftaucht.“ Kari seufzte und lehnte den Kopf gegen die Wand. Sie war nicht wirklich klüger als vorher, fühlte sich aber ein klein wenig ruhiger. Das jedoch konnte sich morgen natürlich wieder komplett ändern. Sie sollte sich ablenken. „Wie geht es eigentlich mit Ken voran?“ „Da geht gar nichts voran“, grummelte Davis. Kari seufzte erneut. Etwas anderes hatte sie auch kaum erwartet. „Ich vermisse ihn“, gab er dann zu. „Und unsere Freundschaft.“ „Es liegt an dir, Davis. Ken ist jederzeit dazu bereit, mit dir zu reden“, erwiderte sie. „Aber ich bin es noch nicht“, wandte er ein. „Noch nicht?“ „Irgendwann sicher. Ich will ihn ja als Freund zurückhaben. Aber jetzt gerade könnte ich nicht einfach nur mit ihm befreundet sein. Das muss er verstehen. Irgendwann bin ich bereit. Nicht heute und auch nicht morgen. Aber irgendwann.“ „Hoffentlich, bevor wir die Schule beenden, damit wir wenigstens noch ein paar Mädelsabende zu dritt verbringen können“, sagte Kari scherzhaft und Davis lachte leicht. „Ja, das wäre cool.“ Einen Augenblick lang schwiegen sie. Dann fasste Kari sich ein Herz. Mit ein wenig Wein im Kopf fühlte es sich wie der richtige Moment an. „Kann ich dir was erzählen?“ „Klar.“ „Bitte versprich, dass du nicht ausrastest.“ Verwirrt sah er sie an. „Okay.“ „Und dass du mich nicht hasst.“ Nun wurde sein Blick skeptisch. „Was hast du gemacht?“ Bestimmt griff Kari nach seiner Hand und drückte sie, als wollte sie ihn so daran hindern, nach ihrem Geständnis aus dem Zimmer zu stürmen. „Ich habe Nana erzählt, dass du in Ken verliebt bist.“ „Was?“ „Ich weiß. Ich hätte es nicht tun dürfen. Es war an dem Abend nach meinem Auftritt für die Juilliard. Du weißt schon. Im Restaurant, als wir zu zweit aufs Klo gegangen sind.“ Davis zog seine Hand weg, sagte aber nichts. „Es tut mir Leid. Ich habe gehofft, uns würde zusammen etwas einfallen, das wieder geradezubiegen und eure Freundschaft zu retten. Aber es war falsch.“ Noch immer sagte er keinen Ton, sondern starrte mit ausdrucksloser Miene auf den Bildschirm, wahrscheinlich ohne der Handlung des Filmes tatsächlich zu folgen. „Aber weißt du was? Nana meinte sogar, sie würde Ken eventuell verlassen, damit eure Freundschaft nicht kaputt geht. Sie ist kein schlechter Mensch, weißt du?“ Davis schüttelte den Kopf und stand auf. „Sorry, aber... nee. Das geht echt nicht. Wenn du denkst, das wäre das Problem...“ „Ich weiß, was das Problem ist“, unterbrach Kari ihn. „Ich habe mein Versprechen nicht gehalten und dein Geheimnis ausgeplaudert.“ „Danke, dass du das noch mal zusammenfasst“, erwiderte Davis und ging auf die Zimmertür zu. „Bitte warte. Es tut mir Leid, ich hätte das niemals machen dürfen“, rief Kari flehentlich und stand ebenfalls auf, um ihm zu folgen. Er drehte sich um und sein Blick allein brachte sie dazu, stehen zu bleiben. „Entschuldige, aber... nein. Ich bin gerade echt enttäuscht von dir und will einfach nur gehen.“ Kari stiegen Tränen in die Augen und es fühlte sich an, als müsste sie sich übergeben. „Nein. Bitte. Lass uns darüber reden.“ „Keine Lust“, erwiderte er kopfschüttelnd und öffnete die Tür. „Davis.“ Er war schon einige Schritte durch den Flur gegangen, doch jetzt drehte er sich noch einmal um und musterte Kari, die verloren im Türrahmen stand und mit den Tränen kämpfte. Sein Blick war fast schon ein wenig mitleidig und Kari fragte sich, wie armselig sie eigentlich aussah. Er schüttelte wieder den Kopf und ging. Kapitel 56: Französisch ----------------------- Am nächsten Tag war Kari völlig fertig mit der Welt. Der Streit mit Davis nagte an ihr und wenn sie nicht daran dachte, dann daran, dass sie wahrscheinlich heute Abend ihr erstes Mal erleben würde. Oder zumindest das erste Mal, an das sie sich hinterher auch noch erinnern konnte, falls sie und T.K. sich vorher nicht völlig betranken. Ihr war den ganzen Tag nach Alkohol zumute, um ein wenig ruhiger zu werden, doch das würde sie lieber bleiben lassen. Sie brauchte all ihre Sinne für den Abend und die Nacht, wie lang auch immer sie werden würde. Nana sagte Kari nur immer wieder, dass sie keine Angst haben brauchte. „Du machst dir viel zu viele Gedanken, glaub' mir“, sagte sie in der Mittagspause, während sie in der Mensa saßen und ihr Mittag verspeisten. Kari stocherte in ihrem jedoch nur herum. „Möchtest du wissen, wie es ungefähr ablaufen könnte? Vielleicht hilft dir das ja.“ Kari antwortete nicht, sondern nickte nur langsam, nicht sicher, ob sie es wirklich wissen wollte. „Also“, sagte Nana, legte ihre Gabel weg und beugte sich ein wenig nach vorn, um Kari näher zu sein. Nervös sah Kari sich um, ob sie auch niemand belauschte. „Bei uns fing es eben mit der DVD an. Wir haben vielleicht gerade zehn Minuten den Film gesehen, als wir anfingen, uns zu küssen. Ich habe übrigens angefangen, Ken war ein bisschen schüchtern. Dann war aber seine Hand unter meinem Oberteil und er hat mich gestreichelt und so. Dann habe ich mein Oberteil ausgezogen und er seins auch. Dann haben wir uns hingelegt. Also wir waren ja schon auf seinem Bett. Wir haben uns weiter geküsst und gegenseitig gestreichelt und überall berührt. Also wirklich überall.“ Sie machte eine dramatische Pause, in der Karis Knie zu zittern begonnen. „Naja dann haben wir uns gegenseitig die restlichen Klamotten ausgezogen. Ich war echt aufgeregt, aber das wäre gar nicht nötig gewesen. Ken hat sich dann das Kondom übergestreift und dann ging es los. Ich lag auf dem Rücken und er auf mir und dann ist er in mich eingedrungen. Ich dachte, das tut total weh, aber war gar nicht so. Er war echt vorsichtig und langsam und hat mich die ganze Zeit angesehen. Ein bisschen tat es schon weh, aber das ist normal, glaub' ich. Auf jeden Fall hat es nicht geblutet. Dann hat er sich erst langsam bewegt und dann irgendwann schneller und dann war es schon vorbei und er hat sich zurückgezogen.“ Sie zuckte mit den Schultern und sah Kari unbefangen an. „Und das war's schon? Wie lang hat das gedauert?“ „Keine Ahnung, hab' nicht auf die Uhr geschaut. Der Film war zumindest noch nicht vorbei“, antwortete Nana. „Ist Ken... also...“ Kari spürte, dass sie knallrot anlief bei der Frage, die ihr auf der Zunge lag, und die sie da gerade über einen ihrer besten Freunde stellen wollte. Es kam ihr falsch vor, über solche Themen zu reden, wenn es dabei um Freunde ging. Erst sah Nana sie verwirrt an, dann nickte sie. „Achso ja. Er ist gekommen, aber ich nicht. Aber das ist schon okay, ich weiß ja, dass es für uns Mädels schwieriger ist und dann auch noch beim ersten Mal. Also mach' dir nichts draus, wenn es dir genauso geht.“ Kari tat, als müsste sie sich die Spange in ihrem Haar richten, obwohl sie sich in Wirklichkeit vor Verlegenheit einfach nur hinter ihren Haaren verstecken wollte. „Mann, wenn du dich noch an dein erstes Mal mit Shinji erinnern könntest, wärst du bestimmt nicht so aufgeregt“, meinte Nana kopfschüttelnd. „Aber mach' dir keine Sorgen. Es ist eigentlich ganz schön und fühlt sich gut an, wenn man sich erst mal daran gewöhnt hat.“ Nachdenklich lehnte Kari sich zurück und versuchte, sich vorzustellen, wie es sich anfühlen könnte. Sie kam jedoch zu keinem wirklichen Ergebnis. In einer halben Stunde wollte sie bei T.K. sein. Sie hatte sich soeben ihre schönste Unterwäsche angezogen und darüber ein einfaches, bordeauxfarbenes Kleid mit Ärmeln, eine Strumpfhose und einen schwarzen Cardigan. Geschminkt war sie auch schon und nun starrte sie schon minutenlang ihr Spiegelbild an und fragte sich, ob sie mit sich selbst schlafen würde. War sie hübsch genug? Nicht zu sehr geschminkt? Vielleicht doch lieber kein Lippenstift? War sie überhaupt bereit für so etwas? Ob T.K. sie wohl noch wollen würde, wenn sie doch nicht mit ihm schlief? Nach einigen weiteren Minuten atmete sie schließlich tief durch, schnappte sich ihre Tasche und ging aus dem Zimmer. Ihr Vater war mit Kollegen unterwegs, ihre Mutter saß gerade vor dem Fernseher und guckte eine ihrer Serien. „Ich gehe jetzt, Mama“, verabschiedete Kari sich. Yuuko sah sie an. „Viel Spaß und grüß' T.K. von mir.“ „Danke. Mach' ich“, murmelte Kari. „Also bis morgen dann.“ Sie war schon an der Tür und zog ihre Schuhe an, als ihre Mutter ihr vom Wohnzimmer aus noch etwas zurief. „Lass dich zu nichts drängen, okay? Versprich es.“ Es war Kari peinlich, dass ihre Mutter ganz genau wusste, wie der Plan für den heutigen Abend aussah. Ihr graute es schon davor, sie morgen Früh wiederzusehen. „Versprochen.“ Sie ging aus der Tür und machte sich mit wackeligen Knien auf den Weg zu T.K. Ihr Gang war extra langsam und sie versuchte, sich auf die Umgebung um sich herum zu konzentrieren, um nicht mehr ganz so nervös zu sein. Sie schaute sich alles ganz genau an. Hatte die Straßenlaterne da drüben schon immer an der Ecke gestanden? Seit wann hing hier eine Vermisstenanzeige für eine verlorengegangene Katze? Und der Gullydeckel dort war ihr auch neu. Schließlich kam sie jedoch bei T.K. an, atmete tief durch und drückte auf den Klingelknopf. Wenige Sekunden später wurde die Tür von einem lächelnden T.K. geöffnet, der sie hereinbat. Als sie an ihm vorbeiging, hielt er sie kurz auf und hauchte ihr einen Kuss auf die Lippen. Ja, eine offizielle Beziehung mit ihm zu haben, fühlte sich bisher unbeschreiblich gut an, aber gleichzeitig auch seltsam. Es war ab jetzt ganz normal, dass sie sich küssten und kein unglaubliches Ereignis mehr. „Ich habe schon mal angefangen, okay? Sonst werden wir bis heute Nacht nicht fertig.“ „Nicht fertig mit was?“, fragte Kari alarmiert und dachte sofort an ihr bevorstehendes erstes Mal. Wie lange würde es wohl dauern? Nana hatte ihr keine brauchbare Antwort geben können. Was T.K. wohl dachte, wie lange es dauern würde? „Mit essen?“, erwiderte T.K. und hob eine Augenbraue. „Oh. Achso.“ Kari lachte hysterisch, wobei ihre Stimme eine Oktave höher rutschte. „Was hast du denn gedacht?“ „Ich... keine Ahnung, wo meine Gedanken gerade waren“, sagte sie und machte hastig eine wegwerfende Handbewegung. „Also, was kann ich machen?“ „Ähm, also eigentlich... reicht es, wenn du herumstehst und gut aussiehst“, antwortete er und musterte ihr Outfit. Sie tat es ihm gleich. Er sah eigentlich aus wie immer und trug eine dunkle Jeans und ein hellgraues Sweatshirt mit marineblauen Ärmeln. Kari kam sich fast schon albern vor, dass sie sich immer so viele Gedanken um ihr Outfit machte, wenn sie sich mit T.K. traf. Nächstes Mal würde sie auch einfach in Jeans und T-Shirt aufkreuzen. „Ist das alles, wozu Frauen deiner Meinung nach gut sind? Herumstehen und gut aussehen?“, fragte sie keck und verschränkte die Arme vor der Brust. Er verdrehte die Augen, stupste sie in die Seite und ging dann in die Küche. „Es gibt übrigens Crêpes. Ich hoffe, du magst die.“ „Klar. Hast du auch Erdbeeren und Sahne?“, erwiderte Kari und folgte ihm. „Nein, es gibt herzhafte Crêpes. Mit Lachs und Crème fraîche oder Spinat und Brie.“ „Oh.“ Überrascht zog Kari die Augenbrauen hoch. „Ich habe noch nie herzhafte Crêpes gegessen.“ „Dann wird’s Zeit“, erwiderte T.K. zwinkernd und rührte in einer Schüssel voll flüssigem Teig herum. „Wenn du möchtest, kannst du den Brie schneiden.“ „Okay.“ Kari nickte und ging zu einem Schneidebrett und einem Messer, die neben T.K. und seiner Schüssel bereitlagen. „Und was ist Brie?“ Verdutzt sah er sie an, dann grinste er. „Achso, entschuldige. Das ist einfach nur ein spezieller Käse. Schau mal im Kühlschrank, der müsste irgendwo unten liegen.“ Kari ging zum Kühlschrank, holte den Käse heraus und machte sich daran, ihn in Scheiben zu schneiden, während T.K. schon damit begann, den Teig hauchdünn auf einer Crêpespfanne zu verteilen. Auf dem Herd köchelte in einem kleinen Topf Blattspinat vor sich hin und im Radio spielte leise Musik. „Ich kann es kaum erwarten“, meinte Kari und beobachtete T.K. dabei, wie er den Crêpe wendete. „Hoffentlich schmeckt's dir“, erwiderte er. „Da bin ich mir sicher.“ Kari deckte den Tisch, stellte alle benötigten Zutaten bereit und T.K. stellte kurz darauf einen Teller voller Crêpes dazu. Dann begonnen sie, mit französischem Weißwein, endlich zu essen. Kari stellte fest, dass sie herzhafte Crêpes fast noch mehr mochte als süße. Obwohl sie zwar aufgeregt war und deswegen nicht viel essen konnte, nahm sie dennoch wahr, wie gut das Essen war. Sie trank ihren Wein in schnellen Zügen in der Hoffnung, dadurch ein wenig mutiger für später zu werden. Gleichzeitig durfte sie jedoch keinen ihrer Sinne bis dahin verlieren, denn sie musste sich unbedingt konzentrieren können, um ja keinen Fehler zu machen. Nach dem Essen räumten sie gemeinsam die Küche auf und verzogen sich anschließend in T.K.s Zimmer. Auf dem Nachtschränkchen lag schon ein Stapel DVDs bereit und wartete darauf, endlich gebraucht zu werden. „Hier“, sagte T.K. und drückte Kari den Stapel in die Hand, nachdem diese sich auf sein Bett gesetzt hatte. „Die habe ich gestern ausgeliehen. Such' eine aus.“ Kari betrachtete die Cover und die Titel, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Ihre Gedanken waren einfach woanders, wo sie gerade auf seinem Bett saß. Und nun setzte er sich auch noch neben sie und begutachtete ebenfalls die Titel. „Ähm... keine Ahnung. Mir ist das eigentlich egal“, meinte Kari nach einigen Augenblicken. Verwirrt sah T.K. sie an. „Wir müssen keine DVD schauen, wenn du nicht willst.“ „Doch, doch, ich will. Ich weiß nur nicht, ob das überhaupt eine Rolle spielt, was für einen Film wir sehen“, antwortete Kari und fuhr sich nervös durch die Haare. „Hä? Wie meinst du das?“ „Äh naja, wir werden doch eh nach ein paar Minuten andere Dinge machen, oder nicht? Also... lohnt es sich überhaupt, sich über den Film Gedanken zu machen?“ Sie lächelte schief. Er sah sie einfach nur an, die Fragezeichen förmlich ins Gesicht geschrieben. Wusste er denn wirklich nicht, wovon sie redete? „Du weißt schon. 'DVD-Abend'“, erklärte sie und deutete mit den Zeige- und Mittelfingern beider Hände Anführungsstriche an. Endlich schien ihm ein Licht aufzugehen. „Ah, ja klar. Du hast Recht, dann lass' uns lieber gleich zur Sache kommen.“ Und dann vergrub er plötzlich die Hände in ihrem Haar, zog sie an sich und presste seine Lippen auf ihre. Er drängte sie zurück, sodass sie kurz darauf auf dem Rücken lag und er über sie gebeugt war, bevor seine Hand schließlich zum Saum ihres Kleides wanderte. Kari fühlte sich, obwohl sie sich innerlich auf Sex eingestellt hatte, überrumpelt und wurde fast schon panisch. Das ging zu schnell. Viel zu schnell. Sie legte die Hände auf seine Schultern und versuchte, ihn ein wenig von sich zu schieben, doch in diesem Moment hielten seine Bewegungen und seine Küsse inne. Er öffnete die Augen und sah sie an. „Sag' mal, für wen hältst du mich eigentlich?“, fragte er und setzte sich wieder auf. Kari tat es ihm gleich und sah ihn verwirrt an. „Hä?“ „Glaubst du, ich lade dich unter einem Vorwand zu mir ein, nur um mit dir zu schlafen?“ Er sah fast schon gekränkt aus. „Ich... weiß nicht. Ähm... ja?“, erwiderte Kari unsicher. „Nein!“, widersprach T.K. energisch. „Wenn ich DVD-Abend sage, meine ich DVD-Abend. Ich wollte einfach nur Zeit mit dir verbringen und hatte bestimmt nicht als einziges Ziel, dich flachzulegen. Ich wusste nicht, dass du so von mir denkst.“ Kari wandte peinlich berührt den Blick ab, spielte mit den Fingern und kaute auf ihrer Unterlippe herum. Wie unangenehm. Was hatte sie sich nur gedacht? Sie hätte doch wissen sollen, dass er anders war. Sie spürte seinen bohrenden Blick auf sich. „Kari“, fing er an und griff nach ihrer Hand, „wenn es passiert, dann passiert's, okay? Aber das ist nicht der Grund, warum ich dich eingeladen habe.“ Kari seufzte, kratzte sich am Kopf und nickte. „Puh. Jetzt bin ich irgendwie erleichtert.“ „Mann.“ T.K. schüttelte ungläubig den Kopf. „Wenn noch mal sowas ist, dann rede gleich mit mir, okay?“ Sie nickte langsam und griff nach einer der DVDs. Dieses Thema musste so schnell wie möglich gewechselt werden. „Wollen wir die gucken?“ Es endete damit, dass sie sich tatsächlich Titanic ansahen. Halb sitzend, halb liegend lümmelten sie auf dem Bett herum, den Laptop mit dem Film zwischen sich und starrten auf den Bildschirm. Währenddessen unterhielten sie sich hin und wieder flüchtig, jedoch meist nur auf den Film bezogen. Kari hatte den Kopf gegen seine Schulter gelehnt, ihre Hand lag in seiner. Das Zimmer wurde neben dem Laptop nur von einer Nachttischlampe beleuchtet und tauchte so alles in ein gemütliches Licht. Wäre T.K. nicht hier, wäre Kari schon längst eingeschlafen. „Ich wusste übrigens nicht, dass du auf Titanic stehst“, murmelte sie mit heiserer Stimme. „Tu' ich auch nicht. Ich dachte, du magst den vielleicht“, antwortete er müde. „Ach nein? Dafür sahst du aber ganz schön schockiert aus, als das Schiff den Eisberg gerammt hat“, stichelte Kari. „Red' keinen Mist“, grummelte er und drückte ihre Hand kurz. „Ist das überhaupt möglich? Kann so ein großes Schiff so quer im Wasser stehen und gleichzeitig in der Luft hängen?“, fragte Kari zweifelnd und beobachtete, wie an Deck des Schiffes Menschen und Gegenstände durch die Gegend flogen. „Anscheinend“, erwiderte T.K. Menschen fielen von Bord des Schiffes, was Kari mit gerunzelter Stirn beobachtete. Das Meer erstreckte sich schwarz und eiskalt unter dem riesigen Kreuzfahrtschiff und schien es förmlich in seine Tiefen zerren zu wollen. Menschen schrien und weinten. Ein Mann fiel von Bord, als das Schiff nahezu senkrecht im Wasser stand, und prallte an der Schiffsschraube ab. Ein amüsiertes Schnauben von T.K. riss Kari aus ihrem konzentrierten Zusehen. „Fandest du das gerade witzig?“, fragte sie entgeistert. „Was? Nein! Er ist nur... die Schiffsschraube... naja, es sah schon ein bisschen komisch aus“, gab er schließlich grinsend zu. Kari hob eine Augenbraue. „Ernsthaft? Oh T.K.“ „Was denn? Er prallt nur so komisch ab.“ „Ich glaube, das ist das Kindischste, was ich jemals erlebt habe“, meinte Kari kopfschüttelnd. Dann musste sie jedoch lachen. Nicht darüber, dass ein armer Mensch beim Untergang der Titanic an einer Schiffsschraube abprallt und sich dabei wahrscheinlich das Rückgrat bricht, sondern darüber, dass es tatsächlich jemanden gab, der das witzig fand. „Du bist ein Spinner.“ „Nee. Ich bin eher so wie Jack. Der coole Typ und so. Der Draufgänger“, widersprach er bestimmt, sodass Kari schon wieder lachen musste. „Und wer bin ich? Etwa Rose?“ „Nein. Du bist eher die alte Omi, die mit ihrem Mann im Bett liegen bleibt und untergeht. Hauptsache zusammen sterben“, erwiderte T.K. Kari sah ihn an und verzog das Gesicht, sodass er nun lachte. „Nimm das doch nicht so ernst.“ „Du bist wirklich sehr witzig heute. Clown gefrühstückt?“ „So ähnlich.“ Sie beobachteten, wie Jack und Rose es schafften, sich auf eine Eisscholle zu retten. Oder zumindest Rose rettete sich auf eine Eisscholle, während Jack lieber im eiskalten Wasser blieb. „Siehst du? Ich glaube, du an ihrer Stelle hättest darauf bestanden, dass er mit auf die Eisscholle kommt“, sagte T.K. überzeugt. „Ja, wahrscheinlich schon. Ich würde nicht ohne ihn weiterleben wollen“, seufzte Kari und beobachtete ergriffen, wie sie sich an den Händen hielten und sich mit bebenden Stimmen und am ganzen Körper zitternd Mut zusprachen. Als die Rettungsboote kamen, musste Rose dann doch feststellen, dass Jack gestorben war. Sie wischte sich eine Träne von der Wange, als Rose sich schweren Herzens von ihrem Geliebten losmachte und er hinab ins dunkle Meer sank. Ohne, dass Kari es wirklich realisierte, klammerte sie sich enger an T.K. und legte die freie Hand auf seinen Unterarm. Er hatte den Ärmel zum Ellbogen hochgekrempelt, sodass ihre Finger nun seine bloße Haut berührten. Ihre Fingernägel strichen sanft über seinen Arm. „Weinst du etwa gerade?“, fragte er. „Nein“, antwortete Kari. „Ich war nur gerührt.“ Sie spürte Erleichterung, als Rose gerettet wurde und schließlich als alte Frau ihre Geschichte beendete. Gähnend streckte sie sich, als der Abspann begann und T.K. den Laptop ausschaltete. Er quittierte ihr Gähnen mit einem Grinsen. „Ja, ich bin auch dafür, dass wir schlafen gehen.“ „Ich kann meine Augen kaum noch offen halten“, murmelte Kari. Nacheinander putzten sie sich die Zähne und zogen sich um. T.K. war gerade im Badezimmer, als Kari in sein Bett kroch, das so sehr nach ihm roch, dass ihr fast schon schwindelig wurde. Sie ließ sich auf das Kissen sinken, zog die Decke über sich und sog den Duft tief ein. Sie wusste nicht, ob sie nun besonders gut oder überhaupt nicht schlafen konnte. Schließlich kam auch er, schlüpfte zu ihr unter die Decke und knipste das Licht aus. Sie lagen nun beide auf der Seite, die Gesichter einander zugewandt. „Schlaf gut“, flüsterte er und küsste sie auf die Lippen. Dann hörte Kari das Bettzeug rascheln, spürte, wie er sich auf den Rücken drehte, dann war es still. Lange still. In ihrem Kopf jedoch war es laut. Sie wusste nicht, was los war, warum sie einfach nicht einschlafen wollte. Zunächst dachte sie, sie würde erst einmal eine halbe Stunde brauchen, sich an die neue Umgebung zu gewöhnen, bevor sie endlich einschlafen würde. Schließlich brannten ihre Augen schon vor Müdigkeit. Dann zeigte die leuchtende Anzeige auf T.K.s Nachttisch ihr jedoch an, dass sie schon eine ganze Stunde wachlag. Zwei Stunden. Zweieinhalb. Sie wälzte sich hin und her, fand einfach keinen Schlaf. Fehlte ihr etwas zum Einschlafen? War sie doch nicht ausgelastet? Hatte sie sich unbewusst, trotz ihrer Angst, vielleicht doch mehr erhofft von diesem Abend, als letzten Endes gelaufen war? Da hatten sie schon einmal eine Wohnung für sich mit einer sehr geringen Wahrscheinlichkeit, dass sie jemand stören würde, und dann passierte nichts. Gar nichts. Nicht einmal geküsst hatten sie sich wirklich. Sie hatten einfach gekocht, miteinander geredet und einen Film angesehen. Das waren alles Dinge, die auch Freunde miteinander taten. Und jetzt lag sie so dicht hier neben ihm, beide nur spärlich bekleidet mit Shorts und T-Shirt, und nichts geschah. Kari stützte sich auf den Ellbogen. Sie war nicht sicher, ob T.K. schlief oder nicht. Sie konnte seine Augen in der Dunkelheit nicht erkennen. Das fahle Licht der Nacht, das zum Fenster hereinfiel, reichte nicht aus. Sie konnte nur schemenhaft erkennen, dass er immer noch auf dem Rücken lag. Vorsichtig beugte sie sich über ihn, immer näher, bis ihre Lippen seine berührten. Sie wollte ihn nur ganz sacht küssen, um ihn nicht zu wecken. Es sollte eigentlich nur eine Art Gute-Nacht-Kuss werden. Ein Kuss und dann wollte sie sich umdrehen und endlich einschlafen. Doch plötzlich spürte sie seine Hand in ihrem Nacken, die sie sanft aber bestimmt daran hinderte, sich zu entfernen. Ganz offensichtlich hatte auch er nicht geschlafen. Er erwiderte ihren Kuss. Zunächst vorsichtig, dann jedoch leidenschaftlicher. Diesmal fühlte es sich anders an. Ja, sie bekam wieder das wilde Kribbeln in der Magengegend und wieder schien ihr Hirn sich zu verabschieden, doch diesmal wurde sie gleichzeitig auch nervös, hibbelig, verkrampfte sich ein wenig. Es war anders als sonst. Da war noch irgendein anderes Gefühl dabei. Sie wusste nicht, ob es daran lag, dass sie diesmal mitten in der Nacht gemeinsam in einem Bett lagen, dass sie übermüdet war oder dass sie kurz vor dem Schlafengehen einen so traurigen Film gesehen hatten. Dennoch verlor sie sich in dem Kuss, wünschte sich, er würde niemals enden. Es fühlte sich einfach zu gut an, zu richtig. Ihr wurde heiß. Er zog sie ein wenig näher zu sich heran und fuhr mit der Hand ihren Rücken hinunter. Auf ihrer Hüfte ließ er die Hand ruhen und konzentrierte sich wieder ganz darauf, sie zu küssen. Sie spürte seine Zähne an ihrer Unterlippe, seinen warmen Atem, der ein wenig schneller war als normal. Seine Hand tastete sich vorsichtig unter ihr T-Shirt, schob es dann jedoch bestimmt nach oben, und schließlich richtete Kari sich ein wenig auf und unterbrach den Kuss, damit er ihr das Shirt schließlich über den Kopf ziehen konnte. Sie bekam nicht mit, wo er es hinwarf, denn kurz darauf lagen seine Lippen wieder auf ihren. Er drängte sie jedoch leicht zurück und setzte sich auf, nur um sie anschließend in eine liegende Position zu drücken. Kari dankte in Gedanken der Dunkelheit der Nacht, dass er sie nicht genauer ansehen konnte, wie sie nun mit entblößtem Oberkörper unter ihm lag. Es war nun an ihm, den Kuss zu unterbrechen, um sich sein eigenes T-Shirt auszuziehen. Wohin dieses verschwand, bekam Kari ebenfalls nicht mit. Er saß auf ihr und Kari vermutete, dass er sie ansah, konnte seine Augen in der Dunkelheit aber natürlich nicht erkennen. Sie spürte seine Finger auf ihrem Bauch, wie sie sanft ihren Oberkörper hinauffuhren und schließlich ihre Brust berührten. Kari wurde noch heißer. Ihre Finger wurden schwitzig und krallten sich in das Laken. Sie spürte, wie sie unbewusst ihren Bauch und ihre Beine anspannte. Wahrscheinlich um das Zittern unter Kontrolle zu bringen. Es wurde ernst. T.K. beugte sich zu ihr herunter und sie spürte seine Lippen an ihrem Ohr. Sein Atem hatte sich nun deutlich beschleunigt. Seine Lippen wanderten über ihren Hals zu ihrer Brust, wo sie seine Zunge spürte. Seinen heißen Atem. Kari schloss die Augen und hielt für einen Moment die Luft an. Sie vergrub die Hände in seinem Haar und versuchte, das Gefühl, das gerade durch ihren ganzen Körper schoss, festzuhalten. Sie bog den Rücken durch, um sich ihm noch mehr entgegenzurecken, woraufhin er seine Machenschaften intensivierte. In Karis Kopf breitete sich ein seltsames Gefühl aus, ein eigenartiger Druck, der ihr Denken zu blockieren schien. Es war, als hätte ihr Körper die völlige Macht, während ihr Verstand wahrscheinlich unterm Bett lag und darauf wartete, wieder gebraucht zu werden. Sie dachte an nichts, sondern konzentrierte sich ganz auf ihn. Seine Lippen lagen wieder auf ihren und verwickelten sie in einen Kuss. Kari wurde ungeduldig. Sie wollte mehr, nun, da sie seinen Oberkörper auf ihrem spürte, seine nackte Haut auf ihrer. Ihre Finger glitten zum Bund seiner Boxershorts und zogen daran. Sie spürte einen Widerstand. Er glitt von ihr herunter und zog sich die Hose selbst aus, dann befreite er auch Kari aus ihren Shorts und ihrem Slip. Langsam wurde ihr klar, dass sie hier nun beide vollkommen nackt in seinem Bett waren, kurz davor miteinander zu schlafen. Ihr Herz fühlte sich an, als würde es aus ihrer Brust springen wollen. Sie hörte, wie T.K. im Dunkeln in der Schublade seines Nachttisches herumkramte. Sie hörte, wie er ungeduldig die Verpackung aufriss. Einige Sekunden später war er wieder über ihr. Zunächst bemerkte sie nur einen leichten Druck, doch dann drang er langsam und vorsichtig in sie ein. Kari hielt die Luft an, war überrascht von dem Schmerz, den sie verspürte. Ein Ziepen. Sie legte die Hand auf seine Schulter und er schien zu verstehen, denn er hielt inne. Er schien ihre Anspannung und Unsicherheit zu bemerken, denn ohne sich noch weiter in ihr zu bewegen, küsste er sie zärtlich auf die Lippen, auf die Mundwinkel, auf die Nase, auf die Wangen. Seine Hand strich beruhigend über ihre Wange und langsam spürte Kari, dass sie sich entspannte. Sie wurde lockerer, ließ los. T.K. bewegte sich wieder, drang weiter in sie ein und Kari schloss die Augen, versuchte, sich an dieses merkwürdige Gefühl zu gewöhnen. Der Schmerz hatte ein wenig nachgelassen, war jedoch noch immer spürbar. Schließlich hielt er erneut kurz inne, dann zog er sich ein wenig zurück, nur um das Spiel zu wiederholen. Kari achtete darauf, locker zu bleiben und sich nicht zu verkrampfen, während er sich erst langsam und schließlich schneller in ihr bewegte. Kari legte die Hände auf seinen Rücken und zog ihn ganz dicht an sich, presste ihn schon fast an sich und verspürte plötzlich ein intensives Gefühl der Verbundenheit. Es war, als gäbe es nichts, was sie trennen könnte. Sie konnten sich nicht näher sein, als sie es in diesem Moment waren. Sie spürte seine Lippen an ihrem Hals, hörte sein Keuchen, als seine Bewegungen schneller wurden. Schließlich stöhnte er leise auf und verlangsamte seine Bewegungen. Dann hielt er inne. Kari hörte ihn schwer atmen. Ganz offensichtlich hatten sich ihre Befürchtungen, dass es für T.K. schlecht werden konnte, nicht bestätigt. Doch sie hatte nicht allzu viel gefühlt, außer Schmerz und... eben ein komisches Gefühl. Die Verbundenheit hatte sich jedoch atemberaubend angefühlt und allein dafür hatte es sich gelohnt. Es war nicht schlimm, dass sie nicht auf ihre Kosten gekommen war. Damit hatte sie ja schon gerechnet. T.K. zog sich schließlich aus ihr zurück und setzte sich kurz auf, wobei er ihr den Rücken zuwandte. Sie hörte es leise rascheln, dann war er wieder bei ihr. Er küsste sie erneut, ließ dann seine Lippen wieder über ihren Hals und ihre Brust wandern. Kari dachte, das musste sicher zum Nachspiel gehören. Sie lag nur dort auf dem Bett und entspannte sich, froh, dass alles tatsächlich halb so schlimm war, wie sie befürchtet hatte. Dass sie ihr richtiges erstes Mal nun offiziell hinter sich hatte. Dass es alles in allem wirklich keinen Grund zur Angst gab. Dann küsste T.K. ihren Bauch hinab zu ihrem Bauchnabel und schließlich weiter runter. Wenige Minuten später kam Kari schließlich doch noch auf ihre Kosten. Und zwar heftiger, als sie erwartet hatte. Kapitel 57: Französisch (jugendfrei) ------------------------------------ Am nächsten Tag war Kari völlig fertig mit der Welt. Der Streit mit Davis nagte an ihr und wenn sie nicht daran dachte, dann daran, dass sie wahrscheinlich heute Abend ihr erstes Mal erleben würde. Oder zumindest das erste Mal, an das sie sich hinterher auch noch erinnern konnte, falls sie und T.K. sich vorher nicht völlig betranken. Ihr war den ganzen Tag nach Alkohol zumute, um ein wenig ruhiger zu werden, doch das würde sie lieber bleiben lassen. Sie brauchte all ihre Sinne für den Abend und die Nacht, wie lang auch immer sie werden würde. Nana sagte Kari nur immer wieder, dass sie keine Angst haben brauchte. „Du machst dir viel zu viele Gedanken, glaub' mir“, sagte sie in der Mittagspause, während sie in der Mensa saßen und ihr Mittag verspeisten. Kari stocherte in ihrem jedoch nur herum. „Möchtest du wissen, wie es ungefähr ablaufen könnte? Vielleicht hilft dir das ja.“ Kari antwortete nicht, sondern nickte nur langsam, nicht sicher, ob sie es wirklich wissen wollte. „Also“, sagte Nana, legte ihre Gabel weg und beugte sich ein wenig nach vorn, um Kari näher zu sein. Nervös sah Kari sich um, ob sie auch niemand belauschte. „Bei uns fing es eben mit der DVD an. Wir haben vielleicht gerade zehn Minuten den Film gesehen, als wir anfingen, uns zu küssen. Ich habe übrigens angefangen, Ken war ein bisschen schüchtern. Dann war aber seine Hand unter meinem Oberteil und er hat mich gestreichelt und so. Dann habe ich mein Oberteil ausgezogen und er seins auch. Dann haben wir uns hingelegt. Also wir waren ja schon auf seinem Bett. Wir haben uns weiter geküsst und gegenseitig gestreichelt und überall berührt. Also wirklich überall.“ Sie machte eine dramatische Pause, in der Karis Knie zu zittern begonnen. „Naja dann haben wir uns gegenseitig die restlichen Klamotten ausgezogen. Ich war echt aufgeregt, aber das wäre gar nicht nötig gewesen. Ken hat sich dann das Kondom übergestreift und dann ging es los. Ich lag auf dem Rücken und er auf mir und dann ist er in mich eingedrungen. Ich dachte, das tut total weh, aber war gar nicht so. Er war echt vorsichtig und langsam und hat mich die ganze Zeit angesehen. Ein bisschen tat es schon weh, aber das ist normal, glaub' ich. Auf jeden Fall hat es nicht geblutet. Dann hat er sich erst langsam bewegt und dann irgendwann schneller und dann war es schon vorbei und er hat sich zurückgezogen.“ Sie zuckte mit den Schultern und sah Kari unbefangen an. „Und das war's schon? Wie lang hat das gedauert?“ „Keine Ahnung, hab' nicht auf die Uhr geschaut. Der Film war zumindest noch nicht vorbei“, antwortete Nana. „Ist Ken... also...“ Kari spürte, dass sie knallrot anlief bei der Frage, die ihr auf der Zunge lag, und die sie da gerade über einen ihrer besten Freunde stellen wollte. Es kam ihr falsch vor, über solche Themen zu reden, wenn es dabei um Freunde ging. Erst sah Nana sie verwirrt an, dann nickte sie. „Achso ja. Er ist gekommen, aber ich nicht. Aber das ist schon okay, ich weiß ja, dass es für uns Mädels schwieriger ist und dann auch noch beim ersten Mal. Also mach' dir nichts draus, wenn es dir genauso geht.“ Kari tat, als müsste sie sich die Spange in ihrem Haar richten, obwohl sie sich in Wirklichkeit vor Verlegenheit einfach nur hinter ihren Haaren verstecken wollte. „Mann, wenn du dich noch an dein erstes Mal mit Shinji erinnern könntest, wärst du bestimmt nicht so aufgeregt“, meinte Nana kopfschüttelnd. „Aber mach' dir keine Sorgen. Es ist eigentlich ganz schön und fühlt sich gut an, wenn man sich erst mal daran gewöhnt hat.“ Nachdenklich lehnte Kari sich zurück und versuchte, sich vorzustellen, wie es sich anfühlen könnte. Sie kam jedoch zu keinem wirklichen Ergebnis. In einer halben Stunde wollte sie bei T.K. sein. Sie hatte sich soeben ihre schönste Unterwäsche angezogen und darüber ein einfaches, bordeauxfarbenes Kleid mit Ärmeln, eine Strumpfhose und einen schwarzen Cardigan. Geschminkt war sie auch schon und nun starrte sie schon minutenlang ihr Spiegelbild an und fragte sich, ob sie mit sich selbst schlafen würde. War sie hübsch genug? Nicht zu sehr geschminkt? Vielleicht doch lieber kein Lippenstift? War sie überhaupt bereit für so etwas? Ob T.K. sie wohl noch wollen würde, wenn sie doch nicht mit ihm schlief? Nach einigen weiteren Minuten atmete sie schließlich tief durch, schnappte sich ihre Tasche und ging aus dem Zimmer. Ihr Vater war mit Kollegen unterwegs, ihre Mutter saß gerade vor dem Fernseher und guckte eine ihrer Serien. „Ich gehe jetzt, Mama“, verabschiedete Kari sich. Yuuko sah sie an. „Viel Spaß und grüß' T.K. von mir.“ „Danke. Mach' ich“, murmelte Kari. „Also bis morgen dann.“ Sie war schon an der Tür und zog ihre Schuhe an, als ihre Mutter ihr vom Wohnzimmer aus noch etwas zurief. „Lass dich zu nichts drängen, okay? Versprich es.“ Es war Kari peinlich, dass ihre Mutter ganz genau wusste, wie der Plan für den heutigen Abend aussah. Ihr graute es schon davor, sie morgen Früh wiederzusehen. „Versprochen.