Kristallflügel von Flordelis ================================================================================ Kapitel 1: Das Geheimnis der Heiligen Stätte -------------------------------------------- Als die Tür hinter ihr zufiel, hallte der laute Knall durch das gesamte Kirchenschiff. Ihr erschrockener Schrei ging im Widerhall unter, zumindest würde so niemand bemerken, dass sie da war – auch wenn ohnehin niemand außer ihr anwesend zu sein schien. Eine geradezu ehrfürchtige Stille erfüllte die Kirche, nachdem der Knall verklungen war. Irgendwo, hoch oben im Dachgebälk, glaubte sie, immer noch einen Nachhall vernehmen zu können, aber es war gut möglich, dass sie sich das nur einbildete, weil sie glaubte, dass es so sein müsste. An den Wänden hingen in unregelmäßigen Abständen blutrote Wandteppiche auf denen das silberne Emblem in Form eines Drachenkopfes abgebildet war, die dunklen Holzbänke, die mit weinrotem Polster besetzt waren, standen verlassen da, genau wie der Altar auf dem Podest am anderen Ende des Gebäudes. Dahinter befand sich ein eindrucksvolles Wandbild, das ein Schlachtfeld zeigte – und inmitten all der Soldaten ragte der Leib eines Drachen hervor. Der Körper war mit rubinroten, glühenden Schuppen übersät, die grünen Augen schienen regelrecht zu leuchten und der Maler hatte es sogar geschafft, die ausgebreiteten Schwingen transparent erscheinen zu lassen, so dass sie zahlreichen Sterne des Himmels dahinter durchschienen. Sie sah dieses Bild das erste Mal und konnte so in diesem Moment nur erstarrt staunen, um all die kleinen Details abseits des Drachen – der Maler hatte sogar an die erstaunten Gesichter der Soldaten gedacht, ein anderer war sogar auf die Knie gefallen, um zu beten und wieder ein anderer griff sich an die Brust – in sich aufzunehmen. Erst mehrere Sekunden später, fiel ihr schlagartig wieder ein, weswegen sie überhaupt in diese Kirche gekommen war, die sie eigentlich gar nicht betreten dürfte. Ihr Blick huschte durch den ganzen Raum, aber nirgends entdeckte sie eine Spur des jungen Mannes, der sie erst angerempelt, ihr dann ihre Posttasche gestohlen und damit in die Flucht in diese Kirche eingeschlagen hatte. Leise seufzend schüttelte sie mit dem Kopf, wischte sich eine rotblonde Strähne aus der Stirn und drehte sich um, damit sie die Tür öffnen und wieder hinausgehen könnte, ehe sie erwischt werden würde – doch die Tür gab nicht nach. Sie konnte die Klinke niederdrücken, sie konnte ziehen oder drücken, aber die Tür öffnete sich ihr nicht mehr. Als sie zurücktrat und den Blick schweifen ließ, stellte sie fest, dass mehrere Kabel von der Tür wegführten und an der nächsten Ecke in der Wand verschwand, um dort weiterzulaufen. Sie war elektronisch verschlossen, sie konnte nicht mehr hinaus, aber wie war sie überhaupt hereingekommen? Dieser Mann, der vor ihr hereingekommen war, hatte die Tür geöffnet, das war deutlich zu sehen gewesen, vielleicht besaß er einen Schlüssel. Das müsste sie herausfinden, indem sie ihn weiterverfolgte. Zu diesem Zweck schritt sie durch das Kirchenschiff, an den Bänken entlang, die verlassen und auch einsam wirkten, so als wünschten sie sich, dass jemand sich auf sie setzen und ihnen Gesellschaft leisten würde. Sie widerstand der Versuchung, auch wenn sie glaubte, dass jede Reihe, die sie hinter sich ließ, ihren Namen rief, mit wachsender Verzweiflung, als würde sie die nicht vorhandenen Arme nach ihr ausstrecken wollen. Doch wann immer sie sich umdrehte, verstummten die Stimmen und ihr