Kristallflügel von Flordelis ================================================================================ Kapitel 3: Ungebetene Hilfe --------------------------- Auf dem Boden des Verhörraums sitzend, den Rücken gegen die Tür gelehnt, überlegte Elaine, wie sie in diese Situation gekommen war. Noch am Morgen war alles in Ordnung gewesen, sie war zur Arbeit gegangen, wie an jedem anderen Tag. Dann war sie in der ihr verbotenen Kirche gewesen, war von einem Drachen mit irgendwas beschossen worden, wurde verhaftet, verhört und nun saß sie mit diesem Mitglied von Nimbatus – zumindest hielt sie ihn für einen solchen – auf dem Boden und wartete darauf, dass die Soldaten, die gerade draußen vorbeiliefen, endlich fort waren. Nein, nicht ganz. Elaine hoffte, dass jemand hereinkommen und diesen Mann finden würde, ehe er ihr etwas antun könnte. Er beachtete sie im Moment nicht weiter, sondern konzentrierte sich auf die Geräusche, die aus dem Korridor kamen, sein Kopf war dabei in den Nacken gelegt. Aber ihr fiel nichts ein, was sie tun könnte, um sich zu retten und als sie eine unbedachte Bewegung tat, blickte er sofort zu ihr, was ihr sagte, dass sie ihn wohl nicht überraschen konnte. Also konnte sie den Gedanken, ihn mit einem Stuhl niederzuschlagen, direkt vergessen. Nach Hilfe rufen wollte sie auch nicht, denn bis jemand gekommen wäre, um sie zu unterstützen, hätte er sie schon zum Schweigen gebracht und das für immer. Es tröstete sie nicht, dass die Wachen danach kurzen Prozess mit ihm machen würden. Als die Wachen vorbei waren und die Schritte mit den fernen Kampfgeräuschen verschmolzen, atmete Aras auf und entspannte sich ein wenig, aber Elaine traute sich nach wie vor nicht, etwas zu tun. „Alles klar?“, fragte er schließlich und brach damit die eingetretene Stille wieder. Allerdings senkte diese sich sofort erneut über den Raum, da Elaine ihn nur wortlos anblickte, als hätte sie kein Wort von dem verstanden, was er da eben gesagt hätte. Sie fragte sich, ob mit ihm alles klar war, immerhin war sie wegen ihm erst in diesen Schlamassel geraten. Warum holte er sie nun also hier heraus? Sie beschloss, ihn das zu fragen. „Ich habe meine Gründe“, antwortete er. „Ich sagte doch bereits, dass Caleb Blackthorne mich beauftragt hat, dich zu befreien.“ „Du verstehst nicht!“, brauste sie auf. „Warum musstest du mich erst in diese Situation bringen? Was hat Nimbatus davon?“ Doch er zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Ich bin kein Mitglied von denen. Ich bin mehr... ein freier Mitarbeiter.“ Elaine fragte sich, wozu eine solche Organisation freie Mitarbeiter benötigte, aber die anderen Fragen, die sie betrafen, waren noch wesentlich wichtiger, weswegen sie nicht mehr diesbezüglich nachhakte. „Und was hast du nun vor?“, meinte sie stattdessen. „Denkst du, ich werde einfach ruhig mit dir gehen?“ Egal welche Strafe sie in diesem Moment zu befürchten hätte oder was auch immer die Kirche mit ihr vorhatte, es war sicherlich angenehmer, als eine Gefangene der Rebellen zu sein, davon war sie überzeugt. Aber Aras würde sie nicht so einfach vom Haken lassen, wie er gleich darauf zeigte. „Das verlangt niemand von dir“, erwiderte er mit unheilvollem Ton, der ihr nicht gefiel, weswegen sie lieber schwieg und nicht weiter widersprach. Selbst die Kampfgeräusche schienen sich immer weiter von ihnen zu entfernen, weswegen Aras aufstand, wobei er sie mit sich zog und dann die Tür öffnete. Vorsichtig streckte er den Kopf hinaus, blickte in beide Richtungen den Gang entlang und zog sich erst dann wieder zurück. „Es sieht gut aus, wir müssten jetzt fliehen können. Und ich würde dir raten, lieber zu laufen, ich würde dich nur ungern tragen.