“ Sie ging aus der Tür und machte sich mit wackeligen Knien auf den Weg zu T.K. Ihr Gang war extra langsam und sie versuchte, sich auf die Umgebung um sich herum zu konzentrieren, um nicht mehr ganz so nervös zu sein. Sie schaute sich alles ganz genau an. Hatte die Straßenlaterne da drüben schon immer an der Ecke gestanden? Seit wann hing hier eine Vermisstenanzeige für eine verlorengegangene Katze? Und der Gullydeckel dort war ihr auch neu. Schließlich kam sie jedoch bei T.K. an, atmete tief durch und drückte auf den Klingelknopf. Wenige Sekunden später wurde die Tür von einem lächelnden T.K. geöffnet, der sie hereinbat. Als sie an ihm vorbeiging, hielt er sie kurz auf und hauchte ihr einen Kuss auf die Lippen. Ja, eine offizielle Beziehung mit ihm zu haben, fühlte sich bisher unbeschreiblich gut an, aber gleichzeitig auch seltsam. Es war ab jetzt ganz normal, dass sie sich küssten und kein unglaubliches Ereignis mehr. „Ich habe schon mal angefangen, okay? Sonst werden wir bis heute Nacht nicht fertig.“ „Nicht fertig mit was?“, fragte Kari alarmiert und dachte sofort an ihr bevorstehendes erstes Mal. Wie lange würde es wohl dauern? Nana hatte ihr keine brauchbare Antwort geben können. Was T.K. wohl dachte, wie lange es dauern würde? „Mit essen?“, erwiderte T.K. und hob eine Augenbraue. „Oh. Achso.“ Kari lachte hysterisch, wobei ihre Stimme eine Oktave höher rutschte. „Was hast du denn gedacht?“ „Ich... keine Ahnung, wo meine Gedanken gerade waren“, sagte sie und machte hastig eine wegwerfende Handbewegung. „Also, was kann ich machen?“ „Ähm, also eigentlich... reicht es, wenn du herumstehst und gut aussiehst“, antwortete er und musterte ihr Outfit. Sie tat es ihm gleich. Er sah eigentlich aus wie immer und trug eine dunkle Jeans und ein hellgraues Sweatshirt mit marineblauen Ärmeln. Kari kam sich fast schon albern vor, dass sie sich immer so viele Gedanken um ihr Outfit machte, wenn sie sich mit T.K. traf. Nächstes Mal würde sie auch einfach in Jeans und T-Shirt aufkreuzen. „Ist das alles, wozu Frauen deiner Meinung nach gut sind? Herumstehen und gut aussehen?“, fragte sie keck und verschränkte die Arme vor der Brust. Er verdrehte die Augen, stupste sie in die Seite und ging dann in die Küche. „Es gibt übrigens Crêpes. Ich hoffe, du magst die.“ „Klar. Hast du auch Erdbeeren und Sahne?“, erwiderte Kari und folgte ihm. „Nein, es gibt herzhafte Crêpes. Mit Lachs und Crème fraîche oder Spinat und Brie.“ „Oh.“ Überrascht zog Kari die Augenbrauen hoch. „Ich habe noch nie herzhafte Crêpes gegessen.“ „Dann wird’s Zeit“, erwiderte T.K. zwinkernd und rührte in einer Schüssel voll flüssigem Teig herum. „Wenn du möchtest, kannst du den Brie schneiden.“ „Okay.“ Kari nickte und ging zu einem Schneidebrett und einem Messer, die neben T.K. und seiner Schüssel bereitlagen. „Und was ist Brie?“ Verdutzt sah er sie an, dann grinste er. „Achso, entschuldige. Das ist einfach nur ein spezieller Käse. Schau mal im Kühlschrank, der müsste irgendwo unten liegen.“ Kari ging zum Kühlschrank, holte den Käse heraus und machte sich daran, ihn in Scheiben zu schneiden, während T.K. schon damit begann, den Teig hauchdünn auf einer Crêpespfanne zu verteilen. Auf dem Herd köchelte in einem kleinen Topf Blattspinat vor sich hin und im Radio spielte leise Musik. „Ich kann es kaum erwarten“, meinte Kari und beobachtete T.K. dabei, wie er den Crêpe wendete. „Hoffentlich schmeckt's dir“, erwiderte er. „Da bin ich mir sicher.“ Kari deckte den Tisch, stellte alle benötigten Zutaten bereit und T.K. stellte kurz darauf einen Teller voller Crêpes dazu. Dann begonnen sie, mit französischem Weißwein, endlich zu essen. Kari stellte fest, dass sie herzhafte Crêpes fast noch mehr mochte als süße. Obwohl sie zwar aufgeregt war und deswegen nicht viel essen konnte, nahm sie dennoch wahr, wie gut das Essen war. Sie trank ihren Wein in schnellen Zügen in der Hoffnung, dadurch ein wenig mutiger für später zu werden. Gleichzeitig durfte sie jedoch keinen ihrer Sinne bis dahin verlieren, denn sie musste sich unbedingt konzentrieren können, um ja keinen Fehler zu machen. Nach dem Essen räumten sie gemeinsam die Küche auf und verzogen sich anschließend in T.K.s Zimmer. Auf dem Nachtschränkchen lag schon ein Stapel DVDs bereit und wartete darauf, endlich gebraucht zu werden. „Hier“, sagte T.K. und drückte Kari den Stapel in die Hand, nachdem diese sich auf sein Bett gesetzt hatte. „Die habe ich gestern ausgeliehen. Such' eine aus.“ Kari betrachtete die Cover und die Titel, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Ihre Gedanken waren einfach woanders, wo sie gerade auf seinem Bett saß. Und nun setzte er sich auch noch neben sie und begutachtete ebenfalls die Titel. „Ähm... keine Ahnung. Mir ist das eigentlich egal“, meinte Kari nach einigen Augenblicken. Verwirrt sah T.K. sie an. „Wir müssen keine DVD schauen, wenn du nicht willst.“ „Doch, doch, ich will. Ich weiß nur nicht, ob das überhaupt eine Rolle spielt, was für einen Film wir sehen“, antwortete Kari und fuhr sich nervös durch die Haare. „Hä? Wie meinst du das?“ „Äh naja, wir werden doch eh nach ein paar Minuten andere Dinge machen, oder nicht? Also... lohnt es sich überhaupt, sich über den Film Gedanken zu machen?“ Sie lächelte schief. Er sah sie einfach nur an, die Fragezeichen förmlich ins Gesicht geschrieben. Wusste er denn wirklich nicht, wovon sie redete? „Du weißt schon. 'DVD-Abend'“, erklärte sie und deutete mit den Zeige- und Mittelfingern beider Hände Anführungsstriche an. Endlich schien ihm ein Licht aufzugehen. „Ah, ja klar. Du hast Recht, dann lass' uns lieber gleich zur Sache kommen.“ Und dann vergrub er plötzlich die Hände in ihrem Haar, zog sie an sich und presste seine Lippen auf ihre. Er drängte sie zurück, sodass sie kurz darauf auf dem Rücken lag und er über sie gebeugt war, bevor seine Hand schließlich zum Saum ihres Kleides wanderte. Kari fühlte sich, obwohl sie sich innerlich auf Sex eingestellt hatte, überrumpelt und wurde fast schon panisch. Das ging zu schnell. Viel zu schnell. Sie legte die Hände auf seine Schultern und versuchte, ihn ein wenig von sich zu schieben, doch in diesem Moment hielten seine Bewegungen und seine Küsse inne. Er öffnete die Augen und sah sie an. „Sag' mal, für wen hältst du mich eigentlich?“, fragte er und setzte sich wieder auf. Kari tat es ihm gleich und sah ihn verwirrt an. „Hä?“ „Glaubst du, ich lade dich unter einem Vorwand zu mir ein, nur um mit dir zu schlafen?“ Er sah fast schon gekränkt aus. „Ich... weiß nicht. Ähm... ja?“, erwiderte Kari unsicher. „Nein!“, widersprach T.K. energisch. „Wenn ich DVD-Abend sage, meine ich DVD-Abend. Ich wollte einfach nur Zeit mit dir verbringen und hatte bestimmt nicht als einziges Ziel, dich flachzulegen. Ich wusste nicht, dass du so von mir denkst.“ Kari wandte peinlich berührt den Blick ab, spielte mit den Fingern und kaute auf ihrer Unterlippe herum. Wie unangenehm. Was hatte sie sich nur gedacht? Sie hätte doch wissen sollen, dass er anders war. Sie spürte seinen bohrenden Blick auf sich. „Kari“, fing er an und griff nach ihrer Hand, „wenn es passiert, dann passiert's, okay? Aber das ist nicht der Grund, warum ich dich eingeladen habe.“ Kari seufzte, kratzte sich am Kopf und nickte. „Puh. Jetzt bin ich irgendwie erleichtert.“ „Mann.“ T.K. schüttelte ungläubig den Kopf. „Wenn noch mal sowas ist, dann rede gleich mit mir, okay?“ Sie nickte langsam und griff nach einer der DVDs. Dieses Thema musste so schnell wie möglich gewechselt werden. „Wollen wir die gucken?“ Es endete damit, dass sie sich tatsächlich Titanic ansahen. Halb sitzend, halb liegend lümmelten sie auf dem Bett herum, den Laptop mit dem Film zwischen sich und starrten auf den Bildschirm. Währenddessen unterhielten sie sich hin und wieder flüchtig, jedoch meist nur auf den Film bezogen. Kari hatte den Kopf gegen seine Schulter gelehnt, ihre Hand lag in seiner. Das Zimmer wurde neben dem Laptop nur von einer Nachttischlampe beleuchtet und tauchte so alles in ein gemütliches Licht. Wäre T.K. nicht hier, wäre Kari schon längst eingeschlafen. „Ich wusste übrigens nicht, dass du auf Titanic stehst“, murmelte sie mit heiserer Stimme. „Tu' ich auch nicht. Ich dachte, du magst den vielleicht“, antwortete er müde. „Ach nein? Dafür sahst du aber ganz schön schockiert aus, als das Schiff den Eisberg gerammt hat“, stichelte Kari. „Red' keinen Mist“, grummelte er und drückte ihre Hand kurz. „Ist das überhaupt möglich? Kann so ein großes Schiff so quer im Wasser stehen und gleichzeitig in der Luft hängen?“, fragte Kari zweifelnd und beobachtete, wie an Deck des Schiffes Menschen und Gegenstände durch die Gegend flogen. „Anscheinend“, erwiderte T.K. Menschen fielen von Bord des Schiffes, was Kari mit gerunzelter Stirn beobachtete. Das Meer erstreckte sich schwarz und eiskalt unter dem riesigen Kreuzfahrtschiff und schien es förmlich in seine Tiefen zerren zu wollen. Menschen schrien und weinten. Ein Mann fiel von Bord, als das Schiff nahezu senkrecht im Wasser stand, und prallte an der Schiffsschraube ab. Ein amüsiertes Schnauben von T.K. riss Kari aus ihrem konzentrierten Zusehen. „Fandest du das gerade witzig?“, fragte sie entgeistert. „Was? Nein! Er ist nur... die Schiffsschraube... naja, es sah schon ein bisschen komisch aus“, gab er schließlich grinsend zu. Kari hob eine Augenbraue. „Ernsthaft? Oh T.K.“ „Was denn? Er prallt nur so komisch ab.“ „Ich glaube, das ist das Kindischste, was ich jemals erlebt habe“, meinte Kari kopfschüttelnd. Dann musste sie jedoch lachen. Nicht darüber, dass ein armer Mensch beim Untergang der Titanic an einer Schiffsschraube abprallt und sich dabei wahrscheinlich das Rückgrat bricht, sondern darüber, dass es tatsächlich jemanden gab, der das witzig fand. „Du bist ein Spinner.“ „Nee. Ich bin eher so wie Jack. Der coole Typ und so. Der Draufgänger“, widersprach er bestimmt, sodass Kari schon wieder lachen musste. „Und wer bin ich? Etwa Rose?“ „Nein. Du bist eher die alte Omi, die mit ihrem Mann im Bett liegen bleibt und untergeht. Hauptsache zusammen sterben“, erwiderte T.K. Kari sah ihn an und verzog das Gesicht, sodass er nun lachte. „Nimm das doch nicht so ernst.“ „Du bist wirklich sehr witzig heute. Clown gefrühstückt?“ „So ähnlich.“ Sie beobachteten, wie Jack und Rose es schafften, sich auf eine Eisscholle zu retten. Oder zumindest Rose rettete sich auf eine Eisscholle, während Jack lieber im eiskalten Wasser blieb. „Siehst du? Ich glaube, du an ihrer Stelle hättest darauf bestanden, dass er mit auf die Eisscholle kommt“, sagte T.K. überzeugt. „Ja, wahrscheinlich schon. Ich würde nicht ohne ihn weiterleben wollen“, seufzte Kari und beobachtete ergriffen, wie sie sich an den Händen hielten und sich mit bebenden Stimmen und am ganzen Körper zitternd Mut zusprachen. Als die Rettungsboote kamen, musste Rose dann doch feststellen, dass Jack gestorben war. Sie wischte sich eine Träne von der Wange, als Rose sich schweren Herzens von ihrem Geliebten losmachte und er hinab ins dunkle Meer sank. Ohne, dass Kari es wirklich realisierte, klammerte sie sich enger an T.K. und legte die freie Hand auf seinen Unterarm. Er hatte den Ärmel zum Ellbogen hochgekrempelt, sodass ihre Finger nun seine bloße Haut berührten. Ihre Fingernägel strichen sanft über seinen Arm. „Weinst du etwa gerade?“, fragte er. „Nein“, antwortete Kari. „Ich war nur gerührt.“ Sie spürte Erleichterung, als Rose gerettet wurde und schließlich als alte Frau ihre Geschichte beendete. Gähnend streckte sie sich, als der Abspann begann und T.K. den Laptop ausschaltete. Er quittierte ihr Gähnen mit einem Grinsen. „Ja, ich bin auch dafür, dass wir schlafen gehen.“ „Ich kann meine Augen kaum noch offen halten“, murmelte Kari. Nacheinander putzten sie sich die Zähne und zogen sich um. T.K. war gerade im Badezimmer, als Kari in sein Bett kroch, das so sehr nach ihm roch, dass ihr fast schon schwindelig wurde. Sie ließ sich auf das Kissen sinken, zog die Decke über sich und sog den Duft tief ein. Sie wusste nicht, ob sie nun besonders gut oder überhaupt nicht schlafen konnte. Schließlich kam auch er, schlüpfte zu ihr unter die Decke und knipste das Licht aus. Sie lagen nun beide auf der Seite, die Gesichter einander zugewandt. „Schlaf gut“, flüsterte er und küsste sie auf die Lippen. Dann hörte Kari das Bettzeug rascheln, spürte, wie er sich auf den Rücken drehte, dann war es still. Lange still. In ihrem Kopf jedoch war es laut. Sie wusste nicht, was los war, warum sie einfach nicht einschlafen wollte. Zunächst dachte sie, sie würde erst einmal eine halbe Stunde brauchen, sich an die neue Umgebung zu gewöhnen, bevor sie endlich einschlafen würde. Schließlich brannten ihre Augen schon vor Müdigkeit. Dann zeigte die leuchtende Anzeige auf T.K.s Nachttisch ihr jedoch an, dass sie schon eine ganze Stunde wachlag. Zwei Stunden. Zweieinhalb. Sie wälzte sich hin und her, fand einfach keinen Schlaf. Fehlte ihr etwas zum Einschlafen? War sie doch nicht ausgelastet? Hatte sie sich unbewusst, trotz ihrer Angst, vielleicht doch mehr erhofft von diesem Abend, als letzten Endes gelaufen war? Da hatten sie schon einmal eine Wohnung für sich mit einer sehr geringen Wahrscheinlichkeit, dass sie jemand stören würde, und dann passierte nichts. Gar nichts. Nicht einmal geküsst hatten sie sich wirklich. Sie hatten einfach gekocht, miteinander geredet und einen Film angesehen. Das waren alles Dinge, die auch Freunde miteinander taten. Und jetzt lag sie so dicht hier neben ihm, beide nur spärlich bekleidet mit Shorts und T-Shirt, und nichts geschah. Kari stützte sich auf den Ellbogen. Sie war nicht sicher, ob T.K. schlief oder nicht. Sie konnte seine Augen in der Dunkelheit nicht erkennen. Das fahle Licht der Nacht, das zum Fenster hereinfiel, reichte nicht aus. Sie konnte nur schemenhaft erkennen, dass er immer noch auf dem Rücken lag. Vorsichtig beugte sie sich über ihn, immer näher, bis ihre Lippen seine berührten. Sie wollte ihn nur ganz sacht küssen, um ihn nicht zu wecken. Es sollte eigentlich nur eine Art Gute-Nacht-Kuss werden. Ein Kuss und dann wollte sie sich umdrehen und endlich einschlafen. Doch plötzlich spürte sie seine Hand in ihrem Nacken, die sie sanft aber bestimmt daran hinderte, sich zu entfernen. Ganz offensichtlich hatte auch er nicht geschlafen. Er erwiderte ihren Kuss. Zunächst vorsichtig, dann jedoch leidenschaftlicher. Diesmal fühlte es sich anders an. Ja, sie bekam wieder das wilde Kribbeln in der Magengegend und wieder schien ihr Hirn sich zu verabschieden, doch diesmal wurde sie gleichzeitig auch nervös, hibbelig, verkrampfte sich ein wenig. Es war anders als sonst. Da war noch irgendein anderes Gefühl dabei. Sie wusste nicht, ob es daran lag, dass sie diesmal mitten in der Nacht gemeinsam in einem Bett lagen, dass sie übermüdet war oder dass sie kurz vor dem Schlafengehen einen so traurigen Film gesehen hatten. Dennoch verlor sie sich in dem Kuss, wünschte sich, er würde niemals enden. Es fühlte sich einfach zu gut an, zu richtig. Ihr wurde heiß. Er zog sie ein wenig näher zu sich heran und fuhr mit der Hand ihren Rücken hinunter. Auf ihrer Hüfte ließ er die Hand ruhen und konzentrierte sich wieder ganz darauf, sie zu küssen. Sie spürte seine Zähne an ihrer Unterlippe, seinen warmen Atem, der ein wenig schneller war als normal. Seine Hand tastete sich vorsichtig unter ihr T-Shirt, schob es dann jedoch bestimmt nach oben, und schließlich richtete Kari sich ein wenig auf und unterbrach den Kuss, damit er ihr das Shirt schließlich über den Kopf ziehen konnte. Sie bekam nicht mit, wo er es hinwarf, denn kurz darauf lagen seine Lippen wieder auf ihren. Er drängte sie jedoch leicht zurück und setzte sich auf, nur um sie anschließend in eine liegende Position zu drücken. Kari dankte in Gedanken der Dunkelheit der Nacht, dass er sie nicht genauer ansehen konnte, wie sie nun mit entblößtem Oberkörper unter ihm lag. Es war nun an ihm, den Kuss zu unterbrechen, um sich sein eigenes T-Shirt auszuziehen. Wohin dieses verschwand, bekam Kari ebenfalls nicht mit. Er saß auf ihr und Kari vermutete, dass er sie ansah, konnte seine Augen in der Dunkelheit aber natürlich nicht erkennen. Sie spürte seine Finger auf ihrem Bauch, wie sie sanft ihren Oberkörper hinauffuhren und schließlich ihre Brust berührten. Kari wurde noch heißer. Ihre Finger wurden schwitzig und krallten sich in das Laken. Sie spürte, wie sie unbewusst ihren Bauch und ihre Beine anspannte. Wahrscheinlich um das Zittern unter Kontrolle zu bringen. Es wurde ernst. T.K. beugte sich zu ihr herunter und sie spürte seine Lippen an ihrem Ohr. Sein Atem hatte sich nun deutlich beschleunigt. Seine Lippen wanderten über ihren Hals zu ihrer Brust, wo sie seine Zunge spürte. Seinen heißen Atem. Kari schloss die Augen und hielt für einen Moment die Luft an. Sie vergrub die Hände in seinem Haar und versuchte, das Gefühl, das gerade durch ihren ganzen Körper schoss, festzuhalten. Sie bog den Rücken durch, um sich ihm noch mehr entgegenzurecken, woraufhin er seine Machenschaften intensivierte. In Karis Kopf breitete sich ein seltsames Gefühl aus, ein eigenartiger Druck, der ihr Denken zu blockieren schien. Es war, als hätte ihr Körper die völlige Macht, während ihr Verstand wahrscheinlich unterm Bett lag und darauf wartete, wieder gebraucht zu werden. Sie dachte an nichts, sondern konzentrierte sich ganz auf ihn. Seine Lippen lagen wieder auf ihren und verwickelten sie in einen Kuss. Kari wurde ungeduldig. Sie wollte mehr, nun, da sie seinen Oberkörper auf ihrem spürte, seine nackte Haut auf ihrer. Ungeduldig glitten ihre Hände endlich zum Bund seiner Boxershorts. Kapitel 58: Post von der Juilliard ---------------------------------- Als Kari am nächsten Morgen aufwachte, huschten ihre Gedanken sofort zurück in die Nacht. Jetzt fühlte es sich an, als wäre es nur ein Traum gewesen. Wie eine verschwommene Erinnerung. Vielleicht hatte sie ja wirklich nur geträumt? Nein, sie war nackt. T.K. neben ihr war ebenfalls nackt, hatte ihr den Rücken zugedreht. Er schien noch zu schlafen. Das Wetter draußen war trüb, der Himmel grau und es nieselte. Genau das richtige Wetter, um den ganzen Tag im Bett zu bleiben und nichts zu machen. Kari kuschelte sich an T.K.s Rücken, küsste ihn auf das Schulterblatt und schloss die Augen. Es fühlte sich unbeschreiblich an, genau jetzt genau hier neben ihm zu liegen und einfach an nichts denken zu müssen. Sie schlief nicht noch einmal ein, rührte sich aber auch keinen Zentimeter von der Stellte. Ihre Stirn berührte seinen Rücken und sie sog seinen Duft ein. Sie hatte keine Ahnung, wie lang sie so dort gelegen hatte, doch irgendwann rührte sich T.K. und drehte sich zu ihr um, sodass sie die Augen öffnete. „Morgen“, murmelte er mit kratziger Stimme. Kari lächelte. „Hast du gut geschlafen?“ Er nickte. „Und du?“ „Mhm“, machte Kari. Es war das erste Mal, dass sie wieder miteinander geredet hatten. In der vergangenen Nacht hatten sie beide kein einziges Wort gesprochen, als hätten sie ein Abkommen getroffen. Doch es waren auch keine Worte nötig gewesen. „Wie geht’s dir? Ist alles okay?“ Sein Blick war ernst, sogar ein wenig besorgt. „Könnte nicht besser sein“, antwortete sie wahrheitsgemäß und lächelte. „Sicher?“ „Ganz sicher.“ In den nachfolgenden Wochen hatte Kari das Gefühl, ein perfektes Leben zu haben. Sie schwebte im siebten Himmel und verbrachte so viel Zeit mit T.K., wie nur irgendwie möglich war. Nana zog sie bereits damit auf, dass Kari nur noch von T.K. redete. T.K. hier, T.K. da. Doch Kari war das egal. Sie war einfach glücklich. Davis hatte zwei Wochen lang nicht mit ihr geredet, doch dann hatte er ihr schließlich doch verziehen. Er hatte verstanden, dass sie es nicht böse gemeint hatte und nur helfen wollte, auch wenn die Hilfe nichts genützt hatte. Er und Ken waren noch immer auf Abstand und redeten nicht miteinander. Auf das Plakat und ihren Vortrag dazu hatten T.K. und Kari die volle Punktzahl erhalten. Alle hatten interessiert zugehört und am Ende sogar tiefergehende Fragen über Akihito gestellt. Und zudem waren T.K. und Kari einfach das perfekte Team. Er hatte den größten Teil des Redens vor der Klasse übernommen, während sie mehr bei der Plakatgestaltung gearbeitet hatte. So konnten sie beide ihre Stärken nutzen und vereinen. Das Projekt hatte sich also als völliger Erfolg erwiesen. Nachdem sie ihren Vortrag beendet hatten und die Klasse applaudierte, hatten sie einen zufriedenen Blick miteinander getauscht. Inzwischen hatte in der Schule jeder mitbekommen, dass sie ein Paar waren. Auch Aya, mit der T.K. sich nachwievor hin und wieder traf, zu Karis Leidwesen. Jedes Mal, wenn sie wusste, dass die beiden zu zweit irgendwo unterwegs waren, wurde sie fast wahnsinnig. Sie konnte nicht sagen, warum es ihr schwer fiel, ihm zu vertrauen, dass zwischen Aya und ihm niemals mehr laufen würde. Wahrscheinlich, weil sie Aya kannte und sich vorstellen konnte, wozu diese in der Lage war. Und außerdem durfte sie ihm genau genommen keinen Vorwurf machen, da auch sie sich weiterhin mit Davis traf, was T.K. wiederum missfiel. Irgendwann würde sie ihm diese Situation erklären, damit er einsehen konnte, dass Eifersucht hier sinnlos und völlig fehl am Platz war. Hin und wieder verbrachte Kari außerdem an den Wochenenden Zeit bei Tai und Mimi, um ihnen mit allen möglichen Dingen zu helfen. Ende Oktober waren sie in eine Dreiraumwohnung umgezogen. Die Zimmer waren zwar alle nicht sonderlich groß, doch immerhin bekam der Kleine nun ein eigenes Zimmer. Und außerdem war der Weg von den Yagamis zu Tai und Mimi nun nicht mehr ganz so weit. Kari, Davis, T.K., Matt und beide Elternpaare hatten beim Umzug geholfen. Mimi war zu dieser Zeit bereits im achten Monat schwanger und durfte nicht allzu viel helfen, weshalb ihre Aufgabe darin bestanden hatte, Essen und Getränke für alle bereitzustellen und Anweisungen zu geben. Besonders Letzteres beherrschte sie sehr gut. In den Wochen danach half Kari immer wieder mal dabei, Sachen für das Baby auszusuchen, ein paar Möbel aufzubauen oder kam einfach nur zum Plaudern vorbei. Alles in allem war Kari also sehr zufrieden. Dann jedoch geschah etwas, was ihre Laune noch mehr steigern sollte. Es war Anfang Dezember und Kari kam gerade gemeinsam mit T.K. vom Tanztraining nach Hause, als Yuuko ihr schon entgegenlief. „Kari, du hast Post bekommen“, rief sie aufgeregt. „Hallo, T.K.“ Sie drückte Kari einen großen, braunen Umschlag in die Hand, den diese drehte, um den Absender lesen zu können. „Von der Juilliard!“ Ihr stockte der Atem. Ein großer Umschlag. Das konnte eigentlich nur eines bedeuten. „Mach' schon auf“, forderte Yuuko ungeduldig. Kari schlüpfte aus ihren Schuhen, hing ihre Jacke auf und ging ins Wohnzimmer, während sie den Umschlag öffnete. Mit zittrigen Fingern zog sie einen Bogen weißen Papieres heraus. Mitten im Wohnzimmer blieb sie stehen und starrte auf die Schrift. „Lies schon vor“, drängte Yuuko sie. Sie und T.K. sahen ihr von links und rechts über die Schulter. „'Sehr geehrte Hikari Yagami, wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu dürfen, dass sie an der Juilliard School im Studiengang Tanz im ersten Bewerbungsverfahren angenommen sind. Weiterhin haben Sie sich für ein Stipendium in Höhe von 50.000 $ qualifiziert.'“ Den Rest des Briefes konnte sie nicht mehr laut lesen, da ihr Mund aufgeklappt war. Es wollte kein Ton mehr ihrer Kehle entweichen. Yuuko stieß einen Schrei aus und fiel ihr um den Hals. „Ich bin so stolz auf dich! Du hast es tatsächlich geschafft! Ich rufe gleich Papa an!“ Sie huschte davon auf der Suche nach ihrem Handy. Es dauerte einen Moment, bis Kari sich aus ihrer Starre lösen und zu T.K. umdrehen konnte, der sie breit angrinste. „Glückwunsch!“ Er drückte ihr einen Kuss auf die Wange. „Du hast es verdient. Ich wusste, dass du das schaffst.“ „Danke“, stammelte Kari und kippte den restlichen Inhalt des Umschlags auf den Tisch. Informationsbroschüren zum gelingenden Studienstart und einige Formulare zum Ausfüllen und Zurückschicken. „Ich kann's nicht glauben.“ Sie verbrachten den Nachmittag in Karis Zimmer auf dem Bett sitzend und sich die Broschüren ansehend. Eine davon war allein den Wohnheimen gewidmet, in welchen die Studenten untergebracht waren. Sie befanden sich auf dem Campus und sahen sauber und modern aus. Man konnte sogar wählen, ob man in einem Doppel- oder einem Einzelzimmer untergebracht werden wollte. Es gehörten auch Annehmlichkeiten wie Grillplätze, Waschkeller und Gemeinschaftsräume zum Wohnheim dazu. Auch drei Mahlzeiten am Tag waren für jeden Studenten vorgesehen. Eine andere Broschüre informierte über die Einführungskurse und den allgemeinen Semesterablauf. Ende August würde Kari ins Wohnheim einziehen, Anfang September würde das Semester beginnen. Alles fühlte sich an wie in einem Traum. Es war so unwirklich. In neun Monaten würde sie schon in New York wohnen und anfangen zu studieren. Sie würde in New York wohnen! New York! Mit einem Schwindelgefühl im Kopf fasste Kari sich an die Stirn. „Mann, das hört sich echt alles super an. Was ist denn? Geht's dir nicht gut?“ Fragend musterte T.K. sie. „Doch, ist nur alles gerade sehr viel auf einmal“, murmelte Kari mit einem schiefen Lächeln auf den Lippen. „Ich kann mir das alles noch nicht vorstellen.“ „Naja, hast ja auch noch ein paar Monate Zeit, dich daran zu gewöhnen.“ „Das ist echt unglaublich“, nuschelte Kari mit einem Blick auf die Broschüren, die auf ihrem Bett ausgebreitet waren. „Ja, ist es wirklich“, stimmte T.K. ihr zu. Kapitel 59: Babyglück --------------------- „Oh. Mein. Gott.“ Mimi fächelte sich mit der flachen Hand Luft zu. „Das ist... oh mein Gott!“ Sie warf die Arme um Karis Hals und drückte sie fest an sich, was sich angesichts ihres großen Bauchs als schwierig erwies. „Ich fass' es nicht!“ Sie kreischte und tanzte im Kreis, was Tai mit gerunzelter Stirn beobachtete. „Hey, komm' wieder runter. Noch vier Tage bis zum Entbindungstermin“, sagte er, dann wandte er sich an Kari. „Das ist echt krass.“ Er umarmte sie und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. „Du wirst in New York leben!“, kreischte Mimi und machte große Augen. „Wir werden dich besuchen kommen! Oh, ich kann's kaum erwarten. Die Juilliard!“ „Wir werden dich wirklich besuchen kommen. Immerhin wirst du... wie lange wirst du da leben?“ Fragend musterte er Kari. „Vier Jahre dauert der Bachelor“, antwortete Kari. Es war Samstag und sie war zu Tai und Mimi gefahren, um ihnen die große Neuigkeit brühwarm zu erzählen. Sie hatte es nicht am Telefon abhandeln wollen, da es eine zu große Sache war. „Vier Jahre!“, wiederholte Mimi schrill und führte ihren seltsamen Tanz fort. Wahrscheinlich wäre sie gehüpft, hätte sie nicht so einen großen Bauch gehabt. „Würdest du dich jetzt bitte wieder beruhigen!“, rief Tai verärgert. „Du weißt, was die Ärztin gesagt hat. Stress vermeiden.“ „Aber sie wird vier Jahre in New York leben!“, jubelte Mimi. „Oh Mann, ich vermisse New York manchmal echt. Es ist so eine tolle Stadt. Du wirst dich verlieben, Kari. Vielleicht willst du hinterher gar nicht mehr zurück nach Japan.“ „Ich habe auch nicht vor, wieder nach Japan zurückzukommen“, erwiderte Kari. „Vielleicht könnte ich in Musicals auftreten. Oder im Ballett. Dann würde ich sowieso nur durch die Welt reisen. Das wäre mein Traum.“ „Oh ja, das wäre toll.“ Mimi bekam einen verträumten Gesichtsausdruck, während Tai seine Chance nutzte und sie zur Couch schob, wo er sie auf die Kissen drückte. „Mach' mal halblang. Erst mal das Studium packen. Wie willst du das überhaupt bezahlen? Machen Mama und Papa das?“, fragte er. „Ich habe ein Stipendium bekommen“, antwortete Kari. „Fünfzigtausend Dollar.“ „Fünfzigtausend?“ Mimi sprang auf und starrte sie mit großen Augen an. „Oh mein Gott!“ „Ja, das reicht für's erste Jahr. Die Studiengebühren sind echt hoch“, murmelte Kari. „Und ja, Mama und Papa werden versuchen, das zu übernehmen und Oma und Opa wollen auch helfen. Und für den Rest kann ich einen Kredit aufnehmen oder so und wenn ich Zeit habe, werde ich nebenbei arbeiten gehen.“ „Mann, das ist echt viel“, meinte Tai und lehnte sich gegen die Rückenlehne der Couch. „Aber ich glaube, du kriegst das hin.“ „Das Studium oder das Bezahlen?“, fragte Kari müde lächelnd. „Beides“, antwortete er überzeugt. „Will T.K. mitkommen nach New York?“ Kari senkte den Blick. „Keine Ahnung. Wir haben noch nicht darüber gesprochen, wie es nach der Schule mit uns weitergeht.“ Tai verschränkte die Arme vor der Brust und machte ein nachdenkliches Gesicht. „Verstehe. Aber ich bin sicher, was immer er machen will, kann er auch irgendwo in den USA machen. Bestimmt sogar in New York. Die Stadt ist doch riesig. Würde mich wundern, wenn man da nicht alles Mögliche studieren kann.“ „Ja, das glaube ich auch“, sagte Kari. „Das Problem ist nur... ich habe keine Ahnung, ob er überhaupt auswandern will. Ich meine, er ist ja erst aus Frankreich zurück.“ „Wer weiß.“ Tai zuckte mit den Schultern. „Aber wenn du gehst, dann geht er doch bestimmt auch.“ Er lächelte, dann drehte er sich zu Mimi um, die mit starrem Blick ihren Bauch umklammert hielt. „Was ist?“ „Ich glaube, es geht los“, sagte sie kleinlaut. Tai stöhnte auf und sah auf einmal wütend aus. „Mensch Mädel, ich habe dir doch gesagt, du sollst dich beruhigen! Es ist noch zu früh.“ „Tai, schrei' sie nicht an. Ruf' lieber ein Taxi“, murrte Kari und ging zu Mimi, um ihr eine Hand auf die Schulter zu legen. „Geht es?“ Sie richtete sich auf und ließ ihren Bauch los. „Ja, aber ich glaube, das war eine Wehe.“ Tai hatte schon sein Handy gezückt und telefonierte mit einem Taxifahrer, während Mimi Kari aus großen Augen ansah. „Kommst du mit ins Krankenhaus?“, fragte sie flehend. „Was? Ich... ich meine... also eigentlich...“, stotterte Kari. Sie sollte bei der Geburt dabei sein? Darauf war sie nicht vorbereitet. Sie dachte, es würde reichen, wenn Tai dabei war. Sie hatte Angst vor dem, was dort ablaufen würde und sie hatte im Grunde genommen keine Ahnung, was genau überhaupt ablief. „Bitte!“, flehte Mimi eindringlich und griff nach Karis Hand. „Komm' mit. Ich befürchte, Tai steht das nicht durch.“ Kari warf einen irritierten Blick auf Tai. Er sollte das nicht durchstehen? Er gehörte zu den tapfersten Menschen, die Kari kannte. So eine Geburt dürfte ihm doch nichts ausmachen. Und überhaupt musste er ja nur zusehen und Händchen halten. Sie folgte Mimi ins Schlafzimmer, wo diese eine Tasche mit Klamotten zusammenpackte. „Das Taxi ist in zehn Minuten hier“, meinte Tai. Eine halbe Stunde später kamen sie im Krankenhaus an, füllten an der Rezeption ein Formular aus und wurden dann von einer Krankenschwester alle drei in einen Kreißsaal gebracht. „Shiori wird gleich bei Ihnen sein“, sagte die Frau und verließ das Zimmer. „Shiori?“, fragte Kari und sah Mimi an. „Meine Hebamme“, antwortete diese, ließ ihre Tasche fallen und setzte sich aufs Bett. Seit ihrer ersten Wehe hatte sie noch zwei weitere gehabt. „Wie geht’s dir?“, fragte Tai, setzte sich neben sie und strich ihr durch das Haar. „Ganz okay. Wenn ich gerade keine Wehen habe, gut“, meinte Mimi und strich sich über den Bauch. Kari sah sich in dem Zimmer um. Der Boden war in hellem Grün, die Wände weiß und mit Vorhängen versehen. Das Bett, auf dem Mimi und Tai saßen, hatte eine Art angebauten Hocker und Beinstützen wie die Stühle beim Gynäkologen. Neben dem Bett stand ein Nachtschrank mit einem CTG-Gerät darauf. Außerdem gab es noch ein Babybettchen und eine Schrankzeile. Auch eine große Wanne war vorhanden. In dem Raum herrschte der typische Krankenhausgeruch und Kari musste sich unweigerlich die vielen Frauen vorstellen, die hier schon schreiend ihre Kinder zur Welt gebracht hatten. „Ah!“ Kari drehte sich um und sah, wie Mimi die Hände auf den Bauch presste und das Gesicht verzog. Tai sah hilflos zu Kari, während er ihr den Rücken tätschelte. „Ich glaube, die Abstände werden kürzer“, meinte er. „Das ist normal“, erwiderte Mimi, als die Wehe anscheinend vorüber war. In diesem Moment klopfte es kurz an der Tür, dann kam eine Frau von etwa vierzig Jahren herein. Sie lächelte fröhlich, als wäre dies der schönste Tag in ihrem Leben. „Hallo Mimi, hallo Tai. Und oh, wen haben wir hier?“, begrüßte sie die drei und musterte Kari interessiert. „Das ist meine Schwester Kari“, stellte Tai sie vor. „Hallo Kari. Freut mich, dich kennenzulernen. Du bist also die weibliche Unterstützung“, sagte Shiori zwinkernd. Kari lächelte und nickte nur. Shiori ging direkt zu Mimi und legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Wie geht’s dir? Alles gut?“ „Ja, alles okay. Wehen ungefähr im fünfzehn-Minuten-Abstand“, berichtete Mimi. „Gut, gut.“ Shiori nickte zufrieden. „Mach dir aber nicht zu viele Hoffnungen, dass es bald vorbei ist es kann noch eine Weile dauern, okay?“ Mimi verzog das Gesicht. Fröhlich plaudernd tastete Shiori Mimis Bauch ab und schloss sie an das CTG-Gerät an, um die Herztöne des Babys und die Wehentätigkeit zu überwachen. Alles war soweit in Ordnung und der Kleine lag mit dem Kopf nach unten. Shiori untersuchte noch den Muttermund, der laut ihrer Aussage drei Zentimeter geöffnet war, und verließ den Kreißsaal nach einer halben Stunde erst einmal wieder. „Also wenn ich mir vorstelle, dass das jetzt noch bis morgen dauert, werde ich wahnsinnig“, grummelte Mimi. „Ach, die Zeit kriegen wir schon irgendwie rum. Willst du was essen? Oder was trinken?“, bot Tai ihr an. „Ein Glas Wasser, bitte.“ Tai goss ein Glas Wasser aus einer Flasche ein, die neben dem Bett bereitstand, und reichte es an Mimi weiter. „Also am Montag muss ich wieder in die Schule“, warf Kari ein. „Bis dahin sind wir hier hoffentlich lange raus“, erwiderte Mimi mit einem Blick aus dem Fenster. Kari zückte ihr Handy und tippte eine SMS an T.K. Bin mit Tai und Mimi im Krankenhaus. Es geht los... kann heute wahrscheinlich nicht mehr kommen. Eigentlich hatte sie den heutigen Abend und die Nacht mit T.K. verbringen wollen, doch Mimi ging nun vor. Sie seufzte und steckte ihr Handy wieder weg und verbrachte die nächsten zwei Stunden damit, sich mit Tai und Mimi zu unterhalten. Dabei hatte Mimi in etwa alle zehn Minuten eine Wehe, die jedoch aushaltbar zu sein schienen. Zumindest schrie sie nicht so, wie Kari es aus Filmen kannte. Vielleicht war Kinder gebären ja nur halb so schlimm, wie es meist dargestellt wurde. T.K. hatte nach einer Weile geantwortet. :-O Viel Glück? Sag Bescheid, wenn das Baby da ist. Kari lächelte und legte das Handy beiseite. „T.K.?