wurde bewusst, was für eine unsinnige Annahme es gewesen war. Sie versuchte, zu lachen, aber nur ein Krächzen kam über ihre Lippen. Eilig lief sie weiter, um diesen Raum endlich hinter sich zu lassen. Je näher sie dem Wandgemälde kam, desto deutlicher erkannte sie, dass das Glitzern nicht daher rührte, dass der Maler eine seltene Farbe oder gar Edelsteine verwendet hatte. Vielmehr waren die entsprechenden Stellen mit Buntglas besetzt und ließen das Licht einfallen, weswegen es so aussah, als würde alles glitzern. „Wie schön“, entfuhr es ihr leise, als sie direkt vor dem Bild wieder stehenblieb. Sie konnte nicht widerstehen, die Hand auszustrecken, doch noch ehe sie es berühren konnte- „Elaine...“ Die tiefe Stimme, die ihren Namen flüsterte, ließ sie augenblicklich zusammenzucken und zurückweichen. Sie fürchtete bereits, erwischt worden zu sein, aber als sie sich umsah, entdeckte sie immer noch niemanden. Dafür fiel ihr Blick auf eine Tür, die sie zuvor nicht hatte sehen können, da sie hinter einem Wandteppich verborgen gewesen war. Dieser wurde von einem kaum merkbaren Windstoß, dessen Ursprung sie nicht entdecken konnte, ein wenig bewegt, so dass sie die Tür sehen konnte. Das, in Verbindung mit der mysteriösen Stimme, die ihren Namen kannte, sagte ihr, dass es eine furchtbar schlechte Idee war, dem Ganzen nachzugehen. Was immer hier vorging, würde jede Menge Ärger nach sich ziehen, so viel war ihr klar – aber dennoch blieb ihr keine andere Alternative. Das einzige, was ihr noch einfiel war, sich hinzusetzen und darauf zu warten, dass jemand vorbeikam, der sie entdeckte und sie dafür rügte, dass sie diese Kirche betreten hatte, obwohl sie das eigentlich gar nicht dürfte. Das war keine sonderlich angenehme Aussicht, genausowenig wie in dieser angespannten Atmosphäre auszuharren, also beschloss sie, lieber der Stimme zu folgen, in der Hoffnung, dass es nicht gefährlich werden würde. Die Tür war tatsächlich nicht verschlossen, führte jedoch in einen Gang, der stetig nach unten verlief und von dem keine weiteren Türen abgingen, die sie in andere Räume bringen könnten. Nur zögernd trat sie hindurch und zuckte wieder erschrocken zusammen, als zum zweiten Mal an diesem Tag etwas hinter ihr ins Schloss fiel. Ein kurzes Rütteln bestätigte sie darin, dass nun auch diese Tür verschlossen war, was sie mit einem leisen Seufzen quittierte. Wie auch immer das passieren konnte... was ist hier nur los? Bis vor wenigen Minuten war sie noch eine normale Briefträgerin in Nersrose, der Hauptstadt von Epermia, gewesen und war ihrer Arbeit nachgegangen – und nun befand sie sich in einem finsteren Gang, der sie in den Keller der Kirche führen würde. Sie vermisste ihr normales Leben bereits. Da sie keinen anderen Weg mehr hatte, lief sie weiter, wobei jeder ihrer Schritte von einem unheimlichen Widerhall begleitet wurde, so dass es klang, als würde jemand vor und hinter ihr laufen, was sie nicht gerade mit Zuversicht erfüllte. Zumindest herrschte nicht völlige Dunkelheit im Gang, denn an den Wänden waren elektrische Kerzenhalter angebracht, die trübes, farbloses Licht verbreiteten. Womit genau sie betrieben wurden, wusste niemand so genau. Die Kirche Ners, die über Epermia herrschte, besaß einfach Energiequellen, aber niemand außer ihren Mitgliedern wusste genau, was es damit auf sich hatte. Doch wenn sie es richtig sah, würde sie ebenfalls bald wissen, worum es sich bei dieser Quelle handelte, obwohl sie das nicht einmal wollte. Wie lange sie in diesem Gang