“ Dabei bedachte er Elaine mit einem unterkühltem Blick, der es ihr unfähig machte, sich dagegen zu wehren. Seine freie Hand streifte über den Griff des Schwertes, das an seinem Gürtel befestigt war und noch eine zusätzliche Überzeugungsarbeit leistete. Es war besser, sie würde mit ihm fliehen und unverletzt überleben – um dann vor den Rebellen zu fliehen – als sich verletzen oder gar töten zu lassen. Nachdem sie scheu genickt hatte, huschte er bereits aus dem Verhörraum hinaus und zog sie dabei hinter sich her. Es fiel ihr schwer, mit seinem flinken Tempo schrittzuhalten, weswegen sie sich schon nach wenigen Schritten erschöpft fühlte, aber dennoch traute sie sich nicht, ihm das mitzuteilen oder sich einfach fallen zu lassen und bemühte sich stattdessen noch mehr, um ihm zu folgen. Aras führte sie wieder an den Zellen vorbei und dabei konnte sie einen genaueren Blick auf die anderen Inhaftierten werfen, was ihr einen erschrockenen Ausruf hervorlockte – und sie vor Überraschung stolpern ließ. Da sie immer noch Aras' Hand hielt, stürzte sie nur auf ihre Knie und das nicht einmal sonderlich schmerzhaft. Aber selbst wenn es anders gewesen wäre, hätte es sie in diesem Moment wohl nicht weiter gekümmert, denn ihr Blick war immer noch starr auf die Zelle gerichtet, vor der sie gerade kniete, während Aras versuchte, sie zum Aufstehen zu motivieren. Womit genau er das versuchte, konnte sie nicht sagen, denn seine Worte erreichten sie lediglich als monotones Summen, dem jeglicher Sinn fehlte. Ihre gesamte Aufmerksamkeit galt dem Gefangenen in der Zelle, obwohl sie sich gar nicht so sicher war, ob es sich dabei um einen Menschen handelte. Sicher, die Statur war die eines Menschen, der die Knie angezogen und die Arme darum geschlungen hatte, aber er war über und über mit dunklen Schuppen bedeckt, deren Farbe sie nicht eindeutig erkennen konnte, da das Wesen sich im Schatten der Zelle verborgen hielt und sie misstrauisch aus großen gold-gelben Augen, denen jede Pupille fehlte, musterte. Hände und Füße waren durch Klauen ersetzt worden, an denen gefährliche aussehende Krallen befestigt waren. Noch niemals zuvor hatte sie so etwas gesehen, ein Wesen, das sie mit gutem Gewissen als Mischung zwischen Mensch und Drache bezeichnet hätte, egal wie unrealistisch allein der Gedanke daran war. Sie hob den Arm und deutete auf das Wesen, ehe sie leise „Was ist das?“ hauchte. Aras folgte ihrem Blick, hob unbeeindruckt eine Augenbraue und sah dann wieder sie an. „Ein anderer Gefangener natürlich.“ „Aber er sieht nicht menschlich aus“, erwiderte sie. „Ich weiß nicht, wovon du redest.“ Er klang gereizt und ungeduldig. „Für mich sieht er vollkommen normal aus. Also komm endlich, du hast ja jetzt schon Wahnvorstellungen.