“, fragte Mimi. „Ja.“ „Wart ihr noch verabredet?“ „Eigentlich schon, aber das ist schon okay.“ Kari machte eine wegwerfende Handbewegung. „Oh nein, das wusste ich nicht. Ich hätte es mir natürlich denken können. Kari, bitte geh' zu ihm“, sagte Mimi nun und machte große Augen. „Nein, ich hab' doch schon gesagt, dass das okay ist. Ich sehe ihn doch jeden Tag“, entgegnete Kari und schüttelte den Kopf. „Mach' dir keine Sorgen. Ich bleibe hier und schaue zu, wie mein Neffe geboren wird. Wann erlebt man schon einmal so etwas?“ „Das ist lieb von dir“, sagte Mimi gerührt und griff nach ihrer Hand. „Danke. Danke vielmals.“ Der Abend kam und ging und irgendwann wurde es Nacht. Mimi hatte immer wieder Wehen, rannte auf die Toilette, lief unruhig durch das Zimmer und die Flure des Krankenhauses, während Tai und Kari versuchten, sie abzulenken. Hin und wieder schaute Shiori vorbei, machte ihr Mut und kontrollierte mit dem CTG-Gerät die Herztöne des Babys und untersuchte Mimis Muttermund, der gegen Mitternacht immerhin sieben Zentimeter geöffnet war. Mimi war inzwischen nur noch in Krankenhauskleidung gehüllt. „Ich wünschte, das wäre endlich...“ Sie konnte nicht weitersprechen, sondern krallte sich an Tai fest und krümmte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht zusammen. Sie wimmerte vor sich hin, während Tai ihr den Rücken streichelte und hilfesuchend zu Shiori sah. „Kann sie nicht einfach schon... anfangen?“ Bestimmt schüttelte Shiori den Kopf. „Nein, wir müssen noch ein bisschen warten. Der Kopf des Babys muss noch tiefer rutschen, bevor sie pressen kann.“ „Wie lange dauert das noch?“, fragte Kari mit einem besorgten Blick auf Mimi, die gerade einen leisen Schrei ausstieß. „Tja, da der Muttermund schon bei sieben Zentimetern ist, wird es nicht mehr allzu lange dauern“, antwortete Shiori beruhigend lächelnd. Mimi richtete sich wieder einigermaßen auf. Ihre Augen wirkten ein wenig geschwollen, ihr Gesicht fahl und müde. „Ich kann nicht mehr. Das soll vorbei sein. Ich glaube, er ist soweit.“ „Nein, ist er noch nicht“, widersprach Shiori ruhig und tätschelte Mimis Schulter. „Aber vielleicht solltest du dich hinlegen. Dann geht’s dir sicher besser. Es wird nicht mehr lange dauern.“ „Nein, ich will nicht“, jammerte Mimi mit erstickter Stimme. „Im Liegen wird es nur noch schlimmer.“ „Bald hast du's geschafft“, murmelte Kari und rang sich ein zuversichtliches Lächeln ab, obwohl ihr gar nicht nach Lächeln zumute war. Sie musste daran denken, dass sie diese Schmerzen wahrscheinlich eines Tages auch durchmachen musste. Und es schien einfach nichts zu geben, das sie einem nehmen konnte. Tai sah jedoch aus, als fände er das Ganze noch schrecklicher als Mimi und Kari zusammen. Er war auf einmal ganz blass und sein Gesichtsausdruck wirkte abwesend. Auch Shiori schien das zu bemerken. „Tai, vielleicht solltest du mal ein paar Minuten vor die Tür gehen und dich hinsetzen, okay?“, schlug sie ihm zwinkernd vor. „Und wenn es dir besser geht, kommst du wieder rein.“ „Was?!“, rief Mimi entsetzt und starrte Tai an. Dieser schüttelte langsam den Kopf. „Nee. Alles gut.“ „Das hoffe ich für dich. Sonst...“ Sie stöhnte laut, presste die Hände auf den Bauch und drohte, zusammenzubrechen, doch Shiori und Kari hielten sie fest. Zu dritt brachten sie sie langsam hinüber zum Bett und sorgten dafür, dass sie sich hinlegte. „In Ordnung. Lass mich noch mal kurz den Muttermund kontrollieren“, meinte Shiori und setzte sich auf den Hocker am Fußende des Bettes, während Tai und Kari links und rechts neben Mimi Platz nahmen. Mit zittrigen Fingern strich Kari ihr eine Haarsträhne aus der schweißnassen Stirn, während Tai wie ein Häufchen Elend auf seinem Hocker saß und aussah, als müsste er sich in der nächsten Sekunde übergeben. „Acht Zentimeter“, verkündete Shiori fröhlich. „Nicht mehr lang. Ich piepe schon mal Doktor Tanaka an.“ „Das Ding muss da jetzt raus!“, rief Mimi, nachdem sie die Wehe heftig veratmet hatte. „Ganz ruhig.“ Shiori tätschelte ihr den Oberschenkel. „Durchhalten. Du hast es fast geschafft. Bisher warst du wirklich sehr tapfer.“ „Dieses blöde Kind bringt mich um!“, schrie Mimi. „Na na“, tadelte Shiori sie lächelnd, während Kari nur große Augen machte. „Tai, du solltest wirklich gehen. Wenigstens für eine Minute. Sonst muss sich Doktor Tanaka um dich kümmern, wenn sie kommt.“ Kari sah zu Tai, der die Lippen aufeinander presste und aufstand. „Wag' es ja nicht, dieses Zimmer zu verlassen!“, drohte Mimi und klang wie eine Furie. „Es ist nur für eine Minute, okay? Wenn das Baby kommt, ist er wieder hier“, sagte Shiori. „Und in der Zwischenzeit passen Kari und ich auf dich auf.“ Tai floh nahezu aus dem Raum, während Mimi ihm unschöne Worte hinterherrief. „Komm' sofort zurück, du Feigling! Wie kannst du es wagen, mich hier allein zu lassen? Du hast mir das angetan! Du bist schuld daran! Du ganz allein! Wenn du nicht augenblicklich... AH!“ „Atmen, atmen! So ist es gut.“ Shiori saß immer noch auf dem Hocker zwischen Mimis Beinen, während sie ihr Anweisungen gab und Mimi atmete, als würde sie einen Marathon laufen. Sie griff nach Karis Hand und zerquetschte ihr fast die Finger. „Ich... hasse... ihn!“ Verängstigt sah Kari zu Shiori, die jedoch nur müde lächelnd den Kopf schüttelte. „Keine Angst. So reden einige Frauen, während sie gebären.“ „Ganz ruhig, Mimi, okay? Es ist gleich vorbei“, murmelte Kari und streichelte mit ihrer freien Hand Mimis Handrücken. „Fast geschafft.“ „Ich werde mich scheiden lassen!“, jammerte sie. „Nein, wirst du nicht“, widersprach Kari. „Komm' schon, du hast es gleich geschafft. Nur noch ein paar Minuten.“ „Dieser Arsch braucht sich hier gar nicht mehr blicken lassen! Ich werde ihn... AAAAHHH!“ Sie schrie und ihre Fingernägel bohrten sich schmerzhaft in Karis Hand, was diese jedoch nur am Rande mitbekam. Sie hatte sich ein Taschentuch vom Nachttisch genommen und tupfte Mimi den Schweiß von der Stirn, während diese sich vor Schmerz krümmte. In diesem Moment ging die Tür auf und Kari hoffte, es wäre Tai, doch es war eine recht jung aussehende Ärztin. Sie begrüßte alle mit einem Lächeln und Kopfnicken, bevor sie sich einen Stuhl heranzog und sich neben Shiori setzte, die ihr alle wichtigen Informationen mitteilte. Mimi war inzwischen offenbar nicht mehr in der Lage, lautstark über Tai zu schimpfen, denn sie hechelte vor sich hin und starrte mit schmerzerfülltem Blick an die Decke. „Na schön, dann holen wir den kleinen Mann mal auf die Welt“, sagte Doktor Tanaka voller Tatendrang. „Okay, Mimi, du musst tun, was ich dir sage. Wenn die nächste Wehe kommt, presst du, ja? Ganz fest“, wies Shiori sie an. „Nein! Tai!“, rief Mimi und wirkte auf einmal angsterfüllt. „Tai!“ „Tai ist gleich wieder da, okay?“, sprang Kari ein. „Aber solange bin ich hier. Merkst du das? Das ist meine Hand. Ich bin hier und ich lass' dich nicht allein. Versprochen.“ „Lass nicht los“, stieß Mimi hervor und drückte Karis Hand noch fester, wenn das überhaupt möglich war. „Bestimmt nicht.“ Als Mimi wenige Sekunden später erneut aufschrie, wusste Kari, dass es nun ernst wurde. „Pressen!“, rief Shiori. Tai kam in den Raum gestürmt. Er sah zwar immer noch blass aus, aber wenigstens wirkte er gefasster als vorher. Kari sah seinen Blick für einen Moment zwischen Mimis Beine huschen, sein Gesicht verzog sich, dann setzte er sich zurück auf seinen Hocker und nahm Mimis andere Hand. „Ich bin hier, Mimi. Du machst das super.“ „Mehr, mehr, mehr!“, rief Shiori, die nun ein wenig gestresster wirkte. Das fröhliche Lächeln war wie von ihrem Gesicht gewischt. „Ich kann nicht mehr!“, krächzte Mimi. „Doch, du kannst“, erwiderte Tai ruhig und legte seine freie Hand auf Mimis Stirn. „Du musst. Er kann ja nicht ewig da drin bleiben.“ Kari entging der Anflug eines Grinsens nicht und auch sie musste ein klein wenig lächeln. Die nächste Wehe erfasste Mimi und Shiori und Doktor Tanaka feuerten sie an, während sie vor Schmerzen schrie und Tais und Karis Hände zerquetschte. „Der Kopf ist da!“, rief Doktor Tanaka erfreut. Vorsichtig riskierte Kari einen Blick und entdeckte eine etwas rot-bläuliche Stirn mit einem dunklen Haarflaum. Behutsam drehte Shiori das Köpfchen ein klein wenig. „Noch einmal, dann ist es vorbei“, sagte sie, das Lächeln zurück auf ihrem Gesicht. Auch Kari spürte, dass sie ein Lächeln auf den Lippen hatte. Sie wurde gerade Zeugin eines kleinen Wunders. Mimi verkrampfte sich erneut, presste diesmal jedoch die Lippen fest zusammen. Kari verspürte einen leichten Ruck und im nächsten Moment hatte Shiori Mimi das frisch geborene Baby auf den Bauch gelegt. Mimi atmete schwer, wimmerte leise und legte vorsichtig die Hände auf ihren Sohn. Tränen der Freude liefen über ihre Wangen. Tai ließ erschöpft den Kopf auf ihre Schulter sinken, als hätte er soeben selbst ein Baby zur Welt gebracht, und Kari betrachtete verzückt das winzige Baby, dessen Haut zerknautscht und voller Käseschmiere war. Es stieß einen gurgelnden Laut aus. „Geboren am zwölften Dezember um ein Uhr dreiundzwanzig. Möchte der frisch gebackene Papa die Nabelschnur durchschneiden?“ Doktor Tanaka hielt eine Schere bereit und sah Tai auffordernd an. Tai nickte langsam, stand auf und nahm ihr die Schere aus der Hand. Unter Doktor Tanakas Anweisungen durchtrennte er die Nabelschnur und blickte voller Liebe auf seinen kleinen Sohn und seine Frau hinab. Er ließ sich zurück auf den Hocker fallen, küsste das Baby auf den Kopf und Mimi auf die Wange. Diese lächelte ihn glücklich an. „Wenn ihr erlaubt, ich mache ihn nur schnell sauber und untersuche ihn“, unterbrach Doktor Tanaka das junge Familienglück und nahm Mimi das Baby ab. „Wie soll er denn eigentlich heißen?“ Mimi nutzte die freie Minute ohne Baby auf der Brust und drückte Kari an sich, während Tai das Antworten übernahm. „Kaito. Kaito Yagami.“ Kapitel 60: Weihnachten ----------------------- Es war der Nachmittag des vierundzwanzigsten Dezembers. Tai und Mimi hatten alle Freunde der alten Gruppe zu sich nach Hause eingeladen, um Weihnachten gemeinsam zu feiern und Neuigkeiten auszutauschen, die sich seit dem letzten Treffen im September ereignet hatten. Und natürlich, um Kaito herumzuzeigen. Diesmal durften auch alle ihren Partner mitbringen. Joe würde mit Kaori kommen, Ken brachte Nana mit und Sora war mit Fabio angereist. Kari hatte allerdings keine Ahnung, ob sie ihn nach der Sache, die sie mit Matt abgezogen hatte, tatsächlich mit zum Treffen nehmen würde. Sie war gespannt. Sie, T.K., Ken und Nana stiegen aus der U-Bahn und machten sich auf den Weg zur Wohnung. Davis hatte gesagt, er würde später dazustoßen, weil er noch zu tun hatte, doch Kari glaubte, er wollte lediglich so wenig Zeit wie möglich mit Ken und Nana gemeinsam in einem Raum verbringen. Sie stiegen die Treppen zur Wohnung hinauf und Kari drückte auf den Klingelknopf. „Jetzt bin ich echt mal auf die Wohnung gespannt“, meinte Ken, während sie warteten. „Ich frage mich, wie wir da alle reinpassen sollen, aber okay“, erwiderte Kari schulterzuckend. Immerhin wurde jeder Einzelne beauftragt, etwas zu essen und zu trinken mitzubringen, sodass Tai und Mimi nicht alles allein stemmen mussten. Die Tür wurde geöffnet und Tai erschien im Türrahmen. „Hallo, ihr Schnarchnasen. Ihr seid die Letzten.“ Dann wandte er sich mit vielsagendem Blick an Kari. „Du glaubst nicht, wer noch hier ist.“ „Wer denn?“, fragte sie verwirrt. Tai antwortete nicht, sondern trat zur Seite, um alle hereinzulassen. Aus dem Wohnzimmer drang Stimmengewirr und Gelächter. In der Luft lag der Duft von Räucherstäbchen, Zimt und Gebäck und aus dem Radio dudelte leise Weihnachtsmusik. Offenbar waren alle bei bester Laune. So weit, so gut. Aber es war schließlich Weihnachten. Kari ging den anderen dreien voraus ins Wohnzimmer und drehte eine Runde, um alle zu begrüßen. Der Raum war brechend voll. Die Besucher quetschten sich auf den Sofas, Stühlen und auf dem Boden zusammen und mittendrin im Geschehen war Kaito, der gerade in Joes Armen gehalten wurde. Seine Augen waren weit geöffnet und er sah aus, als würde er das Geschehen gespannt beobachten. „Hallo, mein Süßer“, begrüßte Kari ihn und drückte ihm einen Kuss auf den Kopf, bevor sie Joe umarmte. „Steht dir gut, die Paparolle.“ Sie grinste und um Joes Nase legte sich ein rosafarbener Schatten. Kaori neben ihm kicherte nur verlegen. Kari rutschte weiter und umarmte Yolei. Und dann sah sie den unerwarteten Besucher, den Tai gemeint hatte. „Masaru?“, sagte sie ungläubig und starrte ihren Cousin an. „Kari?“, entgegnete er und ahmte ihren Tonfall nach. Sie wandte den Blick an Yolei, die nur triumphierend lächelte und nach Masarus Hand griff. „Oh mein Gott! Glückwunsch!“, rief Kari strahlend. „Yolei, du hast gar nichts erzählt.“ Sie zuckte unschuldig mit den Schultern. „Es gab noch keine Gelegenheit.“ Kari sah wieder von ihr zu Masaru, der ihren Blick ein wenig genervt erwiderte. Sie konnte einfach nicht glauben, dass Yolei es tatsächlich geschafft hatte, Masaru für sich zu begeistern. Das grenzte an ein Wunder. Wenn sie das ihrer Mutter erzählen würde... Kari rutschte weiter zu Sora und umarmte auch sie. Ihr Gesichtsausdruck war ein wenig angespannt. Dann wandte Kari sich der Person neben ihr zu. Sie hatte doch wirklich ihren Freund Fabio mitgebracht. Kari musste sich zusammenreißen, ihn nicht mit offenem Mund anzustarren. Er sah in Wirklichkeit noch viel besser aus als auf seinem Bild auf Facebook. Sein Teint war karamellfarben, seine Augen stachen hellblau aus seinem hübschen Gesicht hervor. Sein Haar war schokoladenbraun und als er Kari anlächelte, konnte sie seine perfekt geraden, weißen Zähne sehen. „Hi, ich bin Fabio“, sagte er mit starkem Akzent. Kari lächelte ein wenig zu fröhlich zurück. „H-hi, ich bin Kari. Schön, dich kennenzulernen.“ T.K. hinter ihr drängte sie weiter und sie hörte, wie er Fabio eine sehr knappe Begrüßung zumurmelte. Kari warf ihm einen mürrischen Blick zu und beendete ihre Runde. Nun fiel ihr auf, dass sich auf dem Wohnzimmertisch Geschenke für Kaito stapelten. Spielzeuge, Plüschtiere, Strampler, Nuckel und Bücher. Auch Kari und T.K. hatten etwas für den Kleinen mitgebracht. Er war noch nicht einmal zwei Wochen alt und schon der Mittelpunkt aller. „Joe, jetzt gib' ihn doch mal weiter. Ich will auch mal halten“, rief Yolei gerade und streckte die Hände nach Kaito aus. Widerwillig reichte Joe das Baby weiter, das sich nicht zu beirren lassen schien. Mimi beobachtete das Geschehen grinsend, während Tai, der neben ihr saß, die Stirn in Falten legte. „Wehe, ihr lasst ihn fallen“, sagte er. „Tai, das sind keine Kinder mehr“, beruhigte Mimi ihn und griff nach seiner Hand. „Da bin ich mir nicht so sicher“, murmelte er. „Wie geht’s euch denn so? Könnt ihr noch regelmäßig schlafen?“, fragte Matt, der an Tais anderer Seite saß. Mimi schnaubte und Tai grinste schief. „Naja, ich schon. Ich bin ja nicht der, der ihn stillen muss“, antwortete er. „Und selbst wenn, würdest du es trotzdem nicht tun, weil du einfach weiterschläfst, wenn er schreit“, grummelte Mimi. Matt lachte und klopfte Tai auf die Schulter. „Tai, wie er leibt und lebt.“ Während die beiden Jungs ein Gespräch begannen, wandte Kari sich an Mimi. „Sora hat Fabio also allen Ernstes mitgebracht?“, sagte sie leise. Mimi nickte mit finsterer Miene. „Ich weiß. Aber Matt scheint es ganz locker aufzunehmen.“ „Sie selbst hingegen nicht so, wie es aussieht.“ Beide Mädchen sahen unauffällig zu Sora hinüber, deren Blick irgendwie etwas teilnahmslos wirkte, während sie an einer Tasse Tee nippte. Sie schien sich ganz offensichtlich nicht wohlzufühlen. Fabio hingegen mit seiner alles überstrahlenden Schönheit brachte sich hin und wieder in Gespräche ein, lächelte charmant und legte Sora hin und wieder die Hand auf den Oberschenkel oder den Arm um die Taille. Kari erwischte sich dabei, wie sie ihn beobachtete. Sie konnte sich sehr gut vorstellen, wie er über den Laufsteg marschierte und die neuste Männermode für den Winter präsentierte oder für Fotos posierte, die dann in hochwertigen Magazinen abgedruckt wurden. „Hey“, machte Mimi und stieß Kari grinsend den Ellbogen in die Seite. „Du hast deinen T.K.“ „Weiß ich doch“, sagte Kari peinlich berührt und wandte den Blick von Fabio ab. „T.K. ist auch gar nicht vergleichbar mit ihm.“ „Na ich hoffe mal, das ist positiv gemeint“, meinte Mimi lachend. Natürlich war das positiv gemeint. Sie fand Fabio nicht schöner als T.K. Der hübsche Blonde mit den kobaltblauen Augen war sowieso gänzlich ohne Konkurrenz für Kari. Eigentlich könnte der sich auch als Model versuchen. Vielleicht sollte Kari ihm diesen Vorschlag mal unterbreiten, aber wahrscheinlich würde er nicht viel davon halten. „Ach, da fällt mir was ein“, sagte Mimi plötzlich. „Leute, hört mal her!“ Alle unterbrachen ihre Gespräche und wandten sich nun mit fragendem Blick an Mimi. „Kari hat noch eine Ankündigung zu machen. Ich gehe einfach mal davon aus, dass das noch nicht jeder weiß.“ Mimi sah nun erwartungsvoll zu Kari, die die Augen aufriss. „Äh, was?“ Alle lachten, während Kari komplett verwirrt war. Was denn für eine Ankündigung? Sollte sie jetzt etwa verkünden, dass sie und T.K. ein Paar waren? Das war doch albern und interessierte wahrscheinlich sowieso niemanden. Okay, wahrscheinlich schon, aber trotzdem wollte Kari das nun nicht herausposaunen, als wäre es das achte Weltwunder. „Mann, stehst du aber auf dem Schlauch“, meinte Mimi. „Wir haben jetzt jedenfalls noch jemanden in unserer Gruppe, der das Land verlassen wird.“ „Was?“ „Oh, wirklich? Wo soll es denn hingehen?“ „Für wie lange?“ „Was machst du denn?“ Alle musterten Kari gespannt. „Achso“, sagte Kari kleinlaut und kratzte sich am Hinterkopf. Natürlich, da war ja noch etwas. „Die Juilliard in New York hat mich aufgenommen. Ich werde ab September dort Tanz studieren.“ Zuerst fassungslose Blicke, dann brachen auf einmal alle in Jubel aus, applaudierten und riefen Kari Glückwünsche zu. Naja zumindest die, die es noch nicht wussten. Verlegen bedankte sie sich und wünschte sich, die Aufmerksamkeit aller würde sich augenblicklich wieder von ihr abwenden. Das war zu viel des Guten. Am frühen Abend stieß endlich auch Davis zu der Gruppe. Die Sitzordnung hatte sich ein wenig aufgelöst. Einige räumten auf oder erledigten Abwasch, andere saßen in Kleingruppen zusammen, tranken Glühwein und unterhielten sich gut gelaunt. Es war recht laut in der kleinen Wohnung und die Stimmung war im Allgemeinen sehr gut. Kari wurde von allen zu ihren genauen Plänen in New York ausgefragt und beantwortete die immer gleichen Fragen ungefähr einhundert Mal. Als sie gerade einmal niemand ausfragte, sah sie sich nach T.K. um. Sie hatte ihn schon eine Weile nicht mehr gesehen. Wo war er nur hin? Schließlich entdeckte sie ihn auf dem Balkon. Sie schob die Glastür beiseite und trat hinaus in die kühle Luft. T.K. sah sie an und erst jetzt bemerkte sie, dass er nicht allein da draußen stand. Neben ihm war Matt, der sie ebenfalls ansah. Beide hielten eine glimmende Zigarette in der Hand. „Du rauchst?“, fragte Kari verwirrt und auch ein wenig enttäuscht. „Meine Schuld“, meldete Matt sich zu Wort, bevor T.K. etwas antworten konnte. „Aber ich hab' dich danach gefragt“, erwiderte T.K. „Ja und ich hab' dir eine gegeben. Aber kein Wort zu Mama.“ T.K. wandte sich wieder an Kari. „Ist nur heute.“ „Um der alten Zeiten willen“, fügte Matt theatralisch hinzu. „Ja“, sagte T.K. langsam. „Willst du auch eine?“ Matt bot Kari die Schachtel an, woraufhin T.K. ihm einen verärgerten Blick zuwarf. Kari lächelte. Anscheinend waren T.K. und Matt endlich auf einem guten Weg, sich wieder einander anzunähern und sich wie Brüder zu verhalten und nicht wie erbitterte Feinde. Anscheinend verzieh T.K. Matt allmählich. „Habe ich dir eigentlich erzählt, was deine Mutter gemacht hat?“, fragte Kari nun und sah T.K. an. Er hob fragend die Augenbrauen. „Nein?“ „Sie hat mit meiner Mutter um fünftausend Yen gewettet, wann wir zusammenkommen. Meine Mutter hat gesagt, dass wir es bis Weihnachten schaffen. Deine hat dagegen gewettet“, erzählte Kari. Matt prustete los, T.K. verzog nur das Gesicht. „Also dann kannst du ihr auch erzählen, dass ich dir Zigaretten gegeben habe. Wer solche Wetten über seinen eigenen Sohn abschließt...“, lachte Matt und klopfte T.K. auf die Schulter. „Aber Glückwunsch euch beiden.“ Keiner von den beiden erwiderte etwas. T.K. zog nur an seiner Zigarette und Kari lehnte sich neben ihm gegen die Brüstung. Erst jetzt fiel ihr auf, dass es ein ganz klein wenig schneite. Matt schnippte schließlich seinen Zigarettenstummel hinaus in die Dunkelheit und streckte sich. „Hey, benimm dich nicht wie ein Assi, du Möchtegern-Rockstar“, murmelte T.K., doch sein schiefes Lächeln hatte sich auf seine Lippen geschlichen. Matt antwortete mit dem gleichen Lächeln. „Sorry, hast Recht.“ Er ging zurück ins Wohnzimmer und ließ T.K. und Kari allein zurück. „Ist dir nicht kalt?“, fragte T.K. und musterte Kari von der Seite. Sie trug ein Oberteil mit nur halblangen Ärmeln. „Es geht“, antwortete Kari, obwohl ihr in Wirklichkeit tatsächlich etwas kalt war. Sie hatte die Arme fest vor der Brust verschränkt. T.K. zog sich kurzerhand seinen Cardigan aus und legte ihn ihr über die Schultern. Nun trug er nur noch ein T-Shirt. „Jetzt frierst du aber“, gab Kari zu bedenken. Er winkte nur ab. „Ach was. Ein echter Franzose wärmt sich am Eisblock.“ Er grinste. „Ich dachte, du bist nur zur Hälfte Franzose“, entgegnete Kari verschmitzt. „Immer so, wie ich es gerade brauche“, antwortete er, schlang einen Arm um ihre Taille und zog sie an sich. Sie lehnte den Kopf gegen seine Schulter und genoss für einen kurzen Augenblick die friedliche Stille. „Hast du mit ihm geredet?“, fragte Kari nach einer Weile. „Wie geht es voran?“ „Wie geht was voran?“, fragte T.K. verwirrt und drückte endlich seine Zigarette aus. „Naja eure... Wiedervereinigung“, antwortete Kari. Er schnaubte. „Geht so.“ Sie machte sich von ihm los und sah ihn an. „Du willst immer noch nicht darüber reden, oder?“ Er zögerte für einen kurzen Moment. „Das ist es nicht. Es gibt einfach nur nichts zu erzählen. Geht halt alles nicht so schnell.“ Kari lächelte leicht. „Naja, wenigstens versuchst du es. Nicht so wie Ken und Davis.“ „Haben die noch nicht angefangen, ihr... Problem zu klären? „Nein“, antwortete sie kopfschüttelnd. T.K. zuckte mit den Schultern. „Ich kann mich nur wiederholen. Das geht eben alles nicht so schnell. Lass' uns wieder reingehen. Ich will nicht, dass du dir noch den Tod holst.“ „Sagte der, der nur ein T-Shirt trägt“, erwiderte Kari grinsend, doch anschließend gingen sie zurück ins Wohnzimmer. Kari musste erst einmal auf die Toilette gehen, doch auf dem Weg zum Badezimmer kam sie am Kinderzimmer vorbei, aus dem gedämpfte Stimmen drangen. Kari sah sich um und konnte sowohl Tai und Mimi als auch Kaito im Wohnzimmer sehen. Wer war da im Kinderzimmer zu Gange? Kari schüttelte den Kopf und wollte weitergehen. Das ging sie nichts an, wer sich dort drin aus welchem Grund aufhielt. „... mir Leid tut. Ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht habe“, hörte sie Soras eindringliche Stimme und blieb schließlich doch stehen. „Herzlichen Glückwunsch. Kannst du mich dann jetzt endlich damit in Ruhe lassen?“, antwortete Matt. Kari rang mit sich. Sie wusste, dass sie einfach weitergehen und so tun sollte, als hätte sie nichts gehört. Doch sie musste wissen, was die beiden da drin beredeten. „Nur, wenn du aufhörst, mich so zu behandeln“, erwiderte Sora und Verzweiflung schwang in ihrer Stimme mit. „Wie behandle ich dich denn? Wie sollte man denn deiner Meinung nach an meiner Stelle mit jemandem wie dir umgehen?“, fragte Matt scharf. Jemandem wie dir. Das hatte Sora sicher weh getan. „Ich... ich weiß doch, dass ich es nicht anders verdient habe“, murmelte sie. „Aber seit dieser Nacht bin ich einfach so verwirrt. Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll. Du tauchst dauernd vor meinem geistigen Auge auf. Matt, ich glaube... ich glaube, da sind immer noch Gefühle für dich. Ich wollte es nicht wahrhaben, aber diese Nacht hat mir das wieder ins Gedächtnis gerufen.“ Stille. Kari konnte nur noch die Gespräche und das Gelächter aus dem Wohnzimmer hören. Was machten die beiden da drin? Ob sie sich jetzt wohl näher kamen im Kinderzimmer des Sohnes ihrer besten Freunde? „Warum sagst du das?“, fragte Matt schließlich nach einer Weile. „Weil es die Wahrheit ist“, antwortete Sora. „Und warum sagst du das, während dein Freund im Zimmer nebenan sitzt?“, präzisierte Matt seine Frage. Das Wort „Freund“ klang dabei jedoch, als würde er es ausspucken. „Weil es die einzige Gelegenheit ist, überhaupt unter vier Augen mit dir zu reden. Ich denke nicht, dass du dich mit mir zu einem Nachmittagskaffee getroffen hättest.“ „Da hast du vermutlich Recht“, entgegnete er. Dann herrschte wieder für einige Sekunden Stille. „Und was willst du jetzt machen?“, ergriff Matt dann wieder das Wort. „Dein Model verlassen, dein Studium aufgeben und mit mir durch die Welt reisen und wir tun so, als wären wir das perfekte Paar?“ Seine Stimme triefte förmlich vor Sarkasmus. „Ich habe keine Ahnung, okay?“, antwortete Sora und klang, als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen. „Ich habe echt keinen Plan, was ich jetzt mit meinem verdammten Leben anfangen soll. Irgendwie steht auf einmal alles auf dem Kopf. Ich stelle zur Zeit alle Entscheidungen, die ich in den letzten drei Jahren getroffen habe, in Frage.“ Wieder Stille. „Ich hätte nicht mit dir schlafen sollen. Das hätte niemals passieren dürfen. Das war ein Fehler, der sich garantiert nicht wiederholen wird“, sagte Matt dann kühl. Kari hörte, wie sich Schritte näherten und huschte eilig weiter ins Badezimmer. Kapitel 61: Die drei magischen Worte ------------------------------------ „Mann, T.K. Hör auf damit.“ Kari kicherte und versuchte, T.K., der sich über sie gebeugt hatte und gerade ihr Ohr küsste, von sich wegzudrücken. Er hielt inne und sah sie verschmitzt an. „Ich mach' doch gar nichts.“ „Doch, du hältst mich vom Schlafen ab“, antwortete Kari grinsend und zupfte am Ärmel seines T-Shirts herum. Sie lag ausgestreckt auf seinem Bett und hatte eigentlich ein Stündchen schlafen wollen. Die Schule und das Tanztraining waren sehr anstrengend gewesen und hatten sie einiges an Kraft gekostet. T.K. jedoch schien andere Pläne zu haben. Er legte den Kopf schief und musterte sie. „Du willst wirklich schlafen? Ich dachte, das war nur eine Metapher.“ „Entschuldige, ich bin eben müde. Tanzen ist harte Arbeit im Gegensatz zu eurem planlosen Herumgerenne“, erwiderte Kari grinsend. „Planloses Herumgerenne?“ Er lachte spöttisch. „Das, was du Tanzen nennst, nenne ich sinnloses Gehüpfe zu Kaspermucke.“ „Das hast du nicht umsonst gesagt!“ Kari nutzte seine Überraschung, um ihn auf den Rücken zu werfen, sich auf ihn zu stürzen und seine Seiten zu kitzeln. „Hey!“, lachte er und versuchte, ihre Handgelenke zu schnappen, doch Kari wich ihm geschickt aus und kitzelte ihn erbarmungslos weiter. Sie spürte, wie sein Bauch sich unter ihren Fingern anspannte. Er wand sich unter ihr, bis er schließlich doch ihre Handgelenke zu fassen bekam und sich ruckartig aufrichtete. Kari bewegte sich nicht mehr, sondern erwiderte seinen Blick. Sie waren sich so nah, seine Augen leuchteten. „Du bist eine richtige Hexe, weißt du das?“, fragte er leise. „Aber irgendwie liebe ich dich gerade dafür.“ Karis Augen weiteten sich überrascht. Er liebte sie? Das hatten sie sich bisher noch nie gesagt. Natürlich hatte Kari schon öfter über diese drei Worte und ihre weitreichende Bedeutung nachgedacht. Sie gehörten ja zu jeder Beziehung fest dazu und waren praktisch untrennbar mit ihr verbunden. Doch bisher hatte keiner von ihnen das zum anderen gesagt. Eine Zeit lang war Kari sich noch nicht einmal sicher gewesen, ob sie ihn liebte. Verliebt sein, ja. Mehr als genug. Aber Liebe? Er schien ihre Überraschung bemerkt zu haben. „Oh, ich meinte... nein, eigentlich meinte ich genau das. Ich liebe dich.“ Er sah ihr mit seinem durchdringenden Blick in die Augen. Kari lächelte leicht und fühlte sich durch seine Worte beflügelt. Ihr Herz klopfte wild. „Ich liebe dich auch“, murmelte sie, bevor sie ihre Hände an sein Gesicht legte und ihn küsste. Für einige Sekunden vergaßen sie beide die Welt um sich herum und konzentrierten sich nur auf sich. Durch die Aussprache der drei Worte fühlte es sich fast an, als hätte ihre Beziehung eine noch höhere Ebene erreicht. Schließlich löste T.K. sich jedoch von ihr und beendete den kurzweiligen Zauber des Moments. „Vielleicht heben wir das lieber für später auf. Matt müsste jeden Moment hier sein“, sagte er und schob sie von sich herunter, um aufzustehen. „Matt? Ich dachte, der ist schon unterwegs nach New York“, antwortete Kari verwirrt. Sie blieb auf dem Bett sitzen und sah zu ihm auf. „Nee. Sein Flieger geht erst in drei Stunden. Er wollte vorher noch mal hier vorbeikommen, um uns was zu geben“, erklärte T.K. und streckte sich gähnend. „Ich hätte auch einen Mittagsschlaf vertragen können.“ „Was denn?“ Irritiert hob Kari eine Augenbraue. „Keine Ahnung, wollte er nicht sagen. Aber es war ihm wichtig“, erwiderte er schulterzuckend. „Vielleicht ein Geschenk?“, überlegte Kari. Er zuckte scheinbar gleichgültig mit den Schultern. „Wer weiß. Vielleicht sein neuestes Album oder keine Ahnung. Wir werden es bald erfahren.“ Er warf einen Blick auf die Uhr in seinem Zimmer. „Ich glaube, ich werde langsam mal mit dem Essen anfangen. Kommst du mit oder willst du noch weiter auf meinem Bett herumliegen und so tun, als ob du schläfst?“ Kari erwiderte sein Grinsen und schwang sich aus dem Bett. „Blödmann.“ Sie gingen gemeinsam in die Küche und T.K. holte aus dem Kühlschrank und den Küchenschränken Zutaten und Utensilien hervor, die sie zum Kochen brauchten. „Was gibt’s denn?“, fragte Kari, die ihn interessiert beobachtete. „Nur Hühnchen, Gemüse und Reis. Du kannst ein paar Möhren schälen, wenn du willst.“ Er schob ihr Möhren und einen Gemüseschäler zu, während er sich um das Hühnchen kümmerte. Er schnitt es in Stücke, während Kari Möhren schälte. Anschließend machte er sich fluchend daran, aus einem der unteren Küchenschränke unter lautem Scheppern eine Pfanne hervorzukramen. „Mein Gott, hier ist viel zu viel drin“, grummelte er. In diesem Moment klingelte es an der Tür. Kari warf einen kurzen belustigten Blick auf T.K., der auf dem Boden hockte und im Schrank herumwühlte, bevor sie verkündete, dass sie die Tür öffnen ging. Sie durchquerte Küche und Wohnzimmer auf dem Weg zur Wohnungstür in neugieriger Erwartung, was Matt wohl mitbringen würde. Schnell öffnete sie die Tür, nur um zu sehen, dass dort nicht Matt stand. Verdutzt blickte Kari in das Gesicht eines hochgewachsenen, recht gut aussehenden Mannes mit kurzem, dunkelblondem Haar, grauen Augen und muskulöser Statur. Er musste etwa Mitte vierzig sein. Vielleicht ein Nachbar? „Oh, hallo“, begrüßte Kari ihn. „Hallo“, erwiderte der Mann und Kari hörte sofort, dass er einen starken Akzent hatte. „Bin ich richtig? Ich suche Natsuko und Takeru.“ „Ähm... ja, ich bin nur eine Freundin“, antwortete Kari. Mit fragendem Blick drehte sie sich zu T.K. um und öffnete gleichzeitig die Tür weit genug, um den Mann eintreten zu lassen. T.K. hatte sich aufgerichtet und erwiderte ihren Blick verwirrt, bis er zur Tür sah. In dem Moment, in dem der Mann über die Türschwelle trat und in der Wohnung erschien, wich die Farbe aus T.K.s Gesicht. Kari zuckte zusammen, als die Pfanne scheppernd zu Boden fiel. „Was willst du hier?“ Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Völlig verwirrt starrte Kari T.K. an. Was hatte er denn auf einmal? Er sah aus, als hätte er ein Gespenst gesehen. Der Mann war doch nicht etwa... „Hallo, Takeru“, sagte der Mann ruhig und hob langsam die Hände. „Lange nicht gesehen.“ „Mach, dass du hier rauskommst, oder ich brech' dir alle Knochen“, erwiderte T.K. genauso leise wie zuvor, doch diesmal mit einem deutlichen Drohen in der Stimme. Es gab keinen Zweifel mehr. Bei diesem Mann musste es sich um Jean handeln, sonst hätte T.K. nicht so reagiert. Aber woher wusste er, wo er und Natsuko wohnten? Sie hatten es ihm doch nicht gesagt. „Ruhig, okay? Wo ist Natsuko?“, fragte Jean statt einer Antwort. „Das geht dich einen Scheiß an“, erwiderte T.K. nun lauter. „Ich will nur reden“, erklärte Jean, die Hände noch immer erhoben. „Nur reden, okay? Wo ist Natsuko?“ „Hau' ab!“, rief T.K. nun und ging langsam auf Jean zu. „Raus hier, kapiert? Und wag' es ja nicht, hier noch einmal aufzukreuzen.“ Kari stand noch immer an Ort und Stelle und sah angespannt und vollkommen verwirrt zwischen den beiden hin und her. Sie war unfähig, sich von der Stelle zu rühren, so irritiert war sie. „Wo ist Natsuko?“, wiederholte Jean, diesmal schärfer. „Sag', wo sie ist!“ „Raus!“, rief T.K. erneut und schritt nun schneller auf ihn zu. Es sah aus, als würde er ihn angreifen wollen. Kari wollte dazwischen gehen. Sie wollte nicht, dass T.K. ihn attackierte und ihm eventuell schlimmere Verletzungen zufügte, für die man ihn später bestrafen konnte. Sie machte Anstalten, auf T.K. zuzugehen und ihn aufzuhalten, doch plötzlich packte Jean sie und zog sie zu sich. Sie stieß einen überraschten Schrei aus und wollte sich von ihm losmachen, doch er griff in ihre Haare und zog ihren Kopf nach hinten. An ihrer Schläfe spürte sie etwas Kaltes und Hartes. Den Lauf einer Pistole. Kapitel 62: Retter in der Not ----------------------------- Was war in den letzten zwei Minuten nur passiert? Wie war es soweit gekommen, dass Kari erst einem gutaussehenden Fremden die Tür geöffnet hatte und sich jetzt in seiner Gewalt mit einer Waffe am Kopf wiederfand? Sie war starr vor Angst. Ihr ganzer Körper hatte sich versteift. Sie traute sich kaum zu atmen und konnte nur an die Pistole denken, die ihr gegen die Schläfe gepresst wurde. Was, wenn er jetzt abdrückte? Das konnte sie nicht überleben. Sie wäre wohl auf der Stelle tot. Kalter Schweiß auf ihrer Haut. Seine Hand zerrte schmerzhaft an ihrem Haar. Ihr Blick war angsterfüllt auf T.K. gerichtet, der wie angewurzelt stehen geblieben war und sich keinen Millimeter mehr rührte. Er erwiderte Karis Blick und sah mindestens genauso geschockt aus, wie sie sich fühlte. Sie sah, wie sich sein Mund öffnete, als wollte er etwas sagen, doch er schien sich doch noch anders zu entscheiden. „Wo ist Natsuko?