war, konnte sie nicht sagen. Ihre einzige Uhr, anhand derer sie sich orientierte, war normalerweise die Kirchturmuhr, aber von der bekam sie selbstverständlich nicht viel mit, wenn sie sich unterhalb des Gebäudes befand. Ihrer inneren Uhr konnte sie jedenfalls nicht vertrauen, denn diese redete ihr ein, dass sie sich bereits seit Stunden an diesem Ort aufhielt, obwohl sie realistisch gesehen nicht einmal mit dreißig Minuten rechnete. Aber da sich nichts an ihrer Umgebung änderte, war es auch gut möglich, dass sie sich einfach täuschte. Doch schließlich – als sie sich bereits wieder zahlreiche Märchen in Erinnerung rief, in denen sich Mädchen in unendlichen Gängen wiederfanden und dort irgendwann sterben – kam sie an eine Tür. Im ersten Moment blieb sie einfach nur stehen und blickte das schmucklose, abgenutzte Holz einfach nur an, als könnte sie es gar nicht glauben, eine solche nun gefunden zu haben. Aber was sie davon abhielt weiterzugehen, war die pure Energie, die sie jenseits davon spürte. Etwas Erhabenes, Altes befand sich dahinter und sie fürchtete sich davor, ihm ins Angesicht zu blicken. „Elaine...“ Wieder diese Stimme und wieder hatte sie dieses Gefühl, dass jemand nach ihr zu greifen versuchte und dieses Mal verschwand es auch nicht, als sie sich umsah. Das Gefühl, dass sie nicht allein war, blieb und wollte sie einfach nicht mehr verlassen. Ihr blieb also nur noch eine einzige Alternative und diese bestand darin, durch diese Tür zu gehen. Sie atmete noch einmal tief durch und ging dann hindurch, nur um noch einmal stehenzubleiben, diesmal aber eher aus Erstaunen. Zuvor war sie durch einen Gang gelaufen mit steinernen Wänden, aber nun befand sie sich in einem Raum, dessen Wände mit Metall verkleidet waren. Kompliziert aussehende Anlagen, deren Sinn sich ihr nicht erschlossen, waren ihr gegenüber aufgebaut, auf den Bildschirmen – die von der Kirche auch auf dem Hauptplatz verwendet wurden, um Ansagen zu übermitteln – blinkten Symbole, die sie genausowenig verstand. Immerhin war das weiße, viel zu helle Licht, grell genug, damit es keine dunklen Ecken gab, vor denen sie sich fürchten müsste, während sie sich umherbewegte. „Das ist ziemlich viel Elektronik für eine Kirche“, überlegte sie murmelnd. „Was machen sie hier unten nur?“ Ihr fiel keine Erklärung dafür ein, egal wie sehr sie sich das Hirn zu zermartern versuchte. Aber vielleicht stimmte es auch, was alle sagten und sie war einfach nicht sonderlich begabt im kognitiven Bereich. Deswegen versuchte sie, das zu ignorieren und lief eilig auf die nächste Tür zu, die sich hier befand – und zu der auch zahlreiche Kabel führten, die an den Wänden verliefen. Woraus immer die Energiequelle bestand, sie befand sich mit ziemlicher Sicherheit hinter dieser Tür und wenn sie diese nun öffnete, gab es keinerlei Zurück mehr. Sobald sie wusste, worum es sich befand, würde sie vermutlich zum Feind der Kirche werden, ohne das überhaupt zu wollen. Aber sie war auch nicht daran interessiert, dieses drängende Gefühl noch einmal zu verspüren, weswegen sie die Tür doch öffnete, noch bevor die Stimme sie wieder ermahnen konnte. Der Raum jenseits der elektrischen Anlage war nicht nur wieder dunkel, er war auch wesentlich weiter, fast so als befände sie sich in einer Höhle, so klang es jedenfalls, als sie wenige Schritte lief und dem Widerhall lauschte. Aus Ermangelung eines sichtbaren Weges lief sie einfach geradeaus, mit langsamen Schritten, um den Boden immer erst abzutasten, ehe sie den Fuß richtig