“ Mit einem heftigen Ruck zog er sie wieder auf die Füße zurück und lief dann weiter, wenngleich ein wenig langsamer als zuvor, vermutlich, um sicherzugehen, dass sie nicht noch einmal stürzen würde. Doch Elaine ging dieser Anblick nicht mehr aus dem Kopf. Sie glaubte nicht daran, dass es nur eine Wahnvorstellung gewesen war, schon allein weil auch alle anderen Gefangenen, an denen sie vorüberkamen, demjenigen glichen, den sie so eindeutig hatte mustern können und die Laute, die sie von sich gaben, direkt in Elaines Knochen zu fahren schienen und sie zittern ließen. Hätte man sie gebeten, diese zu beschreiben, wäre es ihr nicht möglich gewesen, denn so etwas hatte sie noch nie zuvor gehört – am ehesten waren sie noch mit dem vergleichbar, was ein ungeübter Musiker auf einer ungestimmten Geige für Töne hervorbringen würde. Wäre Aras ebenfalls als eines dieser Wesen erschienen, hätte sie die Theorie mit den Wahnvorstellungen geglaubt, aber da er vollkommen normal aussah, konnte sie es einfach nicht glauben, auch wenn es ihr lieber gewesen wäre. Aras' Weg endete an einer Wand, in die ein Loch gesprengt worden war, was zu einem erneuten, entsetzten Ausruf von Elaine führte: „Ihr habt die Kirche entweiht?!“ „Das hier ist nicht die Kirche“, erwiderte er mit gerunzelter Stirn. „Und selbst wenn, wen kümmert's? Du solltest langsam von diesen Gedanken abkommen.“ Sie wollte ihm entgegnen, dass sie das sicher niemals tun würde, doch der scharfe Wind, der ihr entgegenschlug, kaum dass sie einige Schritte durch die Öffnung getan hatte, hielt sie sofort davon ab, genau wie der Anblick, der sich ihr offenbarte. Es war nicht das erste Mal, dass sie den See jenseits von Nersrose sah. Er war riesig und damit groß genug, dass sie ihn aus dem Fenster des Postamtes sehen konnte, wenn sie morgens ihre Tasche abholte und abends zurückbrachte – wobei ihr einfiel, dass sie die Tasche im Verhörraum vergessen hatte – aber zweifellos sah sie ihn das erste Mal aus dieser Nähe. Aras stand mit ihr auf dem Vorsprung einer Klippe, in die das Loch gesprengt worden war, das ihm Zutritt zum Kerker verschafft hatte, der offenbar wirklich nicht unter der Kirche lag, denn immerhin befanden sie sich mehrere Kilometer außerhalb der Stadt. Das Wasser des Sees war kristallklar, so dass Elaine einen Moment lang der Überzeugung erlag, dass es gar nicht vorhanden und nur eine Einbildung wäre. Doch ein herunterfallender Stein, der die glatte Oberfläche kräuselte, bewies ihr, dass wirklich Flüssigkeit vorhanden war. Dennoch war sie davon überzeugt, dass es keine gute Idee wäre, in diesem See schwimmen zu gehen, geschweigedenn aus dieser Höhe hineinzuspringen. Messerscharfe Kristalle hatten sich unter der Wasseroberfläche gebildet, streckten die spitzen Enden in die Luft als warteten sie nur darauf, dass jemand töricht genug war, zu springen oder unglücklich genug, zu fallen und diese Person dann aufzuspießen. Instinktiv klammerte sie sich an Aras' Arm, damit sie nicht fallen würde und er sie nicht stoßen könnte. Seine Aufmerksamkeit galt allerdings etwas vollkommen anderem und als sie den Blick hob, wusste sie auch, worum es sich dabei handelte – und was den heftigen Wind verursachte. Es war ein Flugschiff, doch es schien ohne jeglichen Ballon auszukommen, denn alles, was sie sehen konnte, war lediglich der großzügige Laib, der komplett aus dunklem, braunen Holz gefertigt war und sicherlich Platz für mehr als zwei Dutzend Personen bot. Die seitlichen, flexiblen Antriebe schienen es, entgegen jeder Logik, die Elaine kannte, in der Luft zu halten und schafften es dennoch, kaum einen Laut zu erzeugen. „Was ist das denn?