“, fragte Jean nun wieder an T.K. gewandt. Kari sah, wie er die Zähne zusammenbiss. „Arbeiten“, knirschte er. „Lass' sie los.“ „Ruf' sie an“, verlangte Jean. „Was?“ T.K.s Blick wurde hilflos. „Ruf' sie an!“, bellte Jean nun und zog Karis Kopf ruckartig noch weiter nach hinten, sodass sie hörbar nach Luft schnappte. Die Lauf der Pistole bohrte sich mit mehr Druck gegen ihre Schläfe. Ihr Sichtfeld verschwamm und Tränen liefen ihre Wangen herunter. Ihre Atmung hatte sich beschleunigt und sie konnte sich selbst schluchzen hören, ohne wahrzunehmen, dass sie weinte. T.K. trat einen Schritt zurück und hob die Hände. „Ich muss mein Handy aus meinem Zimmer holen, okay?“ „Geh'!“ Ohne Jean und Kari aus den Augen zu lassen, ging T.K. in sein Zimmer. Es waren nur ganz wenige Sekunden, die Kari mit Jean allein war, doch sie musste sich zurückhalten, nicht nach T.K. zu schreien. Sie hatte große Angst. Sehr große Angst. Momentan sah sie in T.K. ihre einzige Hoffnung, aus dieser Situation wieder herauszukommen, auch wenn sie keine Ahnung hatte, was er machen würde oder sollte. Wenn er tatsächlich seine Mutter anrief und ihr die Situation erklärte, würde diese sofort herkommen und wer wusste schon, was dann passieren würde. Wenn T.K. seine Mutter nicht anrief, würde Jean Kari wahrscheinlich töten. Töten! Kari kniff die Augen zusammen. Konnte nicht irgendwer kommen und ihnen helfen? Zufällige Polizisten, die gerade routinemäßig unterwegs waren? Irgendein Nachbar, der etwas vorbeibringen wollte und auf das Geschehen aufmerksam wurde? T.K. kam aus seinem Zimmer zurück, mit seinem Handy in der Hand. „Ruf' sie an!“, forderte Jean erneut. T.K.s Hände zitterten, als er auf seinem Handy herumtippte. Das konnte Kari selbst durch ihren Tränenschleier erkennen. Seine Hand zitterte auch, als er das Handy an sein Ohr führte. Er wartete, dann schien Natsuko am anderen Ende der Leitung ranzugehen. „Hi, Mama.“ „Sag ihr, sie soll sofort herkommen“, befahl Jean. „Hör' mal, es gibt ein Problem. Kannst du vielleicht nach Hause kommen?“, fragte T.K. mit einem Zittern in der Stimme. Dann herrschte kurz Ruhe. „Jean ist hier.“ Wieder Ruhe, dann legte er auf. „Sie kommt.“ „Gut“, brummte Jean. „Und jetzt lass' sie los“, forderte T.K. und sein Blick war nun hasserfüllt. „Nein. Erst, wenn Natsuko da ist“, erwiderte Jean scharf, lockerte jedoch endlich den Griff in Karis Haar ein wenig. „Warum? Du hast doch jetzt, was du wolltest.“ T.K. spuckte die Worte förmlich aus. „Lass' sie endlich los. Sie hat damit nichts zu tun.“ „Erst, wenn Natsuko da ist“, beharrte Jean. „Dann nimm wenigstens die Waffe runter“, fauchte T.K. „Halt' die Klappe! Halt' endlich die Klappe! Das ist dein größtes Problem, du Wichtigtuer. Du kannst einfach nicht die Klappe halten!“, fuhr Jean ihn an und verstärkte dabei den Griff in Karis Haar wieder, sodass diese leise wimmerte. Sie traute sich nicht, auch nur ein Wort zu sagen aus Angst, Jean würde sie sofort erschießen. Sie oder T.K. Dieser erwiderte nichts, sondern schwieg und starrte nur beide an. Kari konnte es in seinem Kopf arbeiten sehen. Sie hoffte, dass ihm ein rettender Einfall kam, wie er sie beide hier herausholen konnte, ohne dass jemand zu Schaden kam. In diesem Moment konnten sie jemanden hören, der vom Hausflur aus vorsichtig die Wohnung betrat. „T.K.? Die Tür stand offen. Ich komme einfach rein, okay?“ Das war Matts Stimme. Natürlich, Matt! Er wollte ja vorbeikommen. Jean wirbelte herum und zerrte Kari mit sich, die vor Schmerz aufschrie. Nun konnte sie Matt sehen, dessen Augen sich weiteten, als er die Szene erfasste, die sich ihm bot. Sein Blick huschte fassungslos von Kari zu Jean zu T.K. und wieder zurück. „Matt!“, rief T.K. „Du Schwein, lass' sie los!“, polterte Matt, ließ den Beutel fallen, den er in der Hand hatte, und stürmte auf Kari und Jean zu. Sie sah ihn auf sich zukommen, merkte, wie Jean unsicher rückwärts stolperte und mit wirren Rufen versuchte, Matt aufzuhalten. Ihr Kopf wurde brutal nach hinten gezerrt, dann ertönte ein Schuss, ein Schrei, von dem sie nicht wusste, zu wem er gehörte, und dann wurde ihr schwarz vor Augen. Der Aufprall auf den Boden ließ Kari schmerzhaft wieder zu sich kommen. Ihr Kopf schmerzte und sie kniff die Augen zusammen. Für einen Moment wusste sie nicht, was passiert war, doch dann sah sie Matt vor sich liegen. Blut sickerte aus seiner Brust und färbte sein helles Sweatshirt rot. „Matt!“, rief Kari mit erstickter Stimme und kroch auf ihn zu. Dann erinnerte sie sich daran, dass sich ja Jean mit einer Waffe in der Hand im Raum befand, hielt inne und drehte sich um, um nach ihm zu suchen. Was sie sah, hatte sie nicht erwartet. Jean stand noch immer am gleichen Fleck, den Blick starr auf Matt gerichtet. Seine Hände zitterten. Die Pistole befand sich in T.K.s Händen. Er hatte die Arme ausgestreckt und zielte auf Jean. „Du...“, fing er an, seine Stimme bebend vor Wut, der Blick hasserfüllt. „T.K., nicht!“, rief Kari verzweifelt. „Du hast auf ihn geschossen!“, polterte T.K. „Und du wolltest auf sie schießen!“ „Nein, ich wollte nicht...“, stammelte Jean, wurde jedoch von T.K. unterbrochen. „Halt' den Mund! Nenn' mir einen Grund, warum ich nicht das Gleiche mit dir machen sollte!“, brüllte T.K. Jean erwiderte nichts, schien starr vor Angst und unfähig, auch nur den Blick von Matt abzuwenden, der sich noch immer nicht wieder gerührt hatte. T.K.s Gesicht unterdessen war wutverzerrt und Kari bekam fast schon Angst vor ihm. „Antworte!“, schrie er. „I-ich wollte nicht...“, wiederholte Jean nur, wobei seine Stimme immer leiser wurde. „Du sollst mir einen verdammten Grund nennen, hab' ich gesagt!“ T.K. ging einen Schritt auf ihn zu, die Waffe direkt auf seinen Kopf gerichtet. „I-ich... ich... i-i-ich...“ „T.K.“, wimmerte Kari vom Boden aus. Schwerfällig stand sie auf und wankte auf ihn zu. „Hör' auf damit.“ „Allein für das, was du meiner Mutter angetan hast, sollte ich dich umbringen!“, rief T.K., ohne auf sie zu achten. Umbringen. In Karis Kopf drehte sich alles. T.K. wollte doch nicht tatsächlich diesen Mann erschießen. Nein, das könnte er nicht. Das würde er nicht. Oder doch? Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals beim Anblick seines hasserfüllten Blicks. Ganz langsam drehte Jean sich zu T.K. um und hob die Hände. „Bitte, ich wollte nicht...“ „Was wolltest du nicht? Sie schlagen? Ihr Angst machen? Ihr das Leben zur Hölle machen?“ Er ging noch einen weiteren Schritt auf Jean zu, der rückwärts stolperte und gegen die Wand stieß. Nun konnte er nicht mehr weiter nach hinten ausweichen und T.K. kam so dicht an ihn heran, dass die Waffe fast seine Stirn berührte. Kari sah, wie er am ganzen Körper bebte. Endlich kam sie bei ihm an und legte eine Hand auf seinen Arm. Tränen liefen ihr über die Wangen. „Bitte hör' auf. Leg' die Waffe weg“, flüsterte sie. „Geh' aus dem Weg!“, fuhr er sie an. „Das ist meine Sache!“ „T.K. Du bist nicht bei Verstand. Hör' auf damit“, schluchzte sie und verstärkte den Druck ihrer Hand auf seinem Arm. Sie suchte seinen Blick, doch er hatte ganz und gar Jean fixiert. Sie war sich nicht einmal sicher, ob er sie überhaupt sehen konnte. Seine Augen blitzten nur so vor Hass. Sie hatte Angst. Angst, dass er tatsächlich schießen würde. Das würde er sich selbst niemals verzeihen können, das wusste sie. „Leg' die Pistole weg“, murmelte Kari mit erstickter Stimme. „Leg' sie weg.“ Langsam fuhr ihre Hand seinen Arm entlang. Dabei konnte sie spüren, wie sehr er zitterte. Jeder Muskel in ihm schien sich angespannt zu haben. Sie konnte Muskelstränge auf seinen Unterarmen erkennen. „T.K., es reicht“, versuchte sie es weiter, während ihre Hand langsam weiter über seinen Arm zu seiner Hand wanderte. Die Fingerknöchel traten weiß hervor, so fest war sein Griff um die Pistole. Jean stand der Angstschweiß auf der Stirn. Sein Blick war fest auf den Lauf der Pistole vor sich gerichtet. „Leg' die Pistole weg“, wiederholte Kari leise, aber eindringlich. Vorsichtig legte sie eine Hand auf den Lauf der Pistole und die andere auf T.K.s Hand. Sie versuchte, seinen Griff zu lockern und seine Finger zu öffnen. Zuerst tat sich gar nichts und er blieb steif, doch dann, ganz langsam, öffneten sich seine Hände und er ließ die Arme sinken. Jean atmete aus und seine Anspannung fiel ein wenig von ihm ab. Im selben Moment, in dem T.K. die Pistole auf den Boden fallen ließ, stürmten plötzlich mehrere Polizisten mit Helmen und Schutzwesten die Wohnung und richteten ihrerseits Waffen auf T.K., Kari und Jean. Kapitel 63: Schuld ------------------ Yamato Ishida erschossen – der tragische Tod eines weltberühmten Rockstars Am späten Nachmittag des 14. Januars ist es in einer Wohnung in Odaiba zu einem tragischen Unglück gekommen: Yamato Ishida, Frontmann der weltweit erfolgreichen Rockband Teenage Wolves, wurde erschossen. Beim Mörder des gerade einmal 21-jährigen Mädchenschwarms handelt es sich offenbar um den Ex-Freund seiner Mutter. Ishida war auf dem Weg zum Flughafen, als er noch einmal zur Wohnung seiner Mutter und seines 18-jährigen Bruders fuhr. Anschließend wollte die Band für ihre nächste Tournee in die USA fliegen. In der Wohnung hielt sich jedoch neben Ishidas Bruder Takeru Takaishi und dessen Freundin noch der Ex-Freund seiner Mutter auf. Er war bewaffnet und hatte offenbar Takaishis Freundin als Geisel festgehalten. Ishida wollte ihr helfen und wurde zum Opfer des Mannes. Das Geschoss traf sein Herz. Er verstarb nur wenige Sekunden nach dem Schuss. Rika Makino, eine Nachbarin, rief die Polizei, als sie den Schuss hörte. „Ich habe mich total erschrocken! Ich hatte echt Angst und wusste nicht, was da vorgeht. Es tut mir so Leid für den jungen Mann“, erzählt sie. Die Motive des Täters sind unbekannt. Fans weltweit trauern um den beliebten Sänger und Gitarristen der Teenage Wolves. Er wollte einem Mädchen helfen und wurde dadurch selbst zum Opfer. Ironie des Schicksals, dass eines der beliebtesten Lieder der Teenage Wolves „Straight into my heart“ heißt. Die Beisetzung findet am Samstag statt. Den Aufstieg der Teenage Wolves können Sie auf Seite 13 verfolgen. Tränen strömten über Karis Wangen, als sie die Zeitung sinken ließ. Noch immer konnte sie nicht glauben, was passiert war. Der Moment, in dem sie Matts Tod realisierten, tauchte wieder und wieder vor ihrem geistigen Auge auf. Sie hatten geglaubt, er wäre ohnmächtig geworden durch den Schuss. Sie hatten gedacht, er hätte nur das Bewusstsein verloren und würde spätestens im Krankenhaus, wenn er in Sicherheit war, wieder aufwachen. Er lag dort auf dem Boden und sah fast ein wenig so aus, als wäre er einfach eingeschlafen. Blut hatte sein Sweatshirt rot gefärbt. Weder T.K. noch Kari waren in der Aufregung auf die Idee gekommen, seinen Puls zu fühlen oder seine Atmung zu überprüfen. Nie im Traum hätte einer von ihnen damit gerechnet, dass Matt mehr als nur bewusstlos war. Erst, als die Sanitäter erschienen und Matt kurz untersuchten, kam Kari überhaupt auf die Idee, was passiert sein könnte. Einer der Männer legte zwei Finger an Matts Hals, wartete einige Sekunden und schüttelte dann langsam den Kopf. Er stand auf und wandte sich an T.K. und Kari, die daneben standen und ihn erwartungsvoll ansahen. „Es tut mir Leid“, sagte der Mann mit ernstem Blick und Kari schlug sich eine Hand vor den Mund. „Wir können nichts mehr für ihn tun.“ „Was? Wieso? Er ist nur bewusstlos. Er muss in ein Krankenhaus, sonst verblutet er“, widersprach T.K. ungeduldig. „Es tut mir ehrlich Leid, aber es ist zu spät“, sagte der Sanitäter mit bedauerndem Blick. Es dauerte einige Sekunden, bis T.K. seine Sprache wiederfand. „Das ist nicht witzig, wissen Sie das? Bringen Sie ihn jetzt sofort ins Krankenhaus!“ „Die Kugel hat sein Herz getroffen. Er wird kaum etwas gespürt haben“, murmelte der Mann. „Wenn die Kugel sein Herz getroffen hat, dann muss die da sofort raus, oder nicht?“, fuhrt T.K. den Mann an, dessen Blick immer mitleidiger wurde. „Das bringt leider nichts“, antwortete er knapp. „Es ist zu spät. Er ist bereits hirntot.“ In Karis Augen bildeten sich Tränen. Hirntot? Tot? Matt? Ihre Hand lag noch immer auf ihrem Mund und ohne es zu realisieren, griff sie mit der anderen nach T.K.s Hand. T.K. jedoch brauchte wieder einige Sekunden, um zu antworten. „Dann... dann... beleben Sie ihn wieder! Das ist Ihr verdammter Job!“ Der Sanitäter seufzte tief und schloss für einen Moment die Augen, bevor er antwortete. „Die Kugel hat sein Herz zerstört. Dadurch kam es zu einem Kreislaufstillstand und schließlich zum Hirntod. Wir können ihm nicht mehr helfen, so Leid mir das auch tut.“ „Dann... setzen sie ihm ein neues Herz ein. Man kann doch Herzen transplantieren, oder etwa nicht? Das geht doch schon. Wo liegt das Problem?“, rief T.K. mit heiserer Stimme. Kari wusste, dass er begann, zu realisieren, dass Matt tot war. Tränen schossen ihr in die Augen und liefen heiß über ihre Wangen. Der Sanitäter biss sich auf die Unterlippe und legte T.K. eine Hand auf die Schulter. „Es tut mir aufrichtig Leid, aber er ist tot. Er hat es nicht geschafft. Wir können nichts mehr tun.“ T.K. begann zu zittern und machte sich von Kari los. „Nein. Nein, das kann nicht sein. Das ist nicht wahr. Matt!“ Er ließ sich auf die Knie neben seinen Bruder fallen, tastete dessen Handgelenk und dessen Hals nach einem Pulsschlag ab, legte die Hand unter seine Nase auf der Suche nach irgendeinem Lebenszeichen. „Matt, komm' schon! Wach' auf! Hörst du mich? Ich weiß, dass du mich hören kannst. Mach die Augen auf!“ Kari konnte den Anblick nicht ertragen. Sie schluchzte, vergrub das Gesicht in den Händen und begann zu weinen. Wenige Sekunden später stürmte Natsuko in die Wohnung. „Du hättest T.K. sehen sollen. Und Natsuko. Es... es war so schlimm“, schluchzte Kari. Yuuko legte einen Arm um ihre Schultern, zog sie an sich und küsste sie auf die Schläfe. „Ich weiß. Ich habe Natsuko noch am selben Tag gesehen“, murmelte sie, ohne Kari loszulassen. „Mama, ich glaube, ich kann nicht mit auf die Beerdigung“, wimmerte Kari und umklammerte ihre Teetasse. „Ich schaffe das nicht.“ „Du musst auch nicht, Schatz. Niemand zwingt dich. Bleib' einfach hier und ruh' dich aus“, sagte Yuuko einfühlsam. „Doch, ich muss. Das... das bin ich ihm einfach schuldig“, flüsterte Kari und neue Tränen fanden den Weg aus ihren Augenwinkeln über ihre Wangen. Yuuko seufzte tief und drückte sie ein wenig mehr an sich. „Ich habe dir doch schon gesagt, dass es nicht deine Schuld ist.“ Kari schloss die Augen. Sofort hatte sie wieder die gleichen Bilder im Kopf. T.K.s entsetztes Gesicht, während Jean ihr eine Waffe gegen die Schläfe presste. Matt, der auf einmal in der Wohnung erschienen war. Matt, der eine Kugel abbekam. Matt, der tot am Boden lag. T.K., der neben seinem toten Bruder auf die Knie fiel. Gebrochen. Sie hatte auch Tai und Mimi vor Augen. Sie war diejenige gewesen, die noch am gleichen Abend zu ihnen in die Wohnung gefahren und ihnen von Matts Tod berichtet hatte. Als Kari mit verheultem Gesicht in der Tür gestanden hatte, hatten sie zuerst geglaubt, es wäre etwas mit T.K. Doch dann hatte Kari ihnen langsam und stotternd den Grund für ihr Erscheinen erklärt. Aus Mimis Gesicht war jede Farbe gewichen. Ihre Augen hatten sich geweitet, sie hatte die Hände vor den Mund geschlagen und angefangen zu weinen. Doch am schlimmsten war Tais Reaktion gewesen. Er hatte es für einen Scherz gehalten. Zuerst hatte er ein erschrockenes Gesicht gemacht, dann war er in seltsames Gelächter ausgebrochen und hatte Kari erklärt, dass man mit so etwas nicht scherzte. Es hatte einige Minuten gedauert, bis er verstanden hatte, dass sie die Wahrheit sagte. Doch realisiert hatte er es zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Und Kari war sich nicht sicher, ob er es bis jetzt realisiert hatte. Wäre sie nicht gewesen, würde Matt noch leben. Kapitel 64: Zwölf minus eins ---------------------------- Es war am Abend vor der Beerdigung, als Kari bei Tai und Mimi klingelte. Sie war zu ihnen gekommen, um ihnen dabei zu helfen, ein paar Snacks für den morgigen Tag vorzubereiten. Die ehemalige Gruppe hatte vereinbart, sich nach der Beerdigung bei Tai und Mimi zu versammeln und gemeinsam Matt zu gedenken. Es war Mimi, die ihr die Tür öffnete. Sie sah müde aus, ansonsten aber ganz normal. „Hey“, sagte sie leicht lächelnd und umarmte Kari. „Ich bin froh, dass du da bist.“ Kari folgte ihr in die Wohnküche, wo Tai gerade mit Kaito auf dem Arm am Fenster stand und hinausstarrte. Sie ging zu ihrem Bruder, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wange, woraufhin er zusammenzuckte, als hätte er sie jetzt erst bemerkt. „Hi“, murmelte er, ohne eine Gefühlsregung zu zeigen. Kaitos winziger Kopf lag an seiner Schulter, Tais im Gegensatz dazu riesige Hand schützend auf seinen Hinterkopf gelegt. Seine großen dunklen Augen fixierten Kari, die ihm über den Haarflaum streichelte. „Wie geht’s dir?“, fragte sie an Tai gewandt. Ohne den Blick vom Fenster abzuwenden, schüttelte er den Kopf. Unsicher sah Kari zu Mimi, die ihren Blick vielsagend erwiderte. Gemeinsam gingen die beiden Mädchen in die Küche, während Tai scheinbar völlig in Trance am Fenster stehen blieb. „Es ist schrecklich, oder?“, sagte Mimi mit einem besorgten Blick auf Tai. „Ich komme momentan überhaupt nicht an ihn ran. Manchmal weiß ich nicht, ob er mich überhaupt hört.“ „Er sieht furchtbar aus“, stimmte Kari ihr nicht weniger besorgt zu. Immerhin ging es hier um ihren Bruder, der nicht mehr er selbst war. Und sie fühlte sich schuldig. „Aber er verbringt ganz viel Zeit mit Kaito. Eigentlich habe ich ihn gerade nur zum Stillen. Ansonsten hat Tai ihn auf dem Arm, geht mit ihm spazieren oder beobachtet ihn beim Schlafen. Er übernimmt auch das Wickeln und Baden komplett allein. Ich glaube, das hilft ihm“, erzählte Mimi. „Und wie geht’s dir damit?“, fragte Kari und musterte nun Mimi. Auf ihren Schultern ruhte derzeit eine große Last. Ihr Mann hatte seinen besten Freund verloren, sie hatte ein kleines Baby, um das sie sich kümmern musste, einen Haushalt, den sie schmeißen musste und außerdem bereitete sie sich ganz nebenbei wieder auf die Uni vor. Ab April wollte sie ihr Studium wieder aufnehmen, nachdem sie nun ein Semester ausgesetzt hatte. „Es ist schon okay“, antwortete sie schulterzuckend. „Ich hätte manchmal auch gern ein bisschen mehr Zeit mit Kaito, aber ich weiß, dass Tai das gerade mehr braucht.“ Kari nahm ihre Hand und drückte sie. „Wenn du mal jemanden zum Reden brauchst, kannst du mich jederzeit anrufen.“ „Danke“, antwortete sie lächelnd. „Und wie geht es T.K.?“ Betroffen presste Kari die Lippen aufeinander und senkte den Blick. „Keine Ahnung. Ich habe ihn noch nicht wieder gesehen und auf meine SMS antwortet er kaum.“ „Ohje“, seufzte Mimi und tätschelte Kari die Schulter. „Glaubst du, ich sollte versuchen, ihn irgendwie aufzuheitern? Einfach bei ihm vorbeischauen oder sowas?“ Mimi machte ein nachdenkliches Gesicht und schwieg einige Sekunden, bevor sie antwortete. „Nein, das glaube ich nicht. Vielleicht braucht er einfach ein bisschen Zeit allein. Bestimmt kommt er zu dir, wenn er Hilfe möchte.“ Zögerlich nickte Kari. Sie wusste, dass T.K. niemand war, der gern über seine Gefühle und Probleme sprach, das musste sie respektieren, auch wenn sie der Meinung war, er sollte darüber reden. Zwingen wollte sie ihn jedoch nicht. „Sollten wir nicht langsam mal mit den Snacks anfangen? Sonst sitzen wir bis heute Nacht.“ Erneut seufzte Mimi. „Du hast Recht. Ich glaube zwar nicht, dass irgendjemand von uns morgen Hunger haben wird, aber man weiß ja nie.“ „Es wird sicher schlimm morgen.“ „Das denke ich auch. Ich habe richtig Angst, hinzugehen“, murmelte Mimi und rieb sich die Oberarme, als würde sie frieren. „Ich auch“, gestand Kari nickend. „Was macht ihr mit Kaito?“ „Meine Eltern nehmen ihn bis morgen Nachmittag.“ In diesem Moment schien Tai endlich aus seiner Starre zu erwachen. Wortlos kam er zu den Mädchen herüber und reichte den kleinen Kaito an Mimi weiter. „Alles okay?“, fragte Mimi, als sie Kaito sicher im Arm hielt. „Muss nur mal kurz raus“, erwiderte er dumpf und schon wenige Sekunden später fiel die Wohnungstür ins Schloss. Sprachlos hatten Mimi und Kari ihm hinterhergesehen und tauschten nun einen betretenen Blick.   Die Beerdigung war das wohl schrecklichste Ereignis, dem Kari bisher beigewohnt hatte. Noch nie in ihrem Leben hatte sie so viele weinende Menschen auf einmal gesehen. Am schlimmsten war es jedoch, ihre Freunde zu sehen. T.K. hatte sich während der Beerdigung nicht in ihrer Nähe aufgehalten. Er war bei seiner Familie geblieben. Kari hatte bei Tai, Mimi und den anderen gestanden. Sie hatte Tai nicht ein einziges Mal ansehen können. Aus den Augenwinkeln hatte sie mitbekommen, wie er sich immer wieder über die Augen gewischt hatte. Wann hatte er bloß zum letzten Mal geweint? Das musste Ewigkeiten her sein. Auch Sora war, nachdem man sie über Matts Tod in Kenntnis gesetzt hatte, aus Italien angereist, um die Beerdigung zu besuchen. Sie war ein Wrack. Mitten in der Rede des Bestatters, der von Matts ereignisreichem und viel zu kurzem Leben erzählte, war sie plötzlich zusammengebrochen und musste weggetragen werden. Nun, da die Beerdigung vorbei war, saßen sie alle bei Tai und Mimi in der Wohnung. Nur sie, ohne Familie und ohne Partner. Und ohne Matt. Der Tisch war hübsch gedeckt und es sah fast so aus, als würde hier eine Geburtstagsparty gefeiert werden. Snacks und Getränke waren auf dem Tisch verteilt, Servietten und Kerzen, Teller, Gläser und Besteck. Doch wie Mimi schon am Tag zuvor vorausgesehen hatte, rührte niemand das Essen an. Kari saß zwischen T.K. und Davis. Davis drückte gelegentlich beruhigend ihre Hand. Sie und T.K. waren den Rest der Woche nicht in der Schule erschienen, sondern wurden gezwungen, mit Seelsorgern zu reden und ihre Erlebnisse zu verarbeiten. Kari wollte jedoch nicht darüber reden. Es war alles zu viel für sie. Sie wollte sich am liebsten in ihrem Bett unter ihrer Decke verkriechen und nie wieder herauskommen. Heute befand sie sich das erste Mal seit jenem schrecklichen Tag wieder mit T.K. in einem Raum. Sein Blick war starr und man konnte sehen, dass er nicht geweint hatte. Kari wusste nicht, ob er überhaupt realisiert hatte, dass sein Bruder nicht mehr da war. Alle anderen hingegen hatten rot geweinte Augen, schnäuzten sich hin und wieder und schluchzten leise vor sich hin. Noch nie hatten sie ein solches Treffen abgehalten und würden es hoffentlich so bald auch nicht wieder tun. „Warum ist das Leben so ein Arschloch?“, durchbrach Izzy schließlich die Stille und riss damit alle aus ihren Gedanken. Köpfe hoben sich und Blicke wandten sich ihm zu. „Ich meine, warum erwischt es immer zuerst diejenigen, die es am wenigsten verdient haben?“ „Weil irgendwelche anderen Arschlöcher es so wollen“, entgegnete Davis mit finsterer Miene. „Der Typ hatte 'ne verdammte Waffe! Und er wollte Kari töten!“ „Wollte er nicht“, murmelte Kari und nun wandten sich alle an sie. „Ich glaube, er wollte T.K. nur Angst machen. Ich glaube nicht, dass er tatsächlich vorhatte, auf jemanden zu schießen. Dafür war er zu erschrocken, als er...“ Sie konnte den Satz nicht beenden, doch die anderen verstanden sie auch so. „Aber das macht die Sache doch nicht besser“, schluchze Yolei vom anderen Ende des Tisches. „Er hätte nie mit einer Pistole bei euch aufkreuzen dürfen. Und er hätte erst recht nie schießen dürfen. Matt war doch vollkommen unbewaffnet, habt ihr erzählt.“ Kari nickte nur langsam. „Ich hoffe, er bekommt eine gerechte Strafe“, murmelte Cody. „Ich hoffe, er kommt nie wieder aus dem Gefängnis heraus“, rief Yolei und tupfte sich die Augen mit einem Taschentuch ab. „Leute, hey“, mischte sich Joe ein. „Wir sind doch hier, um über Matt zu reden, oder nicht? Lasst uns doch nicht über diesen... Menschen nachdenken.“ Daraufhin schwiegen wieder alle, doch Kari vermutete, dass ihm im Stillen jeder Recht gab. Jean war es nicht wert, dass sie auch nur einen Gedanken an ihn verschwendeten. „Wie wäre es“, begann Mimi, die unaufhörlich Soras Rücken streichelte, „wenn jetzt mal jeder sagt, was er an Matt mag?“ Sie machte eine kurze Pause. „Gemocht hat.“ „Er hat immer versucht, anderen zu helfen“, antwortete Cody sofort. „Ich erinnere mich noch an damals, als wir uns kennen gelernt haben. Ich hatte ein paar Probleme mit T.K. und er hat sich die Zeit genommen, mir zu helfen, ihn besser zu verstehen.“ „Und er hat immer ehrlich seine Meinung gesagt“, fügte Davis hinzu. „Ich weiß noch, wie T.K. und ich in der Grundschule andauernd aneinandergeraten sind. Er hat uns immer auf den Teppich geholt und uns klargemacht, wie dumm das war.“ „Er war einfach megacool“, schniefte Yolei. Alle sahen sie verwundert an. „Was denn? Ich fand ihn einfach cool mit seiner Band und seiner Musik und wie er auf der Bühne stand. Das war toll.“ „Ja, er hat sich nie von anderen reinreden lassen“, mischte sich nun auch Joe in die Erinnerungen ein. „Er hat immer sein eigenes Ding durchgezogen, ganz egal, was andere dazu gesagt haben. Das habe ich schon immer an ihm bewundert.“ „Und er hatte so viel Talent“, sagte Izzy leise. „Das klingt komisch, aber jemand, der künstlerisch so wenig begabt ist wie ich, kann das nur bewundern. Ich meine, er konnte drei Instrumente spielen, singen und Lieder schreiben.“ „Ich weiß noch, wie er schon in der Schule immer alle Mädchen um den Finger gewickelt hat. Er hätte jede haben können“, warf Mimi ein und stützte den Kopf auf der freien Hand ab. „Allein schon sein Äußeres hat sie alle verrückt gemacht.“ „Er hat sich immer um Kontakt bemüht“ sagte Ken nun, der bisher geschwiegen hatte. „Ich hatte nie viel mit ihm zu tun, aber trotzdem hat er mir hin und wieder eine Mail geschrieben und mich gefragt, wie es mir so geht und was ich so mache. Er hat den Kontakt immer gehalten, obwohl er so viel um die Ohren hatte.“ „Ja, Freundschaften haben ihm schon immer alles bedeutet“, sagte Tai mit heiserer Stimme. Er war kaum zu verstehen. Sein Blick war starr, seine Augen verquollen. „Manchmal habe ich Ewigkeiten nichts von ihm gehört und dachte, wir hätten uns einfach verändert und die Freundschaft wäre nicht mehr so, wie sie mal war. Aber jedes Mal kam er plötzlich wieder zurück und es war, als hätten wir uns erst gestern das letzte Mal gesehen. Ich glaube, er ist der einzige Mensch, der... der wirklich alles über mich weiß.“ Er senkte den Blick, seine Haare verdeckten seine Augen und Kari sah, wie er sich auf die Unterlippe biss. Er kämpfte mit den Tränen. „Er war...“, begann Sora mit weinerlicher Stimme. „Er war einfach... ich... ich habe überlegt, Fabio zu verlassen. Seinetwegen.“ Auch sie senkte den Blick und begann wieder zu schluchzen. Mimi schlang die Arme um sie, während alle anderen ein wenig verwirrt dreinsahen. Kari erinnerte sich wieder an das Gespräch zwischen Matt und Sora, das sie an Weihnachten belauscht hatte. Zuvor hatte sie gedacht, dass der One-Night-Stand zwischen den beiden tatsächlich von Soras Seite aus nur ein dummer Ausrutscher gewesen war. Doch ganz offensichtlich hatte sie noch Gefühle für Matt gehegt, irgendwo tief versteckt in einem dunklen Winkel ihres Herzens. Vermutlich hatten sie die ganze Zeit dort geschlummert und nur darauf gewartet, wieder zu erwachen. Vielleicht hatten Matt und Sora ja zu diesen Pärchen gehört, die füreinander bestimmt waren, die nur mit dem jeweils anderen tatsächlich für immer glücklich werden konnten. Diese Tatsache musste Matts Tod für Sora unerträglich machen. Falls es stimmte, wie sollte sie jemals über seinen Tod hinwegkommen? Obwohl wahrscheinlich bis auf Kari, Mimi und Tai niemand wirklich verstand, was Sora da gesagt hatte, fragte keiner nach. Stattdessen richteten sich die Blicke aller nun unauffällig auf T.K., der bisher geschwiegen hatte und nicht den Eindruck machte, als wäre er geistig anwesend. Kari griff vorsichtig nach seiner Hand, doch er erwiderte ihren Händedruck nicht. „Ich...“, fing er an, als er bemerkte, dass alle ihn erwartungsvoll ansahen. Für ein paar Sekunden zögerte er und die Spannung im Raum schien sich zu erhöhen, doch dann stand er auf. „Entschuldigt mich. Ich gehe jetzt besser.“ Niemand lief ihm hinterher oder versuchte, ihn aufzuhalten, als er aus der Wohnung ging. Nicht einmal Kari, die hilflos auf ihrem Stuhl saß und ihm hinterhersah. Kapitel 65: Ein sechster Brief ------------------------------ Kari hatte geglaubt, es würde ihr helfen, wieder in die Schule zu gehen. Sie hatte gedacht, dort wäre sie abgelenkt und Matts Tod würde sich nicht wieder und wieder vor ihrem geistigen Auge abspielen. Allerdings stellte sich die erste Woche seit dem Geschehen als der reinste Horror heraus. Natürlich hatte jeder mitbekommen, dass der berühmte Yamato Ishida erschossen worden war. Es stand in allen Zeitungen, Fernseh- und Radiosender berichteten darüber und selbst, wenn man keines dieser Medien nutzte, konnte man sich darauf verlassen, dass einen die Nachbarin oder der Kumpel darauf ansprechen würden. Hast du schon gehört? Der Typ von den Teenage Wolves ist tot. Im gleichen Atemzug wurde dann auch erwähnt, dass die Band schon einen Tag nach Matts Tod ihre Auflösung bekannt gegeben hatte. Da die ganze Schule mittlerweile wusste, dass T.K. Matts Bruder war, begegneten ihm alle mit mitleidigen Blicken, tuschelten hinter seinem Rücken und mieden es, mit ihm zu reden. Kari glaubte nicht, dass es sich dabei um eine böse Absicht handelte, sondern vermutete, dass lediglich niemand etwas Falsches zu ihm sagen wollte, doch trotzdem hätte sie gern alle, die T.K. schräg ansahen und über ihn tuschelten, angeschrien. T.K. selbst hingegen tat, als würde er das alles nicht bemerken. Er verhielt sich, als wäre alles in bester Ordnung, arbeitete normal im Unterricht mit, verbrachte die Pausen wie immer und ging zum Basketballtraining. Wenn man ihn nur oberflächlich kannte, könnte man meinen, er steckte den Tod seines Bruders außergewöhnlich locker weg. Doch Kari konnte er nichts vormachen. Ihr war nicht entgangen, dass seine Augen ein kleines bisschen an Glanz verloren hatten, dass sein Teint fahler geworden war, dass sein Lächeln wie eine Maske wirkte. Selbst die Grübchen waren kaum noch zu erkennen. Und außerdem distanzierte er sich von ihr. Er hatte sie seit Matts Tod nicht mehr geküsst, nicht mehr berührt, ja kaum angesehen. Immer, wenn sie versuchte, sich ihm anzunähern – und sei es nur, um mit ihm über das Erlebte zu reden – zog er sich zurück, begann mit einem neuen Gesprächsthema und baute eine unsichtbare Barriere um sich herum auf. Kari konnte es ihm kaum verübeln. Sie wollte sich nicht einmal im Traum vorstellen, wie es sein mochte, Tai zu verlieren. Wie es sein mochte, dabei zuzusehen, wie der eigene Bruder erschossen wurde, ohne etwas tun zu können. Sie wollte und konnte sich den Schmerz, den er empfinden musste, nicht im Geringsten vorstellen. Und doch verstand sie nicht, warum sie die Einzige war, die er so behandelte. Es tat weh, von ihm zurückgewiesen zu werden und es tat noch mehr weh, ihn leiden zu sehen, ohne ihm helfen zu können. Wie gern würde sie mit ihm reden, die Schulter sein, an der er sich ausweinen konnte? Aber wahrscheinlich weinte sich ein Takeru Takaishi nicht aus. Es machte den Anschein, als bräuchte er nur ein wenig Zeit mit sich selbst, um über dieses schreckliche Ereignis hinwegzukommen. Das Gleiche hatte Mimi schon gesagt und auch Nana vertrat diese Meinung. „Lass ihn einfach. Mit sowas geht eben jeder anders um und er will anscheinend nicht reden, sondern das mit sich selbst ausmachen. Er wird zu dir kommen, wenn er bereit ist. Glaub' mir.“ Doch Nana kannte den Hintergrund nicht. Sie wusste nicht, dass es sich bei Matts Mörder um einen Mann handelte, der über Monate hinweg ihn und seine Mutter tyrannisiert hatte. Und sie wusste auch nicht, dass T.K. jahrelang jeden Kontakt zu Matt vermieden hatte, weil dieser nicht für ihn da gewesen war, als er ihn so dringend gebraucht hatte.   Ende Januar hatte Kari Geburtstag. Es war ein kalter, grauer Tag und für den Nachmittag hatte der Wetterbericht leichten Schneefall gemeldet. Kari kam es falsch vor, auch nur einen Gedanken an ihren Geburtstag zu verschwenden, doch als sie am Morgen zum Frühstück aus ihrem Zimmer kam, erwarteten ihre Eltern sie bereits. „Alles Gute zum Geburtstag“, sagten sie im Chor, lächelten und umarmten Kari herzlich. „Danke“, murmelte sie und rang sich ebenfalls ein Lächeln ab. „Na los. Geh schon deine Geschenke ansehen“, forderte Susumu und deutete auf den Esstisch. Kari ging in die Küche und fand den Esstisch für drei Leute gedeckt vor. Es kam sehr selten vor, dass sie gemeinsam frühstückten, da ihr Vater normalerweise um diese Uhrzeit schon bei der Arbeit war. Doch heute hatte er offenbar eine Ausnahme gemacht. Neben dem Besteck und dem Geschirr befanden sich auf dem Tisch noch eine Glückwunschkarte und eine bunte Geschenktüte. Das Licht einer Kerze tauchte die Küche in einen warmen Schein. Kari las die Karte und packte die Geschenktüte aus. Darin befanden sich ein IKEA-Gutschein, ein neues Paar Tanzschuhe, Schokolade und ein Fotoalbum. Mit fragendem Blick holte Kari das Album heraus und schlug es auf. Auf der ersten Seite befand sich ein Foto von ihr selbst im Alter von wahrscheinlich wenigen Stunden. „Es wird ja erst mal dein letzter Geburtstag zu Hause sein und da haben wir uns gedacht, wir schenken dir was Besonderes, damit du uns nicht so schnell vergisst“, erklärte Yuuko. „Es war gar nicht so leicht, die ganzen Fotos zusammenzusuchen“, fügte Susumu hinzu. Kari blätterte schnell durch das Fotoalbum und sah, dass es Fotos von ihr, ihrer Familie und ihren Freunden enthielt zu allen möglichen Zeitpunkten ihres Lebens. „Das ist toll“, sagte Kari gerührt. „Danke.“   In der Schule warteten Ken und Nana schon im Foyer auf Kari, um ihr um den Hals zu fallen und ihr zu gratulieren. Sie hatten ihr sogar ein Geschenk mitgebracht. Ein Buch über die Geschichte New Yorks und ihre Lieblingsschokolade. Gemeinsam gingen sie in den Klassenraum, wo sie auf einen müden Davis trafen, der jedoch sofort aufsprang und Kari in eine Umarmung zog, als sie den Raum betraten. Kari plauderte mit Nana darüber, wie sie den Morgen verbracht hatte, bis T.K. kurz vor Stundenbeginn in den Raum kam. Er lief zu seinem Platz neben Kari und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. „Alles Gute“, murmelte er, setzte sich hin und packte seine Sachen aus. Kari musterte ihn von der Seite. Der Kuss auf die Wange war die erste zärtliche Geste von ihm seit einer gefühlten Ewigkeit gewesen. Naja, seit zwei Wochen, um genau zu sein. „Danke“, erwiderte Kari nach einer Weile. „Möchtest du heute nach der Schule mit zu mir kommen?