aufsetzte, damit sie nicht plötzlich in einen Abgrund stürzen würde. Wieder wusste sie nicht, wie lange sie bereits gelaufen war, als sie eine plötzliche Bewegung vor sich wahrnehmen konnte. Sie überlegte gerade, ob sie vielleicht versuchen wollte auszuweichen, obwohl sie nicht einmal wusste, welcher Bedrohung sie sich überhaupt gegenübersah, da ertönte ein lautes Grollen und im nächsten Augenblick erhellte Licht den Raum. Es war keine Lampe, die es ausstrahlte, sondern vielmehr der riesige Leib eines wahrhaftigen Drachen. Unter den roten Schuppen glühte ein helles, goldenes Licht, das zwischen ihnen hindurchschien und damit den Raum genügend illuminierte, um das Wesen zu erkennen. Es sah aus wie jenes von dem Wandbild, nur... älter. Die Flügel hingen schlaff herab, als wären sie verwelkt, einige der Zähne im Gebiss fehlten bereits und die grünen Augen blickten nur noch trübe. Alles in allem machte er keinen sonderlich furchterregenden Eindruck mehr, vielmehr einen, der Mitleid in ihr weckte. Deswegen konnte sie nicht anders, als die Hand auszustrecken, um ihn zu berühren und ihn mit einem sanften Streicheln zu beruhigen, aber sofort hielt sie wieder inne, noch bevor sie überhaupt in seine Nähe gekommen war. Auch ohne all seine Zähne und ohne den Blick eines Jägers war er gefährlich, das wusste sie und deswegen musste sie aufpassen, wenn ihr an der Unversehrtheit ihres Körpers gelegen war – und das war ihr durchaus. Die Augen des Drachen waren fest auf sie gerichtet, als würde er direkt in ihre Seele hineinzublicken versuchen, auch wenn sie ohnehin überzeugt war, dass es dort nichts zu finden gäbe, weswegen all seine Versuche umsonst waren. Aber sie wies ihn nicht darauf hin, ihre Zunge schien an ihrem Gaumen feszukleben. „Elaine...“ Diesmal erklang die Stimme nicht nur in ihren Gedanken, stattdessen schien sie direkt aus der Kehle des Drachen zu kommen, der sie nach wie vor anstarrte. „Endlich bist du gekommen. So lange habe ich schon auf dich gewartet.“ Sie deutete ein Kopfschütteln an, um zu zeigen, dass sie wirklich absolut keine Ahnung hatte, wovon er eigentlich redete, damit sie eine Erklärung bekam. Doch er enttäuschte sie sofort: „Mir bleibt nicht mehr viel Zeit, deswegen...“ Ein heller Lichtstrahl schoss aus seinem geöffneten Maul und traf direkt auf ihre Brust, in der sich augenblicklich ein schmerzhaftes Brennen auszubreiten begann. Alles in ihrem Inneren zog sich zusammen, in einem Versuch, der Pein zu entgehen, doch es gelang ihr nicht im Mindesten. Ein klagender Laut entkam ihrer Kehle und hallte derart laut wider, dass sie selbst darüber erschrocken zusammenzuckte. Der Strahl brach urplötzlich ab und mit ihm schwand das Brennen, eine betäubende Agonie zurücklassend, die ihr das Atmen erschwerte, sie in die Knie gehen und ihren Blick verschwimmen ließ. „W-was war das?“ Doch sie bekam keine Antwort auf ihre Frage. Der Drache stieß ein ohrenbetäubendes Brüllen aus, warf den Kopf in die Luft – und war im nächsten Moment komplett versteinert. Ungläubig konnte sie die Statue nur anstarren, bis auch das letzte bisschen Kraft ihren Körper verließ und sie das Bewusstsein verlor. Sie spürte den Aufprall auf den Boden bereits nicht mehr, fühlte sich dafür aber sicher, eingehüllt in die Umarmung der Dunkelheit, die sie umschlang, ohne die Absicht, sie jemals wieder loszulassen – und hätte sie gewusst, was ihr noch bevorstand, wäre sie dem vielleicht nicht einmal so abgeneigt gewesen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)