“, fragte sie und verfluchte sich gleichzeitig dafür, dass Angst in ihrer Stimme mitschwang. „Unsere Fahrkarte hier raus“, erklärte Aras nüchtern, ohne zu erkennen zu geben, ob er ihre Furcht registriert hatte, wofür sie ihm widerwillig dankbar war. „Dieses Schiff wird uns zum Hauptquartier von Nimbatus bringen.“ Sie warf einen Blick hinter sich, hoffte, dass noch einer der Soldaten auftauchen würde, um ihr zu helfen – doch das einzige, was sie bis hierher verfolgt hatte, waren die Laute der Gefangenen, die sie dazu bewegten, hastig wieder nach vorne zu blicken. Es gab keinen anderen Weg mehr, das wurde ihr in diesem Moment bewusst. Sie musste der Wahrheit ins Auge sehen, musste erkennen, dass sie nun zu den Rebellen gebracht wurde und damit vermutlich vom Regen in die Traufe geriet. Aber gleichzeitig wusste sie auch, dass darin eine Chance bestand. Sie würde nicht nur vor den Rebellen fliehen können, sie wäre dann auch in der Lage, der Kirche zu verraten, wo sich das Versteck ihrer Feinde befand. Mit einer solch wertvollen Information im Gepäck, würde man sie doch sicherlich nicht wieder in den Kerker schicken. Mit diesen Gedanken beschäftigt, störte es sie nicht einmal mehr, dass Aras sie derart zur Flucht drängte. Es konnte nur etwas Gutes dabei herauskommen. „Es waren zehn Eindringlinge, Lady Ashtray, wir haben sie allesamt beseitigt.“ Magdalena blickte den Soldat vor sich, der ausgesendet worden war, ihr diese Nachricht zu übermitteln, mit bohrendem Blick an. „Waren es menschliche Eindringlinge?“ Die Augen des Mannes flackerten nicht, keine Verwirrung war darin zu sehen, also wusste er, worauf sie hinauswollte und sie kannte seine Antwort bereits, bevor er sie aussprach: „Nein. Sie scheinen aus Kristall bestanden zu haben... jedenfalls zerbrachen sie alle.“ Sie verkniff sich das genervte Schnauben und auch das wütende Knurren und schickte den Soldaten mit einer unwirschen Handbewegung fort, um das entstandene Chaos in den Gängen zu beseitigen, die am meisten in Mitleidenschaft gezogen worden waren. Außerdem würde sich jemand die Wand ansehen müssen, durch die den Eindringlingen überhaupt der Zugang ermöglicht worden war. Das waren alles niedere Arbeiten, die auch dieser einfache Soldat weiterdelegieren könnte, während ihr Blick sich auf die Posttasche heftete, die einsam im leeren Verhörraum zurückgeblieben war. Als Magdalena zurückgekommen war, hatte sie die Tür offen und den Raum leer vorgefunden. Sie war überzeugt, dass Elaine nicht von allein geflohen sein konnte, irgendjemand musste nachgeholfen haben, also hatte es elf Eindringlinge gegeben und einer von ihnen war tatsächlich ein Mensch gewesen. Magdalena war sich nicht sicher, ob es gut oder schlecht war, dass die Gefangene entkommen konnte und glücklicherweise lag es nicht an ihr, das zu entscheiden. Das war die Aufgabe einer anderen Person, die möglicherweise auch genau gewusst hatte, dass so etwas geschehen würde und es für überflüssig erachtet hatte, sie vorzuwarnen. Dennoch gefiel es ihr nicht, ihm mitteilen zu müssen, dass ihr eine Gefangene – vielleicht sogar die Gefangene – entkommen war. Wenn sie nur ein wenig achtsamer gewesen wäre... Doch hastig schüttelte sie den Gedanken ab, nahm die Posttasche an sich und verließ dann den Raum. Ich werde Belenus Bescheid geben, dachte sie, während sie das Licht löschte und schloss einen Moment später bereits die Tür, worauf der Raum in Dunkelheit und vollkommener Stille zurückblieb. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)