“ Sie rechnete mit einer Absage, da sie nach seinem Verhalten in den letzten Tagen nicht glaubte, dass er wegen ihres Geburtstages eine Ausnahme machen und aus seiner dunklen Höhle hervorkommen würde. Er hatte seine Wohnung nur für die Schule verlassen. „Klar“, antwortete er schulterzuckend, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt.   Der Tag zog sich schleppend hin. Zu sehr fieberte Kari dem Nachmittag und der Gelegenheit entgegen, endlich einmal wieder mehr Zeit mit T.K. zu verbringen. Nach der Schule liefen sie, größtenteils schweigend, gemeinsam nach Hause. Kari schloss die Wohnungstür auf und Yuuko kam ihr schon entgegen. „Du kommst wie gerufen. Ich bin gerade mit dem Kuchen fertig geworden. Oh, hallo T.K. Schön dich zu sehen.“ T.K.s Erscheinen hatte sie sichtlich irritiert. Sie strich sich eine lose Haarsträhne hinter das Ohr und schenkte ihm ein freundliches Lächeln. Kari wusste, dass sie in den letzten Tagen sehr viel Zeit zusammen mit Natsuko verbracht hatte. Natsuko war am Boden. Matts Tod hatte sie völlig aus der Bahn geworfen. Sie war noch nicht wieder zur Arbeit zurückgekehrt, doch von Yuuko wusste Kari, dass sie nahezu keine freie Minute zu Hause verbrachte. Kari konnte sich nicht vorstellen, wie es sein musste, den eigenen Sohn zu beerdigen. Zu dritt aßen sie frisch gebackenen Apfel-Zimt-Kuchen, der zu Karis Überraschung trotz einiger verbrannter Stellen durchaus angenehm schmeckte, und tranken heiße Schokolade. Sie plauderten oberflächlich mit Yuuko über ihren Schultag und was im Unterricht passiert war, bevor sie sich zu zweit in Karis Zimmer verzogen. T.K. nahm auf ihrem Schreibtischstuhl Platz, Kari ließ sich auf ihr Bett fallen. Vorsichtig musterte sie ihn, wie er auf dem Stuhl saß und ins Leere starrte. Er drehte sich leicht hin und her und seine Finger spielten mit einem Stift, der auf dem Schreibtisch herumgelegen hatte. Kari räusperte sich, nicht sicher, wie sie ein Gespräch beginnen sollte. Es fühlte sich fast so an, als würden sie sich noch nicht richtig kennen. Genau genommen kannte sie den T.K., der gerade vor ihr saß, auch noch nicht. „Danke, dass du hergekommen bist“, sagte sie und lächelte leicht. „Nichts zu danken. Ist doch dein Geburtstag. Und ich hab' sogar ein Geschenk, fällt mir gerade ein.“ Er griff nach seiner Schultasche, die er neben dem Stuhl hatte fallen lassen, und begann, darin herumzuwühlen. „Naja, ich dachte nur, wegen Matt und so...“ stammelte Kari und zuckte hilflos mit den Schultern. T.K. hielt inne, sah sie jedoch nicht an. Sein Blick war scheinbar auf das Innere des Rucksacks gerichtet. „Also, ich meine, seitdem bist du schon ziemlich... anders. Das kann ich natürlich verstehen. Das soll auch gar kein Vorwurf sein. Überhaupt nicht! Ich meine, es ist echt furchtbar und... ja.“ Sie presste die Lippen zusammen und suchte seinen Blick, doch sein Kopf war noch immer gesenkt. „Ich... vielleicht sollten wir... also, du weißt, dass ich immer da bin, wenn du jemanden zum... zum Reden brauchst“, nuschelte sie. Er hob den Blick endlich wieder und lächelte. Ein Lächeln, das seine Augen nicht erreichte. „Klar, weiß ich. Danke.“ Zögerlich stand sie auf und ging auf ihn zu. Er sah sie fragend an, ließ jedoch seinen Rucksack langsam wieder zu Boden sinken. Bei ihm angekommen setzte sie sich rittlings auf seinen Schoß und verschränkte die Hände in seinem Nacken. „Du hast mir gefehlt in den letzten zwei Wochen“, murmelte sie, bevor sie die Augen schloss und ihre Lippen auf seine legte. Das Gefühl war so unbeschreiblich gut, dass sie sich am besten nie wieder von ihm lösen wollte. Zögerlich erwiderte er ihren Kuss und legte seine Hände auf ihre Hüften. Darauf hatte Kari gewartet. Irgendein Zeichen, dass er sie noch wollte, noch begehrte, noch liebte, trotz allem, was passiert war. Sie rutschte so weit sie konnte nach vorn und drängte sich an ihn, verfestigte den Griff in seinem Nacken. Sie wollte den Kuss intensivieren, doch in diesem Moment löste er sich von ihr und schob sie sanft von sich. Enttäuscht öffnete Kari die Augen und seufzte leise. „Entschuldige, ich wollte nicht...“ „Nein, du musst dich nicht entschuldigen. Ich bin nur irgendwie ein bisschen... naja.“ Er rieb sich die Augen, als wäre er müde. „Wärst du lieber allein?“, fragte Kari zögerlich. Sie wollte ihn nicht gehen lassen. Er schien einen Augenblick nachzudenken. „Ich weiß nicht. Nein... eigentlich nicht. Ich brauche nur ein bisschen Zeit. Oder so.“ Kari rutschte auf seinem Schoß ein wenig zurück und ließ die Hände sinken, die noch in seinem Nacken verschränkt gewesen waren. Sie senkte den Blick. „Du gibst mir die Schuld, oder?“ Ein paar Sekunden lang sagte T.K. gar nichts und Kari dachte schon, er wäre nur zu höflich, um ihre Frage zu bejahen. Doch dann legte er den Kopf schief und zog verständnislos die Augenbrauen zusammen. „Was? Wie kommst du darauf?“ „Naja, du verhältst dich so komisch. Du fasst mich nicht mehr an, redest kaum noch mit mir und gehst mir mehr oder weniger aus dem Weg“, erklärte sie ihre Vermutung und hob den Blick wieder, um in sein Gesicht sehen zu können. „Kari, du denkst doch nicht selbst, dass du schuld daran bist, oder?“ Seine blauen Augen hatten sie fixiert und starrten sie durchdringend an, sodass sie seinem Blick ausweichen musste. Sie konnte ihn nicht länger ansehen, nicht in dieser Situation. „Er hat mich festgehalten und wollte mich... also er hat mich mit einer Pistole bedroht. Und Matt kam, um mir zu helfen. Wäre ich nicht...“ „Nein“, unterbrach er sie forsch und packte sie an den Oberarmen. „Wag' es ja nicht, diesen Satz zu Ende zu sprechen.“ „Aber ohne mich würde er vielleicht noch...“ Tränen stiegen ihr in die Augen und sie wandte das Gesicht ab. „Oh Gott, ich wusste nicht, dass du so denkst“, murmelte T.K. „Kari, das ist nicht wahr. Ich mache dich nicht dafür verantwortlich. Wie könnte ich?“ „Es ist nur... er wollte mir nur helfen und...“ Sie vergrub das Gesicht in den Händen, da sie die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte. Zu sehr brach jener Tag wie eine Welle erneut über sie herein und drohte, sie zu verschlingen. Es war, als würde sie wieder den Lauf der Pistole an ihrer Schläfe spüren, Matt sehen, der auf sie zu lief, und den Schuss hören. T.K. schlang die Arme um sie und zog sie wieder dicht an sich. Sie lehnte ihr Gesicht, das sie noch immer mit den Händen bedeckte, gegen seine Halsbeuge und schluchzte. Sie wusste nicht, wie lang sie so dagesessen hatten, sie noch immer rittlings auf seinem Schoß, in seinen Armen weinend. Es hatte eine gefühlte Ewigkeit gedauert, bis sie sich wieder beruhigt hatte, doch T.K. hatte nichts gesagt. Er hatte nur seinen Kopf gegen ihren gelehnt, ihr über den Rücken gestreichelt und gewartet. Doch irgendwann kamen keine neuen, heißen Tränen mehr, das Beben ihres Körpers ließ nach und ihr Atem wurde ruhiger. Schließlich löste sie sich von ihm und strich sich Haarsträhnen aus dem Gesicht, die auf ihren nassen Wangen geklebt hatten. „Entschuldige“, murmelte sie mit belegter Stimme. „Ich habe kein Recht, mich bei dir auszuheulen. Es sollte eher andersrum sein.“ Er sah sie schief an und hob eine Augenbraue. „Kari, du wurdest mit einer Waffe bedroht. Du hast jeden Grund, dich auszuheulen.“ „Aber nicht bei dir. Ich meine...“ „Natürlich bei mir. Dafür ist man doch in einer Beziehung, oder nicht?“ „Aber dir geht es doch viel schlechter als mir. Du hättest viel eher einen Grund zum Heulen als ich.“ Er seufzte und zog sie wieder ein wenig dichter an sich. „Mit mir ist alles in Ordnung, okay? Ich brauch' einfach nur ein bisschen Zeit.“ Kari sah ihn an. Ihr lagen so unendlich viele Fragen auf der Zunge. Wie konnte es ihm gut gehen? Es war sein Bruder, der da gestorben war. Sein Bruder, zu dem er jahrelang keinen Kontakt gehabt hatte. Sein Bruder, mit dem er sich bis zuletzt nicht wirklich versöhnt hatte. Sein Bruder, dessen Tod er sogar mit ansehen musste, weil seine Freundin die Jungfrau in Nöten hatte spielen müssen. Wie um alles in der Welt konnte er nur mit alldem völlig allein klarkommen? Konnte Kari denn überhaupt nichts tun, um ihm zu helfen? Wie würde es jetzt weitergehen? Anstatt jedoch auch nur eine dieser Fragen zu stellen, nickte sie stumm. „Möchtest du jetzt vielleicht dein Geschenk haben?“, fragte er dann. Erst jetzt erinnerte Kari sich daran, dass er ja vorhin etwas von einem Geschenk erzählt hatte, das in seinem Rucksack wartete. Sie nickte erneut und er griff wieder nach seinem Rucksack. Seine Hand kramte darin herum und fischte schließlich einen violetten Briefumschlag heraus. „Alles Gute zum Geburtstag“, sagte er und reichte den Umschlag an sie weiter. Kari lächelte und öffnete den Umschlag. Zuerst holte sie einen Brief heraus. Noch immer auf T.K.s Schoß sitzend faltete sie den Brief auseinander und begann zu lesen.   Liebe Kari,   da ich dir in den letzten fünf Jahren zu jedem Geburtstag einen Brief geschrieben habe, dachte ich mir, du bekommst auch diesmal einen. Vielleicht freust du dich ja. Ich wünsche dir alles Gute zu deinem achtzehnten Geburtstag! Ab jetzt bist du volljährig, bald schließen wir die Schule ab und danach fängt das Leben erst richtig an. Bisher war es nur Vorgeplänkel und die Schule hat versucht, uns auf das echte Leben da draußen vorzubereiten. Auf manche Dinge kann man sich allerdings gar nicht vorbereiten und das ist vielleicht auch besser so. Diesmal habe ich gar nichts aus meinem Leben zu erzählen, weil ich hier nichts schreiben kann, was ich dir nicht auch so sagen könnte. Noch vor einem Jahr hätte ich mir nie im Leben vorstellen können, wie mein Leben heute aussieht. Ich hätte nie gedacht, dass du mich so umhaust und mein ganzes Leben auf den Kopf stellst. Ich dachte, es würde schwierig werden, wieder mit dir in Kontakt zu treten, wenn ich erst einmal zurück bin, und das war es auch. Ich dachte, wir würden maximal wieder so etwas wie Freunde werden. Naja, zumindest habe ich das gehofft. Das, was wir jetzt haben, ist natürlich mindestens tausend Mal besser, als „so etwas wie Freunde“ zu sein. Ich will mal Journalist werden, Bücher schreiben, Berichte verfassen, eine Kolumne veröffentlichen und bilde mir ein, dass ich auch gar nicht so schlecht im Schreiben bin. Und trotzdem kann ich einfach nicht in Worte fassen, was ich für dich empfinde. Vielleicht gibt es dafür auch gar keine Worte. Vielleicht braucht es auch einfach keine Worte. Ich bin mir sicher, du verstehst mich auch so.   In Liebe Takeru   Und wieder schwammen Karis Augen in Tränen, als sie den Brief sinken ließ und T.K. ansah. „Das ist so süß“, murmelte sie mit erstickter Stimme. „Nun schau' dir schon dein eigentliches Geschenk an“, forderte er sie auf und deutete auf den Briefumschlag. Kari holte eine kleine Karte hervor. Darauf stand in geschwungenen Buchstaben „le joyeux citron“ geschrieben. Eindeutig französisch. Verwirrt öffnete Kari die Karte. Der Text darin war auf Französisch, doch sie konnte eine Adresse lesen. 43 Avenue des Champs-Élysées, 75008 Paris. „Was ist das?“, fragte Kari verwirrt. „Le jo-....“ Sie hatte keine Ahnung, wie sie den Namen aussprechen musste. „Le joyeux citron“, sagte T.K. „Das ist ein Restaurant.“ „Oh, okay. Aber hier steht Paris“, wandte Kari ein und deutete auf die Adresse in der Karte. „Ja.“ Sie hob den Blick und musterte ihn irritiert. Sie hatte keine Ahnung, was diese Karte ihr sagen wollte. Restaurant in Paris? „Naja, es ist ein Restaurantgutschein. Ich lade dich zum Essen ein. In Paris.“ Einen Moment lang starrte Kari ihn nur an. Ihre Augen wurden immer größer, ihr Mund klappte auf und sie wusste nicht, ob sie sich vielleicht verhört hatte. Dann fiel ihr die einzig vernünftige Erklärung für sein Gerede ein. „Das ist ein Scherz.“ Sie sahen sich an, er verzog keine Miene. „T.K., komm' schon. Sag' mir, dass das ein Scherz ist.“ Seine blauen Augen fixierten sie, sein Blick durchbohrte sie wieder einmal, sodass sie sich geröntgt fühlte. Wie machte er das nur immer? „Kein Scherz“, sagte er schließlich. Wieder starrte Kari ihn nur an und konnte einige Sekunden lang nichts erwidern. Er hatte sie zum Essen in Paris eingeladen. Und er meinte es ernst. Aber das bedeutete ja... „A-aber... wie...“, stotterte sie verständnislos. „Wir fliegen nach Paris. Du und ich. Im Sommer.“ Mit offenem Mund starrte sie ihn an und noch immer machte er keine Anstalten, ihr zu eröffnen, dass es sich um einen Scherz handelte und sie in Wahrheit irgendwo in Tokio essen gehen würden. Langsam schüttelte sie den Kopf. „Naja, ich dachte, es wäre vielleicht ganz nett, in den Urlaub zu fliegen, bevor wir uns dann... eine Weile nicht sehen“, meinte er schulterzuckend. „Wir schlafen bei meinen Großeltern. Alles schon abgeklärt. Sie freuen sich auf unseren Besuch.“ Er meinte es tatsächlich ernst. Sie würden zu zweit Urlaub in Paris machen. Nur sie beide. „Oh mein Gott“, hauchte Kari. Sie rutschte wieder so dicht an ihn heran, wie sie konnte und schlang die Arme um seinen Hals. „Oh Gott.“ Kapitel 66: Gute und schlechte Überraschungen --------------------------------------------- Mitte Februar wurden die Tage langsam aber sicher endlich wieder länger und ein klein wenig wärmer. Die Temperaturen blieben konstant über dem Gefrierpunkt und alle Welt bereitete sich optimistisch auf den kommenden Frühling vor. Dazu trug nicht zuletzt der Valentinstag bei. Jedes Kaufhaus war seit zwei Wochen mit Herzen in allen erdenklichen Größen und Varianten geschmückt. Sie schwebten als Luftballons unter der Decke, flogen als Konfetti durch die Gegend oder erschienen als Kuchen auf den Tellern verliebter Paare. Mädchen liefen starrend und kichernd an den Jungen vorbei, für die ihre Herzen schlugen. Und heute würden sie ihnen endlich ihre selbstgemachten Pralinen überreichen als Zeichen dafür, dass sie etwas für sie empfanden. Auch Kari hatte den Abend vor Valentinstag in der Küche verbracht und Vanillepralinen in Herzform für T.K. gemacht. Es waren Stunden voller mühevoller Kleinarbeit gewesen, die sie in die Süßigkeiten investiert hatte. Nun befand sich ein Tütchen voller herzförmigem Vanillekonfekt verziert mit einer roten Schleife in ihrer Schultasche und wartete darauf, an T.K. überreicht zu werden. Sie wusste, dass er im Moment andere Probleme hatte. Trotz des umwerfenden Geburtstagsgeschenks, das er ihr gemacht hatte, hatte sich sein Zustand kaum verändert, auch wenn er Kari mittlerweile nicht mehr ganz so sehr zurückwies. Doch noch immer tat er so, als würde es ihm gut gehen, als wäre alles in Ordnung, als würde der Tod seines Bruders ihn kaum tangieren. Doch trotzdem oder vielleicht auch gerade deshalb hatte sie sich dazu entschieden, den Valentinstag nicht zu ignorieren, sondern ihm eine kleine Freude zu bereiten und ihm damit zu zeigen, dass er nicht allein war, sondern jemanden hatte, der für ihn da war. Als sie in der Mittagspause zusammen auf einer Bank saßen und das Geschehen auf dem Schulhof beobachteten, kramte Kari schließlich aus ihrer Tasche das Tütchen mit den Pralinen hervor. „T.K., ich...“, fing sie zögerlich an und schloss die Hände fest um die kleine Tüte. „Hm?“ Sein Blick fiel auf ihre Hände. „Ich weiß, das ist vielleicht ein bisschen fehl am Platz. Oder taktlos. Aber heute ist ja Valentinstag und ich hab' was für dich“, erklärte sie und öffnete ihre Hände. „Heute ist Valentinstag?“, fragte er verwirrt, dann schien es ihm klar zu werden. „Oh, Scheiße, du hast Recht. Klar, der 14. Februar. Ich hab' gar nichts für dich.“ Er sah sie entschuldigend an, sodass sie amüsiert lächelte. „Du warst viel zu lange nicht mehr in Japan. Valentinstag heißt, die Mädels schenken den Jungs, in die sie verliebt sind, etwas“, erklärte sie. „Du kannst dich dann in einem Monat revanchieren, wenn du willst.“ „Echt? Oh Mann, das habe ich voll verplant.“ Er fasste sich mit der flachen Hand an die Stirn und verdrehte die Augen, bevor er sich wieder ihr zuwandte. „Also, da du in mich verliebt bist, was schenkst du mir?“ „Na was schon? Selbstgemachte Pralinen“, antwortete Kari und drückte ihm endlich das Tütchen in die Hand. „Ich hoffe sie schmecken.“ Er inspizierte die Tüte, als würde er nach einem versteckten Mikrochip suchen, dann schenkte er ihr ein warmes Lächeln, das sogar fast seine Augen erreichte. „Du bist die süßeste Freundin überhaupt, weißt du das?“ Kari seufzte und ließ die Schultern hängen. „Ich dachte, wir hätten uns darauf geeinigt, dass du dieses Wort nicht mehr sagst.“ „Darauf hast du dich geeinigt“, neckte er sie und legte einen Arm um ihre Taille. „Blödmann“, erwiderte Kari, doch musste lächeln. Für diesen einen Moment fühlte es sich fast an wie vor dem schrecklichen Ereignis. Als wären sie einfach nur ein normales, verliebtes Paar, das seine Zweisamkeit und die frischen, schmetterlingshaften Gefühle genoss. „Wir könnten heute Abend irgendwas Besonderes machen. Ins Kino gehen oder so. Und du kannst danach bei mir schlafen oder ich bei dir“, schlug sie mutig vor. „Ähm...“, machte T.K. langsam und kratzte sich am Hinterkopf. „Schon okay. Wenn du nicht willst, dann nicht. War nur so 'ne Idee“, lenkte Kari hastig ein und lächelte, auch wenn sie ein klein wenig enttäuscht war. Sie hatte gehofft, er wäre allmählich wieder dazu bereit, beziehungsmäßige Dinge zu tun. „Die Sache ist die, ich habe den Valentinstag komplett vergessen und naja... ich treffe mich heute mit Aya.“   Kari wusste nicht, worüber sie sich mehr ärgerte: Aya oder sich selbst. Oder vielleicht doch T.K.? Nein, nicht über T.K. Dem durfte sie zur Zeit nicht böse sein, er hatte erst vor kurzem seinen einzigen Bruder verloren. Es konnte schließlich passieren, dass man den Valentinstag mal vergaß. So wichtig war dieser Tag nun wirklich nicht. Es gab immer genügend andere Dinge, die wichtiger waren, vor allem in diesen Wochen. Aber vielleicht hätte sie selbst nicht so tun sollen, als wäre es für sie in Ordnung, dass er sich am Tag der Liebe und der Verliebten mit Aya traf. Sie hatte behauptet, das wäre kein Problem, was natürlich völliger Blödsinn war. In Wirklichkeit war ihr ganz schlecht vor Eifersucht, wofür sie sich fast noch mehr hasste als ohnehin schon. Sie wusste doch, dass sie nichts zu befürchten hatte, dass er sie liebte und sie nicht hintergehen würde. Doch warum sprach er mit Aya über seine Probleme, mit ihr aber nicht? Vielleicht hätte sie T.K. einfach sagen sollen, dass es sie störte. Vielleicht hätte sie dann nicht den Valentinstag allein zu Hause verbracht und sich pausenlos ausgemalt, was T.K. und Aya wohl gerade machten und worüber sie redeten. Doch es war zu spät. Mit einem Kopf voller Gedanken an T.K. drückte sie auf den Klingelknopf an Davis' Wohnungstür. Er hatte sie zu einem gemütlichen Abend bei sich zu Hause eingeladen und außerdem verkündet, er hätte eine Überraschung für sie. Zwar fragte sie sich, worum es sich dabei handeln könnte, doch sie war zu deprimiert, um wirklich neugierig zu sein. „Hi!“, begrüßte Davis sie fröhlich, nachdem er er die Tür aufgerissen hatte. „Komm' rein.“ Sie folgte ihm ins Wohnzimmer, konnte jedoch nichts Außergewöhnliches erkennen, das auf eine Überraschung hindeutete. Alles schien wie immer mit der Ausnahme, dass Davis' Eltern nicht da waren. Aus der Küche strömte der verführerische Duft von süßem Popcorn und Kari sah auch eine Flasche Cola bereitstehen. Vielleicht war dieser Abend ja genau das, was sie brauchte. Davis würde sicher mit ihr über ihr Problem reden. „Wo ist meine Überraschung?“, fragte Kari scherzhaft und sah sich suchend um. „Hast du sie irgendwo versteckt?“ In diesem Moment ließ die Türklingel sie zusammenzucken. Wie ein Blitz hatte sie dieses Geräusch getroffen. Sie hatte den gleichen Klang, wie T.K.s Türklingel. „Nanu, wer kann das nur sein?“, fragte Davis in einem Ton, der Kari verkündete, dass er ganz genau wusste, wer dort vor der Tür stehen würde. Und doch begannen Karis Beine zu zittern. Nackte Panik ergriff sie und es fühlte sich an, als hätte sich eine eiskalte Hand um ihr Herz gelegt und würde es nun zerquetschen wollen. Sie hatte Jean vor Augen, den gut aussehenden, hochgewachsenen Mann, der sich scheinbar freundlich nach Natsuko und Takeru erkundigte. „Davis!“, rief sie und streckte eine Hand nach ihm aus. „Mach' die Tür nicht auf!“ Davis' Hand lag schon auf der Türklinke, als er sich mit fragendem Blick zu ihr umdrehte. „Keine Panik, okay? Ich weiß, wer das ist.“ „Nein, nein! Lass' die Tür zu. Bitte mach' sie nicht auf. Bitte.“ Ihre Stimme bebte und war kaum mehr als ein heiseres Krächzen. Sie taumelte ein paar Schritte rückwärts, bis sie gegen das Sofa stieß. „Kari, keine Angst. Es ist nur...“ Als er die Tür öffnete, stieß Kari ein Wimmern aus, sank zu Boden und presste sich die Hände gegen den Kopf. Es würde sich alles wiederholen. Davis würde das nächste Opfer werden. Wie sollte sie seinen Verlust ertragen? Wie sollte sie ohne ihn leben können? Vor ihren Augen erschienen Bilder von ihm, wie er mit blutenden Schusswunden am Boden lag. Tiefrote Pfützen breiteten sich auf dem Boden unter ihm aus. Ein Sanitäter kam und erklärte Kari, dass er nichts mehr tun könnte. Sie hielt sich die Ohren zu, hatte das Gesicht gegen die angezogenen Knie gedrückt und atmete stoßweise. Ihr Herz klopfte vor Angst so schnell, dass sie das Gefühl hatte, es würde jeden Moment aus ihrer Brust springen. Das durfte nicht passieren. Diese Katastrophe durfte sich nicht wiederholen. Eine warme Hand berührte sie am Arm und ließ sie hochschrecken, nur um in die besorgten Gesichter von Davis und Ken zu blicken. Sie hockten vor ihr auf dem Boden und musterten sie mit einer Mischung aus Skepsis und Unbehagen. Panisch sah Kari sich im Raum nach einer weiteren Person um, die bewaffnet war. Ihr Blick huschte unruhig durch den Raum und ein wenig erleichtert stellte sie fest, dass außer ihnen niemand hier war. Die Wohnungstür war wieder geschlossen. Ein klein wenig ruhiger lehnte sie sich gegen die Rückenlehne des Sofas und versuchte, ihre Atmung unter Kontrolle zu bringen. Was um Himmels willen war das eben gewesen? Eine Art Tagtraum? Eine Vision? Oder wurde sie vielleicht allmählich verrückt? „Kari? Geht's wieder?“, fragte Davis, dessen Hand noch immer auf ihrem Arm lag. „Vielleicht sollten wir lieber einen Arzt rufen“, murmelte Ken Davis zu. „Nein, mir geht’s gut“, widersprach Kari. „Bitte kein Arzt. Ich war nur ein wenig... in Gedanken.“ „Hat man gesehen“, schnaubte Davis. Sie ignorierte seine Bemerkung und sah stattdessen zwischen Davis und Ken hin und her, bis ihr endlich einfiel, was sie an diesem Bild verwirrte. „Ihr... seid zusammen in einem Raum? Freiwillig?“, fragte sie schließlich, dann sah sie mit großen Augen Davis an. „Ist das etwa deine Überraschung?“ Schief grinsend schnitt er eine Grimasse. „Ja, das war meine Überraschung, bis du sie mir mit deinem Panikanfall ruiniert hast.“ „Davis“, zischte Ken, doch Kari musste darüber schmunzeln. Die Jungs ergriffen je eine Hand und zogen sie hoch, nur um es sich auf dem Sofa mit Popcorn und Cola bequem zu machen. Auf einen Film hatte momentan keiner von ihnen Lust. „Also, was ist passiert?“, fragte Kari und musterte beide neugierig. „Tja, was soll passiert sein? Wir haben miteinander geredet. Mehr oder weniger“, antwortete Davis schulterzuckend und nippte an einem Glas Cola. „Aber... wie kam es dazu? Ich dachte, du würdest noch Monate brauchen“, hakte Kari verwirrt nach. Auf einmal wurde Davis' Gesichtsausdruck wieder ernst. Er drehte das Colaglas zwischen seinen Händen hin und her und seufzte leise. „Matt. Er... er hat... ich meine...“ Langsam schüttelte er den Kopf. „Es gibt einfach wichtigere Dinge im Leben als so einen Mist. Und das Leben ist zu kurz, um Zeit damit zu verbringen, sich zu streiten.“ „Ihm waren Freundschaften doch immer so wichtig“, fügte Ken monoton hinzu. Karis Gedanken schweiften ab zu Tai und seinem Verhältnis zu Matt. Sie erinnerte sich noch gut, wie er ihr erzählt hatte, dass er und Matt eigentlich kaum noch Kontakt zueinander hatten. Wie auch? Schließlich war Matt nur noch in der Weltgeschichte unterwegs gewesen und hatte tausend Termine gleichzeitig wahrnehmen müssen. Da mussten schließlich Abstriche gemacht werden. Doch dann, kaum dass er wieder in Japan war, waren er und Tai auf einmal wieder ein Herz und eine Seele gewesen und Tai hatte selbst einmal zu Kari gesagt, es hatte sich angefühlt, als wären sie nie länger als ein paar Tage voneinander getrennt gewesen. Seit Matts Tod war Tai wie ausgewechselt. Kari hatte ihn drei Mal gesehen in dieser Zeit und kein einziges Mal hatte er gelächelt. Nichts war mehr übrig von seinen witzigen Sprüchen, seinen Sticheleien mit Mimi oder seiner unbeschwerten Fröhlichkeit. Stattdessen redete er kaum mit jemandem, sondern verbrachte viel Zeit mit Kaito. Kari wusste nicht, wie lange es dauern würde, bis er wieder annähernd der Alte sein konnte, falls das überhaupt möglich war. „Dann haben wir es also Matt zu verdanken, dass wir jetzt alle drei hier sitzen können“, stellte Kari nach einer Weile fest. „Gewissermaßen... ja“, seufzte Davis. „Kari, wie geht es dir eigentlich damit? Willst du über irgendwas reden?“, fragte Ken nun an Kari gewandt und sah sie an. Überrascht erwiderte sie seinen Blick. „Mir? Wie soll es mir gehen. Ich habe kein Recht, mich zu beschweren, oder? Es ist T.K., der seinen Bruder verloren hat, ohne sich vorher wieder richtig mit ihm vertragen zu können. Mit mir ist doch alles in Ordnung.“ „Alles in Ordnung? Kari, wenn es stimmt, was ich gehört habe, dann hat dieser Typ mit einer Waffe auf dich gezielt. Und du warst dabei, als Matt erschossen wurde. Du hast jedes Recht, dich zu beschweren“, sagte Davis aufbrausend. Fast das gleiche Gespräch hatte sie auch letztens mit T.K. geführt. „Wie läuft es denn mit T.K.? Ist alles in Ordnung zwischen euch? Ist ja doch eine ziemlich harte Probe“, ergriff Ken das Wort, bevor er einen Schluck von seiner Cola trank. „Es läuft...“ Kari suchte nach dem richtigen Wort, das die momentane Beziehung zwischen ihr und T.K. bestmöglich beschrieb, doch ihr fiel keines ein. Deshalb zuckte sie nur mit den Schultern. „Ihr seid aber schon noch zusammen?“, hakte Davis skeptisch nach. „Ja... ja. Ich habe nur keine Ahnung, wie lange noch.“ Eigentlich hatte sie den letzten Satz nicht sagen wollen, doch er war herausgerutscht, bevor sie etwas dagegen hatte tun können. Davis legte ihr einen Arm um die Schultern. „Na komm' schon, erzähl. Was ist los bei euch?“ „Ach, es ist auf einmal alles so schwierig. Ich weiß nicht so richtig, wie ich mit ihm umgehen soll. Ich habe das Gefühl, ich sollte für ihn da sein, mit ihm reden und ihm zeigen, dass er nicht allein ist, doch er tut so, als wäre alles okay. Dabei kann für ihn gar nicht alles okay sein. Ich sehe, dass er damit nicht so sehr zurechtkommt, wie er behauptet.“ „Vielleicht versucht er, es zu verdrängen. Vielleicht ist das einfach seine Art, so etwas zu verarbeiten“, meinte Ken zuversichtlich. „Ja, vielleicht. Aber das ist noch nicht alles. Er fasst mich kaum noch an, küsst mich nur noch ganz selten und... wahrscheinlich dürfte ich das nicht einmal erwähnen, aber miteinander geschlafen haben wir seitdem auch nicht mehr“, murmelte Kari und senkte den Blick. Sie fühlte sich schlecht, überhaupt daran zu denken, wo T.K. doch momentan ganz andere Sorgen hatte. Doch sie vermisste einfach diese Nähe zu ihm. Davis sog scharf die Luft ein und tätschelte ihre Schulter. „Das ist eine lange Trockenzeit.“ „Danke“, brummte Kari. „Hast du mit ihm darüber geredet? Dass du das vermisst, meine ich“, fragte Ken und Kari war dankbar, dass er auf solche Kommentare wie den von Davis verzichtete. „Nein, natürlich nicht“, erwiderte sie. „Vielleicht solltest du das“, riet Ken. „Vielleicht ist ihm gar nicht richtig bewusst, dass es dir damit schlecht geht.“ „Vielleicht braucht er es selbst, um wieder normal zu werden“, fügte Davis hinzu. „Davis“, murmelte Ken kopfschüttelnd. „Was denn? Wieso nicht? Könnte doch sein.“ „Ich kann ihn ja schlecht dazu zwingen“, warf Kari grummelnd ein und runzelte die Stirn. „Nein, das nicht. Aber wenn du einfach bei ihm zu Hause auftauchst, in deinen heißesten Fummel geschmissen, dann wird er schon nicht widerstehen können“, erwiderte er gewichtig. „Nein, ich... nein, das kann ich nicht“, stammelte Kari verlegen. „Wieso nicht?“ „Weil ich... er hat bestimmt überhaupt keine Nerven für so etwas, sondern will lieber in Ruhe trauern, auch wenn er eine seltsame Art zu trauern hat“, entgegnete sie unsicher. „Und ich denke, er braucht einfach ein bisschen Bungabunga“, meinte Davis überzeugt. „Du solltest auf mich hören und ihn verführen.“ „Boah, Davis.“ Kari seufzte und rieb sich die Stirn. „Und gestern hat er sich mit Aya getroffen?“, wechselte Ken nun das Thema. Offensichtlich war es auch ihm unangenehm, darüber zu reden, wie Kari T.K. verführen konnte. „Ja“, seufzte sie und spürte beim Gedanken an den gestrigen Tag erneut einen Anflug von Ärger und Enttäuschung. „Also das finde ich echt ziemlich hart“, meinte Davis und hob eine Augenbraue. „Immerhin war gestern Valentinstag und du hast ihm auch noch Pralinen gemacht.“ „Ich glaube, er hat momentan einfach überhaupt keinen Kopf für die Welt um sich herum“, überlegte Ken. „Es sieht für mich so aus, als wäre er einfach zu sehr mit sich selbst beschäftigt momentan. Und vielleicht noch mit seinen Eltern.“ Kari stützte die Ellbogen auf den Knien und den Kopf auf den Händen ab. „Das denke ich auch.“ „Und Aya hat in seinen Gedanken Platz, aber Kari nicht, oder was?“, warf Davis ein und sprach damit das aus, was Kari sich insgeheim gegen ihren Willen dachte. „So einfach kann man das bestimmt nicht sagen“, erwiderte Ken und sah Davis an. „Kari hat doch schon mal gesagt, dass Aya anscheinend Familienprobleme hat. Sie sind eben befreundet und haben ähnliche Dinge durchgemacht, über die sie reden können.“ „Ja, aber stell' dir mal vor, Nana würde, statt zu dir, immer zu einem anderen Typen rennen, wenn sie mal Probleme hat. Wie würdest du das finden? Und überhaupt war ja wohl Kari dabei, als Matt erschossen wurde. Nicht Aya“, widersprach Davis heftig. Dazu wusste auch Ken nichts mehr zu sagen. Er nippte an seiner Cola und schwieg. „Vielleicht sind wir auch einfach schon am Ende angekommen“, murmelte Kari niedergeschlagen und starrte geistesabwesend den Tisch vor sich an. „Am Ende?“, hakte Davis nach. „Vielleicht soll das mit uns einfach nicht sein. Vielleicht liebt er mich nicht mehr und das Geschenk hat er mir einfach nur aus Höflichkeit gemacht, weil schon alles fertig geplant ist.“ „Kari, denk' doch sowas nicht“, erwiderte Ken. „Ach, bestimmt nicht. Das wollte ich damit wirklich nicht sagen“, sagte Davis und warf Ken einen hilfesuchenden Blick zu. „Bestimmt braucht er nur noch ein bisschen Zeit und irgendwann wird er wieder ganz der Alte sein.“ Nur ob er zu diesem Zeitpunkt noch immer an Kari interessiert sein würde, stand auf einem anderen Blatt. „Und welches Geschenk hat er dir gemacht?“, fragte Davis weiter. Kari erzählte den beiden, wie sie den Restaurantgutschein ausgepackt und T.K. ihr dann offenbart hatte, dass sie zu zweit nach Paris fliege würden. Sowohl Davis als auch Ken starrten sie mit großen Augen an, als sie fertig war. „Alter, Kari!“, rief Davis und verpasste ihr einen derben Klaps auf die Schulter. „Er will mit dir nach Paris fliegen, die Stadt der Liebe. Und du denkst, er liebt dich nicht mehr?“ „Also ich bin jetzt auch noch mehr als vorher der Meinung, dass er einfach nur ein bisschen Zeit braucht, um wieder der Alte zu werden“, stimmte Ken ihm zu. Ratlos kaute Kari auf ihrer Unterlippe herum. Sie wusste, was die beiden meinten, doch sie wollte nicht darüber diskutieren. Sie kam sich ja selbst schon undankbar vor, doch in ihrer Vorstellung flogen T.K. und Kari als Freunde nach Paris, nicht als Paar. Kapitel 67: Unterdrückte Gefühle -------------------------------- Nachdem sich T.K.s Verhalten auch in der folgenden Woche nicht änderte und er weiterhin so tat, als wäre alles okay, tauchte Kari entgegen ihrer eigenen Erwartungen am Samstagabend in ihre schönste Unterwäsche gekleidet bei T.K. zu Hause auf. Natürlich trug sie nicht nur ihre Unterwäsche, das erschien ihr zu aufdringlich und zu auffällig. Sie trug außerdem noch eine enge Jeans und ein lockeres Oberteil. Nichts, womit sie ausgehen würde, sondern nur etwas ganz Schlichtes. Sie war aufgeregt, fast so wie an jenem Date, an dem sie ihr erstes Mal miteinander hatten. Jener Tag schien Jahre in der Vergangenheit zu liegen. Zu viel war seitdem passiert, zu sehr war ihr Leben auf einmal aus den Fugen geraten. Es schien fast so, als wäre jener Tag nicht ihr selbst passiert, sondern als hätte sie ihn nur bei anderen Menschen beobachtet. Mit schwitzigen Fingern betätigte sie die Türklingel und wartete darauf, dass T.K. ihr öffnete. Stattdessen erschien jedoch Natsuko im Türrahmen. „Oh, hallo. Ich... ich wollte nur...“ „Hi, Kari. Komm' rein“, erwiderte Natsuko leicht lächelnd. Unsicher ging Kari an Natsuko vorbei in die Wohnung. In den letzten Wochen hatte sie es vermieden, ihr zu begegnen, da sie sich noch immer schuldig an Matts Tod fühlte. Sie konnte der Mutter des Ermordeten, die so viel ihrer Lebensfreude zu verloren haben schien, nicht unter die Augen treten. Natsukos Gesicht war fahl, ihr Haar wirkte stumpf und sie hatte dunkle Schatten unter den Augen, die Kari verrieten, dass sie anscheinend nicht besser schlief als sie selbst. „Wie geht’s dir? Ist alles okay?“, fragte sie und strich sich eine Haarsträhne hinter das Ohr. „Ähm... ja, klar, danke“, murmelte Kari mit gesenktem Blick. „Ich will dich gar nicht weiter aufhalten und ich muss eh los. T.K. ist in seinem Zimmer. Macht euch einen schönen Abend“, sagte Natsuko, bevor sie die Wohnung verließ und die Tür hinter sich zuschlug. Kari holte tief Luft und ging dann schnurstracks in T.K.s Zimmer ohne anzuklopfen. Über dieses Stadium waren sie hinaus. Jedoch steckte sie zunächst nur den Kopf durch den Türspalt. „Hi“, sagte sie vorsichtig T.K. saß an seinem Schreibtisch über ein paar Unterlagen gebeugt und hob den Kopf, als er Karis Stimme hörte. „Nanu, was machst du denn schon hier?“ „Schon? Es ist doch acht“, erwiderte Kari verwirrt mit einem Blick auf die digitale Uhr auf seinem Nachttisch. Auch er drehte sich nun nach der Uhr um, als würde er ihr nicht glauben. „Oh, stimmt. Habe ich gar nicht mitgekriegt.“ „Was machst du denn da?“ Neugierig kam Kari auf ihn zu und spähte von hinten über seine Schulter. Er hatte das Geschichtsbuch und einen Schreibblock bereitliegen. Auf kariertem Papier waren einige Notizen gekritzelt und markiert worden. „Nur die Quellenanalyse für Geschichte“, antwortete er und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. „Hast du Hunger oder so?“ „Ja“, antwortete Kari und stellte ihre Tasche auf dem Boden ab. „Aber nicht auf Essen.“ Während er irritiert die Stirn runzelte, griff Kari nach dem Saum ihres Oberteils und zog es sich über den Kopf. Sie beobachtete seinen Blick, der ihr folgte, als sie sich – so geschmeidig, wie sie konnte – rittlings auf seinen Schoß setzte. Noch konnte sie seinen Blick nicht wirklich deuten. Er war unleserlich und konnte von angeekelter Ablehnung bis hin zu regem Interesse alles bedeuten. Kari näherte sich langsam seinem Gesicht, doch bevor sie ihre Lippen auf seine legte, zog sie sich auch das Top über den Kopf und ließ es neben dem Pulli fallen. Dann legte sie die Hände an sein Gesicht, schloss die Augen und küsste ihn vorsichtig und behutsam. Sie wollte ihn ja nicht gleich wieder vergraulen, denn noch hatte er sie nicht von sich gestoßen. „Kari“, murmelte er in den Kuss hinein, den er kaum erwiderte, bewegte sich jedoch nicht. Seine Arme hingen teilnahmslos herunter. Nicht wissend, was sie davon halten sollte, rutschte Kari auf seinem Schoß so weit nach vorn, wie sie nur konnte, vergrub die Finger in seinem Haar und intensivierte den Kuss. Er musste doch irgendetwas spüren, irgendeine Regung zeigen. Sie war seine Freundin, die hier nur noch mit BH und Jeans bekleidet auf seinem Schoß saß und ihn küsste, eindeutig zeigend, was sie wollte. Zögerlich erwiderte er den Kuss, ging jedoch lange nicht so leidenschaftlich vor wie Kari, die ihm am liebsten sofort die Klamotten vom Leib gerissen hätte. Sie griff nach seinen Händen und führte sie an den Bund ihrer Jeans. Sie wollte sich nicht komplett allein ausziehen und außerdem wollte sie ein Zeichen von ihm, dass sie hier gerade das Richtige tat. Zunächst geschah nichts, doch dann machten sich seine Finger langsam daran, den Knopf zu öffnen und den Reißverschluss herunterzuziehen. Seine Bewegungen wirkten jedoch, als wäre er sich nicht sicher, ob er das wirklich tun sollte. Sie wollte ihn bestärken. Bestimmt ließ sie eine Hand zwischen seine Beine gleiten und platzierte ihre Lippen an seinem Ohr. „Schlaf' mit mir“, hauchte sie und küsste sanft sein Ohrläppchen. Sie spürte eine Regung unter ihren Fingern. Dies war der Moment, in dem er endlich reagierte. Er stand auf und hob Kari mit sich hoch. Sie schlang die Arme um seinen Hals und küsste ihn verlangend, während er sie zum Bett trug und sich mit ihr darauf fallen ließ. Kaum dass sie auf dem Rücken lag, befreite er sie aus ihrer Jeans. Kari vergrub die Hände im Kragen seines T-Shirts und zog ihn wieder an sich, um ihn zu küssen. Anschließend griff sie nach dem Saum seines T-Shirts und zog es nach oben, sodass er sich wieder von ihr löste, um es ganz auszuziehen. Kari nutzte die Gelegenheit, um ihn von sich herunterzuschieben und ihre Positionen zu tauschen. Er lag nun auf dem Rücken und sie nestelte ungeduldig am Bund seiner Jogginghose herum, bis sie sie endlich herunterziehen konnte. T.K. trat die Hose achtlos weg und zog Kari auf seinen Schoß. Er hatte sich aufgesetzt und verwickelte sie nun in einen wilden Kuss, während seine Finger ihren BH öffneten. Kari fragte sich, ob er ihrer Unterwäsche, die sie so sorgfältig ausgesucht hatte, überhaupt Beachtung geschenkt hatte, doch eigentlich war das nun egal. Ihr BH landete auf dem Boden und T.K.s Lippen wanderten von ihrem Mund zu ihren Brüsten. Seine Hände zerrten ungeduldig an ihrem Slip, sodass sie eilig von ihm herunterkletterte und sie sich beide von ihrem letzten Kleidungsstück befreiten. Kari setzte sich zurück auf seinen Schoß und ließ ihn in sich eindringen. Es war das erste Mal, dass sie kein Kondom benutzten. Zu eilig hatten sie es und zu ungeduldig war nun auch T.K., der zu Beginn noch den Eindruck gemacht hatte, als wollte er nicht mit ihr schlafen. Kari warf den Kopf in den Nacken und stöhnte auf, als sie ihn in sich spürte. Erregt fuhren ihre Finger durch sein Haar, als er seine Lippen an ihrem Hals platzierte. Seine Hände lagen auf ihren Hüften und unterstützten ihre Bewegungen. Sie hörte ihn keuchen und spürte seinen heißen Atem an ihrem Hals. Plötzlich packte er sie an den Oberarmen und warf sie zur Seite, jedoch nur, um sich nun zwischen ihre Beine zu drängen und seinerseits die Kontrolle zu übernehmen. Er erhöhte das Tempo, intensivierte die Kraft, sodass Kari die Augen schloss und schon einen leichten Schmerz verspürte. Ihre Lust war jedoch größer und so passte sie sich schnell an seine Bewegungen an und stöhnte immer wieder erregt auf. Sie spürte, dass sie schon fast so weit war. Zu lang lag das letzte Mal zurück, zu sehr hatte ihr seine Zuneigung und seine Nähe gefehlt, um sich jetzt zurückzuhalten. Doch kurz bevor die Welle sie überrollen konnte, spürte sie etwas Nasses auf ihrer Wange. Einen Tropfen. Irritiert öffnete sie die Augen und ein zweiter Tropfen landete auf ihrer anderen Wange. Regnete es rein? War das T.K.s Schweiß? Mit verklärtem Blick erkannte sie schließlich T.K.s Gesicht, der eine Sekunde später in einer seltsamen Mischung aus Stöhnen und Schluchzen über ihr zusammensackte. Sein Gesicht war nun in das Kissen gepresst, seine Schultern bebten und er keuchte erschöpft und schluchzte gleichzeitig. Sein Haar kitzelte Karis Wange. Völlig perplex lag sie unter ihm und wusste nicht, was passiert war. War es für ihn so schlecht gewesen? Oder war er so erregt, dass er angefangen hatte zu weinen? Ging das? „Ähm... T.K.?“, fragte Kari vorsichtig und tätschelte seine Schulter. „Wieso? Wieso musste das passieren?“, hörte sie ihn dumpf gegen das Kissen murmeln. „Ich... oh Gott, es tut mir so Leid! Es ist mein Fehler. Entschuldige, ich wollte dich nicht dazu drängen. Ich hätte das nicht machen dürfen. Ich meine...“ „Er war mein Bruder“, unterbrach T.K. ihre gestammelte Entschuldigung, ohne den Kopf zu heben. „Scheiße, verdammt!“ Überfordert mit der Situation schwieg Kari einfach und streichelte ihm über den Rücken. Noch nie hatte sie sich in einer so seltsamen Lage befunden. Er befand sich noch immer in ihr und weinte nun über den Tod seines Bruders, obwohl sie wenige Sekunden vorher noch leidenschaftlichen Sex gehabt hatten. Und Kari lag noch immer in höchster Ekstase unter ihm und wusste nicht, was sie sagen konnte, um ihn zu trösten. Zu überrascht war sie, dass er auf einmal überhaupt über seinen Bruder sprach, obwohl er ihn in den Wochen zuvor mit nicht einer Silbe erwähnt hatte. Was sollte man schon zu jemandem sagen, dessen Bruder im Alter von gerade einmal einundzwanzig Jahren gestorben war, erschossen vom Ex-Freund der Mutter? Wird schon wieder? Du musst jetzt nach vorn blicken und nicht zurück? In deinem Herzen wird er immer bei dir sein? Und dann war da auch noch die schwierige Situation zwischen den beiden, die sich bis zum Schluss nicht vollends entspannt hatte. Gedankenverloren streichelte Kari weiter seinen Rücken und ließ ihn schluchzen. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie beide so dagelegen hatten, doch irgendwann beruhigte er sich wieder und legte sich schließlich neben sie. Von der plötzlichen Kühle überrascht breitete Kari die Bettdecke über ihnen beiden aus und drehte sich auf die Seite. T.K. lag auf dem Bauch, den Kopf zur Seite gedreht und ins Leere starrend. In seinen Augenwinkeln klebten Spuren von getrockneten Tränen. „Entschuldige“, murmelte er. „Das muss dir doch nicht Leid tun“, erwiderte Kari überrascht. „Ganz im Gegenteil. Ich bin froh, dass du endlich mal deine Gefühle gezeigt hast.“ Er schnaubte schwach und schüttelte den Kopf, so gut das in seiner Position eben ging. „Ich wollte das aber eigentlich vermeiden.“ „Aber warum?“, fragte Kari verwirrt und stützte den Kopf auf einer Hand ab. „Das ist nicht gut. Damit machst du dich doch nur selbst fertig.“ Er schloss die Augen. „Wegen dir.“ Kari stutzte. War es ihm etwa peinlich, vor ihr Gefühle zu zeigen? „Das verstehe ich nicht.“ T.K. schwieg einige Sekunden, bevor er mit heiserer Stimme antwortete. „Ich wollte stark für dich sein. Erst recht nach deinem Zusammenbruch letztens.“ Er öffnete die Augen wieder und sah sie an. „Ich dachte, wenn ich auch noch damit anfange, mache ich für dich alles nur noch schlimmer. Ich hatte gehofft, es würde dir helfen, wenn ich stark bleibe.“ Einen Augenblick lang sahen sie sich in die Augen und Kari versuchte, zu verarbeiten, was er ihr gerade gesagt hatte. Ungläubig schüttelte sie den Kopf. „Du musst doch gar nicht stark für mich sein. Dein Bruder ist gestorben. Du hast jeden Grund und jedes Recht, dich auszulassen, wie du willst. Bitte nimm keine Rücksicht auf mich. Und wenn ich mich recht erinnere, warst du es gewesen, der mir letztens gesagt hat, in einer Beziehung kann man sich auch mal ausheulen.“ „Ja, aber...“ Er seufzte schwerfällig und drehte sich auf den Rücken. „Was auch immer. Jetzt habe ich es ja gemacht.“ Eine Weile schwiegen sie. Man hätte die Atmosphäre im Zimmer für gemütlich halten können. Das einzige Licht im Raum kam von der kleinen Lampe auf dem Schreibtisch, es war still und sie lagen nebeneinander nackt im Bett und redeten, nachdem sie miteinander geschlafen hatten. Der Inhalt ihres Gesprächs zerstörte jedoch die entspannte Atmosphäre. T.K. seufzte und legte den Unterarm über die Augen, als wollte er sich vor Sonneneinstrahlung schützen. „Ich werde mir niemals verzeihen können, dass ich mich bis zum Schluss nicht richtig mit ihm vertragen habe.“ „Das solltest du aber. Es war okay, dass du sauer auf ihn warst. Ich kann das verstehen. Dir und eurer Mutter sind schlimme Dinge passiert und niemand hat euch geholfen“, versuchte Kari ihn aufzubauen. „Aber es ist zu spät. Ich kann ihm nie mehr sagen, dass ich ihm verziehen habe.“ Kari beobachtete, wie sich seine Hand in die Bettdecke krallte. „Ich kann ihm nicht mehr sagen, wie sehr er mir gefehlt hat. Wir können keine ganz normale Bruder-Beziehung mehr führen. Wir können uns nicht mehr gemeinsam mit unseren Eltern treffen. Keine Konzerte mehr im Fernsehen. Er wird nie Kinder haben, dabei wollte er immer welche. Er hat immer gesagt, wie gern er seinen Kindern das Gitarrespielen beibringen würde. Er ist einfach nicht mehr da und kommt nie wieder. Kannst du dir das vorstellen?“ Mit Tränen in den Augen schüttelte Kari den Kopf, bis ihr auffiel, dass er das ja gar nicht sehen konnte. „Nein“, hauchte sie. „Wäre er doch bloß an diesem Tag nicht plötzlich in der Wohnung aufgetaucht“, murmelte T.K. Kari biss sich auf die Unterlippe und legte ihre Hand auf seine. Wer wusste schon, wie das Ganze ausgegangen wäre, wenn Matt nicht aufgetaucht wäre? Dann wäre er jetzt noch am Leben, ja. Aber was wäre dann mit T.K., Natsuko und Kari passiert? Vielleicht hatte Matt ja ihnen allen dreien das Leben gerettet. Wer wusste das schon. „Wieso kam er eigentlich vorbei? Sagtest du an diesem Tag nicht, dass er etwas vorbeibringen wollte?“, fragte sie leise. „Ja. Er hat eine Tüte mitgebracht für uns, aber wir haben es beide noch nicht geschafft, nachzusehen, was drin ist“, antwortete T.K. Dann nahm er den Arm von den Augen und stützte sich auf die Ellbogen. „Ich gehe sie mal holen.“ Über Kari hinweg kletterte er aus dem Bett und stand wenige Sekunden später splitternackt vor ihr. Der Anblick seines gut trainierten Körpers erinnerte Kari wieder daran, dass sie sich noch immer ein wenig unbefriedigt fühlte. Sie sah ihm hinterher, als er aus dem Raum ging, und beobachtete ihn, als er mit der Tüte in der Hand wieder zurück ins Bett unter die Decke schlüpfte. „Bist du dir sicher, dass das eine gute Idee ist? Das jetzt zu öffnen, meine ich“, fragte Kari unsicher und musterte die Tüte. „Nicht, wenn du dabei bist“, meinte er und holte den Inhalt heraus. Das neuste Album der Teenage Wolves. Eine gebastelte Collage aus alten Familienfotos mit einigen Bildern von Matt und T.K. als Kinder. Kari hörte ihn schwer schlucken, während sie die Collage betrachteten. Ein großer brauner Umschlag. T.K. öffnete ihn und holte drei Flugtickets, drei Konzertkarten, eine Hotelbroschüre und einen kleinen weißen Umschlag hervor. „Was zum...“, murmelte er und betrachtete die Flugtickets. „Miami?“ Auch die Konzertkarten waren für einen Auftritt der Teenage Wolves in Miami im August gedacht. „Öffne mal den anderen Umschlag“, sagte Kari. T.K. folgte ihrer Anweisung und zog einen Bogen Papier heraus. Behutsam breitete er ihn auf dem Bett zwischen ihnen aus und strich ihn glatt. Es war ein handgeschriebener Brief.   Liebe Mama, lieber T.K.,   wahrscheinlich wundert ihr euch gerade sehr darüber, dass ich euch überhaupt was schenke. Und vielleicht habt ihr die Flugtickets und die Konzertkarten schon gesehen und seid jetzt komplett verwirrt. Wenn ja, dann habe ich mein Ziel erreicht. Es handelt sich um Flugtickets nach Miami im August, wo ihr eine Woche im Grand Beach Hotel verbringen könnt. In dieser Woche habe ich da mit meiner Band ein Konzert und ich dachte mir, ihr würdet euch vielleicht freuen, mich dort zu sehen. Natürlich würde ich mich in der Woche auch gern mit euch treffen, um euch die Stadt zu zeigen. Miami ist einfach unglaublich! Ich weiß, ich habe ziemlichen Mist gebaut und besonders du, T.K., nimmst mir das übel. Ich kann es leider nicht mehr rückgängig machen, auch wenn ich das gern würde. Und ich weiß auch, dass ein Geschenk nicht ausreicht, damit du mir verzeihst. Aber deswegen mache ich das hier auch nicht. Ich mache es, weil es mir sehr wichtig wäre, euch bei einer solchen Erfahrung dabei zu haben und euch ein kleines Stück von meinem Leben selbst zu zeigen, von dem ihr leider nicht mehr so viel mitbekommt. Denn was ich vor allem in den letzten Jahren gelernt habe, ist, dass Familie das Wichtigste auf der Welt ist. Manchmal vermisse ich euch wirklich sehr und wünsche mir, ich könnte einfach nach Hause fliegen und euch besuchen. Aber jetzt seid ihr diejenigen, die mich einfach mal besuchen kommen sollen! Ich kann es kaum erwarten. Natürlich habe ich auch Papa ein Flugticket, eine Konzertkarte und den Aufenthalt im Hotel besorgt. Wir können also so tun, als wären wir eine ganz normale Familie, die mal eben in Miami Urlaub macht. Cool, nicht wahr?   In Liebe Yamato   P.S.: T.K., bring' Kari ruhig mit.   „Scheiße.“ T.K. ließ den Kopf hängen und rieb sich die Augen. Auch Kari wischte sich mit dem Handrücken über die Augen und lehnte den Kopf gegen T.K.s Schulter. „Es tut mir so Leid“, flüsterte sie. Er erwiderte nichts, sondern schwieg eine Weile, bevor er den Brief zurück in den Umschlag und alle Geschenke wieder zurück in die Tüte packte. Er stellte die Tüte auf dem Boden ab, ließ sich in sein Kissen sinken und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. „Glaubst du, er ist noch irgendwo da draußen?“, fragte er leise und starrte aus dem Fenster in die schwarze Nacht. Kari saß noch immer neben ihm und beobachtete seine angespannten Gesichtszüge. „Weißt du, was ich glaube?“, sagte sie und als er nicht antwortete, redete sie einfach weiter. „Immer, wenn jemand stirbt, wird er zu einem kleinen Stück Himmel und schaut dann von oben auf die Erde herab. Er kann dann sehen, was wir machen und wie wir ohne ihn weiterleben. Und vielleicht passt er sogar auf uns auf und schickt Warnungen, wenn wir dabei sind, was Dummes zu machen.“ T.K. sah sie an mit dem Anflug eines Lächelns auf den Lippen. „Was?“, fragte sie verwirrt. „Ich habe immer gedacht, wenn jemand stirbt, ist einfach alles vorbei. Keine Seele oder sowas. Aber deine Variante gefällt mir besser.“ „Naja, ich habe keine Ahnung, ob das wirklich so ist, aber kann doch sein, oder? Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass nach dem Tod alles für immer vorbei sein soll. Irgendwas muss doch dann passieren“, erklärte Kari schulterzuckend. Einen Augenblick lang schien er über das, was sie gesagt hatte, nachzudenken, dann streckte er einen Arm nach ihr aus und zog sie an sich, dass sie sich neben ihn legte und den Kopf auf seiner Schulter ruhen ließ. „Danke, dass du da bist“, murmelte er. „Ich glaube, es geht mir jetzt ein bisschen besser.“ Kari lächelte und freute sich, diese Worte von ihm zu hören, hatte sie doch nicht damit gerechnet, irgendwie noch eine Hilfe für ihn sein zu können. „Also um ehrlich zu sein dachte ich schon, du liebst mich nicht mehr“, gestand sie leise. Er drehte den Kopf zu ihr und sah sie an. „Soll das ein Witz sein? Du bist der Grund, warum ich überhaupt jeden Morgen aufstehe. Deine bloße Anwesenheit hilft mir, nicht durchzudrehen. Hättest du mich nicht abgehalten, hätte ich ihn erschossen. Und ich glaube, du warst die Einzige, die dazu in der Lage gewesen wäre. Ich hatte so eine verdammte Angst um dich, als dieser Kerl dich als Geisel gehalten hat.“ Seine Worte rührten sie. Wie hatte sie nur glauben können, ihre Beziehung wäre am Ende? Wie hatte sie nur denken können, er würde sie nicht mehr lieben? Dabei war das genaue Gegenteil der Fall. Sie half ihm, ohne aktiv etwas dafür zu tun. Seine Hand spielte mit ihren Haaren, während er weiterredete. „Ich weiß, ich habe mich ziemlich zurückgezogen in der letzten Zeit. Aber das war nur, weil ich in deiner Nähe nicht anfangen wollte zu heulen. Aber ich rede ohnehin nicht so gerne über Probleme.“ „Ich weiß.“ „Auf jeden Fall tut es mir Leid. Ich wollte dir ganz sicher nicht das Gefühl geben, ich würde dich nicht mehr lieben.“ Kari hob den Kopf und sah ihn an. Sie hatte einen Arm auf seiner Brust abgestützt und ihre Fingerspitzen fuhren sanft über sein Schlüsselbein. „Ich hätte es besser wissen müssen“, räumte sie ein. T.K. zog sie an sich und verwickelte sie in einen innigen Kuss. Sie spürte, wie sein Herz schneller schlug, spürte seine Zähne an ihrer Unterlippe, schmeckte seinen unvergleichlichen Geschmack. Seine Hand streichelte ihre Brüste, fuhr dann langsam ihren Bauch hinab. Erregt keuchte Kari in den Kuss hinein und schlang ein Bein um seine Hüfte, um seiner Hand mehr Platz zu geben. Er hielt inne und löste auch den Kuss. Fragend erwiderte Kari seinen Blick. „Mir fällt gerade ein, dass wir vorhin noch gar nicht richtig fertig waren“, raunte er. Diese indirekte Aufforderung ließ Kari sich nicht zwei Mal geben. Sie richtete sich auf und setzte sich vorsichtig auf ihn, wobei sie ihn in sich eindringen ließ. Sie stöhnte lustvoll auf und ließ ihre Hüften zunächst langsam kreisen, wurde dann jedoch schneller. T.K. passte sich ihren Bewegungen an, seine Hände lagen auf ihren Oberschenkeln. Es dauerte nicht lange, bis Kari es nicht mehr aushielt. Sie warf den Kopf in den Nacken und genoss das über sie hinwegschwappende Gefühl in vollen Zügen, das so intensiv war, dass sie glaubte, es würde für immer anhalten. Jedoch war nach ein paar viel zu kurzen Sekunden alles wieder vorbei. Erschöpft keuchend fuhr Kari sich durch die Haare und versuchte, ihre Atmung wieder unter Kontrolle zu bekommen. „Ich glaube, jetzt haben auch die letzten Nachbarn mitbekommen, was wir hier gerade machen“, kommentierte T.K., der sie verschmitzt ansah. Es dauerte ein wenig, bis das, was er gesagt hatte, in ihrem Gehirn ankam, doch als sie es verstand, schlug sie sich erschrocken eine Hand vor den Mund. „War das so laut?“ „Nur wie eine sterbende Robbe.“ Verwirrt und ein bisschen angewidert darüber, mit einer sterbenden Robbe verglichen zu werden, runzelte Kari die Stirn. Dann wurde ihr bewusst, dass er gerade eben tatsächlich einen Scherz gemacht hatte und ihre Laune besserte sich. „Sehr lustig, Takaishi.“ „Das war mein voller Ernst.“ Kari musterte ihn kritisch, doch das leichte Lächeln auf seinen Lippen verriet ihn. Sie ließ sich nach vorn auf ihn fallen und er legte die Arme um sie. „Ich glaube, ich mache in Zukunft einfach gar keine Geräusche mehr“, nuschelte Kari ein wenig verlegen. „Ach was, ich mag deine Stimme. Vor allem in dieser Situation“, raunte er und hauchte einen Kuss auf ihre Schläfe. Kari erwiderte nichts, sondern genoss für einen Moment die Ruhe und seine Nähe. Wer wusste schon, wann sie das nächste Mal so viel Zeit miteinander verbringen würden, ohne gestört zu werden? Schließlich rutschte Kari jedoch von ihm herunter und betrachtete ihn. Fragend erwiderte er ihren Blick. „Was ist?“ „Nichts. Ich glaube nur, ich muss noch was beenden.“ Verständnislos hob T.K. eine Augenbraue, doch in diesem Moment widmete Kari ihre ganze Aufmerksamkeit schon seiner Körpermitte, um zu beenden, was sie angefangen hatte.   In dieser Nacht konnte Kari nicht schlafen. Zu sehr hatte sie all das Gerede über Matt aufgewühlt und ihre Gedanken eingenommen. Sie stellte sich vor, wie es wohl gewesen wäre, ihn zusammen mit T.K. und seinen Eltern in Miami zu besuchen. Es wäre sicher eine unvergleichliche Erfahrung geworden. Sie wären auf sein Konzert gegangen, er hätte ihnen die Stadt gezeigt, sie wären sicher zusammen essen und an den Strand gegangen, hätten vielleicht einen Club besucht und Matt hätte ihnen das sündhaft teure Hotel gezeigt, in dem er und seine Band untergebracht waren. Sie dachte darüber nach, wie viele Pläne Matt wohl gehabt hatte. Sie wollten durch die USA touren, verschiedene Städte besuchen, viele Menschen kennen lernen. Vielleicht wäre unter diesen vielen Menschen auch ein Mädchen gewesen, das ihn endlich von Sora abgelenkt hätte. Vielleicht hätte er dann seine Karriere an den Nagel gehängt, sich in den USA niedergelassen und eine Familie gegründet. Vielleicht wäre er aber auch irgendwann wieder zu Sora zurückgekehrt und aus ihnen wäre wieder ein Paar geworden. Vielleicht wäre er ein ewiger Herumtreiber geworden, der sich hin und wieder mit ein paar Groupies vergnügte, aber nie die Frau fürs Leben fand. Vielleicht hatte er gar nicht vorgehabt, für immer mit seiner Band durch die Weltgeschichte zu reisen, sondern wollte irgendwann noch einen anderen Beruf aufgreifen und Handwerker werden. Wer wusste schon, was genau Matt vorgehabt hatte? Niemand würde es je erfahren. T.K. neben Kari schlief zwar, jedoch offensichtlich nicht besonders gut. Er wälzte sich hin und her, ab und an einen leisen, gequälten Laut von sich gebend. Kari wusste nicht, was sie tun sollte. Vielleicht wäre es besser, ihn aufzuwecken, doch andererseits dachte sie, dass er Schlaf sicher gut gebrauchen konnte. Wahrscheinlich hatte auch er in den letzten Wochen nicht viel davon bekommen. Plötzlich schnappte er nach Luft und schreckte hoch, sodass er nun vornübergebeugt im Bett saß und keuchte. Das fahle Licht der Nacht, das zum Fenster herein schien, beleuchtete seinen Rücken. Kari streckte die Hand aus und berührte ihn vorsichtig. T.K. zuckte zusammen und fuhr herum, anscheinend bereit, sich zu verteidigen. „Ich bin's nur“, murmelte Kari erschrocken. T.K. stöhnte leise und raufte sich das Haar. „Was hast du geträumt?“, fragte sie. „Matt. Ich habe ihm gesagt, dass ich ihm verzeihe und dass alles gut ist. Dann hat er gesagt, es wäre zu spät. Dann hat er sich in Jean verwandelt und meine Eltern erschossen.“ Er hob den Kopf und blickte zur Tür. „Ist sie schon zurück? Hast du sie gehört?“ Nun setzte auch Kari sich auf und griff ruhig aber bestimmt nach seiner Hand. „Es ist alles okay. Jean sitzt im Knast, er kann niemandem mehr was anhaben.“ Es schien einige Sekunden zu dauern, bis die Worte zu ihm durchdrangen und er seine angespannte Körperhaltung ein wenig lockerte. Er ließ sich zurück in sein Kissen sinken und rieb sich die Augen. „Gott, ich glaub', ich brauch' 'ne Therapie.“ Das glaubte Kari auch. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er es allein schaffen würde, darüber hinwegzukommen, sich nicht komplett mit Matt ausgesprochen und ihm verziehen zu haben, nicht noch einen Tag mit ihm zusammen einfach als normale Brüder verbracht zu haben. Es musste ihn innerlich auffressen. Kari legte sich wieder neben ihn und betrachtete ihn von der Seite. Sein Atem ging noch immer unregelmäßig, doch er schien sich beruhigt zu haben. „Ich glaube, Matt weiß, dass du ihm verziehen hast“, sagte sie leise. „Meinst du?“ „Ja. Ich denke, wo immer er jetzt auch ist, weiß er, dass zwischen euch wieder alles in Ordnung ist. Und ich bin mir sicher, er hätte nicht gewollt, dass du dich deswegen so fertigmachst. Wenn er könnte, würde er uns jetzt bestimmt hier als Geist erscheinen und dir sagen, dass du endlich mal schlafen und aufhören sollst, dir darüber Sorgen zu machen. Und er würde dir sagen, dass du der beste kleine Bruder bist, den er sich wünschen konnte und dass er froh ist, wenigstens noch ein bisschen Zeit mit dir verbracht zu haben“, antwortete Kari überzeugt, sodass sie schließlich selbst dachte, ihre These entspräche der Wahrheit. T.K. drehte sich auf die Seite und sah sie an. „Okay, das ist unheimlich. Sitzt er irgendwie in deinem Kopf oder so?“ Sie lächelte. „Nein. Ich weiß es einfach. Ich bin mir ganz sicher.“ Sanft strich er ihr mit einer Hand einige Haarsträhnen aus dem Gesicht und legte die Hand schließlich an ihre Wange. Sie fühlte sich warm an und spendete Trost. Er überwand den kleinen Abstand zwischen ihnen und küsste sie zärtlich. Und dann schliefen sie noch einmal miteinander. Kapitel 68: Eingeständnis ------------------------- Am nächsten Morgen wurde Kari vom Duft nach Gebäck wach, der sich in T.K.s Zimmer ausgebreitet hatte und sich in ihrer Nase festsetzte. Sie schlug in dem Moment die Augen auf, als T.K. mit einem Tablett in den Händen ins Zimmer trat. „Morgen“, begrüßte er sie und lächelte leicht. Er war in Jogginghose und T-Shirt gekleidet, während Kari noch komplett nackt unter der Decke lag. Vorsichtig transportierte er das voll beladene Tablett zu seinem Nachttisch, wo er es abstellte, bevor er zu Kari unter die Decke schlüpfte und sie aufs Haar küsste. „Hast du gut geschlafen?“ „Geht so“, gab Kari zu. „Gibst du mir mal bitte meine Unterwäsche?“ Er musterte sie einen Augenblick lang, bevor der Hauch eines frechen Grinsens seine Lippen umspielte. „Wenn ich es mir recht überlege, nein.“ „Aber du bist auch angezogen. Das ist nicht fair“, beschwerte sie sich. „Ich war ja auch schon draußen und habe unser Frühstück besorgt“, erwiderte er schulterzuckend. „Was? Seit wann bist du denn wach?“, fragte sie irritiert. „Seit zwei Stunden oder so.“ „Zwei Stunden? Wie spät ist es denn?“ Er warf einen Blick auf den Wecker auf seinem Nachttisch. „Halb zwölf.“ „Halb zwölf?!“ Erschrocken fuhr Kari hoch und starrte ihn an. „Ah, ich muss nach Hause. Ich habe noch so viele Hausaufgaben zu machen und eigentlich wollte ich nach dem Frühstück gehen und Tai wollte ich auch noch anrufen und ich habe meinen Eltern gesagt, dass ich spätestens um zehn zu Hause bin und...“ „Hey.“ T.K. legte eine Hand auf ihren Oberschenkel, um sie zu unterbrechen. „Komm' wieder runter. Es ist Sonntag. Es ist gerade mal halb zwölf und hier wartet eine Ladung Zimtschnecken darauf, von dir gegessen zu werden. Deine Eltern haben bestimmt nichts dagegen, wenn du ein bisschen später kommst.“ „Ein bisschen später? Ich bin jetzt schon eineinhalb Stunden zu spät“, protestierte Kari, beugte sich über T.K. hinweg und hob ihren BH und ihren Slip vom Boden auf, um sie so schnell wie möglich anzuziehen. „Selbst, wenn ich in zehn Minuten hier losgehe, komme ich zwei Stunden zu spät. Zwei Stunden! Da kann man nicht einmal mehr von verschlafen reden. Nicht um die Uhrzeit. Und außerdem...“ T.K. hatte sie an sich gezogen und sie mit einem Kuss zum Schweigen gebracht. Es war ein süßer Kuss, voller Liebe und Zärtlichkeit, der ihr ein Gefühl von Geborgenheit vermittelte. T.K. schmeckte nach Zahnpasta und nun, da sie ihm so nahe war, konnte sie einen deutlichen Geruch nach Zimtschnecken auf seiner Haut ausmachen. „Du bist total manipulativ, weißt du das?“, murmelte sie, nachdem sie sich voneinander gelöst hatten. „Ich will einfach nur noch fünf Minuten mit dir frühstücken. Dann kannst du sofort verschwinden, wenn du willst“, antwortete er leise und sah ihr in die Augen. Kari verlor sich in seinem Blick. Sie befanden sich hier bei ihm zu Hause in seinem Bett, schon seit gestern Abend. Zum ersten Mal seit über einem Monat hatten sie wieder miteinander geschlafen, richtig miteinander geredet, Zeit miteinander verbracht und sich beide wohl gefühlt. Das letzte gemeinsame Frühstück war ebenfalls eine Ewigkeit her. Und außerdem schien T.K. sich tatsächlich ein wenig besser zu fühlen. Zumindest redete er mehr und sein leichtes Lächeln erreichte wieder seine Augen, wenn er sie ansah. Sie beschloss, diesen Moment noch so lange zu genießen, wie es nur möglich war, bevor sie in die Realität zurück und sich den Nachwirkungen von Matts Tod stellen musste. „Na gut. Fünf Minuten.“   T.K. hatte nicht nur Zimtschnecken aufgetischt, sondern auch noch Kekse, Schokolade, selbstgemacht Crêpes mit Marmelade, Obst und heißen Kakao. Eine halbe Stunde später lagen sie beide völlig übersättigt in seinem Bett, unfähig, sich auch nur einen Millimeter zu rühren. „Ich glaube, wegen dir habe ich jetzt auf einen Schlag fünf Kilo zugenommen“, warf Kari ihm vor und tastete mit einer Hand ihren Bauch ab, der sich ganz aufgebläht anfühlte. „Ich dachte, wir könnten vielleicht beide ein bisschen Zucker gebrauchen“, erwiderte T.K. schulterzuckend, aber ohne sie anzusehen. „Außerdem musst du ja sicher bald so sehr auf deine Ernährung achten, dass in deinem Plan für solche Sachen kein Platz mehr ist. Da dachte ich, du solltest das noch mal genießen.“ Kari drehte den Kopf zur Seite und sah ihn an. Er hatte es angesprochen, das Thema, das sie beide bisher geschickt unter den Teppich gekehrt hatten, und das nicht nur, weil momentan Matts Tod im Vordergrund stand. T.K.s Finger spielten mit der Bettdecke, kratzten an einem unsichtbaren Fleck herum. Sein Blick war starr auf seine Finger gerichtet, als bräuchte er seine ganze Konzentration für die nicht notwendige Reinigung der Bettdecke. „Das ist lieb von dir“, sagte Kari und lächelte leicht. Dann schwiegen sie beide für einen Moment. Keiner wusste, wie es weitergehen sollte, wo sie anfangen sollten. Zu komplex war das Thema Zukunft, obwohl sie direkt vor der Tür stand. Sie hatten nur noch einen Monat Schule, danach würde in Japan für die meisten ihrer Mitschüler schon das Studium beginnen. Viele waren schon dabei, sich die erste eigene Wohnung zu suchen, hatten sich an Unis eingeschrieben und redeten über den kommenden Unialltag. Alle schienen sie voller Vorfreude und Spannung auf den neuen Lebensabschnitt. Kari jedoch blickte der Zukunft zur Zeit äußerst verunsichert entgegen. „Hör' mal. Ich weiß nicht, ob du darüber reden möchtest, aber ich dachte... also vielleicht ginge es ja... New York ist ziemlich groß. Da kann man alles Mögliche studieren und machen. Bestimmt würdest du da auch einen Studiengang finden, der dich interessiert. Vielleicht sind die Unis da ja sogar besser geeignet als hier. Und Mimi schwärmt immer so von New York, dass ich glaube, es ist eine echt tolle Stadt, wo ich... wo wir gut leben könnten“, stammelte Kari. Ihr Herz flatterte und ihre Hände zitterten, hatte sie doch endlich das ausgesprochen, was sie sich schon seit Monaten insgeheim dachte. T.K. jedoch seufzte leise und Kari fürchtete sich vor seiner Antwort. „Kari, darüber habe ich auch schon nachgedacht. Ich hatte eigentlich vorgehabt, mit dir mitzukommen. Du hast Recht, New York ist sicher super und ich könnte da Journalismus studieren. Aber“, er machte eine kurze Pause, „ich kann meine Mutter hier einfach nicht allein lassen. Nicht nach allem, was passiert ist.“ Seine Worte sickerten in ihren Verstand und Hoffnung wurde von Enttäuschung abgelöst. Natürlich konnte sie ihn verstehen. Sie hätte wahrscheinlich an seiner Stelle genauso gehandelt. Natsuko hatte erst vor kurzem einen Sohn für immer verloren. Wie würde es ihr erst gehen, wenn nun auch ihr zweiter Sohn sich so weit von ihr entfernte, dass sie sich nur noch ein oder zwei Mal im Jahr sehen würden? „Schon okay“, antwortete Kari, bemüht um einen lockeren Tonfall. „Das verstehe ich gut. Ich denke, es ist wirklich besser, wenn du hier bei ihr bleibst.“ Er nahm ihre Hand und verschränkte ihre Finger ineinander. Ihre Blicke begegneten sich. „Tut mir Leid.“ „Das muss dir nicht Leid tun. Ich habe doch gesagt, dass ich dich verstehen kann. Du kannst deine Mutter wirklich nicht allein lassen“, erwiderte Kari kopfschüttelnd. „Vielleicht sollte ich das Stipendium einfach nicht annehmen und hier bleiben. Wer weiß, ob ich für immer...“ „Nein!“, unterbrach er sie heftig, sodass sie zusammenzuckte. „Das ist eine riesige Chance für dich. Das ist genau das, was du wolltest. Dein Traum. Das darfst du auf keinen Fall aufgeben, schon gar nicht wegen mir.“ Mit großen Augen sah sie ihn an und wusste nicht, was sie erwidern sollte. Ja, es war eine Zeit lang ihr Traum gewesen, das stimmte. Sie hatte dafür gekämpft und es hatte sich gelohnt, die Juilliard wollte sie als Studentin aufnehmen. Doch dieser Traum hatte sich in ihrem Kopf festgesetzt und ihr Denken vereinnahmt, bevor sie sich in T.K. verliebt hatte. „Kari, weißt du, wie viele Menschen so eine Chance in ihrem Leben bekommen?“, sagte er nun ruhiger. „Du musst nach New York. Du wirst da hin ziehen, neue Leute kennen lernen, in einer neuen Stadt leben, ein neues Leben führen. Du wirst so unglaublich viel erleben, dass du dich keine Minute lang nach Japan zurücksehnst. Du wirst gar keine Zeit dazu haben, weil so viel passieren wird. Und danach wartet eine riesige Karriere auf dich. Du kannst auf den größten Bühnen neben den besten Tänzern der Welt auftreten. Du kannst durch die Gegend reisen, wirst so viel sehen und so viel erleben. Das wird so cool.“ „Und wo bist du in diesem neuen Leben?“, platzte Kari heraus. Aus seinem Blick wich die Euphorie und machte Ernüchterung Platz. Er atmete hörbar aus und lehnte den Kopf gegen die Wand hinter sich. „Man sollte sein ganzes Leben nicht nach einem Menschen richten. Das kann ziemlich... unschön ausgehen.“ Nachdenklich kaute Kari auf ihrer Unterlippe herum. T.K. hatte erlebt, was passieren konnte, wenn jemand sein ganzes Leben für einen Menschen änderte. Seine eigene Mutter war wegen eines Mannes nach Frankreich gezogen und erlebte jetzt die Hölle auf Erden. Ob sie ihre Entscheidung von vor fünf Jahren wohl bereute? Wahrscheinlich schon. Und vermutlich hatte T.K. Recht und Kari sollte ihre Berufsvorstellungen nicht seinetwegen über den Haufen werfen. Aber ein Leben ohne ihn konnte sie sich so gar nicht mehr vorstellen. „Aber... wenn ich in New York bin und du in Tokio... was wird dann aus uns?“, fragte sie langsam. „New York ist so weit weg. Wir könnten uns nur alle paar Monate sehen. Und es bleibt ja nicht bei vier Jahren New York, sondern geht danach mit Reisen weiter.“ Sein Blick wanderte zu einem unbestimmten Punkt irgendwo in seinem Zimmer. „Ich schätze, wir müssen die Zeit, die wir noch haben, eben genießen. Ist ja immerhin noch ein halbes Jahr.“ Resigniert biss Kari sich auf die Unterlippe. Sie hatte gehofft, er würde vielleicht auf eine Fernbeziehung plädieren und ihr versichern, dass sie das auf jeden Fall schaffen würden. Gern hätte sie von ihm gehört, dass nichts und niemand sie jemals trennen konnte, auch wenn sie wusste, dass das nicht nur extrem schwierig, sondern schlichtweg unrealistisch war. Es wäre praktisch eine Fernbeziehung für die nächsten zehn Jahre oder mehr. Zehn Jahre, in denen sie sich nur zu ganz besonderen Anlässen sehen konnten. Nein, das wäre sinnlos und unvernünftig. Auf diese Weise würde keiner von ihnen glücklich werden. Sie kuschelte sich an ihn und lehnte den Kopf gegen seine Schulter. Wie sollte sie nur die nächsten sechs Monate genießen, wenn sie doch wusste, dass ihre gemeinsame Zeit abgelaufen war, bevor sie überhaupt richtig begonnen hatte? Kapitel 69: Nur du ------------------ Es war Anfang April, als sich Kari, Yuuko, Susumu, Tai samt Familie, T.K., Natsuko und auch Hiroaki Ishida bei den Yagamis versammelt hatten, um gemeinsam den Schulabschluss ihrer Kinder zu feiern. T.K. und seiner Familie konnte man den schweren Verlust noch immer deutlich ansehen, doch zumindest Kari gegenüber verhielt er sich wieder halbwegs normal. Ab und an hatte er das Bedürfnis, über Matt zu sprechen und sie hörte ihm einfach nur zu. Dann redete er über Geschichten aus ihrer gemeinsamen Kindheit, wie unzertrennlich sie immer gewesen waren, wie Matt ihm beigebracht hatte, ein paar einfache Gerichte zu kochen, wie er T.K. und Natsuko mal in Paris besucht hatte, … Kari hatte das Gefühl, dass ihm das Reden bei der Verarbeitung von Matts Tod half. Wenn er nicht redete, versuchte sie, ihn irgendwie abzulenken, indem sie ins Kino gingen, zu Fußballspielen von Davis und Ken, das Kirschblütenfest genossen, zusammen kochten oder sich mit anderen Freunden trafen. Hatte Kari noch vor ein paar Wochen das Gefühl gehabt, ihre Beziehung wäre am Ende, glaubte sie nun, sie stünden sich näher als je zuvor. Den nahenden Abschied im August kehrten sie beide unter den Teppich. „Wer möchte noch ein Stück Kuchen?“, fragte Yuuko mit leuchtenden Augen in die Runde. „Zwei sind noch da. Na los, die machen wir jetzt alle.“ „Ich würde noch eins nehmen, wenn sich keiner findet“, sagte Hiroaki und streckte ihr seinen Teller entgegen. Erfreut gab Yuuko ihm das vorletzte Stück ihrer selbstgemachten Zitronentorte. In letzter Zeit backte sie häufiger, was sie besser beherrschte als kochen. „Das letzte Stück ist dann wohl meins“, verkündete Mimi und hielt ebenfalls ihren Teller hoch. „Du hast doch schon zwei gegessen“, grummelte Tai. Auch er hatte sich nach knapp drei Monaten ein wenig von dem Schock erholt und klammerte sich nicht mehr ganz so an Kaito, der gerade in Susumus Armen lag und das Geschehen gespannt beobachtete. Mimi warf Tai einen scharfen Blick zu. „Möchtest du mir mit dieser Bemerkung irgendwas sagen?“ Aller Augen richteten sich gespannt auf Tai, der noch nicht zu realisieren schien, in was für einer Situation er sich befand. Er stand praktisch inmitten eines Minenfelds und der kleinste Schritt in die falsche Richtung konnte eine riesige Explosion auslösen. Als er sich mit fragendem Blick an die anderen wandte, schien ihm aufzufallen, dass er mit dem Feuer spielte. Langsam drehte er den Kopf zu Mimi. „Nur, dass ich nicht will, dass du durch den ganzen Zucker noch süßer wirst, als du sowieso schon bist, weil ich sonst Karies wegen dir bekomme“, antwortete er langsam. Die Stimmung der restlichen Anwesenden entspannte sich, während Mimi die Augen verdrehte, sich ein amüsiertes Lächeln aber nicht verkneifen konnte. „Du bist ein Spinner.“ Alle verfielen wieder in eine halbwegs fröhliche Plauderstimmung, erzählten von ihren eigenen Schulabschlüssen und philosophierten über Karis und T.K.s berufliche Zukunft. T.K. hatte die Aufnahmeprüfung für ein Journalismusstudium an einer Universität in Tokio geschafft und würde schon in wenigen Tagen mit dem Studium anfangen, während Kari sich nun einen Job suchte, um noch ein wenig Geld für ihr Studium zu verdienen. „Steht ihm gut, oder?“ Fragend sah Kari Mimi neben sich an und folgte ihrem Blick. Sie betrachtete gerade T.K., der Kaito im Arm hielt, ihn schaukelte, mit ihm redete und sanft über seinen Haarflaum fuhr. Sein Blick war liebevoll. „Mhm“, machte Kari zustimmend, doch statt Wärme breitete sich ein Gefühl von Wehmut in ihrem Herzen aus, wohl wissend, dass T.K. niemals der Vater ihrer eigenen Kinder sein würde. Niemals würde er ihr gemeinsames Kind so im Arm halten und ihm zuflüstern, wie lieb er es hatte. „Wie macht ihr das jetzt eigentlich?“, fragte Mimi. Kari atmete tief ein und aus, bevor sie antwortete. Es war das erste Mal, dass sie diese Worte aussprechen würde. „Wir werden uns trennen.“ Es überraschte sie, mit welcher Wucht sie die Wahrheit dieses Satzes traf. Natürlich bereitete sie sich schon seit Wochen darauf vor, nicht mehr mit T.K. zusammen zu sein. Genau genommen hatte sie schon, als ihre Gefühle für ihn über Freundschaft hinausgingen, geahnt, dass es so enden könnte, da sie zu diesem Zeitpunkt schon den Wunsch hatte, nach New York zu ziehen. Doch nun war alles realer als je zuvor. Es war real, dass sie ihn liebte und es war real, dass sie sich trennen würden, weil es für sie beide nicht befriedigend wäre, eine solche Beziehung aufrecht zu erhalten. Sie rieb sich über das Gesicht und seufzte schwer, während Mimi ihr eine Hand auf die Schulter legte. „Hey, du weißt, dass du nicht nach New York gehen musst, oder? Niemand zwingt dich“, sagte sie einfühlsam. „Ich weiß, aber es ist so eine große Chance“, murmelte Kari mit gesenktem Blick. „Ich bin auf der Juilliard angenommen. Das könnte ich niemals einfach so ignorieren.“ „Es gibt Entscheidungen, die sollte der Verstand treffen“, meinte Mimi gewichtig, „und es gibt Entscheidungen, die sollte das Herz treffen.“   Nicht nur für T.K., sondern auch für Davis, Ken und Nana begann im April der Studienalltag. Davis war bezüglich seiner Berufswahl noch sehr ratlos und hatte sich für ein BWL-Studium qualifiziert. Er war der Meinung, damit stünde ihm anschließend die Welt offen. Ken war mit seinen Spitzennoten auf einer Polizeiakademie angenommen worden. Er hatte sich im letzten halben Jahr dafür entschieden, Polizist zu werden und für Gerechtigkeit und Ordnung in Tokio zu sorgen. Nana studierte nun Biologie und wusste wie Davis noch nicht richtig, was sie damit am Ende anstellen wollte, doch sie war überzeugt, ihr würde schon etwas einfallen. Sie und Ken hatten sich gemeinsam eine kleine Zweiraumwohnung gesucht und stellten damit ihre Beziehung auf die Probe. Kari und T.K. hatten ihnen beim Umzug geholfen und auch Davis hatte letztendlich mitgeholfen, obwohl er sich zunächst hatte drücken wollen. Tai und Mimi tat es gut, den Universitätsalltag wieder aufnehmen zu können. Tai begann sein letztes Semester im Bachelorstudium und kümmerte sich fortan vollends um seine Bachelorarbeit und seine kleine Familie. Das alles lenkte ihn ein wenig von seiner Trauer um seinen besten Freund ab. Auch für Mimi war es besser, wieder eine Aufgabe zu haben, die nichts mit Haushalt und Babys zu tun hatte. Sie hatte mehrmals erwähnt, wie sehr sie sich geistig unterfordert fühlte, auch wenn das Muttersein sie sehr glücklich machte. Kaito ging von nun an in eine Kinderkrippe und entwickelte sich prächtig. Wann immer Kari Zeit hatte, holte sie den Kleinen nachmittags von dort ab und fuhr ihn im Park spazieren. Besonders schön und gleichzeitig schmerzhaft war es, wenn T.K. noch dabei war. Dann fühlte es sich fast so an, als wären sie eine Familie. Eine Familie, die Kari so nie haben würde. Von Mimi hatte Kari erfahren, dass Sora und Fabio nun nicht mehr zusammen waren. Sie hatte ihm gestanden, dass sie ihn mit Matt betrogen hatte und auch vorgehabt hatte, ihn für Matt zu verlassen. Fabio hatte das tief getroffen und sie hatten beide festgelegt, dass sie unter diesen Umständen keine Beziehung führen konnten. Kari mochte sich nicht vorstellen, wie schwer das Leben für Sora momentan sein musste. „Wie geht es ihr momentan?“, fragte Kari. Sie und Mimi hatten es sich mit Kaito im Park auf einer Decke gemütlich gemacht und genossen die warme Frühlingssonne, die der April mit sich brachte. Sie schaukelte Kaito auf ihrem Arm, der ihr hin und wieder ein zahnloses Lachen schenkte. Mimi schüttelte nur den Kopf und verscheuchte eine Fliege, die die Frechheit besessen hatte, sich auf Kaitos Stirn zu setzen. „Nicht gut. Die Trennung von Fabio hat natürlich alles verschlimmert. Sie sagt selbst, dass sie jetzt versucht, sich in ihrem Studium zu vergraben und an nichts anderes zu denken. Sie und Matt hatten anscheinend einen Streit, als sie sich das letzte Mal gesehen haben.“ Kari biss sich auf die Unterlippe. Der Streit, den sie an Weihnachten mitgehört hatte. Das war also der letzte Kontakt, den beide miteinander gehabt hatten. Ja, das musste wirklich schrecklich für Sora sein. Sie hatte nicht einmal mehr die Gelegenheit bekommen, sich wieder mit ihm zu versöhnen. Und er würde nie erfahren, dass sie Fabio für ihn verlassen hatte. Vielleicht wäre aus den beiden früher oder später wieder ein Liebespaar geworden. Vielleicht wären sie beide nie in eine solch unglückliche Situation gekommen, wenn sie sich nach dem Schulabschluss nicht getrennt hätten... „Ich kann immer noch nicht so richtig glauben, dass er wirklich tot ist“, murmelte Mimi und spielte gedankenverloren mit Kaitos kleinen Füßen. „Es fühlt sich an, als wäre er nur mal wieder auf Tournee und würde in ein paar Wochen wiederkommen.“ „So ähnlich fühlt es sich für mich irgendwie auch an“, stimmte Kari zu. „Wie geht es eigentlich T.K. und seinen Eltern?“ Sie zuckte mit den Schultern. „Seine Eltern treffen sich jetzt häufiger. Ich glaube, das hilft ihnen ganz gut. Und T.K. hm... er verbringt wieder mehr Zeit mit Aya.“ Mimi fixierte sie mit ihrem Blick. „Und wie findest du das?“ „Es ist okay“, sagte Kari, ohne nachzudenken. Der Wahrheit entsprach es jedoch nicht so ganz. „Ich weiß, dass es ihm hilft, damit fertig zu werden, warum auch immer die beiden so eine enge Beziehung zueinander haben.“ Sie hatte Kaito angesehen, während sie das gesagt hatte, und so getan, als wäre sie schwer damit beschäftigt, seinen Haarflaum in Ordnung zu bringen. „Findest du das wirklich okay?“, hakte Mimi nach, die sie anscheinend durchschaut hatte. „Ich habe kein Recht, das nicht okay zu finden“, erwiderte Kari nüchtern. Sie würde sich damit abfinden müssen. In wenigen Monaten hatte sie schließlich nicht einmal mehr ein Recht, eifersüchtig auf Aya zu sein, obwohl sie dann wahrscheinlich Grund dafür haben würde.   Nachdem sie sich am späten Nachmittag von Mimi verabschiedet hatte und diese mit Kaito auf dem Weg nach Hause war, zückte Kari ihr Handy schrieb eine SMS an T.K.   Treffen im Park?   Es dauerte nur ein paar Sekunden, bis er antwortete.   Wann?   Jetzt? Ich muss dir was sagen.   Bin unterwegs.   Kari packte ihr Handy weg und schlenderte zu der Bank, auf der sie mit T.K. schon oft gesessen hatte. Sie war besetzt von einem älteren Pärchen, also blieb sie in der Nähe stehen und beobachtete die Menschen um sich herum. Die Sonne schien vom Himmel und entlockte allen ein Lächeln. Teenager saßen auf Decken im Gras mit Sonnenbrillen auf der Nase und versuchten, möglichst braun zu werden. Mütter gingen in kleinen Grüppchen die Wege entlang, schoben Kinderwagen vor sich her und plauderten angeregt. Ihre Schritte knirschten auf dem steinigen Boden der Gehwege. Ein paar Jungen spielten Fußball, ein paar Mädchen schleckten ein Eis. Kari fühlte sich nicht zugehörig. Es war, als wäre dieser schöne Frühlingstag das genaue Gegenteil ihrer derzeitigen Stimmung, die von Trauer und Abschieden geprägt war, die bevorstanden. Noch vor einem Jahr hatte sie den Frühling genossen, auch wenn sie zu dieser Zeit auch nicht zufrieden war, wenn auch aus ganz anderen Gründen. Nur eines war gleich: auch damals hatte es mit T.K. zu tun. „Hey.“ Mit einem Kuss auf die Wange riss er sie aus ihren Gedanken und sie drehte sich zu ihm um. „Schön, dass du kommen konntest“, sagte sie traurig lächelnd. Ihre Hand griff nach seiner und sie machten sich auf den Weg, gemütlich durch den Park zu spazieren. „Wie war die Uni?“ „Ganz cool. Muss noch einen Text lesen zu morgen, aber hab' wieder ein paar neue Leute kennen gelernt. Am Freitag ist so ein Erstitreffen in Shibuya. Willst du mitkommen?“ Er sah sie erwartungsvoll an, doch Kari wich seinem Blick aus. Seine neuen Freunde kennen lernen? Das würde sie nur daran erinnern, dass sie von jetzt an zwei verschiedene Leben führen würden. Sein neues Leben ohne sie hatte schon begonnen und ihres ließ nicht mehr lang auf sich warten. „Ich weiß noch nicht. Ich glaube nicht. Wollte mit Nana ins Kino gehen“, murmelte sie entschuldigend. „Hm“, machte T.K., ließ ihre Hand los und schlang den Arm um ihre Taille. „Schade, dabei wollte ich so gern mit meiner hübschen Freundin angeben.“ Nun hatte er Kari doch ein richtiges Lächeln entlockt. „Spinner.“ Sie gingen einige Minuten den Weg entlang, ohne ihre Umgebung zu realisieren. T.K. erzählte von seinen Vorlesungen, die er heute gehabt hatte, von seinem Essen in der Mensa, von seinen Kommilitonen, seinen Dozenten und den Leistungsanforderungen, die ihn erwarteten. Kari hörte ihm aufmerksam zu und freute sich, dass das Studium ihn anscheinend so sehr von seiner derzeitigen Situation ablenkte. Zwar sahen sie sich, seit er angefangen hatte, nicht mehr so häufig, doch er schien Matts Tod nun wirklich zu verarbeiten. „Was wolltest du mir eigentlich sagen? Ich rede die ganze Zeit, dabei warst du es, die reden wollte“, fragte er schließlich und sah sie an. „Oh, ich ähm...“ Sie zögerte. Sollte sie ihm jetzt wirklich sagen, was sie vorgehabt hatte, ihm zu sagen? Andererseits war dies ja der Grund gewesen, warum sie ihn überhaupt herbestellt hatte. Sie seufzte. „Ich wollte dir nur sagen, dass es okay ist, wenn du und Aya... also wenn ich dann im August weg bin, dann könnt ihr... also es ist okay für mich, wenn ihr dann eine Beziehung habt. Und es ist auch okay, wenn ihr euch jetzt öfter trefft. Ich habe nichts dagegen.“ T.K. war stehen geblieben, musterte sie und hob nun eine Augenbraue. „Geht das schon wieder los?“ „Ich meine es ernst“, beharrte Kari, die ebenfalls stehen geblieben war. Sie verschränkte die Hände hinter dem Rücken und blickte zu Boden. „Wenn sie dich glücklich machen kann, bin ich auch glücklich.“ Er erwiderte nichts, sondern seufzte tief und fuhr sich durch die Haare. „Um Himmels willen, was muss ich machen, damit du mir endlich glaubst, dass ich für Aya nichts empfinde und höchst wahrscheinlich auch nie was für sie empfinden werde?“ „Dagegen kannst du nichts machen“, antwortete Kari leise. „Das kann sich jederzeit ändern. Gefühle können sich jederzeit ändern. Das ist nun mal so und das ist... in Ordnung.“ „Was redest du denn da?“ Er verschränkte die Arme vor der Brust und sie spürte, wie sein Blick sie durchbohrte. Eine Weile standen sie sich schweigend gegenüber, dann ergriff T.K. wieder das Wort. „Na gut. Wenn das so ist, dann sage ich dir hiermit, dass es für mich auch okay ist, wenn du dich irgendwann in Davis verliebst. Das passt schon. Echt. Dann könnt ihr auch endlich zusammen sein. Vielleicht machen wir dann irgendwann mal ein Viererdate.“ Kari hob stirnrunzelnd den Blick und sah ihn an. Er schien es ernst zu meinen, denn er verzog keine Miene. Seine Worte trafen sie tief. Allein die Vorstellung, sie hätten eine Verabredung zu viert, in der sie und T.K. kein Paar waren, ließ ihr Inneres scheinbar zu Eis gefrieren. „Ich bin ein Idiot. Entschuldige“, murmelte er und unterbrach den Blickkontakt. „Davis ist schwul“, platzte Kari heraus. „Deswegen war nie etwas und deswegen wird auch nie etwas sein. Er steht nicht auf Frauen. Er ist einfach nur mein Freund.“ Nun schlich sich ein völlig verdatterter Ausdruck in sein Gesicht. „Er ist... was?“ „Du hast mich schon verstanden. Ich wollte es dir nicht sagen, weil ich es eigentlich keinem erzählen darf.“ Mit fahrigen Bewegungen kratzte T.K. sich am Kopf. „Jetzt fühle ich mich noch mehr wie ein Idiot. Tut mir echt Leid.“ Kari zuckte mit den Schultern und ließ den Kopf hängen. Er war kein so großer Idiot, wie sie eine schlechte Freundin war. Allen erzählte sie von Davis' Geheimnis. „Aya wird in ihrer Familie ziemlich vernachlässigt“, redete T.K. weiter. „Sie hat einen kleinen Bruder, der für ihre Eltern der absolute Lebensmittelpunkt ist. Sie kann ihnen nichts recht machen, wird ständig mit ihm verglichen, muss sich ziemlich gemeine Sprüche anhören und kam immer nur an zweiter Stelle. Das ist zwar nicht das gleiche Problem wie das, was... was ich hatte. Habe. Aber es sind eben familiäre Probleme, die uns beide prägen. Deswegen treffen wir uns oft und reden miteinander. Und es geht nur darum. Mehr nicht. Für mehr wäre sie überhaupt nicht mein Typ. Das bist nur du. Nur du. Und ich weiß einfach nicht, was ich noch machen soll, um dir das zu beweisen.“ Sie presste die Lippen aufeinander. Das war also Ayas geheimnisvolles Familienproblem, um das es die ganze Zeit ging. Wenn das alles stimmte, musste Aya eine ziemlich schwere Kindheit gehabt haben. Wenn alles wirklich so war, wie T.K. es erzählt hatte, dann war es kein Wunder, dass sie ständig versuchte, überall die Beste zu sein und alle, die ihr in die Quere kamen, am liebsten aus dem Weg räumen wollte. Schließlich musste sie sich irgendwo Anerkennung suchen, wenn sie sie zu Hause nicht bekam. Wie schlimm musste es wohl sein, sich von den eigenen Eltern nicht geliebt zu fühlen? „Es tut mir Leid, dass dir das so oft Kummer gemacht hat. Und es tut mir Leid, dass ich dich an Valentinstag habe sitzen lassen“, sagte T.K. „Und jetzt habe ich auch ein Geheimnis ausgeplaudert.“ „Ach T.K.“, nuschelte Kari und rieb sich über die Augen. „Entschuldige, dass ich so oft misstrauisch war.“ Kapitel 70: Zusammen in Paris ----------------------------- „Und hier bin ich zur Schule gegangen, im lycée Eugène Delacroix“, erklärte T.K. und deutete mit ausgestrecktem Arm auf einen umzäunten Schulcampus, an dem sie gerade vorbeiliefen. Interessiert blieb Kari stehen und musterte das graue Hauptgebäude. Sie stellte sich T.K. vor, wie er hier von Klassenraum zu Klassenraum ging, auf seinem Stuhl saß und dem Unterrichtsgeschehen folgte, die Pause mit seinen Freunden verbrachte und den ganzen Tag nur Französisch redete. Ein Leben, in dem Kari keinen Anteil hatte. „Ist komisch, wieder hier zu sein.“ Nun musterte sie ihn, wie er dort stand, die Hände in den Taschen seiner Shorts vergraben und mit einem seltsamen Gesichtsausdruck das Gebäude anstarrend. Woran er wohl gerade dachte? „Hattet ihr hier auch so etwas wie Clubs nach dem Unterricht?“, fragte Kari. „Ja. Nicht so viele wie in Japan, aber ein paar gab es. Zum Beispiel eine Theatergruppe, eine Foto-AG, eine Gruppe für die Schülerzeitung, Computerclub... sowas eben“, antwortete er und zuckte mit den Schultern. „Warst du auch in einem Club?“, fragte sie weiter. Er schüttelte den Kopf. „Ich habe Basketball gespielt, aber nicht hier. Das war in einem Verein. Komm, ich zeige dir die Turnhalle, wo das war.“   Zur Mittagszeit waren sie in Drancy, einem kleinen Vorort von Paris, angekommen und waren zu T.K.s Großeltern gegangen, die sie mehr als herzlich willkommen geheißen hatten. Beide sprachen relativ gut Japanisch und so konnte auch Kari sich gut mit ihnen unterhalten. Sie waren noch genauso nett, wie Kari sie von ganz früher in Erinnerung gehabt hatte. Das letzte Mal hatte sie sie zwar erst am Tag von Matts Beerdigung gesehen, doch zu diesem Zeitpunkt hatte es natürlich keine Gelegenheit gegeben, sich mit ihnen zu unterhalten. Nun jedoch machten sie T.K. und Kari unmissverständlich klar, wie sehr sie sich über den Besuch freuten und behandelten sie wie Prinz und Prinzessin. Den Nachmittag hatte T.K. damit verbracht, Kari die kleine Stadt zu zeigen und ihr alle möglichen wichtigen Orte seiner Zeit hier zu erklären. Sie hatte seine Schule gesehen, das Haus, in dem er mit seiner Mutter und Jean gewohnt hatte, den Park, in dem er nachmittags viel Zeit verbracht hatte, das Lieblingsrestaurant seiner Mutter, seine liebste Eisdiele, ein paar Läden zum Einkaufen und außerdem hatte sie viele Geschichten und Gerüchte über alle möglichen Einwohner gehört. Es war, als hätte T.K. sie auf eine Zeitreise geschickt und ihr fünf Jahre seines Lebens an nur einem Nachmittag erzählt. Nun hatte sie eine bessere Vorstellung dessen, was er in der Zeit so getrieben hatte, in der sie keinen Kontakt gehabt hatten. Zum Abendessen wurden sie von T.K.s Großmutter bekocht und gingen anschließend völlig erschöpft von der langen Reise und dem ersten anstrengenden Tag früh ins Bett.   Am nächsten Tag wollte T.K. Kari Paris zeigen, worauf sie sich wahnsinnig freute. Vor lauter Aufregung und wahrscheinlich auch wegen des Jetlags war sie schon um sechs wach und konnte nicht mehr einschlafen. Um acht brachen sie nach einem kurzen Frühstück auf und verbrachten den Tag damit, bei schönstem Wetter kreuz und quer durch die Innenstadt zu laufen. T.K. zeigte ihr verschiedene Sehenswürdigkeiten wie die Notre-Dame, die Sacré-Coeur, die Champs-Élysée, den Triumphbogen, verschiedene kleine Straßen und Gassen und zu guter Letzt natürlich auch den Eiffelturm. Der Himmel strahlte allmählich in den schönsten Gelb-, Rosa- und Lilatönen, als sie ganz oben auf der letzten Plattform ankamen. Mit wackeligen Knien ging Kari so weit an das Geländer heran, wie sie nur konnte. Der Wind pfiff ihr um die Ohren und ließ ihre Haare wild um ihren Kopf fliegen, als sie die Hände am Geländer abstützte und in die Ferne blickte. „Oh mein Gott, das ist unglaublich!“, rief sie überwältigt von der Aussicht, die sich ihr bot. Es wirkte, als könnte sie ganz Frankreich sehen, wie es in der Abenddämmerung in goldenes Licht getaucht vor ihr lag und nur darauf wartete, dass sie jeden Winkel erkundete. Sie unternahm einen erfolglosen Versuch, sich die herumfliegenden Haarsträhnen hinter das Ohr zu klemmen und wandte den Blick zu T.K., der sie ansah. Auch seine Haare wurden gerade völlig zerzaust. „Schön, oder? Wir haben echt Glück mit dem Wetter“, meinte er lächelnd. „Total schön.“ Sie schlang die Arme um seinen Oberkörper und drückte sich an ihn, woraufhin er einen Arm um ihre Schultern legte. „Danke für diesen Tag.“ Er erwiderte nichts, sondern blickte schweigend mit ihr gemeinsam in die Ferne. Beide genossen sie den Ausblick und den Moment, nicht daran denkend, was nach dieser Reise passierte. Sie waren vollkommen im Hier und Jetzt. Dann machte Kari sich von ihm los, legte die Hände an seine Wangen und küsste ihn stürmisch. Dabei konnte sie deutlich die Haarsträhne spüren, die sich irgendwie zwischen ihre Lippen gemogelt hatte und den Kuss störte. Kari ließ ihn wieder los und grinste. „Einmal auf dem Eiffelturm rumknutschen: abgehakt.“ Er grinste und drückte ihr noch einen weiteren Kuss auf die Lippen. „Was steht noch so auf deiner To-Do-Liste? Rummachen in Versailles?“ „Woher weißt du das?“, fragte Kari scherzhaft. „Gut geraten. Da fahren wir morgen hin.“ Kari machte große Augen. „Was, im Ernst?“ „Klar. Wir können nicht fünf Tage nur in Paris bleiben, das wird zu langweilig“, antwortete T.K. und zuckte mit den Schultern. „Wow, ein echtes europäisches Schloss“, staunte Kari und vor ihrem inneren Auge erschienen riesige Gemälde, Marmorfußböden, ausladende Kamine, goldene Verzierungen an jeder Ecke, Tanzsäle, Schlafkammern mit Stoff an den Wänden, Gärten mit Heckenskulpturen... „Ich weiß nur nicht, ob der gute Ludwig so begeistert davon gewesen wäre, dass Touristen in seinem Schloss rummachen“, unterbrach T.K. ihre Gedankengänge. Kari kicherte. „Bestimmt hat er das selbst immer gemacht.“   Am späten Abend kehrten sie endlich völlig erschöpft von dem langen Tag in das Haus von T.K.s Großeltern zurück. Sie gingen ins Wohnzimmer, um die beiden älteren Leute zu begrüßen, die sicher wissen wollten, was sie so den ganzen Tag getrieben hatten, doch sie waren nicht allein im Wohnzimmer. Bei ihnen saß ein hübsches Mädchen mit gelockten blonden Haaren, großen Augen und dem Gesicht einer Puppe. Sie drehte sich zu ihnen um und Kari erkannte sie sofort als Isabelle wieder. Ihr stockte der Atem, während das Mädchen einen spitzen Schrei ausstieß, aufsprang und auf T.K. zurannte. Völlig perplex beobachtete Kari, wie sie ihm in die Arme flog, ihn auf beide Wangen küsste und er sie fest an sich drückte. Langsam ging Kari einen Schritt rückwärts, fühlte sie sich doch nicht zugehörig zu dieser Szene. Sie war der Störfaktor in dieser für Außenstehende rührenden Wiedervereinigung. Warum hatten sich die beiden nur getrennt? Sie wirkten so vertraut, wie sie nun anfingen, angeregt miteinander zu plaudern, natürlich auf Französisch, sodass Kari kein Wort verstehen konnte. Sie warf einen unsicheren Blick auf T.K.s Großeltern, die aufgestanden waren und die Szene lächelnd beobachteten. Kari war nicht nach Lächeln zumute. Wer sich so freute, seine Ex wiederzusehen, der... Sie hörte T.K. ihren Namen nennen und bemerkte, wie er auf sie deutete. Isabelle hatte sich nun an sie gewandt und musterte sie mit ihren grünen Augen. „Hi“, sagte sie strahlend und entblößte dabei ihre schneeweißen Zähne. „Kari, das ist Isabelle. Ich glaube, ihr kennt euch noch nicht“, stellte T.K. das Mädchen nun vor und bestätigte damit Karis Vermutung. „Hi“, erwiderte Kari ihren Gruß und zwang sich zu einem Lächeln. Warum zur Hölle hing seine Ex bei seinen Großeltern herum? Sie mussten sich ja sehr nahe gestanden haben... Etwas widerwillig ließ Kari sich mit T.K. und Isabelle bei seinen Großeltern nieder. Die vier unterhielten sich angeregt auf Französisch und lachten viel. Hin und wieder versuchte T.K.s Oma, Kari in das Gespräch einzubinden oder fragte sie über ihren Tag aus, doch die meiste Zeit sprachen sie alle vier Französisch, sodass Kari andauernd gelangweilt auf die Uhr sah und beobachtete, wie die Zeit verrannte. Sie war hundemüde von dem langen Tag. Gegen ein Uhr legte sie eine Hand auf T.K.s Arm, um seine Aufmerksamkeit zu bekommen, und sah ihn an. „Ich gehe schon mal schlafen, okay?“ „Ich komme auch gleich“, sagte er leise und nickte. Kari machte sich im Badezimmer bettfertig und ging dann in ihr gemeinsames Zimmer. Obwohl sie sich so sehr über Isabelle und T.K. ärgerte, schlief sie fast sofort ein, als ihr Kopf in dem weichen Kissen versank. Sie war einfach zu müde, jedoch verschaffte ihr die Wiedervereinigung von T.K. mit seiner Ex-Freundin wirre Träume. Sie erwischte die beiden beim Rumknutschen und T.K. erklärte ihr auf Französisch, dass das nichts zu bedeuten hatte und er das immer so mit seinen Ex-Freundinnen machte. Auch Aya tauchte in diesem Traum auf. Sie wartete darauf, dass T.K. endlich sie küsste, während Kari tief verletzt auf die Knie sank. Kari wachte auf, als jemand ihr Zimmer betrat. Ein kurzer Blick auf ihr Handy neben sich verriet ihr, dass es schon fast drei Uhr war. Von wegen „ich komme auch gleich“. „Du bist ja noch wach“, sagte er leise, als er neben ihr unter die Decke schlüpfte. Ihre Augen waren geschlossen, doch sie spürte, wie er sich über sie beugte, sich dicht an sie presste, fühlte seinen Atem auf ihrer Haut, als er seine Lippen auf ihre Wange legte. Sie hatte ihm den Rücken zugedreht und machte keine Anstalten, sich zu ihm umzudrehen. Sie wollte schlafen und nicht weiter über ihn und Isabelle nachdenken. Er schien jedoch andere Pläne zu haben. Seine Lippen ruhten noch immer auf ihrer Wange, verteilten nun federleichte Küsse. Seine Hand kämpfte sich unter der Decke zu ihrem Körper und blieb erst auf ihrer Hüfte liegen, bevor sie unter ihr T-Shirt wanderte. Ehe er jedoch intimer werden konnte, griff Kari nach seiner Hand und zog sie wieder zurück. „Alles okay?“, flüsterte er und streifte mit seinem Atem ihr Ohr, was eine wohlige Gänsehaut in ihrem Nacken verursachte. „Nein“, murmelte Kari wahrheitsgemäß. „Was ist los?“ Seine Hand streichelte über ihren Arm. „Liegt es daran, dass wir so viel Französisch geredet haben? Entschuldige, ich verspreche, das war nur heute. Wir hatten einfach so viel aufzuholen, weil wir uns schon ewig nicht mehr gesehen haben und sie hat einfach...“ „Einen bleibenden Eindruck hinterlassen?“, beendete Kari unaufgefordert seinen Satz und drehte sich zu ihm um. Er zögerte einen Augenblick. „Das habe ich nicht sagen wollen.“ „Was denn dann? Dass du sie so sehr geliebt hast und sie immer einen besonderen Platz in deinem Herzen haben wird?“, fragte Kari schnippisch. „Mann, wieso übernachtest du nicht gleich bei ihr, wenn ihr eh schon die ganze Nacht redet?“ Er zog seine Hand zurück und Kari spürte, wie er sich aufsetzte. „Sag' mal, was soll das?“ „Das Gleiche könnte ich dich fragen“, erwiderte Kari und setzte sich ebenfalls auf, um ihn anzusehen. Der Mond schien zum Fenster herein und tauchte das Zimmer und sie beide in ein kühles, silbriges Licht. „Jetzt sind wir weit weg von Aya und du hast die Nächste.“ „Ich hab' die... sag' mal, spinnst du?“, fuhr er sie an und Kari schreckte zurück. „Isabelle ist meine Cousine! Ich dachte, du wüsstest das.“ Kari klappte der Mund auf und mit weit aufgerissenen Augen starrte sie ihn an. Seine Cousine? „A-aber ich hab' sie auf Facebook gesehen. Die Fotos mit ihr und die Herzen und... und... ich dachte, sie wäre...“ „Mein Gott, wir standen uns ziemlich nahe, okay? Sie war so etwas wie meine beste Freundin. Sie wusste, was bei uns zu Hause los war. Ich konnte immer mit ihr reden. Sie war einfach immer da und hat getan, was sie konnte. Ist es verboten, mich zu freuen, so jemanden wiederzusehen? Und warum überhaupt bringst du Aya wieder zur Sprache? Ich dachte, wir hätten das geklärt.“ „Ich... oh Mann“, nuschelte Kari und ließ den Kopf hängen. „Jetzt fühle ich mich wie eine komplette Idiotin.“ „Mann, Kari!“ Er packte sie etwas grob an den Schultern und zwang sie in eine liegende Position. Sich dicht über sie beugend sah er sie an. „Wann hörst du endlich auf damit? Warum vertraust du mir nicht?“ „Ich vertraue dir doch“, erwiderte Kari kleinlaut. „Und warum denkst du dann jedes Mal, wenn ich mit einem anderen Mädchen rede, dass da irgendwas läuft?“ Sie presste die Lippen aufeinander, hielt seinem bohrenden Blick aber stand. „Ich habe einfach so viel Angst davor, dich zu verlieren. Obwohl wir sowieso nur noch zwei Wochen haben.“ Schweigend sahen sie sich an. Das einzige Geräusch, das Kari hören konnte, waren ihre und seine Atemzüge. Schließlich überwand er die letzten Zentimeter Abstand zwischen ihnen und küsste sie zärtlich. Noch immer hatte er diese umwerfende Wirkung auf Kari, löste ein wildes Kribbeln in ihrer Magengegend aus, beschleunigte ihren Herzschlag, ließ ihre Knie weich werden. Ob es ihm wohl genauso ging? Er verstärkte das Feuerwerk in ihrem Inneren, als seine Hand in ihre Pyjamahose glitt. Diesmal ließ sie sich auf seine Annäherungsversuche nur allzu gern ein.   Den nächsten Tag verbrachten sie in dem umwerfend schönen Schloss Versailles und seinem atemberaubenden Schlossgarten. Kari hätte am liebsten jede noch so winzige Kleinigkeit der für sie so fremdartigen Umgebung fotografiert. Sie konnte ihre Digitalkamera kaum aus der Hand legen, so sehr faszinierte sie das alles. Im Schloss gab es sogar einen Audioguide auf Japanisch, sodass sie völlig in die Welt Ludwigs des XIV. versunken durch die Räume ging, sich die alten Geschichten anhörte und versuchte, jeden Eindruck in sich einzusaugen. Auf der Rückfahrt nach Drancy plapperte sie wie ein Wasserfall über alles, was sie gesehen und gehört hatte, sodass T.K. sich schon über sie lustig machte. Doch sie musste einfach über ihre Erfahrungen sprechen. Sie hatte das Gefühl, sie würde sonst platzen. Den darauffolgenden Tag ließen sie ein wenig ruhiger angehen. Sie schliefen morgens lang, frühstückten in Ruhe mit T.K.s Großeltern und fuhren anschließend nach Paris. Kari ließ sich von T.K. die besten Shoppingcenter und Einkaufsstraßen zeigen und sie schlenderten gemütlich durch die Läden. Kari konnte nicht widerstehen, sich das ein oder andere neue Teil zuzulegen. Man konnte schließlich nicht in Paris Urlaub machen, ohne shoppen zu gehen. T.K. erwies sich als geduldige Shoppingbegleitung und gab sein Bestes, ihr ein guter Berater zu sein. Wann immer sie sich nicht sicher war, ob sie etwas kaufen sollte und seine Meinung dazu wissen wollte, musterte er sie einige Sekunden lang und versuchte anschließend, ihr eine objektive Meinung mitzuteilen. Kari teilte diese Meinung nicht immer, wusste es jedoch zu schätzen, dass er sich Mühe gab. Sie probierte gerade ein gepunktetes Sommerkleid an und zog den Vorhang auf, um sich ihm zu präsentieren. Er lehnte etwas gelangweilt an einer Säule und musterte sie von oben bis unten. „Und?“, fragte sie und sah ihn erwartungsvoll an. „Sieht gut aus. Die Farbe ist... passt gut zum Sommer“, antwortete er und kratzte sich im Nacken. Kari grinste und er fing ihren Blick auf. „Was?“, fragte er verunsichert. „Du bist echt süß, weißt du das?“ „Wieso?“ Er hob eine Augenbraue. „Schon gut.“ Sie kicherte und zog den Vorhang wieder zu, um sich umzuziehen. Für diesen Abend hatte T.K. einen Tisch im le joyeux citron gebucht, Karis Geburtstagsgeschenk. Gegen acht betraten sie das gemütlich anmutende Restaurant, in dem die Tische rund und mit weißen Tischdecken versehen waren. Auf jedem Tisch befanden sich Stoffservietten, Teller, Besteck und Weingläser und der durchschnittliche Gast war hübscher angezogen als Kari und T.K., die beide Jeans trugen. „Ich fühle mich ein bisschen underdressed“, murmelte Kari ihm zu, als gerade ein Kellner sie ansprach. T.K. unterhielt sich kurz mit ihm und anschließend wurden sie zu ihrem Tisch geleitet und bekamen die Speisekarten und eine Weinkarte. Zu Karis Überraschung schlug T.K. zuerst die Weinkarte auf. „So, worauf hast du Lust? Weiß oder rot?“ „Hä? Dir ist schon klar, dass wir noch keinen Wein bestellen können?“ Er lächelte sie verschmitzt über den Rand der Weinkarte hinweg an. „In Frankreich darf man ab achtzehn Alkohol trinken, meine Liebe. Das heißt, wir können uns ganz legal abschießen, zum ersten Mal in unserem Leben. Also, weiß oder rot?“ Kari machte große Augen. Hatte er wirklich vor, sich zu betrinken? Sie mussten irgendwie noch nach Hause kommen. „Ähm... rot?“ „Alles klar.“ Er tat, als hätte er Ahnung von den Weinsorten, die er daraufhin vorlas und Kari musste lachen. „Wie wäre es mit einem Pinot Noir für die besonders fruchtige Note? Oder einem Merlot für den süßlichen Abgang? Oder vielleicht doch lieber ein Garonnet, wenn du es herber möchtest?“ „Du bist ein Spinner“, erwiderte Kari lachend. „Nimm einfach den Billigsten.“ „Wie die Dame wünscht.“ Er schlug die Weinkarte zu und griff nach seiner Speisekarte. Die nächsten zehn Minuten brachte er damit zu, ihr die einzelnen Gerichte zu übersetzen und als der Kellner zurückkam, um ihre Bestellung aufzunehmen, bestellte sie sich Coq au vin, genau wie T.K. Das Gericht kannte sie zwar schon, doch nun konnte sie vergleichen, ob sie einen Unterschied zwischen dem im Restaurant und dem von T.K. ausmachen konnte. „Also“, sagte T.K. und hob sein Weinglas, „auf uns.“ Auch Kari hob ihr Glas und stieß es sanft gegen seines, bevor sie daran nippte. Ihr erster legaler Alkohol in der Öffentlichkeit. Sie fühlte sich fast schon alt. „Ganz schön trocken“, meinte sie. T.K. sah sie einige Sekunden nachdenklich an. „Hm. Ich würde sagen leicht nussig. Mild im Abgang. Dezenter Geschmack von Honig.“ Wieder musste Kari lachen. „Hör auf, so einen Müll zu reden, oder ich lass' dich hier im Weinkeller.“ „Dann kann ich meine Fähigkeiten als Sommelier wenigstens ausbauen“, erwiderte er schulterzuckend. „Und deine Fähigkeiten als Spinner.“ „Nicht so frech, Yagami. Sonst werden wir sehen, wer hier wen wo zurücklässt.“ Er lächelte verwegen. „Würdest du mich tatsächlich nachts mitten in Paris allein lassen?“, fragte sie und stützte den Kopf auf den Händen ab. „Ich könnte einem Vergewaltiger zum Opfer fallen.“ „Tja, dann musst du eben schnell rennen“, sagte er gespielt gleichgültig. „Das kann ich nicht, wenn du mich vorher abfüllst“, grummelte Kari und hob eine Augenbraue. „Dann wäre ich an deiner Stelle lieber nicht so vorlaut.“ Nun stützte auch er die Ellbogen auf dem Tisch ab und sah ihr in die Augen. Kari seufzte und wandte den Blick ab, zu sehr fühlte sie sich schon wieder durchbohrt. „Ich kann es irgendwie nicht glauben, dass ich gerade wirklich in Paris bin. Das kommt mir so unwirklich vor.“ „Ich kann auch nicht glauben, dass ich echt mit dir hier bin“, sagte er kopfschüttelnd. Vor fast einem Jahr hatten sie sich zum ersten Mal geküsst, doch selbst zu diesem Zeitpunkt war es Kari noch unmöglich erschienen, mit ihm eines Tages Paris zu bereisen. So viel hatte sich in dieser Zeit geändert. Am Ende des Abends waren sie tatsächlich beide ziemlich angetrunken, als sie nach Hause fuhren. Der Wein war Kari ordentlich zu Kopf gestiegen und sie hatte Mühe, alles um sich herum zu realisieren. Sie wankten beide ein klein wenig beim Gehen, machten alberne Witze, über die sie sich halbtot lachten und knipsten gefühlt einhundert fragwürdige Selfies. Es war mehr als angenehm, wenigstens für diese wenigen Stunden im Hier und Jetzt zu leben und nicht an morgen denken zu müssen.   Die letzten beiden Tage in Paris nutzten sie dazu, sich Sehenswürdigkeiten anzusehen, die Kari noch nicht gesehen hatte. Sie besuchten verschiedene Museen, berühmte Straßen, Kirchen, behagliche Cafés, machten eine Bootstour auf der Seine und spazierten durch die Stadt. Kari konnte sich kaum satt sehen. Paris war so anders als Tokio. Sie würde aus den ganzen Fotos, die sie geknipst hatte, ein Fotobuch basteln. Oder eine Collage. Oder beides. Sie genossen die letzten Sonnenstrahlen des Tages im Park auf der Wiese sitzend. Sie hatten sich ein ruhiges Fleckchen gesucht, an dem keine Menschen vorbeikamen, um das Zusammensein genießen zu können. „Die Zeit hier verging so schnell. Es kommt mir vor, als wären wir erst gestern angekommen“, seufzte Kari ein wenig wehmütig. „Wirklich? Mir kommt es irgendwie vor, als wären wir drei Wochen hier gewesen und nicht nur fünf Tage“, erwiderte T.K. Kari lächelte. „Wir haben echt viel gesehen. Du solltest über eine Karriere als Reiseleiter nachdenken.“ „Hm.“ T.K. ließ sich nach hinten fallen, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und sah in den blauen Himmel. „Vielleicht schreibe ich Reiseführer und gründe ein Unternehmen, das Reisen in der ganzen Welt anbietet. Und dann werde ich Millionär.“ Kari kicherte, drehte sich um und sah auf ihn herab. „Was für ein bescheidener Traum. Und was wird aus den Kriminalromanen? Und aus den ganzen Leuten, die du interviewen und deren Geschichten du aufschreiben wolltest?“ „Das mit den Geschichten verschiedener Leute kann man ja mit dem Reisen verbinden. Und die Kriminalromane schreibe ich, wenn ich gerade keine Lust aufs Reisen habe“, erwiderte er grinsend. „Okay. Und ich werde in den Bücherregalen dieser Welt Ausschau nach deinen Romanen halten“, versprach Kari lächelnd. „Brauchst du nicht. Ich schicke dir immer eine signierte Sonderausgabe zu, sobald es etwas Neues gibt“, sagte er schulterzuckend. „Wie großzügig“, meinte Kari spöttisch und legte sich neben ihn auf den Bauch. Sie stützte sich mit den Ellbogen ab. „So bin ich“, erwiderte er lässig und schloss die Augen. Für einige Minuten genossen sie einfach die Stille des Abends. Kari strich T.K. gedankenverloren über die Stirn und spielte mit seinem goldenen Haar, das im Licht der untergehenden Sonne fast schon ein wenig rötlich wirkte. Seine Augen waren noch immer geschlossen und er sah fast ein bisschen so aus, als würde er schlafen. Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen. „Takeru?“ Er schlug die Augen auf und sah sie fragend an. „Vielen Dank für diese schöne Woche. Ich glaube, es war die Schönste meines Lebens“, murmelte Kari lächelnd. „War mir ein Vergnügen“, erwiderte er. „Wie schade, dass unser erster gemeinsamer Urlaub auch unser letzter ist“, sagte Kari leise. Ihr Lächeln war verblasst. T.K. erwiderte nichts, sondern wandte den Blick von ihr ab und richtete ihn wieder auf den Himmel über ihnen. „Glaubst du, ich mache das Richtige?“, fragte Kari nach einigen weiteren Sekunden der Stille. Er zögerte eine Weile, bevor er antwortete. „Es ist dein Traum.“ Kapitel 71: Abschied für immer? ------------------------------- Die letzten zwei Wochen in Japan verbrachte Kari mit den Menschen, die ihr am wichtigsten waren: T.K., ihren Eltern, Tai, Mimi und Kaito, Davis und Ken und Nana. Kaito war bereits unglaublich groß geworden. Er krabbelte munter durch die Gegend und machte dabei die Wohnung unsicher und hielt seine Eltern auf Trab. Davis und Ken verbrachten allmählich wieder mehr Zeit miteinander und Kari wusste, dass Davis versuchte, sich mit anderen Jungen abzulenken. Ken und Nanas Zusammenleben klappte soweit sehr gut und sie waren ein eingespieltes Team. Kari freute sich für die beiden. Sie wirkten so glücklich in ihrer Beziehung. Karis und Tais Eltern gingen in ihrer Rolle als Großeltern vollkommen auf. Ständig wollten sie Zeit mit dem Kleinen verbringen, machten Ausflüge mit ihm oder boten sich freiwillig als Babysitter an, damit Tai und Mimi ihre Ehe genießen konnten. Für Kari war es einerseits schön, all diese positiven Entwicklungen anzusehen, andererseits jedoch auch schwer. Sie war von nun an kein Teil dieses Lebens mehr, sondern würde ein neues Leben auf einem anderen Kontinent starten. Als der Tag ihrer Abreise kam, weinte sie bereits das erste Mal morgens vor dem Spiegel im Badezimmer, als sie sich schminkte. Es war das letzte Mal, dass sie sich zu Hause für den Tag fertig machte. „Kari“, sagte T.K. überrascht, der gerade aus der Dusche kam. Er wickelte sich ein Handtuch um die Hüften und kam zu ihr. „Ich will dich nicht verlassen“, schluchzte sie und fiel ihm in die Arme, obwohl sein Oberkörper noch nass war. Das Wasser auf seiner Haut vermischte sich mit ihren Tränen, als sie ihr Gesicht gegen seine Schulter presste. Er schlang die Arme um sie und drückte sie an sich.   Zwei Stunden später standen sie alle auf dem Flughafen. Kari, ihre Eltern, T.K., Tai, Mimi und Kaito. Kari betrachtete sie, wie sie alle vor ihr standen und sie mit einer Mischung aus Wehmut und Freude musterten. Sie musste nun durch den Sicherheitscheck gehen und es war an der Zeit, sich auf unbestimmte Zeit zu verabschieden. Es war, als würde der Sicherheitscheck die Grenze zwischen ihrem alten und ihrem neuen Leben markieren. Sie wurde, bevor sie ihr neues Leben betrat, gründlich durchgecheckt, ob sie auch ja keine verbotenen Dinge von der Gegenwart in die Zukunft schleppen wollte, die ihr dort, wo sie hinging, ohnehin nur hinderlich waren. Dinge wie Gefühle. „Ich bin so stolz auf dich“, sagte Yuuko und zog sie in eine feste Umarmung. Tränen liefen ihr die Wangen hinunter. „Du wirst das gut machen, mein großes Mädchen.“ Der Nächste war Susumu, der die Arme um sie legte. „Pass' bitte gut auf dich auf. Wir sind immer für dich da. Denk' dran, wenn etwas schief geht, kannst du jederzeit zurückkommen. Oder auch einfach anrufen. Zeitverschiebung egal.“ „Danke, Papa“, murmelte Kari und neue Tränen liefen ihr die Wangen hinunter. Als nächstes war Mimi dran, die bitterlich weinte und schluchzte und von Kaito auf ihrem Arm schon ängstlich gemustert wurde. Sie schlang den freien Arm um Kari und drückte sie fest an sich. „Das wird ganz toll. Glaub' mir. Wir kommen dich, so schnell es geht, besuchen. Und wir schicken dir ganz viele Briefe und Fotos von Kaito. Du bist seine Lieblingstante. Und du wirst dich so in New York verlieben, glaub' mir. Es ist einfach großartig dort. Man kann so viel machen und so viel sehen und alle sind so...“ „Mimi“, unterbrach Tai sie nuschelnd. „Schon gut, tut mir leid“, schluchzte sie und ließ Kari wieder los. „Genieß' es.“ Kari nickte mit aufeinandergepressten Lippen und küsste Kaito auf die Wange. „Mach's gut, mein Kleiner. Du wirst mir ganz doll fehlen.“ Dann wandte sie sich an Tai. Der Abschied von ihrem Bruder fiel ihr besonders schwer. Sie konnte erkennen, dass er versuchte, zu lächeln, doch er schaffte es nicht. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, schlang die Arme um seinen Hals und drückte ihn an sich, so fest sie konnte. Es war die längste und innigste Umarmung, die sie jemals ausgetauscht hatten. „Mach's gut, Schwesterherz“, murmelte er in ihr Ohr. „Wir skypen ganz viel, okay? Wir können ja unsere regelmäßigen Telefonate nicht aufgeben“, antwortete sie. „Klar machen wir das. Und wehe du erzählst mir nicht alles“, drohte er scherzhaft. „Das Gleiche gilt für dich.“ Sie ließ ihn wieder los und sah ihn an. „Ich hab dich so lieb.“ Nun lächelte er doch. „Ich dich auch.“ Als sie sich an T.K. wandte, drehten alle anderen sich unauffällig weg und begannen ein Gespräch miteinander. Kari brachte es kaum übers Herz, ihm in die Augen zu sehen. „Ich kann nicht glauben, was ich hier mache“, murmelte sie und kratzte sich am Kopf. „Ich irgendwie auch nicht“, erwiderte er traurig lächelnd. „Du wirst mir so sehr fehlen.“ Neue Tränen liefen über ihre Wangen und sie wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. Sie fiel ihm in die Arme, küsste ihn innig, presste sich an ihn, um so viel von ihm zu spüren, wie nur irgend möglich. Am liebsten wollte sie nie wieder von ihm ablassen. Je länger sie dort standen und sich küssten, desto falscher kam es Kari vor, ihn in wenigen Minuten für immer zu verlassen. Fühlte sich so der Eintritt in das Erwachsensein an? War er immer begleitet von so vielen Tränen und so tiefer Traurigkeit? Nach einer gefühlten Ewigkeit ließen sie voneinander ab und Kari griff nach dem kleinen Koffer, der ihr als Handgepäck diente. „Macht's gut, alle miteinander. Vielen Dank für... alles.“ „Meld' dich, wenn du angekommen bist“, rief ihre Mutter. Sie winkten ihr zu und Kari winkte mit zitternder Hand zurück, bevor sie schließlich durch den Sicherheitscheck ihr neues Leben betrat. Kapitel 72: Die richtige Entscheidung ------------------------------------- drei Monate später   Es war bereits November und Kari konnte nicht sagen, was genau sie dazu gebracht hatte, ihre Meinung zu ändern. Wahrscheinlich war es eine Kombination aus allem gewesen. Sie hatte sich in New York auf dem Campus der Juilliard gut eingelebt. Zusammen mit einem Mädchen aus Chicago hatte sie sich ein Zimmer geteilt. Ihr Name war Jane und sie studierte ebenfalls Tanz. In den knapp drei Monaten ihres Zusammenlebens hatten sie sich immerhin schon ein wenig angefreundet, so gut es mit Karis mittelmäßigen Englischkünsten eben ging, und hatten sich gemeinsam New York angesehen. Auch mit ein paar anderen aus ihrem Jahrgang war Kari schon in Kontakt gekommen. Sie hatten sich zu gemeinsamen Mittagessen verabredet, waren ab und an abends zusammen ausgegangen, hatten Museen besucht oder andere kleine Ausflüge gemacht. Kari konnte also behaupten, sie hatte sich schon eine Art kleinen Freundeskreis aufgebaut. Auch mit dem Studium kam sie soweit ganz gut klar. Natürlich war es schwierig, die Anforderungen waren hoch, das Training dauerte manchmal bis nachts und es würden definitiv vier harte Jahre werden. Doch Kari war sich sicher, dass sie es mit viel Kraft und Disziplin hätte meistern können. Sie hätte es geschafft, dessen war sie sich sicher. Das Problem war jedoch, dass sie nicht mehr wusste, ob sie das überhaupt wollte. Für dieses Studium und ihre anschließende eventuelle Karriere als Tänzerin hatte sie alles, was ihr lieb und teuer war, hinter sich gelassen: ihre Heimat, ihre Familie, ihre Freunde, ihren Freund. Sie war es gewohnt, in einer Großstadt zu leben, der alltägliche Trubel, die Wolkenkratzer, der Autolärm und die schlechte Luft machten ihr also nicht allzu viel aus. Es waren eher andere Dinge. New York war so ganz anders als Tokio. Sie konnte nicht genau benennen, was es war, doch hier herrschte einfach eine völlig andere Mentalität. Sie vermisste alles an Japan: die Natur, die vielen hübschen Gärten mit ihren Tempeln, das viel weniger fettige Essen, die freundlichen und höflichen Menschen – alles. Mit ihren Eltern hatte sie fast jeden Tag über das Internet telefoniert, doch es klappte leider nicht allzu gut, da der Zeitunterschied zwischen New York und Tokio fünfzehn Stunden betrug. Sie vermisste es so sehr, sie jeden Tag zu sehen, mit ihnen gemeinsam zu essen, ihnen von ihrem Tag zu erzählen oder sich einfach über das schlechte Essen ihrer Mutter zu beschweren. Mimi schickte ihr regelmäßig Fotos von dem kleinen Kaito, der sich mittlerweile an allen möglichen Möbelstücken hochzog und mit Hilfe sicher stehen konnte. Es würde nicht mehr lang dauern und er würde seine ersten Schritte gehen. Mit ihren Freunden chattete sie regelmäßig, doch das war bereits etwas weniger geworden. Zu sehr war einfach jeder in sein eigenes neues Leben vertieft. Doch sie vermisste es, mit Nana über den neuesten Klatsch und Tratsch zu reden und DVD-Abende mit Davis und Ken zu veranstalten. Und ganz besonders vermisste sie natürlich T.K. Er war der Einzige, zu dem sie bisher keinen Kontakt gehabt hatte. Sie hatten beide beschlossen, sich erst einmal eine Weile nicht beim jeweils Anderen zu melden, da sie glaubten, es würde die Trennungssituation noch schwieriger machen, wenn sie nicht zusammen sein konnten, aber ständig in Kontakt standen. Sie wollten sich Zeit lassen, über die Trennung hinwegzukommen. Es verging jedoch kein Tag, an dem Kari nicht an ihn dachte und ihn so sehr vermisste, dass es weh tat. In den ersten Wochen hatte sie sogar jeden Tag geheult. Alles an ihm fehlte ihr unglaublich: jedes einzelne Haar, jeder Quadratzentimeter Haut, sein Lächeln, seine Berührungen, ihre gemeinsamen Gespräche über Gott und die Welt, die gemeinsam verbrachte Zeit, nachts nebeneinander einzuschlafen. Wie oft hatte sie sich im Schlaf eingebildet, er würde neben ihr liegen? Sie fragte sich, ob es ihm wohl genauso ging. Und dann fiel ihr auf, dass alles genauso gelaufen war wie bei Matt und Sora. Auch die beiden hatten sich getrennt, obwohl sie sich liebten. Weil Sora ins Ausland gegangen war. Auch sie hatten beschlossen, erst einmal keinen Kontakt miteinander zu haben. Sora hatte sogar jemand Neues kennen gelernt. Doch anscheinend waren beide nie ganz über die Trennung von dem jeweils Anderen hinweggekommen. Andernfalls hätten sie wohl kaum in der Nacht der Hochzeit miteinander geschlafen. Und wohin hatte sie diese Entscheidung nach der Schule gebracht? Beide konnten im Moment kaum unglücklicher sein. Dann kam der Tag, an dem Kari beschlossen hatte, dass ihr all das ihr neues Leben nicht wert war. Sie wusste nicht einmal, ob es überhaupt noch ihr Wunsch war, Tänzerin zu werden. Es war ein Traum, den sie in einer Zeit gehabt hatte, in der sie von allem genervt war und einfach nur weg wollte. Doch die alte Kari, die, zu der sie seit T.K.s Rückkehr allmählich wieder geworden war, hatte immer den Traum gehabt, etwas mit Kindern zu machen, Grundschullehrerin zu werden, selbst mal Kinder zu haben. Und was brachte es schon, als Tänzerin die Welt zu bereisen und ein Leben zu führen, für das andere über Leichen gehen würden, wenn man doch eigentlich etwas ganz Anderes wollte? Nervös kaute sie auf der Unterlippe herum und sah aus dem Fenster. Gerade hatten sie mit dem Landeanflug auf Tokio begonnen. Ihre schwitzenden Finger rupften angespannt an einem Stück Papier herum, während ihr Lächeln immer breiter wurde, je mehr sie sich dem Boden näherten. Kari hatte niemandem in Japan erzählt, dass sie zurückkehren würde, aus Angst, jemand würde versuchen, sie doch wieder umzustimmen, obwohl sie für sich schon entschieden hatte, dass sie in New York nicht glücklich werden würde. Deshalb konnte sie es kaum erwarten, die Gesichter zu sehen, wenn sie plötzlich vor der Tür stand. Jane und auch den anderen, mit denen sie sich angefreundet hatte, hatte sie natürlich von ihrem Vorhaben erzählt. Fast alle hatten versucht, sie zu überreden, es wenigstens noch ein paar Wochen länger zu versuchen, doch verstanden hatten sie ihre Gefühle am Ende trotzdem. Als Kari eine halbe Stunde später das Flugzeug verließ, streckte sie ihre von dem langen Flug steifen Glieder und atmete tief ein. Sie konnte es kaum glauben; sie war wieder zu Hause. Beschwingt lief sie mit ihrer Handtasche durch das Flughafengebäude zur Gepäckausgabe, wartete ungeduldig auf ihren riesigen Koffer und verließ das Gebäude. Ungeduldig schnappte sie sich das nächstbeste Taxi und nannte dem Fahrer die Adresse ihrer Eltern. Voller Vorfreude blickte sie aus dem Fenster und bewunderte die Stadt, die sie so sehr vermisst hatte. Schon jetzt wusste sie, dass es definitiv die richtige Entscheidung gewesen war. Die Fahrt konnte ihr jedoch trotzdem nicht schnell genug vorbeigehen. Sie war einfach zu aufgeregt, um sich noch länger zu gedulden. Endlich kam sie vor dem ihr so vertrauten Wohnblock an. Sie bezahlte den Fahrer, sprang aus dem Taxi, schnappte sich ihr Gepäck und ging ins Haus. Oben vor der Wohnungstür atmete sie tief durch, bevor sie den Schlüssel ins Schloss steckte. Glück gehabt, er passte noch. Ihre Eltern hatten also nicht das Schloss austauschen lassen, seit sie weg war. Langsam betrat sie die Wohnung. Alles wirkte ruhig. „Mama?“, rief sie und lauschte. Keine Antwort. Sie zerrte ihr Gepäck in die Wohnung und ließ es einfach im Flur stehen, bevor sie sich umsah. Alles war noch genauso wie an dem Tag, an dem sie diese Wohnung verlassen hatte. Nichts hatte sich verändert. Mit leuchtenden Augen und sich um sich selbst drehend sah sie sich um. Ihr Zuhause. Sie lief in ihr Zimmer. Auch hier hatte sich nichts verändert. Mit einem Freudenschrei ließ sie sich auf ihr Bett fallen, das sogar noch genau so bezogen war wie am Tag ihrer Abreise, und schlang die Arme um das Kissen. Es war fast so, als wäre sie nie weg gewesen. Einige Minuten lag sie dort in ihrem Bett, atmete den Geruch ihres Zimmers ein und versuchte, zu realisieren, dass sie wieder zu Hause war, bevor sie sich jedoch wieder aus dem Bett schwang. Sie wollte jetzt unbedingt jemanden sehen, denn ihre Mutter war ja offensichtlich nicht zu Hause. Erneut verließ sie die Wohnung und rannte den Weg zu T.K. fast schon. Völlig außer Atem kam sie dort an, ging ins Haus und lief mit klopfendem Herzen die Treppen hinauf. Als sie vor der Tür stand und die Hand zum Klingeln hob, hielt sie jedoch inne. Was war, falls T.K. schon eine Neue hatte? Vielleicht sogar Aya. Was würde dann passieren? Vielleicht war er gerade mit seiner neuen Freundin zu Gange und konnte überhaupt nichts mit ihr und ihrer Rückkehr anfangen, würde sich nur verlegen am Kopf kratzen und eine Entschuldigung murmeln. Ein kalter Schauer lief Kari den Rücken hinunter. Es war das erste Mal, dass sie über diese Möglichkeit nachdachte. Sie könnte es ihm nicht verübeln, doch allein der Gedanke daran brach ihr fast das Herz. Doch schließlich nahm sie all ihren Mut zusammen und drückte auf den Klingelknopf. Angespannte Sekunden des Wartens folgten. Unruhig tippelte Kari mit den Füßen, sah auf ihre Armbanduhr und fuhr sich durch die Haare. Niemand öffnete die Tür. Sie klingelte noch einmal, wieder vergingen einige Sekunden und wieder folgte keine Reaktion. Anscheinend war auch hier keiner zu Hause. Enttäuscht seufzte Kari und drehte sich um. Langsam ging sie die Treppe hinunter und überlegte, was sie nun machen sollte. In T.K.s Uni fahren? Nein, das würde nichts bringen, da würde sie ewig nach ihm suchen müssen. Sich hier hin setzen und warten? Irgendwann musste er ja wieder nach Hause kommen. Aber vielleicht schlief er auch gerade heute auswärts. Schweren Herzens entschloss sie sich, erst einmal wieder nach Hause zu gehen. Dann würde sie eben doch demnächst hoffentlich ihre Mutter wiedersehen. Doch gerade, als sie das Gebäude verließ und nach links abbog, hielt sie jemand auf. „Entschuldigung?“ Sie drehte sich mit fragendem Blick um und dort stand er. Seine Stimme hatte sie sofort erkannt. Etwa fünf Meter standen sie voneinander entfernt und starrten einander an. Er war es wirklich, dort stand T.K. Sein Haar war wesentlich kürzer als noch vor drei Monaten, die Jacke, die er trug, kannte sie noch nicht, doch sie hätte ihn trotzdem unter tausend anderen erkannt. Er sah noch genauso gut aus, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Sein Blick war fassungslos, seine blauen Augen auf sie gerichtet, sein Mund leicht geöffnet, als wollte er etwas sagen, doch es dauerte eine Weile, bis er seine Sprache wiederfand. „Kari?“, fragte er kaum hörbar. „T.K.“, sagte sie mit genauso leiser Stimme. Dann löste sich ihre Starre. Sie rannte auf ihn zu, er ließ seine Sporttasche achtlos fallen und fing sie auf. Sie tauschten einen flüchtigen Kuss, doch dann presste sie das Gesicht in seine Jacke und fing an zu schluchzen. Epilog: Einfach nur glücklich sein ---------------------------------- fünf Jahre später   „Meinst du wirklich, wir sollten es ihnen heute sagen?“, fragte Kari unsicher, als sie an dem Haus ankamen, in dem Tai und Mimi wohnten. „Wann sollen wir es ihnen denn sonst sagen? Wir müssen die Einladungskarten bald verschicken und wie ich Mimi kenne, ist sie am Ende nur beleidigt, dass sie es nicht schon vorher wusste“, erwiderte T.K. bestimmt. „Aber sie hat doch wegen des Babys gerade solche Stimmungsschwankungen“, meinte Kari unsicher. „Ich will wirklich nicht, dass wir noch vorzeitige Wehen auslösen oder so.“ „Was, meinst du wohl, lösen wir aus, wenn sie von der Hochzeit erst durch die Einladungskarte erfährt?“, erwiderte T.K. kopfschüttelnd. „Nein, wir sagen es ihnen heute. Sie warten doch eh schon seit vier Jahren darauf.“ Vor vier Jahren, kurz nachdem Kari angefangen hatte, Grundschullehramt zu studieren, waren sie zusammengezogen und seitdem hatte Mimi andauernd Heiratsandeutungen gemacht. Kari hatte es schon nicht mehr hören können. Und dann, vor einer Woche, hatte T.K. sie tatsächlich gefragt. Sie drückte auf den Klingelknopf und hörte prompt von drinnen Kinderstimmen aufgeregt schreien. Wenig später wurde die Tür von Tai aufgerissen und ein überdrehter Kaito sprang ihnen entgegen. „Onkel T.K.!“, rief er und T.K. ging in die Knie, um ihn aufzufangen. „Hey Großer“, begrüßte er ihn, erwiderte seine stürmische Umarmung und zerzauste ihm das Haar. Kaito war aus irgendeinem Grund ganz verrückt nach T.K., sodass Kari manchmal schon eifersüchtig war. „Hallo? Werde ich vielleicht auch begrüßt?“, sagte sie gespielt beleidigt und verschränkte die Arme vor der Brust. Kaito grinste und umarmte schließlich auch sie. „Hallo, Tante Kari. Hast du mir was mitgebracht?“ „Kaito“, grummelte Tai vorwurfsvoll. Kari jedoch lachte nur. „Klar hab' ich was für dich dabei.“ Sie holte aus ihrer Handtasche zwei Fußbälle aus Schokolade hervor und drückte sie ihrem Neffen in die Hand. „Aber einen davon gibst du deinem Bruder.“ „Yay!“, jubelte Kaito und rannte zurück ins Wohnzimmer. „Mein Gott, macht der mir manchmal Kopfschmerzen“, stöhnte Tai und rieb sich die Stirn, dann umarmte er Kari und T.K. zur Begrüßung. „Kommt rein.“ „Er wird dir eben immer ähnlicher“, sagte Kari grinsend, wofür Tai ihr mit dem Finger gegen die Stirn schnippte. Sie gingen in das Wohnzimmer mit offener Küche, wo Mimi gerade dabei war, den Kaffeeautomaten mit den hundert Möglichkeiten zu bedienen. Quengelnd an ihrem Rockzipfel hing der kleine Yamato, verstummte jedoch, als Kari und T.K. den Raum betraten, und starrte sie aus großen, dunklen Augen an. „Hallo, ihr Süßen“, rief Mimi und winkte ihnen zu, bevor sie Yamato sanft von sich schob. „Na los, geh' Tante Kari und Onkel T.K. hallo sagen.“ Yamato bewegte sich jedoch nicht, sondern stand weiterhin dicht an Mimi gedrängt, einen Arm um ihr Bein geschlungen und Kari und T.K. unsicher musternd. „Hi, mein Süßer“, sagte Kari lächelnd und hockte sich vor ihm auf den Boden. „Hältst du Mama vom Arbeiten ab?“ Sie breitete einladend die Arme aus. Erst schien Yamato nicht zu wissen, was er davon halten sollte, doch schließlich bildete sich ein Lachen auf seinem Gesicht und er lief in Karis Arme. Sie hob ihn hoch und küsste ihn auf die Wange. „Tari“, sagte er und tippte ihr gegen die Brust. „Tari.“ „Ja, ich bin deine Tante Kari“, antwortete sie gerührt. „Und da ist dein Onkel T.K.“ „Titey“, kommentierte Yamato und streckte die Arme nach T.K. aus, der auf dem Boden saß und sich von Kaito ein Spielzeugauto zeigen ließ. Er blickte auf und nahm Kari Yamato ab, der ihr schon fast aus den Armen fiel. „Hey, Kleiner“, sagte T.K. lächelnd und setzte ihn auf seinen Schoß. Grinsend beobachtete Kari T.K. und die beiden Jungs, wie sie am Boden saßen und mit Autos spielten. Die Vaterrolle stand ihm wirklich ausgesprochen gut. Die Jungs liebten ihn. „Kari, da du bei den Kindern nicht so beliebt bist, kannst du beim Tischdecken helfen“, sagte Tai und drückte ihr einen Stapel Teller in die Hand. Sie streckte ihm die Zunge raus und verteilte die Teller auf dem Tisch. Tai legte Gabeln dazu und holte zwei große Teller, die mit Kuchenstücken gefüllt waren. „Gibt's endlich Kuchen?“, rief Kaito und reckte den Hals, um einen Blick auf den Tisch werfen zu können. „Um Himmels willen, du bist wie dein Vater“, seufzte Mimi, während der Rest lachte. Alle setzten sich um den Tisch herum, Yamato wurde in seinen Kinderstuhl verfrachtet und fing sofort an, ein Stück Kuchen mit Zuckerguss und bunten Streuseln in sich hineinzuschaufeln und dabei eine riesige Schweinerei zu veranstalten. Kaito, der darauf bestanden hatte, neben T.K. zu sitzen, aß ein Stück Schokokuchen und sein Mund war bereits nach wenigen Bissen mit Schokolade beschmiert. Mimi musterte ihn stirnrunzelnd. „Ich hoffe, Nummer drei hat endlich mal bessere Manieren“, grummelte sie und griff nach ihrer Gabel. „Hast du ihnen schon gesagt, was es wird?“, fragte Tai. Mimis Gesichtsausdruck verfinsterte sich, während T.K. und Kari hellhörig wurden. „Oh, ihr wisst das Geschlecht?“, fragte T.K. an Tai gewandt. „Jap. Noch ein kleiner Stammhalter“, erwiderte dieser und grinste triumphierend. „Wow, Glückwunsch“, sagte T.K. lachend. „Noch ein Junge? Ist ja cool.“ Kari lächelte, bemerkte dann jedoch Mimis genervten Blick. „Ja, noch so ein verfressener Fußballidiot“, grummelte sie. „Ich hätte so gern ein Mädchen zum Shoppen und Quatschen gehabt.“ „Tja, ich hab' dir ja gleich gesagt, dass ich nur Jungs zeugen kann.“ Grinsend zuckte Tai mit den Schultern. „Klappe, Yagami“, murrte Mimi. „Jungs sind doch genauso toll wie Mädchen“, versuchte Kari Mimi aufzumuntern und lächelte. Mimi warf einen Blick auf Yamato, der gerade fröhlich quietschend Kuchenkrümel auf den Boden warf. „Ja, sind sie ja auch, aber... trotzdem.“ Sie strich Yamato über das haselnussfarbene Haar, das er eindeutig von ihr hatte. Auch im Gesicht war eine starke Ähnlichkeit zu Mimi zu erkennen, während Kaito das absolute Ebenbild seines Vaters war. Und doch sahen sich die beiden Brüder ziemlich ähnlich. „Ah, ich soll euch übrigens von Sora grüßen. Hab' vorhin mit ihr telefoniert. Sie, Fabio und Camilla kommen über Weihnachten nach Japan“, erzählte Mimi. Nachdem Sora kurz nach Matts Tod Fabio die Affäre und ihre Gefühle für Matt gestanden hatte, hatte dieser sich von ihr getrennt. Jedoch waren sie nach zwei Jahren der Trennung wieder einander nähergekommen und schließlich doch wieder ein Paar geworden. Fabio hatte unendlich viel Verständnis für Sora und ihre Situation aufgebracht und ihr schließlich verzeihen können. Ihre erste gemeinsame Tochter Camilla war vor kurzem ein Jahr alt geworden. „Danke. Wie geht es ihr?“, fragte Kari interessiert. „Gut. Sie freut sich schon wahnsinnig auf uns alle“, antwortete Mimi lächelnd. „Und ich kann es auch kaum erwarten, Camilla endlich mal live zu sehen. Sie ist so unheimlich süß.“ „Kein Wunder. Bei den Eltern“, seufzte Kari. „Und wie geht es Davis? Ich habe schon eine Weile nichts mehr von ihm gehört“, fragte Tai nun. „Dem geht’s auch gut. Er hat jetzt endlich einen Freund“, antwortete Kari kichernd. Anerkennend hob Tai die Augenbrauen, während Mimi ein „Uh“ ausstieß. „Ist es diesmal was Ernstes?“, fragte sie neugierig. „Ja, ich glaube schon. Er ist ganz verknallt.“ Mimi kicherte. „Ich hoffe, den lernen wir dann an Weihnachten auch mal kennen, wenn wir uns vielleicht alle mal wieder treffen.“ Kari nickte und dachte noch über Davis nach. Ja, er wirkte wirklich glücklich, seit er seinen Freund hatte. Und auch bei Ken und Nana lief alles noch super. Jedoch war die Freundschaft zwischen Davis und Ken bis heute nicht mehr so geworden, wie sie einmal gewesen war. Zwar trafen sie sich manchmal noch zu dritt, doch es war nicht mehr das Gleiche. Es bestand noch immer eine gewisse Distanz zwischen den beiden Jungs, die es früher nicht gegeben hatte. Sie aßen und plauderten fröhlich über alles Mögliche und räumten anschließend gemeinsam den Tisch ab, während die beiden Jungs mit Autos spielten. „Kari, reichst du mir mal bitte die Box da drüben?“, fragte Mimi und deutete auf eine Plastikbox. „Ich muss die Kuchenreste verstecken, bevor Kaito sie verschlingt.“ Kari kicherte und gab Mimi die Box, doch als sie ihre Hand zurückziehen wollte, griff Mimi in einer ruckartigen Bewegung danach und musterte den schmalen Silberring an ihrem Ringfinger. Ihr Blick hob sich und sie sah Kari mit weit aufgerissenen Augen an. „Ist das etwa...“ Kari spürte das geheimnisvolle Lächeln, das sich auf ihren Lippen ausbreitete. Sie drehte sich zu T.K. um, der gerade hinter ihr am Geschirrspüler beschäftigt war, und nahm seine Hand. „Wir werden heiraten.“ Ein Jubelschrei ging durch den Raum, der Yamato zusammenzucken, Kaito die Stirn runzeln und Tai aufblicken ließ, und Mimi fiel zuerst Kari und dann T.K. um den Hals. „Oh, ich freue mich ja so für euch! Herzlichen Glückwunsch! Mann, das hat ja auch lang genug gedauert. Sie heiraten, Tai! Sie heiraten!“ „Was?!“ Ihm klappte der Mund auf, doch dann klopfte er T.K. auf die Schulter und umarmte Kari ebenfalls. „Glückwunsch.“ „Wann ist die Hochzeit?“, fragte Mimi aufgeregt, als Tai seine Schwester wieder losließ. „Wir wollen im Juli feiern“, antwortete T.K., der Kari an sich gezogen hatte. „Oh, wie schön. Im Sommer“, seufzte Mimi. „Ah, ich brauche ein neues Kleid. Und neue Schuhe. Und oh Gott, die Jungs brauchen auch irgendwas Schickes.“ „Weib, krieg' dich wieder ein, das sind noch neun Monate“, sagte Tai und hob eine Augenbraue. „Wie hast du den Antrag gemacht?“, fragte Mimi an T.K. gewandt, ohne auf Tai einzugehen. „Oh, es war echt schön“, schwärmte Kari mit leuchtenden Augen. „Ich habe meine unglaublichen Kochkünste eingesetzt und ein Drei-Gänge-Menü für uns gekocht“, antwortete T.K. schief grinsend. „Es kam ganz überraschend. Hab' gar nicht mit sowas gerechnet. Und im Dessert, Mousse au Chocolat, war der Ring versteckt. Ich hab' mir fast einen Zahn ausgebissen“, erzählte Kari lachend. Die anderen stimmten in ihr Lachen ein. „War bestimmt Absicht“, kommentierte Tai. „Eigentlich wollte ich, dass sie sich alle Zähne ausbeißt, damit ich nicht mehr kochen muss“, witzelte T.K. und wieder lachten alle. „Idiot“, murmelte Kari und lehnte den Kopf gegen seine Schulter. Ja, er war ein Idiot, aber er war ihr Idiot. Sie hatte in den letzten fünf Jahren keine Sekunde lang bereut, nicht in New York geblieben zu sein. Ihre Entscheidung war auf die ganz große Liebe anstatt auf die ganz große Karriere gefallen. Bald würde sie mit dem Studium fertig sein und T.K. arbeitete schon seit einer Weile als Journalist bei einer Zeitung. Mit der anstehenden Hochzeit würden sie nun endgültig in ihre gemeinsame Zukunft starten und Seite an Seite auf das hinarbeiten, was sie sich schon immer gewünscht hatten: einfach nur glücklich sein. Zusammen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)